Lothar Klouten
Welche gesellschatliche Realität in der Zeit von etwa 1930 bis 1955 ist heute dekodierbar, wenn
wir tabulos die richtigen Fragen stellen? Und ausgehend von den Erkenntnissen dazu: Welche Konsequenzen hat diese gesellschatliche Realität für das Heute? Osterath und die dort mit
allen gesellschatlichen Bereichen vernetzten Menschen in ihrem vernetzten gesellschatlichen
Mikrokosmos Osterath sind ein Fraktal der gesellschatlichen Realität: Osterath ist überall.
Der Tod
war ein Meister aus Osterath
gig vor und nach der Befreiung von Osterath durch US-amerikanische Einheiten am 1. März
1945. Primär die Vernetzung – strukturell und personell – der Kulturen von speziisch deutscher
Bürokratie-Kultur und kirchlich-katholischer Bürokratie-Kultur. Jenseits des äußeren Scheins von
Verfassung, Rechtsstaatlichkeit und Recht.
ISBN 978-3-00-0385-70-4
Cover_Klouten_20082012.indd 1
(D) 29,70 €
(A) 30,50 €
In diese vordergründige Normalität passt die Serie von Todesfällen Osterather NS-Überlebender
1948. Die »Betriebsunfälle« werden im aktiven »Einsatz« des (Ex-)SA-Mannes und stellvertretenden Gemeindedirektors Johannes Herbrandt im – angenommenen – Interesse der katholischen
Volksgemeinschat »korrigiert«. Der Tod war ein Meister aus Osterath.
Lothar Klouten
Der Tod war ein Meister aus Osterath
Das gilt gleichermaßen für die in ihren gesellschatlichen Macht- und Gewaltpositionen agierenden Menschen auch als Täter wie für die Opfer ihrer aktiven bürokratischen persönlich zuordnenbaren Handlungen. So stellvertretend der Bürgermeister und Gemeindedirektor Hugo Recken und
sein Symbiont Johannes Herbrandt – vernetzt mit Pastor Hövelmann und der katholischen
Gemeindeelite. Ob NSDAP-Mitglieder – oder im Einzelfall nicht. Bruchlos staatsformunabhän-
Eine katholische niederrheinische Gemeindeelite von der
Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik Deutschland:
Erinnerung versus Geschichtspolitik in Meerbusch-Osterath
Herausgegeben von Lothar Klouten
27.08.12 13:06
Titelseite der Osterather Zeitung, 28. März 1936
Cover_Klouten_20082012.indd 2
27.08.12 13:06
»Die Würde des Menschen ist unteilbar.«
Lothar Klouten
Impressum
Lothar Klouten – Der Tod war ein Meister aus Osterath.
Eine katholische niederrheinische Gemeindeelite von der
Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik: Erinnerung
versus Geschichtspolitik in Meerbusch-Osterath
Herausgeber: Lothar Klouten, Ostwall 224, 47798 Krefeld,
Telefon 0160 4 39 12 56, www.lotharklouten.eu
Autor: Lothar Klouten, © 2012
Buchkonzept und Gestaltung: trio-design+, Annette Schulte,
Krefeld, Telefon 0 21 51 74 85 11, www.trio-design.de, © 2012
Alle Rechte sowie Irrtum und Druckfehler vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch
Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische
Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungs-Systeme
jeder Art nur mit schrit licher Genehmigung. Die pädagogische Nutzung dieses Buches ist ausdrücklich erwünscht.
Bitte wenden Sie sich in einem solchen Fall direkt an den
Autor: Lothar Klouten.
Satz: PrePressPro, Kirsten Küsters, Krefeld, www.prepresspro.de
Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen
Printed in Germany
ISBN: 978-3-00-038570-4
1. Aulage, Oktober 2012
2
| Inhalt
Lothar Klouten
Der Tod
war ein Meister aus Osterath
Eine katholische niederrheinische Gemeindeelite von der
Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik Deutschland:
Erinnerung versus Geschichtspolitik in Meerbusch-Osterath
Herausgegeben von Lothar Klouten
Inhalt
| 3
Inhalt
Einleitung
Geleitwort von Kurt Gutmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Vorwort: Der Anlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Zur Gestaltung dieses Buchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Der Entstehungs-Prozess dieses Buchs und seine Interdependenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12–14
Erinnerung versus Geschichtspolitik
Die Gemeinden Osterath – sowie Büderich und Lank – bis 1945:
Katholische Dörfer mit Minderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15–27
1933: Die erste Intrige gegen den evangelischen Bürgermeister Rudolf Bartels:
Wie der Katholik Hugo Recken durch die dazu instrumentalisierten Nationalsozialisten
Bürgermeister in Osterath wurde und sein Sieg über die örtlichen NSDAP-Funktionäre
sowie die geschichtswissenschat liche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28–40
Hugo Recken als Bürgermeister in Osterath Januar 1934 bis März 1945:
Antisemitische Maßnahmen gegen als Juden bezeichnete Menschen
und die geschichtswissenschat liche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41–64
a. Die Um- und Durchsetzung von antisemitischen Maßnahmen zur Diskriminierung,
Terrorisierung, Absonderung, Enteignung und Ermordung der betrofenen Deutschen
in Verantwortung des Bürgermeisters in Osterath, Hugo Recken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41–64
b. 1935: Die Umlegung des jüdischen Friedhofs Osterath nach Krefeld
als antisemitische Maßnahme und die Kontroverse über die Rolle von Hugo Recken bis heute –
Gemeindedirektor Hugo Recken, 1946: »Fehlanzeige«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65–70
c. Die Deportation nach Riga im Dezember 1941:
Der organisierte Mord an der Mehrheit der von den Maßnahmen gegen Juden
betrofenen Menschen und die Rolle von Bürgermeister Hugo Recken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71–86
d. Drei Familien als exemplarische Beispiele
1. Sabine und Julius Gutmann:
Die beiden einzigen Überlebenden der aus Osterath deportierten Menschen –
Bürgermeister Hugo Recken, 1942: »Es wird um Abschiebung des Juden gebeten.« . . . . . . . . . . . . . .87–106
2. Familie Cervelli:
»Halbjuden« und ihre »arischen« Familien trit das »Recht« und
Bürgermeister Hugo Recken – fast – gleichermaßen wie »Volljuden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107–110
3. Familie Dr. Langenbach:
Die von Hugo Recken in seinem Entnaziizierungsverfahren
missbrauchten »Entschuldigungsjuden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111–114
e. Geschichtswissenschat liche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115–116
1945: Die zweite Intrige gegen den vom US-amerikanischen Ortskommandanten
eingesetzten Bürgermeister Rudolf Bartels, diesmal über die dazu instrumentalisierte
britische Militärregierung – Wie Hugo Recken abermals Rudolf Bartels ablöste
und das kurze Intermezzo des kommissarischen Bürgermeisters Anton Wienands KPD . . . . . . . . . . . . 117–138
Die Rollen des Gemeindebeamten Johannes Herbrandt sowie der Allianz
von katholischer Geistlichkeit und katholischer Gemeindeelite
sowie deren geschichtswissenschat liche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139–140
Inhalt
| 5
1945–1949: Die Entnaziizierung von Hugo Recken, Johannes Herbrandt
und Pfarrer Joseph Hövelmann – Als seien 1945 nach der Befreiung
drei neue Menschen geboren worden
sowie die geschichtswissenschat liche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141–164
1953: Der Tod von Hugo Recken und die Straßenbenennung nach ihm:
Apologie der Kontinuität seit 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165–166
Die Debatte um die Straßenumbenennung seit Dezember 2011:
Erinnerung versus Geschichtspolitik
– und die Rolle des Meerbuscher Stadtarchivleiters Michael Regenbrecht
im Aut rag des Meerbuscher Bürgermeisters Dieter Spindler CDU:
Wo beginnt apologetische bürokratische Zweck-Lüge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167–176
Eine geschichtswissenschat liche Gesamtbewertung:
Der Erinnerung eine Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177–190
Dokumente
Einführung in die Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Geschichte am Jürgensplatz Düsseldorf: Foto von Paul Salitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen: Der Polizeipräsident in Düsseldorf leitet mit
Datum vom 6.1.1942 den Salitter-Bericht »An die Staatspolizeistelle in Düsseldorf« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
Wiener Library London: Der Salitter-Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193–195
Yad Vashem Jerusalem: Gegenüberstellung der Berichte von Paul Salitter und Hilde Sherman. . . . . . 196–201
ITS Arolsen: Die Deportationsliste vom 11. Dezember 1941 (Erstveröfentlichung) . . . . . . . . . . . . . . . 202–214
Kreisarchiv Viersen: Arthur Winter. Über das Schicksal der Kempener Juden,
die im Dezember 1941 deportiert wurden. Erstellt nach Aussagen von Hans Samuel, Hüls.
Schweden 1945. (Erstveröfentlichung in der vollständigen Fassung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .215–219
Villa ten Hompel Münster: Nachkriegsbiograie eines Täters. Paul Salitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220–225
Dr. Ingrid Schupetta. Villa Merländer Krefeld: historische und aktuelle Fotos aus Riga
(Erstveröfentlichung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .226–230
Anhang
Verzeichnis der abgebildeten Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .231–233
Erklärungen von Abkürzungen und Begrifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235–240
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241–257
Danke! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Schreiben von Adolf Hitler, 29. November 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260–262
Paranoia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
Titelseite der Osterather Zeitung, 28. März 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
6
| Inhalt
Geleitwort
Das Buch von Herrn Klouten ist eine notwendige
Erläuterung einer die frühen 30er Jahre des vorigen
Jahrhunderts und die Nazizeit überdauernden und
dominierenden Gedankenwelt in vielen Ortschaften der Bundesrepublik. Zwar wurde die braune von
der schwarzen Rassenideologie abgelöst, aber weder
in den Schulen noch in den Amtsstuben beseitigt.
Dies kann ich aus eigener Erfahrung belegen.
So habe ich als britischer Soldat erlebt, wie im Spätherbst 1947 junge Männer, von einem Tanzvergnügen kommend, vor mir in Mülheim-Ruhr auf Wache stehend, lauthals sangen: »Wir werden weiter
marschieren bis alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze
Welt.«
Ein anderes Mal besuchte ich mit zwei jungen
Frauen einen Tanzabend, bei dem ich mit beiden
tanzte. In einer Pause sprach ein Mann eine meiner
Begleiterinnen an und sagte, ob sie wüsste, dass sie
potenzielle »Rassenschande« treibe.
Im Jahre 1956 besuchte ich meinen Onkel Max
Servos in Krefeld. An seiner Haustür war »JUDE«
geschmiert. Als ich im Jahr 1988 Leipzig besuchte,
wurde ich von einem aus der BRD stammenden
Mann beschimpt, man hätte vergessen mich zu
vergasen.
Solch »guter Mensch« war wohl auch der Staatssekretär Globke unter Kanzler Adenauer, Leiter des
Bundeskanzleramtes in Bonn, im Jahre 1935 Verfasser des Kommentars zu den Nazi-Rassegesetzen.
Während des Krieges Berater einiger von Hitlerdeutschlands Vasallen bei der Durchsetzung dieser
Gesetze in deren Länder.
Ich wünsche mir, dass Herr Klouten mit seinem
Buch dazu beiträgt, die notwendigen Lehren aus der
Vergangenheit zu ziehen.
Kurt Gutmann
Jahrgang 1927
Ich könnte noch etliche solcher Beispiele aus eigenem Erleben erwähnen. Das von Herrn Klouten in
seinem geschilderten Osterath ist fast jedem kleinen
Ort in Deutschland gleich zu setzen, das dann zu
den »judenreinen« Ortschaten der Jahre 37/38 und
dann zu den Vernichtungslagern der Jahre 42/43
führte.
In Osterath waren es die von Herrn Klouten genannten »ehrenwerten Herren Recken, Herbrandt
und Pfarrer Hövelmann«, in den anderen Orten
waren es nur andere Namen. Wenn Herr Klouten
berichtet, wie der SA-Mann Herbrandt in seiner
schwarzen Uniform im Jahre 1948 ein aus heresienstadt zurückgekehrtes Ehepaar drangsalierte,
dann wird mir heute noch schlecht.
Eine das Lager Riga überstandene jüdische Bekannte erzählte mir Folgendes. Auf einer Hamsterfahrt
im Jahre 1946 besuchte sie einen kleinen Ort in
Westfalen. Zu ihrem Schrecken erkannte sie dort
als Friseur einen ihrer schlimmsten Peiniger aus
dem Lager. Als sie ihn entlarvte, sagte man ihr, er
sei doch als ein so liebevoller Vater bekannt.
Geleitwort
| 7
Im Gedenken an Dan Lucas
Das eigene Glück spiegelt sich stets
im Glück des Anderen.
Sardoscht
Mitzulieben, nicht mitzuhassen ist mein Teil.
Sophokles. Antigone
Wer nicht leiden will, muss hassen.
Horst Eberhard Richter
Der Vernichtungsprozess der Nazis kam
nicht aus heiterem Himmel.
Er war der Höhepunkt einer zyklischen
Entwicklung.
Wir können diese Entwicklung
in drei aufeinanderfolgenden Zielsetzungen
antijüdischer Amtswalter nachvollziehen.
Die Missionare des Christentums
erklärten einst:
Ihr habt kein Recht, als Juden unter uns
zu leben.
Die nachfolgenden weltlichen Herrscher
verkündeten:
Ihr habt kein Recht, unter uns zu leben.
Die deutschen Nazis schließlich verfügten:
Ihr habt kein Recht zu leben.
Die deutschen Nazis brachen also nicht mit
der Vergangenheit; sie bauten auf ihr auf.
Sie begannen nicht, sie vollendeten eine
Entwicklung.
Raul Hilberg
8
| In gedenken an Dan Lucas
Jede Herrschat funktioniert als Verwaltung.
Die Bürokratie ist »rationalen« Charakters:
Regel, Zweck, Mittel, »sachliche« Unpersönlichkeit beherrschen ihr Gebaren.
Keine Maschine der Welt arbeitet so präzise wie
diese Menschenmaschine, die Bürokratie.
Unter technisch-sachlichen Gesichtspunkten ist
sie unüberwindbar.
Eine einmal durchgeführte Bürokratie gehört zu
den am schwersten zu zertrümmernden Gebilden.
Ist es möglich, irgendwelche Reste
einer in irgendeinem Sinn individualistischen
Bewegungsfreiheit zu retten?
Max Weber
Es sind immer konkrete Menschen, die handeln.
Und als Menschen haben wir immer – ethische –
Alternativen.
Lothar Klouten
Erinnerung
Erinnerung wach rufen.
Verschüttetes erinnern.
Verdrängtes erinnern.
Vergessenes ins Bewusstsein führen.
Also ein gesellschat licher Prozess
der Erinnerung,
ausgerichtet auf eine gemeinsame
menschliche Zukunt.
Lothar Klouten
Vorwort: Der Anlass
»Wer sich nicht an die Vergangenheit
erinnern kann, ist dann verdammt,
sie zu wiederholen.
Wer sich aber der Vergangenheit erinnert,
wird umso mehr Streit auslösen.«
George Santayana
Der Bürgerverein »Pro Osterath« engagiert sich für
das Gedenken an die Menschen, die von den Nationalsozialisten und ihren bürokratischen Mit-Tätern
als »Juden« deiniert und deswegen diskriminiert,
terrorisiert, entrechtet, enteignet und – in Osterath
bis auf das Ehepaar Gutmann – ermordet wurden.
Ein Höhepunkt der Aktivitäten von »Pro Osterath«
war die Verlegung erster Stolpersteine in Osterath
im Dezember 2011.
In der Veranstaltung zu dieser Stolperstein-Verlegung, die auch im Dezember 2011 stattfand, berichtete ich u. a. vom Schreiben des Osterather
Bürgermeisters Hugo Recken an die GestapoAußendienststelle Krefeld am 4. Juni 1942 bezogen
auf das Ehepaar Gutmann, das dann umgehend
»deportiert« wurde: »Es wird um Abschiebung des
Juden gebeten.« Recken hat also auf eigene Initiative gehandelt, hätte auch anders handeln können;
aber er tat es nicht. Aus der Mitte der Teilnehmer
kam dann der Vorschlag, die Hugo-Recken-Straße
umzubenennen. Dies z. B. in Gutmann-Straße. Es
wäre die erste Straße in Osterath, die nach NS-Verfolgten bzw. NS-Überlebenden benannt würde. Der
Fraktionsvorsitzende der Unabhängigen Wählergemeinschat Meerbusch Christian Staudinger-Napp,
Teilnehmer der Veranstaltung, nahm sich der Angelegenheit im Sinne des Vorschlages an, indem er
in einem Schreiben an den Meerbuscher Bürgermeister Dieter Spindler im Dezember 2011 anregte,
eine Straßenumbenennung zu prüfen.
Die – bewusst – verzerrte Realitätswahrnehmung
dokumentiert sich schon darin, das Bürgermeister
Spindler die Anregung zur Forderung mutierte;
wo beginnt – interessengeleitete – Lüge? Um – das
ist meine hese – die Legende der Kontinuität von
Hugo Recken als Bürgermeister und dann Gemeindedirektor in Osterath von 1934 bis 1953 – mit einer
etwa einjährigen Unterbrechung nach der Befreiung
1945/46 – gegen die – geschichtswissenschat liche –
Realität und Bürger aufrecht zu erhalten. Es geht
ihm – und den Fraktionen bis auf die UWG – um
bürokratisch-politische Macht. Mir geht es – auch
mit dieser Arbeit – um einen ofenen gesellschatlichen Diskurs. Gegen Vermeidungsdiskurs im
Sinne von Ulrich Herbert. Um dem Gedenken eine
Chance zu geben.
Bilden Sie sich eine eigene Meinung.
Selber lesen und denken macht schlau.
Wenn Sie weitere Dokumente, Bilder oder Informationen beitragen können, bitte kontaktieren Sie
mich unter:
Fon: 0160-4 39 12 56
oder
E-Mail: lotharklouten@yahoo.de.
Abschließend ein methodischer Hinweis:
Um den Text gut lesbar zu gestalten, habe ich auf
Verweise weitgehend verzichtet.
Die Lektüre des Anhangs macht so auch mehr Sinn.
Die Fotos im Buch sind visuelle Zitate, wenn sie
nicht umfassend ausgewiesen sind.
Aus dieser Anregung zum Gedenken entwickelte
sich ein Kapitel Meerbuscher Geschichtspolitik.
Denn wie können Bürger so vermessen sein, von
sich aus einen konkreten Vorschlag zu machen,
ohne vorab die Meerbuscher Bürokratie in Verwaltung und Stadtrat um Erlaubnis dazu gebeten zu
haben? Und wie kann sich der Fraktionsvorsitzende
einer Minderheiten-Fraktion erdreisten, den CDUBürgermeister mit einer Anregung anzuschreiben?
Beides mehr als ärgerlich, weil es – bürokratischen –
Aufwand verursacht, der dann bürokratie-intern
weiterdelegiert wird, hier an den Stadtarchivar.
Vorwort | 9
Zur Gestaltung dieses Buchs
In diesem Buch ist nichts Zufall.
Der Text und seine typograische Gestaltung.
Buchformat und Satzspiegel
folgen nicht den DIN-Formaten,
sondern dem Goldenen Schnitt.
»Der Naturforscher und Philosoph Paul Heinrich
France bezeichnete den Goldenen Schnitt als biologisches Format und sieht in der Harmonie den
letzten Zustand, das höchste Ziel der Entwicklung.
Er fasst dies in dem folgenden Satz zusammen:
»Harmonie ist das biologische Endstreben.«
Er hat erkannt, dass allem Leben eine bestimmte
Funktion zugedacht ist, als auch harmonische
wohlproportionierte Form angestrebt wird.«
nach: Otto Hagenmaier. Der Goldene Schnitt.
Gegenstände, die dem Goldenen Schnitt folgen,
werden als harmonisch empfunden.
Der Aubau des Menschen, aller belebter Natur,
entspricht dem Goldenen Schnitt.
Die großen Meister haben ihrer Kunst
die Regeln des Goldenen Schnitts zugrunde gelegt.
Der gewaltbehatete Inhalt des Buches wird durch
die harmonische Form des Formats aufgefangen.
Zur Farbe Hellblau
»Psychologische und symbolische Wirkung:
Blau ist die Komplementärfarbe zu Orange.
Orange ist die hellste Farbe des Spektrums,
Blau die kälteste.
Blau ist die Farbe des Fernen und Kühlen.
Blau ist eine Augenfarbe.
Als Raumfarbe ist Blau ungemütlich,
weil es den geschlossenen Raum aulöst
und die Kälte hineinlässt.
Der kalte Blau ist im symbolisch übertragenen
Sinn eine abweisende Farbe.
Es ist die Farbe der Gefühllosigkeit,
des Stolzes, der Härte.«
Eva Heller. Wie Farben wirken.
10
| Die Gestaltung
Die verwendeten Schriften
Der Fließsatz ist in der »Minon Pro Regular« gesetzt. Die Schrit wurde 1990 von Robert Slimbach
für Adobe Systems als digitale Satzschrit entworfen. Die Minon ist eine Textschrit im Stil der Französischen Renaissance-Antiqua. Sie hat ein ruhiges
ausgeglichenes Schritbild und verbindet gute Lesbarbeit mit einer ästhetisch ansprechenden Gestaltung.
Die Überschriten, Bildunterschriten und Hervorhebungen stammen aus der Schritsippe hesis. Für dieses Buch wurde die Schrit »heSans«
in verschiedenen Schritgraden angewendet. Die
Schrit ist unter anderem als Auszeichnungsschrit
hervorragend geeignet. Sie unterstützt den Inhalt,
wirkt jedoch nicht dominant, signalisiert aber dem
Leser »Achtung, hier kommt eine wichtige Information«. Die Schritsätze wurden 1994 von Lucas de
Groot entwickelt und weitergeführt. Heute ist die
hesis-Kollektion mit über 500 Schnitten, die wohl
umfangreichste Schrit familie. »heSans« ist eine
serifenlose Linear-Antiqua. Sie ist die Hausschrit
von vielen Marken und Unternehmen.
Die Typografie
Die Typograie des Buches basiert auf den typograischen Regeln der Buchgestaltung.
Grundlage sind unter anderem die »Qualitätskriterien für gute Typograie«, die vom Forum Typograie e. V. 2006 entwickelt wurden.
Dieses Buch ist aus dieser Perspektive auch ein
literarisches Gesamtkunstwerk.
»Die Wahrheit sagen heißt für einen Roman,
den Leser eine Illusion erleben zu lassen,
und lügen heißt,
unfähig sein zu einer Simulation.«
Mario Vargas Llosa
Über den Autor
Nach der Schule – er gehörte dem ersten Abiturjahrgang am Meerbusch-Gymnasium 1974 an –
studierte Lothar Klouten, Jahrgang 1957, Sozialwissenschaten, Geschichte und Pädagogik. Gesellschat lich engagierte er sich zum einen in der
Jugendarbeit in der evangelischen Kirche in Meerbusch-Osterath sowie für gut zehn Jahre als Vorsitzender des Stadtjugendrings Meerbusch, wo
er unter anderem den Jugendaustausch mit der
israelischen Stadt Petach Tikva organisierte. Zum
anderen in der Politik: (Wieder-)Gründung der
Jungsozialisten in der SPD Meerbusch-Osterath,
eine Reihe von Vorstandspositionen in der SPD
Osterath und im SPD-Stadtverband Meerbusch,
Ratsmitglied in Meerbusch und später Kreistagsmitglied im Kreis Viersen, um nur einige Stichworte zu nennen. Lothar Klouten kandidierte zweimal
zum Europäischen Parlament.
Schon in seiner Schulzeit interessierte sich
Lothar Klouten intensiv für die NS-Zeit, ihre
Vorgeschichte und ihre Folgen. Daher auch sein
Engagement gegen Rechtsextremismus, für den
Jugendaustausch mit Petach Tikva sowie eine Demokratisierung auf allen Ebenen bis zur UN. Im
Studium setzte er seine Interessen konsequent in
der Wahl des hemas seiner Ersten Staatsarbeit
um: Verfolgung und Widerstand in Meerbusch
1933–1945. Die weitere intensive Auseinandersetzung insbesondere mit der Geschichte führte zu
einigen Veröfentlichungen, aufgeführt zum Teil im
Anhang.
Lothar Klouten hielt zahlreiche zeitgeschichtliche Vorträge, u. a. in Meerbusch.
Maßgeblich gestaltete er die Ausstellung »Nachspüren nach 70 Jahren. Deportationen aus Düsseldorf nach dem Osten« im Glashaus des Kulturamtes der Stadt Düsseldorf 7. – 11. Dezember 2011,
verbunden mit Filmen, Vorträgen, Gesprächen und
einem historischen Spaziergang.
1989 erhielt Lothar Klouten die Verdienstnadel der Stadt Meerbusch. 2007 wurde sein Buch
»Hubert Vootz. Ein Leben für die Freiheit – Vom
deutschen Kaiserreich bis zur Bundesrepublik
Deutschland« für zivilgesellschat liches Engagement vom »Bündnis für Demokratie und Toleranz.
Gegen Extremismus und Gewalt« (www.buendnistoleranz.de) ausgezeichnet. Für das Bündnis sind
namhate Persönlichkeiten wie Bundespräsident
Joachim Gauck tätig.
Veröfentlichungen von Lothar Klouten stehen
in zahlreichen Einrichtungen. So Stadtbibliothek
Meerbusch, Universitätsbibliothek Düsseldorf, Lan-
Foto:
Rainer Naus,
Foto Naus,
WillichSchiefbahn
desarchiv Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, Bundesarchiv in Berlin, ITS Arolsen, Library of
Congress Washington und Yad Vashem Jerusalem.
Auf seine Forschungen gehen das Mahnmal am
Friedhof in Meerbusch-Büderich, das Mahnmal
in Meerbusch-Lank an der Teloy-Mühle sowie die
Stolpersteine in Meerbusch-Osterath zurück.
Lothar Klouten hat das Jugendwerk der Arbeiterwohlfahrt in Düsseldorf geleitet, war zwei Jahre
Assistent des Bundestagsinnenausschussvorsitzenden, später bis Anfang 2005 Geschätsführer bei der
NRW-SPD. Heute ist er selbstständig und politisch
in der Piratenpartei aktiv.
Nach seinem Selbstverständnis ist Lothar Klouten gemeinwohlorientierter Demokrat. Ohne Ansehen von Personen und Organisationen setzt er
sich für Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und
Demokratie auf allen Ebenen ein. Die Würde des
Menschen ist unteilbar – das ist sein Credo. Dabei
die Realität insbesondere durch die Schaf ung
von Transparenz den Ansprüchen vor allem der
Menschenrechtsdeklarationen von UN und Europa sowie dem Grundgesetz in einem evolutionären Prozess weitest möglich in Übereinstimmung
zu bringen. Die sante Macht der Ethik siegt, so
sein weiteres Credo. Auch gegen Schein-Recht und
illegitime Macht. Unter welchen Vorzeichen auch
immer und mit welcher ideologischen Legitimation
auch immer.
Die speziische deutsche Bürokratie-Kultur
steht nach dem Verständnis von Lothar Klouten,
wie er es auch in diesem Buch herausgearbeitet
hat, der notwendigen gesellschat lichen Evolution
zu einer nachhaltigen menschenwürdigen Zukunt
diametral entgegen.
»Das, was geschah, muss eine Warnung sein.
Es zu vergessen, ist ein Vergehen.
Es muss fortwährend in unserer Erinnerung leben.
Es war möglich, dass es geschah,
und es ist möglich, dass es wieder geschieht.
Davon zu wissen allein kann dies verhindern.«
Karl Jaspers
Der Autor
| 11
Der Entstehungs-Prozess dieses Buchs und seine Implikationen
Wenn man – hier ich – sich bürokratisch missbraucht sieht, dann gibt es diferenzierte Aktionsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu Reaktionsmöglichkeiten im Wortsinn, der anderen Seite passiv in
der Objektrolle das Agieren zu überlassen, die Opferrolle anzunehmen. Ich lasse mir meine Würde
nicht nehmen und ich bin nicht sprach-los. Was ich
in vielen Jahren durch mehrere Erfahrungen gelernt
habe: solche Situationen als persönliche Herausforderung anzusehen. Mein »Lehrer«: Viktor Frankl.
Diese Situationen im für mich konstruktiven Sinn
umzudeuten. Durch Agieren die Subjektrolle einzunehmen, mir nicht bürokratisch die Objektrolle
aufnötigen zu lassen. Das selbstverständliche Kommunikationsmuster in der deutschen Gesellschat
bewusst zu durchbrechen. Wohl wissend, dass deutsche Bürokraten dann ihre bürokratische vermeintlich anonyme und unpersönliche Rolle verlassen,
weil sie diese »Regelverletzung« persönlich nehmen,
daher ihre bürokratische Legitimität angegrifen
fühlen. Und dann mit allen ihres bürokratischen
Habitus, entsprechenden Mitteln agieren, bis hin zu
struktureller Gewalt – als Vorstufe zu direkter Gewalt, wenn dies gesellschat lich akzeptabel ist.
Vor der Idee zum Buch stand, am Beispiel der vom
Meerbuscher Stadtarchivar Regenbrecht in seinem
im Aut rag von Bürgermeister Spindler erstellten
»Recherchebericht« genannten Akten im Kreisarchiv Viersen in Kempen zu recherchieren, was
diese Akten beinhalten und wie er deren Gehalt in
Bezug auf das hema – die Rolle von Bürgermeister Hugo Recken in der NS-Zeit und ihre heutigen
Bewertung – rezipiert hat. Ein weiterer Verstoß gegen die Regeln im Kontext deutscher Bürokratien.
Diese unausgesprochene gesellschat lich akzeptierte Regel lautet: Was ein Bürokrat im Autrag
eines vorgesetzten Bürokraten liefert, dem vertraut
man bedingungslos, hinterfragt es keinesfalls. Der
logische Umkehrschluss: Hier liegt ein zentrales
Macht-Instrument von Bürokratien: Realität nach
ihrem Habitus zu deinieren. Also verbindlich zu
deinieren, was gesellschat lich als Realität zu gelten
hat. Staatsformunabhängig und nicht demokratisch
legitimiert.
Meine Recherche im Kreisarchiv Viersen führte
zu zwei für mich bemerkenswerten und vernetzten
Ergebnissen:
Herr Regenbrecht hat bewusst selektiv gearbeitet – bürokratisch-politisch interessengeleitet und
nicht geschichtswissenschat lich. Sowohl was die
12
| Die Entstehung des Buches
von ihm in seinem »Recherchebericht« genannten
Akten betrit – als auch die vorhandenen Akten,
die er nicht nennt.
Das im Kreisarchiv in Bezug auf das konkrete
hema Hugo Recken präsente Quellenmaterial ist –
erstaunlich – dicht.
Das Quellenmaterial im Stadtarchiv Meerbusch
kannte ich bereits vorher ganz überwiegend, insbesondere im Kontext meiner Recherchen zu meiner
Ersten Staatsarbeit »Verfolgung und Widerstand
in Meerbusch 1933–1945«. Und diese Quellen habe
ich in Kopie, verbunden mit umfassenden Notizen
dazu. Um bezogen auf die aktuelle Fragestellung
mein Material zu vervollständigen, habe ich dies
bei einem Termin im Stadtarchiv umgesetzt. Die
quantitative Seite waren 26 Kopien. Ein Indiz dafür, dass mir bereits vorher wesentliche Quellen in
Kopie vorlagen. Bereits vor diesem Termin begann
ich meine Idee zu einem Buch zum hema, die ich
bei meiner Recherche im Kreisarchiv hatte, zu realisieren.
Auch Quellenmaterial im Landesarchiv NRW
in Düsseldorf kannte ich bereits zuvor. Bin nun mit
nicht zu erwartenden qualitativen Ergebnissen themenbezogen in die Tiefe gegangen. Das gilt auch für
das Bundesarchiv.
Mein Anspruch:
Das zu tun, wozu Regenbrecht vorgeblich beauftragt ist. Um so seinen Autraggeber und bürokratischen Vorgesetzten Bürgermeister Spindler und ihn
zu demaskieren. Damit meine Reputation und Integrität ofensiv zu vertreten. Ein weiterer Regelverstoß gegen die unausgesprochenen Regeln der deutschen Bürokratie als gesellschat lichem Subsystem,
das die anderen gesellschat lichen Subsysteme dominiert bzw. überlagert, auch die politische Kultur.
Ich liebe unsere wunderschöne Sprache. Deren reale Bedrohung in der Sprach-Verarmung durch
die krebsartig wuchernde Bürokraten-Sprache besteht, weil sie macht-voll negativ Einluss nimmt.
Unsere Kultur-Sprache ist ein Sprach-Schatz
mit unbegrenzten Ausdrucksmöglichkeiten – wenn
ich – im Sinne jedes Menschen – sie für mich zu
nutzen verstehe. Dazu muss ich ihre Möglichkeiten
be-greifen, sie erfahren und anwenden, mündlich
wie schrit lich, um sie – in meinem Sinn – besser
und besser be-nutzen und händeln zu können. Ein
lebenslanger Prozess. Wir haben die Freiheit des
guten Ausdrucks. Genau diese Freiheit nehme ich
für mich in Anspruch. Sicher auch eine Regelverletzung, mein Ge-brauch der Sprach-Kunst in Verbindung mit Sprach-Ästhetik.
Mein Schreibstil ist für mich aufwändig, mit Anstrengung verbunden. Mein Ziel ist es, ein adressatenbezogen bestmögliches Ergebnis zu er-zielen. Sie
also so anzusprechen, dass sie sich an-gesprochen
fühlen, dieses Buch vollständig zu lesen und darüber zu relektieren. Habe ich dieses Ziel erreicht,
dann ist dies für mich ein Beleg für die sprachliche Qualität meines Buchs. Deswegen feile ich am
Text, bis ich das Gefühl habe, dass er in diesem Sinn
»passt«. Dieses Buch ist eine Gesamtheit aus vielen
vernetzten Mosaiksteinen, die mehr sind als ihre
Summe. Das vernetzte Denken und Handeln habe
ich einem anderen Lehrer zu verdanken: Frederic
Vester. Das Ver-Stehen der subjektiven Bedingtheit
individueller Welt-Konstruktion lernte ich von einem weiteren Lehrer: Paul Watzlawick. Wir leben
in einer Welt, in der alles eins ist.
Ich begann einen alternierenden Prozess. In dem ich
begann, die mir zur Verfügung stehenden Quellen
und Literatur, sowie die Literatur in der Universitätsbibliothek Düsseldorf, geschichtswissenschatlich aufzuarbeiten. Die mir präsenten Informationen thematisch strukturierte, um eine Gliederung
zu entwickeln, die ich dann in Feinarbeit bis zur
endgültigen Fassung schlif. Die Struktur stand,
beim Schreiben des handschrit lichen Vorentwurfs
und der PC-Fassung schlif ich weiter an Einzelformulierungen.
Dann ordnete ich die mir bereits präsenten Informationen und Quellen, um sie im Folgeschritt kapitelweise zu strukturieren. Dem schloss sich die Erarbeitung der handschrit lichen Rohfassung an,
Kapitel für Kapitel. So konnte ich meine thematischen Gedanken schrit lich fokussieren. Parallel
ging die Archiv- und Literaturarbeit weiter. Deren
Ergebnisse ich in bereits erarbeitete Rohfassungskapitel integrierte.
Nun begann ich die Kapitel-Rohfassungen Kapitel
für Kapitel am PC zu schreiben. Wobei sich beim
Schreiben, der damit verbundenen weiteren Relexion auch über die Vernetzungen, Änderungen und
Ergänzungen ergaben. Sowie die Integration weiterer neuer Informationen und Quellen. Gelobt sei
die Digitalität.
Wiederum parallel vernetzt entwickelte ich Kontakte zu möglichen Druckkostenzuschuss-Gebern.
Was Grai k-Design-Agentur und Druckerei betrit
kam mir ein – notwendiger – Zufall zupass: Frau
Schulte von trio design+ Krefeld, mit der ich vier Jah-
re zuvor mein erstes Buch herausgegeben habe, rief
mich an. Ob ich an einem neuen Buchprojekt arbeitete. Und sie hat den direkten Kontakt zur Druckerei, die vor vier Jahren mein erstes Buch druckte.
In intensiver Kommunikation mit ihr entwickelte sich schnell das Konzept für die graische und
typograische Gestaltung des Buchs. In Verbindung
mit der Kostenkalkulation. Insgesamt also eine vernetzte Management-Projektplanung und -realisierung mit parallelem Controlling – in einer Hand.
Der weitere Prozess entwickelte sich zur Entdeckung einer neuen erschreckenden Welt, die reale
Welt hinter dem Vorhang von Lüge, Betrug, Manipulation, Fälschung, dem gesamten Katalog des
Strafgesetzbuchs – einschließlich Mord. Die deutsche Realität, für die Osterath ein Fraktal ist, hat
nur oberlächlich mit dem zu tun, was in vielen
Formen Überlieferung ist und z. B. die Geschichtswissenschat prägt. Was überliefert ist, ist ein Zerrbild zur Schein-Entlastung von Tätern, Mit-Tätern,
Gehilfen und zumeist willigen Mitläufern vor und
nach 1945. Denn sie waren – und sind – gemeinsam die große Mehrheit in Deutschland, die (bis
1945) im Sinn des NS-Kernziels agierte, alle »Gemeinschatsfremden« zu ermorden, insbesondere
die willkürlich als Juden deinierten Menschen. Das
ist die reale Kontinuität der deutschen Gesellschat,
in der es keine Stunde Null gegeben hat. Die ist
Fiktion. Daher hat es äußerliche Verschiebungen
gegeben, der innere Kern ist weitgehend konserviert. Dies alles mit gesellschat lichen Konsequenzen. Bis hin zur aktuellen Braune-Armee-Fraktion
und dem Umgang mit ihr in Gesellschat, Staat,
Politik, Medien – ein Fraktal der historischen Verdrängung. Auch der Selbst-Legitimation zum Morden – und ihrer Verdrängung insbesondere in der
Justiz. Wie sähe der Umgang mit der ignorierten
Mordserie sowie den damit verbundenen MassenStrataten aus, wäre es eine Neuaulage der RotenArmee-Fraktion?
Die Arbeit mit Archiven sowie weiteren Institutionen gestaltetet sich überaus ergebnisreich. Insbesondere mit dem Kreisarchiv Viersen, dem
Stadtarchiv Düsseldorf, dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, zwei Dependancen des Bundesarchivs, ITS Arolsen und Yad Vashem.
Was mich ganz besonders überraschte: Ich fand
durch meine Recherchen lebende Familienmitglieder der Opferfamilien, die im Buch beschrieben
sind. Damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Die
Hof nung nie aufzugeben, es zumindest zu versuchen, ist immer richtig. Der Kern dieses Buchs sind
Menschen und ihr Leben – sowie deren Geschichte
vernetzt mit den gesellschat lichen Bedingungen.
Die Entstehung des Buches
| 13
Die so tief wie möglich gehende Quellensuche und
die geschichtswissenschat liche Bearbeitung der
dann vorliegenden Quellen in Verbindung mit der
insbesondere geschichtswissenschat lichen Literatur hatte Analyseergebnisse, die ich so umfassend,
dicht und klar nicht erwartet habe. Die ReckenLegende, ihr gesamter historischer und das in ihrer
Kontinuität stehende aktuelle Umfeld wird dekodiert und damit transparent. Unbeeindruckt von
allem bürokratisch-politisch interessengeleiteten
Agieren des Meerbuscher Bürgermeisters Spindler als Repräsentant der nicht demokratisch legitimierten Meerbuscher Dorf-Elite. Auf dieses Buch
kann er keinen Einluss nehmen. Sollte er dies nach
Erscheinen juristisch versuchen (lassen), dann ist
dies ein Eingeständnis seiner schwachen Position.
Ein Pfeiler der speziisch Meerbuscher »Basiserzählung« wird sich damit pulverisieren. Und wir werden er-leben, was mit deren weiteren Pfeilern geschieht. Für Büderich insbesondere der historische
Kontext des HJ-Heims. Für Lank insbesondere die
Gustav-van-Beek-Allee, benannt nach dem ReckenNS-Kollegen. Die – neue – Volks-Gemeinschat der
speziisch Meerbuscher Dorf-Kultur bekommt Risse. Besser spät als nie. Gut für Gegenwart und Zukunt aller Menschen, die in Meerbusch leben.
»Die Sprache ist eine Wafe.
Haltet sie scharf.«
Kurt Tucholsky
Ernst Klee u.a. (HRSG), »Schöne Zeiten«, Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt a.M., 1988
14
| Die Entstehung des Buches
Die Gemeinden Osterath sowie Büderich und Lank bis 1945:
Katholische Dörfer mit Minderheiten
Die Gemeinde Osterath als eigenständige Kommune existierte bis 1970. Dann wurde die Stadt Meerbusch durch die Zusammenlegung der Gemeinden
Büderich, Lank und Osterath gegründet.
Ursprünglich gehörte das gesamte heutige Stadtgebiet zum Amt Linn des Kurfürstentums Köln. In
der napoleonischen Zeit zum Department Rur, dem
Arrodisment Krefeld, wobei Büderich zum Kanton
Neuss, die übrigen Ortsteile zum Kanton Uerdingen gehörten. 1816 wurde der preußische Regierungsbezirk Düsseldorf gebildet, der in seiner Form
bis heute besteht und zu dem das gesamte Meerbuscher Stadtgebiet gehört. Bis 1929 gehörte dabei
die Bürgermeisterei Büderich zum Kreis Neuss, die
Bürgermeistereien Lank und Osterath zum Kreis
Krefeld. 1929 kam es zur preußischen kommunalen
Neuordnung, deren Ergebnis u. a. die Bildung des
Kreises Kempen-Krefeld mit der Gemeinde Osterath und dem Amt Lank war. Für Büderich änderte
sich nichts. Diese Verwaltungseinteilung bestand
bis 1970.
In der Zeit des NS-Terrorregimes wurden zu den
bestehenden Verwaltungsgliederungen zum Ausgleich des Funktionsverlustes der Länder Provinzen
eingerichtet. Wobei seit 1933 bis 1945 der Oberpräsident der Rheinprovinz, dem die Meerbuscher Gemeinden angehörten, mit Sitz in Koblenz der Gauleiter in Essen Terboven war, der gleichzeitig 1940
bis 1945 Reichsstatthalter in Norwegen war.
Das heutige Meerbusch gehörte zum Gau Düsseldorf mit Friedrich Karl Florian als Gauleiter in
Düsseldorf. Bezüglich der Zivilverwaltung und des
Militärbezirks, der NS-Gliederungen sowie des
SD-Abschnitts und der Gestapo war Düsseldorf
zuständig. Wobei Osterath und Lank der GestapoAußendienststelle Krefeld zugeordnet waren.
Verlechtungen, die in der Eisenbahnlinie Köln –
Krefeld mit dem Bahnhof Osterath sowie der Straßenbahnlinie Düsseldorf – Krefeld über Büderich
und Osterath ihren augenscheinlichen Ausdruck
fanden.
Büderich gehörte zum Bistum Köln und zum Dekanat Neuss. Osterath und Lank zum Bistum Aachen,
wobei Lank dem Dekanat Krefeld und Osterath
dem Dekanat Willich zugeordnet waren.
Büderich gehörte zum evangelischen Kirchenkreis
Düsseldorf und zur Gemeinde Heerdt-Oberkassel.
Osterath und Lank waren dem evangelischen Kirchenkreis Mönchengladbach zugeordnet.
Mit der Seidenweberei Stein kam es in Osterath ab
1892 zu einem Zuzug von protestantischen Arbeitern. In einem Raum des Werkmeisters der Firma
Stein fand der erste evangelische Gottesdienst statt.
1939 besaß Osterath 80 evangelische Gemeindemitglieder.
In der Osterather Zeitung am 18. 3. 1933 lesen wir:
»Evangl. Gemeinde:
Ein Festtag ist für die Osterather evangl. Gemeindemitglieder der kommende Sonntag. Mit eigenen
Hilfskräten und aus eigenen Mitteln haben sie den
zu kleinen Kirchenraum in Steins Fabrik an der
Düsseldorferstraße vergrößert, so dass er in den
nächsten Jahren den Bedürfnissen genügend sein
wird. In einem Gottesdienst am 19. März, 5 Uhr,
zu dem Herr Superintendent Becker, Rheidt, die
Predigt zugesagt hat, wird er nun seiner erneuten
Benutzung übergeben.«
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und
der Herrschat der Nationalsozialisten durch USamerikanische Einheiten Anfang März 1945, die
Ende April 1945 durch Briten abgelöst wurden,
kam es zur Bildung von Besatzungszonen, wobei
das heutige Meerbusch zur britischen Besatzungszone gehörte.
Die Meerbuscher Gemeinden liegen linksrheinisch
zwischen den Großstädten Düsseldorf, Duisburg,
Krefeld und Neuss. Aus dieser Lage ergeben sich die
entsprechenden wirtschat lichen und politischen
Aus: Verwaltungsatlas der Rheinprovinz und angrenzenden Landesteile, (Stand 1936), hg. v. Landeshauptmann der Rheinprovinz, Düsseldorf 1937, S. 2
Katholische Dörfer
| 15
Der erste evangelische Gottesdienst in Büderich
wurde im April 1920 in einem Raum von Schloss
Meer durch Pfarrer Hötzel aus Düsseldorf-Heerdt
ausgerichtet. Der Schlossherr von der Leyen war
Protestant, damit Teil der kleinen Minderheit in
Büderich. Neben Pfarrer Hötzel betreute Pfarrer
Meyer aus Heerdt die Büdericher Gemeinde, die
1930 ein Haus an der Düsseldorfer Straße kaute
und die 1932 eine Kapelle errichtete, BetlehemKapelle genannt.
Für die beiden Repräsentanten der evangelischen
Kirche galt das, was auch für die evangelische
Kirche als Ganzes galt: Es ist eine »konservative Grundhaltung der im wilhelminischen –
evangelisch bestimmten – Obrigkeitsstaat verwurzelten evangelischen Kirche in der Zeit der Weimarer Republik festzustellen, ihre starken Vorbehalte
gegen das demokratische System und den Parteienstaat, die Verlechtung evangelischer Interessen
mit der Politik der politischen Rechten, insbesondere der Deutschnationalen Volkspartei.« So Peter
Dohms. Flugschriten in Gestapo-Akten, Siegburg
1977. S. 57. Pfarrer Hötzel gehörte zu den Gründern
der DNVP in Düseldorf-Oberkassel. (Gisbert Jörg
Gemein. Die DNVP in Düsseldorf 1918–1933. Diss.
Köln 1969. S. 142)
Pfarrer Gottfried Hötzel gehörte ab 1934 der Bekennenden Kirche an und wurde von deren Bruderrat gebeten, sich der evangelisch getauten rassisch
Verfolgten anzunehmen. 1940 wurde er nach einem
nicht-öfentlichen innerkirchlichen Vortrag bei der
Geheimen Staatspolizei denunziert, die ihn verhaftete. Die politische Justiz verbannte ihn nach etwa
drei Monaten Untersuchungshat nach Stuttgart,
wo er am 9. August 1940 »plötzlich verstarb«. Begraben ist er auf dem Heerdter Friedhof.
Jahr
1871
1925
1929
1933
1939
Büderich
gesamt
ev.
Juden
1917
12 1
–
4661
279 2
–
5064
5598
6801
Amt Lank
gesamt
ev.
Juden
3446
44
34 4
5198
138 5
32 5
5413
5359
199
12
5614
Osterath
gesamt
ev.
Juden
2152
11 6
–
4096
157
36
4135
4211
4313
10
Anmerkungen: 1 = 1857, 2 = 1916, 3 = 1917,
4 = 1858, 5 = 1905, 6 = 1900
Bevölkerungsentwicklung –
Nach Daten in Archivakten und Veröffentlichungen
vom Autor zusammengestellt.
16
| Katholische Dörfer
Der politische Mord war integraler Bestandteil der terroristischen NSDAP-Politik vor und
nach 1933. Mörder waren zumeist Angehörige
von SD, SS, SA oder Gestapo, nach 1933 dann
quasi staatlich.
Politik im nationalsozialistischen Verständnis
umfasste alle NS-Interessen, auch – und insbesondere – die rein ökonomischen. Wie beim
Mord an meinem Großvater.
Zur Lanker evangelischen Kirche:
»Erst seit dem 1. Advent 1924 fanden regelmäßige
Gottesdienste alle vier Wochen in einem kleinen
Saal des heutigen Gasthofes Postschänke, Ecke
Kempener Alle / Hauptsstraße statt. Hierzu kam
der evangelische Pfarrer aus Uerdingen. Aber schon
1928 wurde eine eigene Kapelle gebaut, unscheinbar
inmitten einer Häuserzeile an der Ossumer Straße.
Am 17. Februar 1929 wurde sie als ›Christuskirche‹
eingeweiht.«
Konrad Theis und Hans Schluning (Hrsg.). Der Kreis
Viersen am Niederrhein. Stuttgart 1978. S. 114.
Osterath und Lank gehörten zur Synagogengemeinde Krefeld, Büderich zu Düsseldorf. Juden waren
in Osterath und Lank, wo es auch Synagogen und
jüdische Friedhöfe gab, alteingesessen. Der Lanker
jüdische Friedhof besteht heute. In Büderich sind
nach den Archivunterlagen erst ab 1900 Menschen
jüdischen Glaubens nachweisbar.
Es gab auch eine sehr kleine Minderheit Konfessionsloser. Und Zeugen Jehovas.
Protestanten und Glaubens-Juden waren eine nur
kleine Minderheit.
In »Geschichte der Juden in Rheinland und Westfalen«. Köln 1998. S. 185, heißt es dazu:
»So kam es am Niederrhein bisweilen zu unerwarteten Allianzen zwischen der protestantischen und der jüdischen Minderheit; das
Motiv lag im gemeinsamen Groll gegen die
übermächtige und wenig tolerante katholische
Mehrheit.«
Die wesentlichen Faktoren bezüglich der soziologischen Struktur der Bevölkerung und der Erwerbstätigkeit in Büderich waren: Die K-Bahn
von Düsseldorf nach Krefeld, in deren Gefolge die
Stromversorgung folgte und die Industriealisierung
einsetzte – ab 1915 die Böhler-Stahlwerke, dadurch
bedingt ein massiver Zuzug industrieller Arbeitskräte. Wohnungen wurden vom 1924 gegründeten
»Gemeinnützigen Bauverein« errichtet. Die landwirtschat liche Produktion lag überwiegend im
von den Franzosen zwangsweise eingeführten Zuckerrübenanbau und dem Gemüseanbau. Es gab in
Büderich drei Getreidemühlen sowie ein Gaswerk.
Die wesentliche ökonomische Bedeutung hatte das
Stahlwerk der Firma Gebrüder Böhler & Co.
Die Struktur der Beschät igten, aus der auf die soziologische Struktur der Bevölkerung geschlossen
werden kann, sah für Büderich in der NS-Zeit wie
folgt aus:
12,4 % Land- und Forstwirtschat
57,5 % Industrie und Handwerk
13,8 % Handel und Verkehr.
Nach: Franz Schweren. Die wirtschaftliche Entwicklung des Kreises Grevenbroich seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Diss. Köln 1952, Anhang 2.
In Osterath waren die wesentlichen Faktoren für
die ökonomische Entwicklung die Bahnlinie Köln –
Neuss – Krefeld mit dem Bahnhof in Osterath
sowie die K-Bahn. 1929/30 wurde die Straße Kempen – St. Tönis – Willich – Osterath ausgebaut. In
der Landwirtschat dominierte der Ackerbau, vor
allem ein vielseitiger und intensiver Feldgemüseund Frühkartofelanbau.
In Osterath gab es nach: Maria Eickers und Josef
Wienands. Osterath unser Heimatdorf. Wattenscheid 1940 – zahlreiche kleinere und mittlere Unternehmen, u. a.:
Strümper Straße
Plattenfabrik Ostara (1933
versteigert), Krautfabrik
Krefelder Straße
Brauerei Bacher
Düsseldorfer Sraße Seidenfabrik Walter und
Lerecht Stein sowie
Drahtseilfabrik Stoessel
Willicher Straße
Sauerkrautfabrik
Ingerweg
RWE
Osterath war also auch bereits relativ stark industrialisiert, woraus auf eine ähnliche Struktur der
Bevölkerung wie in Büderich geschlossen werden
kann.
In Osterath gab es nach einer Meldung in der
Niederrheinischen Volkszeitung am 7. Februar 1933
70 Arbeitslose, in Lank 38; die Arbeitslosigkeit war
unterdurchschnittlich.
Erntedankfest 1934 in Osterath
Lank war verkehrstechnisch überwiegend durch
die M-Bahn von Düsseldorf nach Moers erschlossen. Die Industriealisierung hatte hier gerade erst
richtig eingesetzt, so dass auf eine mehr bäuerliche
Struktur vor allem in den Kleingemeinden wie z. B.
Nierst geschlossen werden kann.
Die politische Entwicklung lässt sich aus den
Reichtagswahlergebnissen ablesen (s. Seite 18)
Eine kurze Analyse der Reichtagswahlergebnisse
in Büderich, Lank und Osterath:
• Die KPD war in Büderich und Lank durchschnittlich vertreten, in Osterath stark überdurchschnittlich. Das ist für ein fast rein katholisches niederrheinisches Dorf sehr ungewöhnlich und war von
den prominenten aktiven Osterather Kommunisten wie Anton Wienands abhängig.
• Die SPD-Ergebnisse waren massiv unterdurchschnittlich.
• Büderich, Lank und Osterath waren Zentrumshochburgen. Das Zentrum hatte aber massive
Verluste bis zur Hälte ihrer Stimmenzahlen, bedingt auch durch die lokale rechts-katholische
Konkurrenz. Und die Abwanderung zur Rechten
und extremen Rechten.
• Die DNVP konnte ihren Anteil kontinuierlich
ausbauen, trotz ihrer Verluste auf Reichsebene.
Die Ergebnisse lagen dann im Reichsdurchschnitt.
• Die NSDAP-Ergebnisse waren unterdurchschnittlich.
• In Osterath war bis 1932 die KPD stärker als die
NSDAP.
• 1933 war das Zentrum nur noch in Lank stärker
als die NSDAP.
Wenn die Bevölkerung ganz überwiegend katholisch war: Woher rekrutieren sich die NSDAP-Mitglieder in Osterath?
Stahlhelm Osterath beim Exerzieren auf dem alten
Sportplatz – neben dem aufgehobenen und bereits
»umgelegten« jüdischen Friedhof
Katholische Dörfer
| 17
Die Gemeindeführung Osterath
venbroich war es Erich Börger. Erich Diestelkamp
wurde 1949 vom Schwurgericht Krefeld wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Die unterste staatliche Behörde war der Kreis. Nach
1933 gingen die Aufgaben des Kreistages und des
Kreisausschusses auf den Landrat über. Das »Führerprinzip«, so dann auch in den Kommunen.
Der Kreisleiter der NSDAP im Kreis Kempen-Krefeld, der bis zum 12. März 1938 mit der kreisfreien
Stadt Viersen geführt wurde, war bis 1937 Heinrich
Niem, der Sitz war in Kempen. Dann wurden die
NSDAP-Kreise neu geordnet. Im neuen NSDAPKreis Krefeld-Kempen wurde Erich Diestelkamp
Kreisleiter mit Sitz in Krefeld. Im Kreis Neuss-Gre-
Partei
Ort/Wahlkr.
1919
KPD
Reich
D’dorf-West
Neuss
Krefeld
Duisburg
Büderich
Lank
Osterath
Reich
D’dorf-West
Neuss
Krefeld
Duisburg
Büderich
Lank
Osterath
Reich
D’dorf-West
Neuss
Krefeld
Duisburg
Büderich
Lank
Osterath
Reich
D’dorf-West
Neuss
Krefeld
Duisburg
Büderich
Lank
Osterath
Reich
D’dorf-West
Neuss
Krefeld
Duisburg
Büderich
Lank
Osterath
–
–
–
–
–
SPD
Zentrum
DNVP/
Kampfbund
Schwarz
Weiß
Rot
NSDAP
18
| Katholische Dörfer
1920 1924a 1924b
Bürgermeister und »Führer der Gemeinde« von
1933 bis 1945 waren in Büderich Daniels, in Lank
bis 1933 Eugen Haiko Connemann, dann Gustav
van Beek – nach dem in Strümp eine Straße benannt ist –, und in Osterath bis Ende 1933 Rudolf
Bartels, dann Hugo Recken – nach dem in Osterath
eine Straße benannt ist.
Ortsgruppenleiter der NSDAP waren in Büderich
hintereinander Walter Becker, Heinrich Stamm,
Paul Stenz und Franz Orthmanns. In Lank hintereinander Otto Puhlmann aus Uerdingen, Albert
Wand, Friedrich Kirchhof und Zimmermann. In
Osterath bis 1941 Walter Panzer – mit einer kurzen,
aber entscheidenden Unterbrechung 1934. 1942
wurde Dohmen Nachfolger von Panzer.
1928
1930 1932a 1932b
1933
13,3
17,7
19,9
14,8
25,1
11,9
9,3
22,8
24,5
11,8
8,2
14,6
15,0
7,8
3,9
3,6
14,8
30,7
41,0
30,5
20,1
51,8
49,3
35,1
7,0
5,9
3,7
4,2
5,5
5,0
9,5
7,5
18,3
16,8
9,7
15,1
17,9
9,1
16,3
16,2
12,3
15,5
16,9
14,3
21,3
9,9
6,7
18,5
18,3
9,1
6,0
10,3
12,2
7,0
2,7
4,0
13,9
30,4
34,8
27,0
21,6
35,6
45,8
32,4
8,0
8,0
4,9
8,3
8,5
9,5
9,2
9,2
43,9
35,2
35,6
37,9
33,7
36,3
35,3
35,2
2,0
–
–
0
12,6
18,9
20,6
12,9
9,0
12,4
15,4
9,4
10,6
14,7
17,9
10,5
–
–
37,9
–
–
–
21,6
26,6
36,7
10,6
18,3
8,3
12,9
29,9
20,5
9,7
6,1
11,0
8,0
8,3
24,6
26,0
13,9
9,2
15,3
7,2
6,8
21,0
29,8
17,2
10,3
20,4
15,0
15,9
19,7
21,9
15,4
2,1
17,8
61,3
43,0
50,6
40,6
8,5
3,0
0,9
16,6
40,7
46,1
42,9
7,5
4,2
2,9
17,4
43,1
50,6
43,3
9,6
8,7
5,9
15,2
35,6
43,1
34,3
78,9
82,5
10,3
70,4
83,8
57,5
15,1
–
2,6
–
3,2
68,6
64,8
55,1
19,5
10,8
6,4
6,5
68,5
75,5
49,1
20,5
11,3
5,7
6,6
64,1
63,5
43,1
14,2
10,7
5,9
5,8
0,8
0,4
–
–
–
–
0,7
0,5
0,6
–
–
–
–
4,4
9,7
8,1
6,5
2,6
–
2,1
4,9
7,3
5,1
3,0
0,9
–
0,7
5,6
7,7
6,8
2,6
1,2
1,1
1,8
–
–
–
–
–
–
1,1
0,8
0,4
0,5
0,1
0,2
0,7
0,1
0,6
14,3
19,8
20,4
16,4
26,9
14,7
8,6
27,0
21,6
10,2
6,9
13,0
13,5
7,7
3,7
3,8
15,7
34,1
41,9
32,0
22,4
45,4
56,8
39,0
5,9
5,9
3,6
5,5
5,8
8,2
8,0
7,3
37,3
27,0
24,0
30,0
27,4
21,9
21,1
21,3
16,9
22,6
24,8
19,7
28,9
16,4
15,6
29,2
20,4
9,6
6,9
10,7
12,5
7,7
3,1
4,0
15,0
32,9
41,1
30,6
21,5
43,9
55,7
41,4
8,3
7,0
4,5
6,7
5,9
8,0
8,1
6,9
33,1
24,2
19,7
26,6
24,7
20,9
16,2
17,4
Die Reichstagswahlen in
Meerbusch –
Zusammenstellung des
Autors aus
Archiv-Akten,
Zeitungen und
Veröffentlichungen.
In den
Meerbuscher
Geschichtsheften 1 (1984)
veröffentlicht.
Kreisarchiv Viersen: Kreis Viersen-Kempen der NSDAP
Walter Panzer war ein alter Kämpfer: Am 28. Dezember 1925 in die NSDAP eingetreten, hatte er die
Mitgliedsnummer 26296.
In den drei Gemeinden waren die Gliederungen der
NSDAP vertreten sowie das Zellen- und Blockleitersystem voll ausgebaut.
Vor 1933 war die NSDAP im Kreis KempenKrefeld eine kleine Minderheit. Bevor am 23. Januar
1933 eine eigene Kreisorganisation unter Heinrich
Niem zusammen mit der kreisfreien Stadt Viersen
gebildet wurde, »galt unser Gebiet für den Gauleiter als ›dunkler Punkt‹ im Geschehen des Gaues
Düsseldorf«, so »Rückblick auf den Kreis KempenKrefeld 1933–1938«, S. 10. »Dunkler Punkt« als Anspielung auf »Schwarz« im Sinne von Katholizismus
und Zentrumspartei.
Mitgliederzahl stieg bis 1938 auf 9.500, davon waren
1.878 politische Leiter, rund 1.000 SA-Leute, einige
Hundert SS-Angehörige sowie 5.795 Walter und
Warte. Weiter gab es 32.350 Mitglieder der NSV
sowie 34.000 Mitglieder der DAF – beides nicht an
eine NSDAP-Mitgliedschat gebunden. Deswegen
gern gewählt, um Systemtreue ohne Parteimitgliedschat zu demonstrieren.
In Lank wurde Anfang 1932 mit sieben Parteimitgliedern ein der Ortgruppe Osterath unterstellter
Stützpunkt unter Richard Urbas gegründet. Der
»Nach Hitlers Ansicht soll die Partei klein sein.«
Konrad Heiden. Hitler. 1936. Bd. 1. S. 122.
Anfang 1933 gab es 19 Ortsgruppen mit 734 Parteimitgliedern. Nach dem 30. Januar 1933 traten in
kurzer Zeit 4.370 Personen in die NSDAP ein, wie
Hugo Recken und später Johannes Herbrandt. Die
Schützenkönig Osterath mit Anhang –
im Hintergrund Ortsgruppenleiter und SA-Führer
Katholische Dörfer
| 19
Ortsgruppenleiter
Organisationshandbuch der NSDAP:
Der Ortsgruppenleiter der NSDAP
Adj.
SA.
Schulungsleiter
Organisat.leiter
PresseBeauftragter
Kassenleiter
NSKK.
HJ.
Statistik
Personalamtsleiter
NSFK.
Ausbildungsleiter
Hilfskassenobmann
Propagandaleiter
Geschäftsführer
Kultur
Rundfunk
Fillm
nur bei Notwendigkeit
landwirtsch.
Fachberater
NSKOV.
NSBO.
NS.Frauenschaft
Amt für Volkswohlfahrt
mittelbar betr. Org.
Kameradschaft
Reichsnährstand
angeschl. Verband nur bei Notwendigkeit
DAF. u. Kdf.
NSV.
Deutsches
Frauenwerk
angeschl. Verband
angeschl. Verband
angeschl. Verband
Parteizellen
Parteiblocks
örtliche Polizeidezernent Senger, gleichzeitig örtlicher Zentrumsvorsitzender, ging massiv gegen die
Flugblattverteilungen der Lanker Nationalsozialisten vor. Dies wurde vom Gendarmeriewachtmeister Füßel unterlaufen, der die Nationalsozialisten
regelmäßig warnte und bezeichnenderweise später
entsprechend scharf gegen Lanker Kommunisten
vorging. Am 30. Januar 1933 wurde der Stützpunkt –
nachträglich, also symbolisch – in eine Ortsgruppe umgewandelt. Ortsgruppenleiter wurde Kuhlmann.
»Das Führerprinzip durchläut die Partei von
oben bis unten. Grundsätzlich wird keine Organisation, keine Gliederung, keine Gruppe ins
Leben gerufen, bevor ein geeigneter Mann als
Führer gefunden ist.«
Konrad Heiden. Hitler. 1936. Bd. 1. S. 122.
In Osterath führte der örtliche Vertrauensmann
der NSDAP Walter Panzer – nomen est omen – am
5. September 1930 eine erste öfentliche Versammlung durch. Die Parteigründungsversammlung, bei
der Panzer Stützpunktleiter wurde, fand am 10.
Dezember 1930 statt. Ende 1930 gab es in Osterath
zehn NSDAP-Mitglieder. Im April 1931 wurde unter Ludwig Hever der SA-Sturm Osterath gebildet,
zu dem auch Willich, Schiebahn und Lank-Latum
gehörten. Ende 1931 hatte die NSDAP in Osterath
25 Mitglieder. Ortsbauernführer in Osterath war
Karl Sassen. Osterather Nationalsozialisten beteiligten sich an heimlichen Schießübungen in einer
Kiesgrube bei Willich-Schiebahn.
Als ein unbeteiligter Radfahrer angeschossen wurde, kamen diese Aktivitäten an die Öfentlichkeit.
Für die bekannten Beteiligten folgenlos. Der – bürokratische – Rechtsstaat in Person von zuständigen
Polizisten sowie Staatsanwälten und Richtern hatte
bereits vor dem 30. Januar 1933 aufgehört zu leben,
eine Vorab-Gleichschaltung betrieben, was den
Nationalsozialisten zusätzlichen Rückenwind gab.
Unabhängig von quantitativen – Anzahl – und qualitativen Qualii kationen für Führungspositionen
aller gesellschat licher Institutionen – Aspekten.
Die katholische Geistlichkeit war immer eng mit
der Zentumspartei verbunden.
»Als Organisator, Einberufer, Redner und Kandidat führten die Pfarrer und Kapläne, die katholischen Lehrer und Rektoren und andere
der katholischen Kirche verbundenen Personen
die Wahlkämpfe des Zentrums. Ihnen wurde
deutlich bewusst, dass unpolitische Tradition bei den Zentrumswählern gegen politische
Überzeugungen bei anderen Parteien stand.
Energische Anstrengungen insbesondere die
›katholische Aktion‹, eine Mobilisierung aller
katholischen Vereine, kamen zu spät.«
Konrad Theiss und Hans Schluning (Hrsg.). Der
Kreis Viersen am Niederrhein. Stuttgart 1978.
Firma Stein in Osterath, Mai 1934
20
| Katholische Dörfer
Die Allianz von katholischer Geistlichkeit und
katholischer Gemeindeelite wollte die – politische –
Macht als Selbstverständlichkeit, bedingt durch
die konfessionelle Struktur: fast ausschließlich
katholisch. Den gesellschat lichen Wandel verstanden sie nicht und dass Menschen sich auch anders als von ihnen verordnet orientieren könnten.
Sie konnten ausschließlich in ihren ideologischen
Kategorien denken und handeln, ausschließlich ihre eigenen Interessen – gegen alle anderen
Ehrung mit Flagge und Hitlergruss
Gruppen – vertreten. So war dann eine »Öfnung«
in die – katholische – Gesellschat unglaubwürdig,
daher ohne Erfolg. Denn diese »Öfnung« hatte
lediglich die Konservierung der bestehenden – katholischen – Verhältnisse zum Ziel.
Und wozu sollte auch mobilisiert werden? Gab es
doch einen starken Rechts-Katholizismus, der große ideologische Schnittmengen mit der NS-Ideologie hatte – bis hin zum Antisemitismus. Personiiziert ist dies durch den Nazi-Kaplan in Osterath
Hilmer. Und die rechts-katholische ZentrumsAbspaltung »Gerechter Ausgleich«, die in Osterath
bei Kommunalwahlen zu Lasten des Zentrums
Erfolg hatte. Was dann folgerichtig war: Nach dem
30. Januar 1933 sind die Gemeinderatsmitglieder
von »Gerechter Ausgleich« schnell zur NSDAPFraktion übergetreten. Und der »Stahlhelm« war
auf allen Ebenen Bündnispartner der NSDAP – bis
er später selber ausgeschaltet wurde.
Für die NS-Zeit:
Lothar Klouten. Kirche und Katholiken im Raum
des heutigen Meerbusch während der Zeit des Nationalsozialismus. Volkshochschule Meerbusch 1988
(Meerbusch im Unterricht).
Darstellung mit Quellen, pädagogischer Begründung und Quellenangaben.
Daraus:
»Die Zentrumspartei
Der politische Arm des Katholizismus, die
Zentrumspartei, die im Raum des heutigen
Meerbusch eine Hochburg hatte, verlor aufgrund der Konkordatspolitik des Vatikans, die
auf eine Preisgabe des Zentrums zur vermeidlichen Sicherung kirchlicher Rechte hinauslief,
auch hier im März 1933 jede Bedeutung, um
sich dann im Juli 1933 selbst aufzulösen.«
»Nazi-Kapläne
In Osterath amtierte 1930 bis 1933 Kaplan Peter
Hilmer.«
»Osterather Geistliche und Gläubige
Pfarrer in Osterath waren 1923–1938 Ludger
Pörting, 1938–1955 Joseph Hövelmann. Hövelmann stellte in seiner Chronik besonders
heraus, dass der Weihbischof bei einem Besuch
1939 mit ›Grüß Gott‹ willkommen geheißen
wurde, und er schreibt von einer ›gut besuchten
Festandacht im Sinne des Priestertums‹.
Kaplan Josef Conrads wurde bei der Gestapo
Düsseldorf 1935 wegen des Verdachts staatsabträglicher Äußerungen in einer Predigt aktenkundig und 1942 versetzt.
Zwölf Osterather Bürger wurden bei der Gestapo Düsseldorf wegen eines Verstoßes gegen
das Reichlaggengesetz aktenkundig: Sie hatten
anlässlich der Fronleichnamsprozession 1938
an ihren Häusern rot-weiße Kirchenfahnen
aufgehängt.«
Die katholisch-dörliche Entwicklung ist in den
Lokalzeitungen nachvollziehbar. Am 26. September
1931 erschien die erste Ausgabe der »Katholische
Volkswacht für die Bürgermeistereien Osterath,
Büderich, Lank und Kaarst«. Ab dem 1. November 1931 erschien sie unter dem Titel »Osterather
Zeitung. Amtliches Mitteilungsblatt der Gemeinde
Osterath, verbunden mit dem Osterather Anzeiger
und der Katholischen Volkswacht«.
Bürgermeister Rudolf Bartels hatte also – politisch – entschieden, dieses neue katholische Lokalblatt zum amtlichen Mitteilungsblatt der Gemeinde
Osterath zu machen.
In der Rheinischen Post am 5. Februar 1988 lesen
wir unter der Überschrit »Katholische Volkswacht
in Osterath gedruckt: ›Die deutsche Frau schminkt
sich nicht‹«: »Die Bände kamen eigentlich mehr zufällig ans Licht. Angelika Schischke, seit zehn Jahren Chein der Druckerei Hamacher in Osterath,
hatte gar keine Ahnung gehabt, welche verstaubten
Schätze auf dem Dachboden ihres Hauses lagern.
Mit der Nase darauf gestoßen wurde sie von einem
Studenten.« Der Student war ich und wohnte etwa
hundert Meter entfernt. Wie vom alten Rathaus
Osterath, wo ich die Einwohnermeldekarten der
Gemeinde Osterath bis 1945 entdeckte.
Herausgeber der bis zum 27. Juni 1936 erscheinenden Zeitung – also vier Jahre und neun Monate,
zweimal wöchentlich: d. h. 114 Ausgaben – war
Hubert Karl Meyer, geboren am 24. Mai 1888. Das
Original beindet sich in der ehemaligen Druckerei
Hamacher in Osterath, Ingerweg 2, das Stadtarchiv
Meerbusch hat eine Mikroveri lmung erstellt.
Hubert Karl Meyer wurde bei der Gestapo 1935,
1939 und 1940 wegen »staatsabträglicher Äuße-
Katholische Dörfer
| 21
rungen« aktenkundig: RW 58-25749 und D.33054.
Begründung: »Heimtücke« und »Opposition«. 1938
wurde er aus der Berufsliste der Schrit leiter gestrichen, erhielt also Berufsverbot. Nach der Befreiung
von Osterath am 1. März 1945 durch US-amerikanische Einheiten nahm er seine journalistische Tätigkeit wieder auf. Dabei trat er durch Artikel gegen
den vom US-Ortskommandanten im April 1945
eingesetzten evangelischen Bürgermeister Rudolf
Bartels hervor.
Auf der Titelseite der Erstausgabe am 26. September
1930 lesen wir die progammatische Erklärung des
Herausgebers Hubert Karl Meyer:
»Dem gläubigen Volke werde ich berichten über die
Versuche des Unglaubens, in unsere gottgläubigen
Gegenden einzubrechen.« Dies am 26. September
1930, nachdem der spätere NSDAP-Ortsgruppenleiter Panzer am 5. September 1930 die erste öfentliche NSDAP-Veranstaltung in Osterath durchgeführt hatte. Wenn ein Glaube auf dem ureigensten
Feld Konkurrenz erhält, dann gibt es eine Gegenreaktion. Gegen »die insteren Mächte, die nicht aus
Gott sind ... hier kenne ich keine Toleranz und keine Rücksichten! ... Mein Kampf gilt dem Unglauben
überall.« Die Übernahme der Formulierung »Mein
Kampf« ist bezeichnend. Und gilt »Mein Kampf«
auch Protestanten und Juden, allen Minderheiten?
Und was passiert, wenn aus der – bekämpten –
Minderheit der Nationalsozialisten »der Kaiser«
wird?
Osterather Zeitung
26. September 1930:
An meine Leser
22
| Katholische Dörfer
In der Osterather Zeitung vom 25. März 1933 steht
geschrieben:
»Kirchliche Gründungsfeierlichkeiten der
kath. Jungschar und Sturmschar.
Am kommenden Sonntag indet Nachmittags
½ 3 Uhr die feierliche Gründung der Jungschar und Sturmschar statt. Diese Sturmscharen sollen durch die Schule der harten Selbsterziehung gehen, um treue und begeisterte
Glieder ihrer Kirche und ihres Vaterlandes
zu werden. Sie wollen zeigen, dass katholischsein und deutsch-sein kein Widerspruch ist,
dass vielmehr der katholische Jungmann auch
der opferbereite Diener seines Vaterlandes ist
und sich aus der religiösen Haltung heraus die
Krat holt, sich ganz seinem Volke und seinem
großen deutschen Vaterlande zu weihen! Die
Aufnahme wird von Pfarrer Pörting vorgenommen. Die Predigt hält der Präses, Kaplan
Hilmer. – Der Kirchchor wird unter Leitung
des Organisten Tepel die Feier durch den Vortrag verschiedener Werke verschönern. – Da
diese Feierstunde mit der gewöhnlichen Sonntagsandacht zuammenfällt, wird der Besuch
ein starker sein.«
Ein wenig pointiert formuliert: Gegründet wurde
die rechts-katholische HJ.
In der Folgeausgabe der Osterather Zeitung ist
zu lesen:
»Kirchliche Gründung einer Jungschar
und Sturmschar.
Am vergangenen Sonntag wurden in einer erhebenden Feier die Jungschar und Sturmschar
des katholischen Jünglingsvereins gegründet.
In ihren schmucken Kitteln versammelten
sich die Jungen vor dem Jugendheim und zogen im geschlossenen Zuge unter Vorantritt
des großen Christusbanners zur Kirche. Nach
dem schönen Vortrag des Ave Maria durch den
Kirchenchor unter der Leitung des Organisten
Tepel hielt Kaplan Hilmer eine großangelegte
Predigt über das Wollen, den Geist und die Arbeit der Jungsschar und Sturmschar, die tiefen
Eindruck auf die zahlreich erschienenen Gläubigen machte. Nach der Predigt gruppierte sich
die Schar um den Altar, um das Glaubensbekenntnis abzulegen; darauf wurde jedem Einzelnen von Pfarrer Pörting und Assistenz der
Kapläne Brandenburg und Hilmer das Christusabzeichen angehetet. Mit viel Begeisterung
sangen Jungschar und Sturmschar ihr Christuslied. Der sakramentale Segen und das Lied
›Fest soll mein Taubund immer stehen‹ beschloß die ergreifende Feier, die allen Anwesenden noch lange in Erinnerung bleiben wird.«
Was fällt auf? Die gesamte Osterather katholische
Geistlichkeit war beteiligt.
Die Mitglieder des rechts-katholischen HJ waren dann schnell in der Original-HJ.
Am 3. Mai 1933 berichtet die Osterather Zeitung
über eine Rede von Kaplan Hilmer beim »Fest der
Nationalen Arbeit« am 1. Mai 1933:
»Alle Arme heran, um Adolf Hitlers Ziele
zu erreichen.«
Am 5. Mai berichtet die Osterather Zeitung:
»Das Fest der nationalen Arbeit wurde auch in unserer Gemeinde gebührend gefeiert. Straßen und
Häuser waren festlich geschmückt und überall sah
man reichen Flaggenschmuck. Am Vorabend versammelten sich die Abordnungen und Formationen
auf dem Kirmesplatze, um die Maitanne am Bovert
abzuholen und zum Sportplatz zu überführen. Bei
einem kurzen Festakt erfolgte dort die Aufstellung
derselben, wobei Ortsgruppenleiter Panzer in einer
Ansprache auf die Bedeutung dieses sinnreichen
alten Brauchs verwies. Herrlicher Frühlingssonnenschein war dem Feiertag, dem 1. Mai, beschieden.
Die Betriebsgemeinschaten versammelten sich
Osterather Zeitung 31. Mai 1933: Kaplan Hilmer auf
der Schlageter-Feier in Düsseldorf
morgens in ihren Betrieben zu einer kurzen Feier,
wobei die Verplichtung der neuen Vertrauensmänner erfolgte. Bei der Firma Walther & Lebrecht
Stein A-G. nahmen auch Ortsgruppenleiter Panzer und Propagandaleiter van Well an dieser Feier
teil. Die Feuerwehrkapelle spielte den Einleitungsmarsch, worauf Herr August Stein besonders den
Ortsgruppenleiter herzlich begrüßte. In feierlicher
Handlung verplichtete er dann den neugewählten
Vertrauensrat der Firma. Betriebszellenobmann
Matthias Dörper dankte dann für das entgegengebrachte Vertrauen und versprach, immer nach dem
Grundsatz ›Gemeinnutz vor Eigennutz‹ handeln zu
wollen zum Wohle der Firma und der Belegschat.
Ortsgruppenleiter Panzer dankte für die Einladung
und wünschte der Firma einen weiteren erfolgreichen Aufstieg. Rechtsanwalt Kauf mann gab kurz
die Richtlinien des neues Arbeitsgesetzes bekannt,
worauf er ein dreifaches Sieg-Heil ausbrachte und
das Deutschlandlied anstimmte. Herr August Stein
schloß hierauf die Feier mit dem Wunsche nach einem guten Arbeitserfolg. In der Pfarrkirche wurde
um 8 Uhr ein Hochamt zur Erhaltung des Segens
für Volk und Vaterland gehalten. Um 10 Uhr ver-
Katholische Dörfer
| 23
Ortsgruppenleiter
Adj.
SA.
Schulungsleiter
Organisat.leiter
Kassenleiter
PresseBeauftragter
Hilfskassenobmann
Propagandaleiter
Geschäftsführer
Kultur
Rundfunk
Fillm
NSKK.
HJ.
Personalkartei
wird v. Ortsgruppenleiter persönl. geführt
Statistik
Marschblockleiter
Nr.
54
nur bei Notwendigkeit
landwirtsch.
Fachberater
Handwerk
u. Handel
NSBO.
Amt für Volkswohlfahrt
NS.Frauenschaft
DAF. einschl.
Kdf.
NSV.
Deutsches
Frauenwerk
angeschl. Verband
angeschl. Verband
angeschl. Verband
Der Ortsgruppenleiter
der NSDAP 1937,
grafische
Darstellung
der horizontalen
Gliederung
der Ortsgruppe
mittelbar betr. Org. nur bei Notwendigkeit
Reichsnährstand
nur bei Notwendigkeit
Parteizellen
Parteiblocks
sammelten sich die Formationen auf dem Schulhofe
Bovert zu einem Festzug durch den Ort, worauf die
Betriebsgemeinschaten in der Lokalen bei Freibier,
Musik und Tanz in echter Kameradschat frohe
Stunden erlebten. Nachmittags maschierten die
Formationen nochmals vom Sportplatz zum Saale
Dörper, wo die Übertragung der Führerrede gehört
wurde. Bei frohem Tanz in allen Sälen fand der
denkwürdige Tag seinen Abschluss.«
Horst Klemt schreibt zu Kaplan Hilmer (S. 41):
»Er war ein frühes Mitglied der NSDAP und trug
das Parteiabzeichen an seinem schwarzen Rock ...
Er sprach am 9. November (1933, LK) im Saal Dörper lankiert von SA-Männern über den NS-Putsch
an der Feldherrenhalle in München (1923, LK). Danach suspendierte ihn der Bischof vom Dienst und
gab ihm später die Stelle eines Geistlichen in einer
Strafanstalt.«
Bereits am 1. Mai 1933 ist in Osterath die katholischnationalsozialistische dörliche Volksgemeinschat
in Takt – und im Takt. Und: Im Sinne des NSDAPProgramms »Gemeinnutz vor Eigennutz« – für die
der Volksgemeinschat zugezählten Menschen und
nach dem Führerprinzip als selbstverständliche
eigeninitiative Realisierung des Kernziels: die Ermordung aller »Gemeinschatsfremden«, zuvorderst die willkürlich als »Juden« dei nierten Menschen. Die vernetzte NS-Ideologie.
In der Osterather Zeitung am 24. November 1934
ist zu lesen:
»Kaplan Hilmer ist jetzt zum Kaplan an St. Fronleichnam in Aachen ernannt worden.«
Am 31. Mai 1933 lesen wir in der Osterather Zeitung (siehe Artikel auf Seite 23):
»Die perfekte Symbiose von Rechts-Katholizismus und Nationalsozialismus, vereinte Glauben in Schlageter und damit im »Führer«: Eine
Kultur des Todes.«
24
| Katholische Dörfer
Warum reagierte der Aachener Bischof so?
Kaplan Hilmer war über die vom Aachener und
anderen Bischöfen gewünschte Kollaboration mit
den Nationalsozialisten zu einer ofenen Symbiose mit ihnen übergegangen. Da dies öfentlich geschah, musste er aus der Öfentlichkeit entfernt
werden. Andernfalls, wenn er »nur« persönlich vor
Ort z. B. mit Ortsgruppenleiter Panzer kollaboriert
hätte, wäre der Bischof nicht tätig geworden. Pfarrer Pörting und Kaplan Brandenburg wurden vom
Bischof nicht gemaßregelt.
Ca. 8 % der Osterather waren NSDAP-Mitglieder, entsprechend der Einwohnerstruktur ganz
überwiegend Katholiken. Ein unterdurchschnitt-
licher Wert. Der nichts über die qualitative Seite
der NSDAP-Mitgliedschat aussagt. Denn: In der
von führenden Osterather Nationalsozialisten 1945
auf Veranlassung des Ortkommandanten erstellten NSDAP-Mitgliederliste – die im Stadtarchiv
Meerbusch und im Kreisarchiv Viersen überliefert
ist – inden wir neben Hugo Recken und Johannes Herbrandt einen guten Teil der katholischen
Dorfelite Osteraths. Wie Schulrektoren und Lehrer
sowie weitere bekannte Persönlichkeiten. Dafür ist
ein 1940 veröfentlichtes Buch der Osterather Nationalsozialistin und Lehrerin an der katholischen
Dorfschule Osterath Maria Eikers gemeinsam mit
dem aktiven Osterather Nationalsozialisten und
Lehrer an derselben Schule Josef Wienands mit
»Zum Geleit!« des Osterather Nationalsozialisten
und Leiters dieser Schule Hans Neuer sowie einem
Vorwort von Pg. und Bürgermeister Hugo Recken
»Erblicken wir alle in diesem Heimatbuch einen
Wegweiser zur echten Volksgemeinschat«, mit
dem Titel »Osterath unser Heimatdorf« symbolisch
für die intensive Vernetzung von Osterather katholischer Gemeindeelite und Osterather Katholischen
Nationalsozialisten.
Im Buch lesen wir:
»Feiertage des deutschen Volkes
Der Führer hat Geburtstag
Am 20. April hat der Führer Geburtstag ... Da
freut sich der Führer. Er weiß, dass das Volk
ihn gern hat. Alle Deutschen wünschen ihm
ein langes Leben und Krat zu seiner schweren
Arbeit für das Vaterland.
Hitler ... Gott rief eines Volkes Seele, und diese
Seele bist du.
Von den Germanen
Zeichen: ... Hakenkreuz als Siegeszeichen
Das Hakenkreuz im weißen Feld auf feuerrotem Grund
Gibt frei und ofen aller Welt die hochgemute
Kunde:
Wer sich um dieses Zeichen schart, ist deutsch
mit Seele, Sinn und Art und nicht bloß mit dem
Mund.
Die Adolf-Hitler-Straße
... Erzähle aus dem Leben Adolf Hitlers!
Unsere Kirche erzählt!
... Nun aber schau ich wieder froh auf Osterath,
da die Menschen auch hier wieder froh geworden sind, da sie seit 1933 durch unseren Führer
Adolf Hitler Arbeit und Brot gefunden haben.
Jetzt ist wieder Krieg. Hunderte Osterather
sind gegen unsere Feinde ausgezogen. Es gilt
nur noch, Deutschlands letzten Feind, England, niederzuringen. Unsere Truppen stehen
nach glorreichen Siegen in Polen, Dänemark,
Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich
vor Englands Toren. Auch dieser Feind wird
besiegt. Dann läuten meine Glocken vom großen Sieg und langem Frieden.
Wie die Gemeinde verwaltet wird
Der Führer der Gemeinde ist der Bürgermeister. Unser jetziger Bürgermeister heißt Hugo
Recken ... Für den Krieg werden jung und alt im
Lutschutz ausgebildet.
Adolf Hitler, Führer und Reichkanzler
Wie er das Vaterland regiert
... wie der Bürgermeister in der Gemeinde, so
hat der Führer im großen deutschen Vaterland
viele Helfer.
Wie Osterath Führer und Helden ehrt
Jeder in unserer Gemeinde weiß, wie gut der
Führer schon für das ganze deutsche Volk gesorgt hat. Alle sind ihm dankbar.
Unser Kriegerdenkmal
1938 lebten 4.418 Einwohner in 1.186 Haushaltungen, die in 6 Zellen und 30 Blocks aufgeteilt waren.
Etwa 30 % der Parteigenossen übten eine aktive Tätigkeit für die NSDAP oder eine ihrer Untergliederungen aus. Das bedeutet für Osterath ca. 75 aktive
Nationalsozialisten, davon gut die Hälte Politische
Leiter. »Politischer Leiter« als stellvertretender
Blockleiter eines der Blocks war ab 1937 Johannes
Herbrandt.
»Die Hochburgen der Loyalität sind das Kleinbürgertum und die gehobenen Mittelschichten in der Provinz.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939.
Wie sich 1931 ein »von antisemitischen Stereotypen
seiner Umwelt geprägter Neunjähriger ›Juden‹ vorstellt«:
»Ich hatte noch keinen Juden gesehen, doch
aus den Gesprächen der Erwachsenen schon
viel über sie erfahren: Die Juden hatten alle
eine krumme Nase und schwarze Haare und
waren Schuld an allem Schlechten in der Welt.
Sie zogen den ehrlichen Leuten mit gemeinen
Tricks das Geld aus der Tasche und hatten
die Krise gemacht, die meines Vaters Drogenhandlung abzuwürgen drohte, sie ließen den
Bauern das Vieh und das Korn wegholen und
kauten von überall her Getreide zusammen,
gossen Brennspiritus darüber und schütteten es dann ins Meer, damit die Deutschen
verhungern sollten, denn sie hassten uns
Deutsche über alle Maßen und wollten uns
vernichten.«
Franz Führmann. Das Judenauto. Vierzehn Tage
aus zwei Jahrzehnten. Berlin 1969. S. 8.
Katholische Dörfer
| 25
Von Osterather NSDAP-Funktionären auf Befehl
des US-Ortskommandanten Sewell erstellte NSDAPMitgliederliste im April 1945
26
| Katholische Dörfer
Katholische Dörfer
| 27
Stadtarchiv Düsseldorf: Mitglieder der N.S.D.A.P.-Fraktion der Landgemeinde Osterath
28
| Die erste Intrige
1933: Die erste Intrige gegen den evangelischen Bürgermeister
Rudolf Bartels
Wie der Katholik Hugo Recken durch die dazu
instrumentalisierten Nationalsozialisten
Bürgermeister in Osterath wurde und sein Sieg
über die örtlichen NSDAP-Funktionäre
sowie die geschichtswissenschaftliche Bewertung
ter Panzer und dem Führer der SA der Ortsgruppe
Ludwig Heyer sofort gesagt, dass das Hissen der
Flagge stattinden könne, unter der Bedingung,
dass zugleich mit der Hakenkreuzfahne auch die
schwarz-weiss-rote und die schwarz-weisse Flagge
am Rathaus gezeigt würden.«
»Bist alsobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.«
Am 15. April 1933 ist in der Osterather Zeitung
zu lesen:
Johann Wolfgang von Goethe
»Unsere Vorgänger waren 14 Jahre an der Macht.
Nun werden wir sehen, ob wir so lange durchhalten können.«
Hermann Göring am 30. Januar 1933
Nach: Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S. 59.
Rudolf Bartels, geboren am 9. März 1878 in Wesel,
war seit 1918 Bürgermeister in Osterath. Er war
evangelisch, Demokrat und trat nach dem 30. Januar 1933 nicht in die NSDAP über.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er vom Gemeinderat Osterath sowie Kreistag Krefeld jeweils einstimmig zum Bürgermeister von Osterath gewählt.
LAV NRWR, BR 0007, Nr. 32365
Wer sich nicht – äußerlich – anpasst, der wird aus
dem Amt genötigt. Die politische Strategie: Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung »feststellen«
und dann so lange den Druck erhöhen, bis der
Betrofene »freiwillig« geht – oder gegangen wird.
Die konkrete strategische Methode in Osterath:
Bildung eines NSDAP-Untersuchungsausschusses
des Gemeinderates. Dieser Gemeinderat bestand
dann ausschließlich aus acht Nationalsozialisten,
weil die Gemeinderatsmitglieder der anderen Parteien illegal ausgeschlossen, ja wie Anton Wienands
im KZ waren, oder zur NSDAP-Fraktion übergetreten waren, wie die von »Gerechter Ausgleich«.
In einer Prozessakte des Landgerichts Krefeld
inden wir eine Eidesstattliche Versicherung von
Rudolf Bartels vom 3. April 1933 zu Geschehnissen
am 10. März 1933:
»... dass ich, als eine Abordnung der Nationalsozialisten, zu denen sich dann noch der Führer
des Stahlhelms gesellte, zu mir kam, um mir vorzuschlagen, aus Anlass des Wahlerfolges der Nationalsozialisten die Hakenkreuzfahne zu hissen, den
betrefenden Herren, und zwar den Ortgruppenlei-
»Untersuchungsausschuss
Der Untersuchungsausschuss Osterath teilt
mit, dass bei der Überprüfung der Verwaltung
Unstimmigkeiten verschiedenster Art festgestellt wurden, und bittet die Bevölkerung, den
Untersuchungsausschuss-Mitgliedern ungeklärte Angelegenheiten persönlicher Art zu
übermitteln. Die Angaben können entweder
bei den Untersuchungsausschuss-Mitgliedern
Walter Panzer ... Wilhelm Bäcker ... Julius
van Kessel ... Josef Lenssen ... Lorenz Schnapp
... oder Dienstags und Freitags in der Zeit von
11–12 Uhr im Bürgermeisteramt Zimmer 5 gemacht werden.«
Zimmer 5 im Rathaus war das Partei-Büro der
NSDAP-Ortsgruppe Osterath. Wie es in Zeit-Dokumenten heißt: »Einheit von Partei und Staat.« Die
Einwohner von Osterath wurden zur Denunziation
von Bürgermeister Rudolf Bartels aufgefordert. In
»seinem« Rathaus – als Machtdemonstration.
Denunziation aus der Mitte der Gesellschat war
ein Herrschatsinstrument der Nationalsozialisten,
das deswegen sehr efektiv war, weil viele Menschen
keiner Auforderung zur Denunziation bedurten.
Die NS-Ideologie war in der breiten Mitte der Gesellschat.
Das »Bauernopfer« in der Intrige gegen Bürgermeister Rudolf Bartels war Gemeinderentmeister – Gemeindeinanzchef – Schweigerer. In einem
Schreiben zu dessen Zwangsbeurlaubung formuliert Bartels am 9. Mai 1933 gegenüber dem Vorsitzenden des Kreisausschusses Kempen-Krefeld (KK
1022 Bl. 142): »... weil mir die Unterlagen nicht zur
Verfügung stehen. Diese beinden sich heute noch
bei der hiesigen Ortsleitung der N.S.D.A.P.« Darin
nimmt Bartels u. a. Bezug auf ein Schreiben des Osterather Ortgruppenleiters Panzer an Schweigerer.
(KK 1022 Bl. 164)
Die erste Intrige
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Ortsgruppenleiter Panzer 08. 05. 1933 an Schweiger
Der »Bericht« des NSDAP-Untersuchungsausschusses (KK 1022 Bl. 190 –192) mit einer Liste von Behauptungen gegen Bürgermeister Rudolf Bartels
geht am 2. Juni 1933 auf dem Postweg an den Landrat im Kempen: »Der vom Gemeinderat eingesetzte
Untersuchungsausschuss beantragt hiermit, gegen
den Herrn Bürgermeister Bartels, Osterath, ein
Disziplinarverfahren auf Grund der in dem beiliegenden Protokoll gemachten Feststellungen einzuleiten.« (Bl. 201)
Am 11. Juni 1933 erscheint im »Generalanzeiger für
Dortmund« ein lancierter Artikel:
»Nur Schulden machte er
Disziplinarverfahren gegen Bürgermeister von Os-
30
| Die erste Intrige
terath. Vom Prüfungsausschuss für Verwaltungsgeschäte ist ein Antrag auf Einleitung des Disziplinarverfahrens gegen Bürgermeister Bartels gestellt
worden, der die kaum 4.000 Einwohner starke
Gemeinde auf eine Schulenlast von über 1,5 Millionen heruntergewirtschatet hat, Bartels ist einer
der fanatischsten Zentrumsbonzen und Feinde der
NSDAP, die jemals einen Bürgermeistersessel am
Niederrhein gedrückt haben.«
Der Charakter des Artikels wird auch dadurch
deutlich, dass Bartels nie Mitglied der Zentrumspartei war – im Gegensatz zu Hugo Recken. Es geht
um Wirkung – in die Gesellschat und bei dem
Menschen, dem das brutale Mobbing gilt.
Am 1. Juli 1933 lesen wir in der Osterather Zeitung:
»Bericht über die Gemeinderatssitzung
... Der Vorsitzende, Bürgermeister Bartels, begrüßte
bei der Eröf nung alle Gemeindeverordneten ...
1. Einführung des 1. Beigeordneten. Der Vorsitzende begrüßt den bereits vereidigten 1. Beigeordneten
Herrn Panzer.«
Der NSDAP-Ortgruppenleiter als 1. Beigeordneter.
Als formeller Schritt, die »Einheit von Partei und
Staat« – in dieser Reihenfolge – in Osterath zu institutionalisieren.
Wie verträgt sich die kollegiale Loyalität von
Panzer zu Bartels als Dienstvorgesetztem mit der
Rolle von Panzer als NSDAP-Untersuchungsausschuss-Führer gegen Bartels? Bartels ist auf verlorenem Posten. Das ist vor Ort klar. Insbesondere
der Gemeindeelite von katholischer Geistlichkeit
und führenden Katholiken. Für die sich daraus die
strategische Frage ergibt: Wie können wir – in Verbindung mit Bündnispartnern – diese Situation im
Sinne unserer katholischen Interessen nutzen?
Die preußisch-protestantische Kontinuität war zugunsten der nationalsozialistischen Staatsideologie aufgelöst. Aus der Perspektive des Bündnisses
von katholischer Gemeindeelite und katholischer
Geistlichkeit eine Chance, die es galt im Sinne ihrer
katholischen Gruppen-Interessen zu nutzen.
Die faktische Existenz Preußens endete 1933.
Lange vor dem formellen Beschluss der Allierten
1945. Hitler und die Nationalsozialisten beendeten
die Existenz Preußens de facto.
Am 1. August 1933 macht der Landrat KempenKrefeld einen Vermerk (KK 1021):
»Der Leiter der Ortgruppe Osterath der N.S.D.A.P.
Panzer hat mitgeteilt, dass nach Rücksprache mit
seinen Parteigenossen gegen ein Verbleiben des
Bürgermeisters Bartels im Amt keine Bedenken bestehen. In dieser Stellungnahme würde aber damit
gerechnet, dass Bürgermeister Bartels ohnehin in
etwa 2 Jahren wegen seines Krankheitszustandes
aus seinem Amte scheiden würde.«
Eine staatliche Institution fragt zuständigkeitshalber bei einer Parteigliederung an.
Auf den 3. August 1933 ist das Protokoll einer
Verhandlung über Bürgermeister Bartels beim
NSDAP-Kreisleiter Niehm mit einer Zusammenfassung der Vorwürfe datiert. (KK 1021 Bl. 190 – 192)
Darin wird festgestellt, dass es Spannungen zwischen Bürgermeister und Ortsgruppenleitung der
NSDAP gäbe, dass übergeordnete Parteistellen eingeschaltet werden sollen – also Gauleiter Florian –,
da alle Schwierigkeiten in der Gemeindeverwaltung
an Bartels gebunden seien.
Am 23. September 1933 lesen wir im Osterather
Local-Blatt einen ganz außergewöhnlich langen
Artikel:
»Der Koks-Prozeß.
Osterath. Wie schon kurz mitgeteilt, fand am
vergangenen Dienstag vor der Großen Strafkammer in Krefeld der sogenannte Koks-Prozess statt. ... Angeklagt waren: 1. Gemeinderentmeister a. D. Schweigerer ... Die Anklage
lautet zu 1.: in den Jahren 1930 – 1933 mehrere Fuhren Koks in der Absicht rechtswidriger
Zueignung sich von der Gemeinde Osterath
verschat zu haben ... Die nun folgende Aussage des Bürgermeisters war so unklar, dass
die bis hierhin erfolgte scheinbare Klärung
der Schuldfrage wieder unklar wurde ... Nun
ergrif der Staatsanwalt das Wort: ... Er beantrage daher, in beiden Fällen die Angeklagten
freizusprechen ... Während das Gericht sich
zur Beratung zurückzog, machte das Untersuchungsausschussmitglied und Zeuge Bäcker
dem Bürgermeister Vorhaltungen, dass er dem
Untersuchungsausschuss doch andere Angaben gemacht habe, als jetzt vor Gericht. Der
Bürgermeister erwiderte ihm darauf, dass seine
Aussage unter Eid die richtige sei ... Nach kurzer Beratung sprach das Gericht das Urteil: Die
Angeklagten werden freigesprochen ... «
Aufgrund des Aut retens von Bartels vor Gericht
schreibt Ortgruppenleiter Panzer – der 1. Beigeordnete von Bürgermeister Bartels – am 21. September 1933 einen Beschwerdebrief an den Landrat in
Kempen, in dem er behauptet, Bartels nehme die
Vertretung der Interessen der Gemeinde nicht richtig wahr. (KK 1021)
Was gäbe es heute für – auch dienstrechtliche –
Konsequenzen, würde ein kommunaler Dezernent
die Bezirksregierung wegen seines vorgesetzten
hauptamtlichen Bürgermeisters mit solch einem
Tenor oiziell anschreiben?
Am 21. Oktober 1933 lesen wir in der Osterather
Zeitung:
»Gemeinderatssitzung
Die am gestrigen Freitag im Rathaus stattgefundene Sitzung der Gemeindeverordneten wurde vom
1. Beigeordneten Panzer eröf net.«
Rudolf Bartels war von seinem Amt als Bürgermeister in Osterath beurlaubt.
Am 23. Oktober 1933 schreibt Bürgermeister Bartels den Landrat in Kempen an (KK 1021 Bl. 146):
»... sehe ich mich genötigt, um meine
Versetzung in den Ruhestand zu bitten.«
Die erste Intrige
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Dem folgt ein weiteres Schreiben von ihm an den
Landrat. (KK 1021 Bl. 154)
Rudolf Bartels ist dann umgehend in den Ruhestand versetzt worden. Er war, wie er doppeldeutig
formulierte, aus dem Amt genötigt worden.
Am 31. Oktober lesen wir in der Osterather Zeitung:
»Amtliche Bekanntmachung
...
Der Bürgermeister
R.B.
Der Beigeordnete
Panzer«
Rudolf Bartels war zur No-Name-Person geworden.
So lesen wir es auch am 18. November 1933 unter
der Überschrit »Volkstrauertag«.
»... Aufstellung in folgender Reihenfolge:
1. Tambourcorps Osterath
2. Feuerwehrkapelle
3. S.A.
4. Stahlhelm
5. N.S. Kriegsopfer
6. Behörde
7. Gemeinderat und Geistlichkeit
8. Kriegerverein
9. N.S.D.A.P.
10. Hitlerjugend und Jungvolk
11. Bund Deutscher Mädel
12. Schulkinder
13. Vereinigter Männergesangverein
14. Männer-Quartett
15. Jünglingsverein
16. Reiterverein
17. Radlerverein«
Was fällt an dieser – im doppelten Wortsinn – »Aufstellung« auf?
Sie ist ein Spiegelbild der realen dörlich-katholisch-nationalsozialistischen Machtverhältnisse in
Osterath. Insbesondere »7. Gemeinderat und Geistlichkeit«, denn Gemeinderat = katholische Osterather NS-Funktionäre.
Im Juli 1934 nach dem »Röhm-Putsch« wurde eine –
erneute – Kassenprüfung angeordnet, bei der wiederum »Unregelmäßigkeiten« festgestellt wurden,
aufgrund derer die Angelegenheit an die Gestapo
weitergegeben wurde. Bartels sollte ganz aus Osterath verschwinden.
Am 24. Juli 1934 erreichte eine schrit liche Beschwerde den Landrat, von mehreren nicht der
NSDAP angehörenden Osterathern – die sich haben
dazu von dem katholischen Teil der Macht in Osterath inkl. dann der Symbiose von Hugo Recken und
32
| Die erste Intrige
Johannes Herbrandt instrumentalisieren lassen –,
in der eine Reihe von Beschuldigungen wiederholt
wurden, die schon ein Jahr zuvor nicht beweisbar
waren. Nach einem regen Schrit wechsel geht auch
dieser Angrif auf Bartels aus wie das Hornberger Schießen: Nichts ist beweisbar. Danach wird
Rudolf Bartels zumindest nicht mehr in dieser Weise und unter Einbeziehung von Justiz und Gestapo
von der Osterather katholischen Gemeinde-Elite
terrorisiert.
Rudolf Bartels äußerte sich zu den Vorgängen:
»Die Partei gab dafür als Grund an, dass ich ihr
zu liberal eingestellt sei, deshalb für den Nationalsozialismus nicht tragbar sei.« (KK 875
Bl. 79)
»Grund der mit der N.S.D.A.P. entstandenen
Reibereien, die zu meiner Verhatung führen
sollten. Ich lehnte es ab, Parteimitglied zu werden, und war wegen meiner Eigenschat als
Demokratisches-Kreistagsmitglied für die Partei untragbar.« (KK 875 Bl. 128) Der Kreistag
musste NSDAP-rein sein.
Dann 1945, als sich die Intrige wiederholte:
»Dass ich kein Parteimitglied, politisch bereits
vor 1914 Demokrat und dadurch Mitglied des
Kreistages sowie mehrerer Kommissionen geworden bin, wird Ihnen bekannt sein. 1933
wurde ich abgesetzt auf Bestreben einer kleinen
konfessionell-intolleranten Klique, die das, was
sie damals durch die Nazis erreichte, nun auch
über die britische Militärregierung versucht zu
erreichen.« (KK 875 Bl. 136) Dazu später die
Details.
Hugo Recken wurde am 27. Mai 1891 in Oedt geboren und war als Katholik Mitglied der Zentrumspartei. Mit Datum vom 1. Mai 1933 war er
NSDAP-Mitglied. Wie er nach der Befreiung 1945
schrit lich in seinem Entnaziizierungsverfahren
behauptete »zur Abwehr des Verlustes der Beamtenstelle im Spätherbst 1933«. (KK 1023 Bl. 163) Der
Regierungspräsident berief ihn mit Datum vom
22. Dezember 1933 zum Bürgermeister in Osterath,
am 24. Januar 1934 begann er seine Tätigkeit als
Landbürgermeister (KK 1023).
Zuvor war er Bürgermeister in Vorst, wo er NSDAPMitglied wird. Zwischen Vorst und Osterath lag
damals die Gemeinde Willich und sein Geburtsort
Oedt grenzt direkt an Vorst.
Am 20. April 1933 verfügte die NSDAP-Parteileitung ein Aufnahmeverbot zum 1. Mai 1933, für
das es nur sehr begrenzte Ausnahmen gab; so für
HJ-Mitglieder, die nach Erreichen der Altersgrenze
in die NSDAP übernommen wurden. Die massive
Abweichung von der ansonsten strikt eingehaltenen
Norm im Fall Recken weist darauf hin, dass seine
NSDAP-Mitgliedschat ausdrücklich – von beiden
Seiten – gewollt war. Es wird noch zu klären sein,
wie es dazu kam.
»Diese Leute, die allein schon dadurch einen
Beweis für Charakterschwäche geliefert haben,
dass sie die Aufnahme in die Partei beantragten, tendieren, sobald sie ihr angehören, ohne
Zweifel dazu, rasch ihre bisherigen Meinungen
aufzugeben und das nazistische Gedankengut
zu übernehmen.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S. 89.
Mitglied der NSDAP zu werden, dies immer ausdrücklich freiwillig auf eigenen Antrag, bedeutete
das bewusste Bekenntnis zum gelebten nationalsozialistischen eliminatorischen Antisemitismus.
Die NSDAP war eine nach außen abgeschlossenen
Gesinnungs- und Kampfgemeinschat, die alles tat,
um aus ihrer Perspektive nicht unterwandert zu
werden. Um in ihr Aufnahme zu erhalten, musste
der dies Begehrende beweisen, dass er dieser Ehre
und diesem Privileg durch sein praktischen Tun –
in seinem privaten und berulichen Leben, aus
NS-Perspektive auch eine untrennbare politische
Einheit – im Sinne des NSDAP-Programms durch
Gefolgschat und Treue würdig war. Als »Gemeindeführer« mit konkreten existenz- und lebensbedrohenden Konsequenzen für die von dieser terroristischen Partei-Staats-Ideologie auf Basis des
NSDAP-Programms betrofenen »Gemeinschatsfremden«, insbesondere denen, die an erster Stelle
gemeint waren: »Der Jude ist unser Unglück.« »Juda
verrecke.«
In seinem Entnaziizierungsverfahren behauptete Recken, er sei von Vorst nach Osterath versetzt
worden, damit in Vorst ein Nationalsozialist Bürgermeister werden könne. Er war es. Dazu schreibt
Paul-Günter Schulten unter dem Titel »Bürgermeister Dr. Freiherr von Bönigshausen beurlaubt«
im Heimatbuch des Kreises Viersen 1983 (S. 117):
»Wache Beobachter wie K. W. Engels, der spätere
erste Landrat des Kreises nach dem Krieg, stellten
zu der Versetzung des Bürgermeisters Recken von
Vorst nach Osterath fest: ›Bei der Versetzung handelt es sich keineswegs um eine Versetzung, wie
man sie schon mal politischer Natur in letzter Zeit
kennt, sondern um eine Anerkennung.‹«
Und weiter:
»Mit dem Gesetz der Nationalsozialisten zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurde der
Leiter der Gemeinde als Beaut ragter des nationalsozialistischen Staates angesehen. ›In diesem Sinne
also ist der Gemeindeleiter nicht bloß Verwaltungsmann (was er bisher war), sondern mehr noch Führer, politischer Führer.‹«
Alle Behauptungen von Recken in seinem Entnaziizierungsverfahren haben diesen interessengeleiteten Lügen-Charakter. Es geht nicht um Darstellung
von Realität, seiner Rolle im NS-System, sondern
um Legitimation von bürokratischer Macht und
den damit verbundenen Handlungen von Menschen, auch durch Wegdeinieren legitimiert – bis
heute. Die heute veriizierbare damalige Realität
kehrte Recken in ihr Gegenteil um.
In der Osterather Zeitung lesen wir am 27. Januar
1934 zur Amtseinführung Reckens:
»... auch der Gemeinde Osterath zur Zufriedenheit aller versehen werde ... dem ein guter Ruf
vorausgeht ... «
Guter Ruf im NS-Sinn.
Im selben Schreiben wie oben (KK 1023 Bl. 163)
behauptete Recken: »In Osterath ständiger Kampf
mit der Partei.« Wobei er sich darauf berut, dass
dies aufgrund seiner katholisch-konfessionellen
Haltung so gewesen sei. Und: »Unterrichtung
des Herrn Pastor über drohende Maßnahmen gegen
Kirche.«
Bundesarchiv Berlin: NSDAP-Gaukartei.
Hugo Recken
Die erste Intrige
| 33
Der Kern der von ihm selbst und anderen geschaffenen pathologischen Recken-Legende, gefördert
durch das falsche Bild vom realen Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Nationalsozialismus
nach 1945 in Verbindung mit dem Zeitgeist, von
Recken und anderen instrumentalisiert. Heute vom
Meerbuscher Stadtarchivar Regenbrecht im Autrag
von Bürgermeister Spindler kontextlos rezipiert.
Wobei wir vor unseren Augen haben, wie dies alles anders verstanden werden kann. Wenn man es
will, und nicht interessengeleitet ein feststehendes
Ergebnis legitimiert.
Am 24. Februar 1934, also einen Monat nach der
Amtseinführung Reckens, lesen wir in der Osterather Zeitung:
»Aufruf.
Aus Anlass der am 24. Februar im ganzen
Reiche stattindenden Gründungsfeier der
Nationalsozialistischen Deutschen-Arbeiterpartei wird, der Bedeutung dieses wertvollen
Ehrentags der Bewegung entsprechend, die gesamte Bevölkerung gebeten, am Samstag, den
24. Februar, zu laggen und die Fahnen am
25. Februar zu Ehren der Gefallenen auf Halbmast zu setzen. Gleichzeitig wird die Bevölkerung zu der am Sonntag, den 25. Februar, um
11 ½ Uhr im Sale Dörper hierselbst stattindenden Übertragung des Festakts aus Berlin aus
Anlass der Totengedenkfeier eingeladen.
Osterath, den 22. Februar 1934
Der st. Bürgermeister Recken.«
Die amtliche Bekanntmachung Reckens, dass er
Teil der NS-Bewegung ist, der er sich äußerlich unterwirt. Und die Osterather Bevölkerung amtlich
zum Aushängen der NS-Hakenkreuzfahne aufordert. Eine Ergebenheitsadresse, die auf die katholisch-dörliche Volks-Gemeinschat zielt. »Seht, ich
gehöre dazu.«
Am 9. Juli 1934, also gut vier Monate später, lesen
wir in der Osterather Zeitung:
»Zum kommissarischen Ortsgruppenleiter
der NSDAP Ortgruppe Osterath wurde
Pg. Schwengers aus Willich ernannt.«
Am 29. September 1934 – also zweieinhalb Monate
später – lesen wir in der Osterather Zeitung:
»Ortsgruppenleiter Panzer wieder in sein Amt eingeführt.
Der vor einigen Monaten auf seinen Wunsch
beurlaubte Ortsgruppenleiter Pg. Panzer wurde
Donnerstag abend durch den Kreisleiter Niem wieder in sein Amt als Ortsgruppenleiter eingeführt.
34
| Die erste Intrige
Kreisleiter Niem betonte, dass alle Vorwürfe, die
Panzer von gegnerischer Seite gemacht wurden,
sich als haltlos erwiesen.«
Ein ungewöhnlicher Vorgang. In der NS-Sprache
bedeutend: Panzer ist gemaßregelt worden. Was
war passiert?
Dies wird in dem nebenstehenden Schreiben von
Bügermeister Hugo Recken an den Landrat in
Kempen am 13. November 1934 (KK 1013 Bl. 77)
deutlich.
Mit der mehrmaligen Formulierung »die Partei«
positioniert sich Recken gegenüber dem Landrat
systemkonform als Nationalsozialist. Den er mit
dem Schreiben über die Umstände seiner Machtkonsolidierung in Osterath informiert. Die im
Kontext weiteren zentralen Formulierungen des
Schreibens: »... meine Plicht als Bürgermeister bzw.
Ortspolizeiverwalter ... Die Entfremdung mit dem
Ortsgruppenleiter Panzer setzte wohl mit dem Augenblick ein, als ich in Beachtung der ministeriellen
Bestimmungen über Partei und ihre Nebenorganisationen keine inanzielle Unterstützung mehr zuteil werden lassen konnte ... das zur Zeit im Rathaus
noch immer untergebrachte Parteibüro verlegt werden müsse ... Der Herr Kreisleiter hat bereits Panzer und van Kessel vom Parteidienst beurlaubt und
beantragt Einleitung des Gaugerichtsverfahrens ...
Amtsenthebung des Beigeordneten Panzer ... Die
gesamte Bürgerschat mit ganz wenigen Ausnahmen diesen Dingen in der heutigen Zeit verständnislos gegenübersteht und vertrauensvoll zur Verwaltung hält.«
Fazit:
Bürokratisch – abgesichert von der Allianz katholischer Geistlichkeit und katholischer Gemeindeelite – den örtlichen NSDAP-Bürokratie-Amateuren schach – und matt. In ca. neun Monaten, einer
Schwangerschat. Wie beim Revival 1945.
Nach dem »Röhm-Putsch« im Juni 1934 war Konsolidierung auf allen Ebenen das Ziel der NS-Politik.
So kam es in Osterath dazu, dass sich die katholische Gemeindeelite inkl. Hugo Recken mit Unterstützung des NS-Kreisleiters gegen die örtlichen
NSDAP-Funktionäre durchsetzen konnte. Heinrich
Niem entschied sich für die katholische Gemeindeelite – gegen die katholischen Nationalsozialisten.
»Der Gang des 30. Juni (1934, LK) heißt: ›Schlagt sie
tot, es ist erlaubt!‹
Man frage lieber, warum die Mörder mordeten.
Die einen mordeten, weil ihnen ein bestimmter
Mord befohlen war. Die anderen mordeten, weil sie
Angst hatten, oben zu missfallen, wenn die Strecke
Auszug 1
Auszug 2
Auszug 3
Auszug 4
Kreisarchiv Viersen: Schreiben von Bürgermeister Recken an den Landrat in Kempen 13. November 1934
Die erste Intrige
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nicht reichlich genug ausiel. Eine dritte Kategorie
schließlich mordete einfach, weil sie durte ...
Nehmt hundert Menschen, die vierzehn Jahre
lang scharf und wild gemacht wurden: vernichte die
Verderber Deutschlands, rottet die Untermenschen
aus ... Rüstet die hundert, die es dem Adolf Hitler
geschworen haben, mit Karabinern aus, und das Ergebnis ist zwangsläuig im 30. Juni in allen seinen
Spielarten.«
Konrad Heiden. Hitler. 1936. Bd. 1. S. 457 f.
In der Osterather Zeitung am 23. März 1935 lesen
wir zu Hugo Recken:
»... weil seitens der zuständigen Aufsichtsbehörde und von hohen Parteidienststellen in ihn
das Vertrauen gesetzt wurde, dass er einerseits
die an der Grenze von 3 Großstädten liegende
und daher schwierig zu verwaltende Gemeinde
Osterath nach allen Richtungen mustergültig
leiten würde und andererseits die Gemeinde Osterath einen Bürgermeister erhalte, der
jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat
eintritt.«
Die Machtübertragung auf Bürgermeister Hugo
Recken war konsolidiert. Und Ortsgruppenleiter
Panzer in seine Funktion zurückgekehrt, um die
ihm von übergeordneten NSDAP-Gliederungen
zugewiesene Rolle wahrzunehmen. Im Sinne von
Führerprinzip, Volksgemeinschat und NSDAPProgramm. Symbiotisch gemeinsam mit Bürgermeister Recken, den NSDAP-Mitgliedern und der
Gemeindeverwaltung. Wobei es quasi Doppelungen und Synergien so in Person von Johannes Herbrandt gab, sowie dem ganz überwiegend insbesondere katholischen Teil der Einwohner von Osterath,
die der »Volksgemeinschat« nach der NS-Ideologie
zugerechnet wurden.
In diesem Sinn lesen wir in der Osterather Zeitung
am 18. Mai 1935:
»Gemeinderatssitzung
Am 10. Mai ds. Js. fand im geschmückten Sitzungssaal des hiesigen Rathauses unter dem
Vorsitz des Bürgermeisters Recken eine öffentliche Gemeinderatsitzung statt, in welcher
die von dem Beaut ragten der NSDAP Herrn
Kreisleiter Niem auf Grund der Deutschen Gemeindeordnung berufenen Gemeinderäte von
dem Bürgermeister in ihr Amt eingewiesen,
vereidigt und mittels Handschlag verplichtet
wurden. Der neue Gemeinderat besteht aus
7 Personen und zwar den Herrn Paul Gather,
Wilhelm Könen, Hubert Kulgart, Jakob Weller, Peter Stroms, Johan Terwyen und Wilhelm
36
| Die erste Intrige
hölen. In einer Ansprache wies der Vorsitzende (Hugo Recken, LK) die Gemeinderäte auf die
Rechte und Plichten ihres verantwortlichen
Amtes hin und legte dar, dass sie auf Grundlage der in der Deutschen Gemeindeordnung
enthaltenden Bestimmungen als Ehrenbeamte
der Gemeinde beratend an den Aufgaben der
Verwaltung mitzuarbeiten hätten. Auch bei
der Kommunalverwaltung bestehe das Führerprinzip. Wenn die Gemeinderäte früher unter
dem parlamentarischen System ihre Aufgaben unter dem Gesichtspunkt verschiedener
Parteidogmen erledigten, hätten im nationalsozialistischen Staat die Gemeinderäte die Aufgabe, die dauernde Führung der Verwaltung
der Gemeinde mit allen Schichten der Bürgerschat zu sichern. Sie hätten den Bürgermeister eigenverantwortlich zu beraten und seinen
Maßnahmen in der Bevölkerung Verständnis
zu verschafen. Weiter hätten sie bei ihrer Tätigkeit ausschließlich das Gemeinwohl zu wahren und zu fördern. Nach der Ansprache wurde
der Eid auf den Führer von den Gemeinderäten
geleistet. Als dann händigte der Bürgermeister
den Gemeinderäten die Berufungsurkunde
zu Ehrenbeamten aus. Die Sitzung endete mit
einem Sieg Heil auf den Führer.«
Ebenfalls in der Osterather Zeitung am 18. Mai
1935 lesen wir die Meldung:
»Ausgrabungen auf dem jüdischen Friedhof«
Die extrem-antisemitische Maßnahme auf Betreiben von Hugo Recken als nationalsozialistischem
Bürgermeister. In Verbindung mit einem Bestreben zur Amtsbestätigung. Wozu er glaubte durch
eine praktische Maßnahme im antisemitischeliminatorisch nationalsozialistisch-ideologischem
Sinn bei den örtlichen NSDAP-Funktionären und
seinen mit diesen vernetzten bürokratisch-politischen nationalsozialistischen Vorgesetzten »Vertrauen« schafen zu müssen. Deswegen seine massiven Interventionen, dass die »Umlegung« des
jüdischen Friedhofs nicht auf den kommunalen
Friedhof in Osterath erfolgt – also »arische« Gräber in der Nähe von »Jüdischen« liegen könnten –,
sondern auf den jüdischen Friedhof in Krefeld –
als antisemitische Exportmaßnahme. Als Basis im
Anschluss im Bündnis mit seinem bürokratischen
Symbionten Herbrandt und der Allianz der katholischen Geistlichkeit und der katholischen Gemeindeelite die Macht übertragen zu erhalten – vom
NSDAP-Kreisleiter Kempen-Krefeld Niem. Weil
Recken in Osterath aus der Perspektive der überörtlichen NSDAP-Partei-Staats-Funktionäre der
bessere Garant zur Realisierung des nationalsozialistischen Kernziels sei: Alle von ihnen als »Juden«
deinierte Menschen zu ermorden.
Siehe:
»Das 25-Punkte-Programm der NSDAP«, S. 58 – 64,
das »ABC des Beamtengesetzes«, S. 123 – 125 sowie
»Die Um- und Durchsetzung von antisemitischen
Maßnahmen ...«, S. 41 – 64
»1935: Die Umlegung des jüdischen Friedhofs ...«,
S. 65 – 70 und
»1945–1949: Die Entnaziizierung von Hugo
Recken und Johannes Herbrandt ...«, S. 141 – 164
Die Funktionäre der Osterather NSDAP vom Ortsgruppenleiter bis zu den Gemeinderatsmitgliedern
waren ausgetauscht oder auf Recken-Linie gebracht
worden. Hugo Recken konnte die Gemeinde politisch nach »Recht und Gesetz« führen, »mit einem
Sieg Heil auf den Führer«.
Wesentliche Veränderungen bei der kommunalen
Selbstverwaltung lassen sich in Stichpunkten zusammenfassen:
• Gegensätze zwischen Kommunalverwaltung und
NSDAP um Kompetenzen und damit Macht –
zur Umsetzung der NS-Ziele –, nicht ideologisch.
• Zerstörung der Einheit der Verwaltung.
• Aushöhlung und Zersplitterung des gemeindlichen Aufgabenbereichs. So übernahm die NSV
aus Propagandagründen – »die Partei sorgt für
alle Volksgenossen« – fast den gesamten Sozialbereich.
• Sozialabbau in den Gemeinden. Die staatlich
verfügbaren Mittel dienten ganz überwiegend
der Kriegsvorbereitung und damit dem Ziel
des NSDAP-Programms, möglichst aller Juden
weltweit habhat zu werden, um sie zu töten.
Folgerichtig mussten die Gemeinden 1939 zusätzlich eine Kriegsabgabe zahlen.
• Zugrif von NSDAP und deren Parteiorganisationen auf die gemeindlichen Finanzen, z. B.
beim Bau der HJ-Heime.
• Lokalverwaltung als Instrument partei-staatlicher Zielsetzungen.
• Massiver Einluss der NSDAP auf die Personalpolitik. Dabei Versorgung altgedienter Pg. und
NS-Karrieristen, also Parteibuchwirtschat im
Sinne von Korruption.
• Dualismus Partei – Gemeinde – wie auf staatlicher Ebene Partei – Staat.
• Führerprinzip in der Gemeinde.
• Ausgehend von der NSDAP Politisierung aller
Bereiche. Ein Bürgermeister war politischer
Partei-Staats-Gemeinde-Führer.
• Zentralisierung im Bereich der staatlichen
Verwaltung.
Diese Aspekte sind alle miteinander vernetzt. Um
alle Bereiche der Gesellschat efektiv und eizient
in den Dienst des eliminatorischen nationalsozia-
listischen Antisemitismus zu stellen. Es gab keine
quasi neutralen Verwaltungs-Reservate. Entweder
ein Bürgermeister diente als Nationalsozialist und
partei-staatlicher Beamter politisch dieser Zielsetzung – oder er blieb nicht Bürgermeister. Dazwischen gab es nichts. Nur die bürokratische Tarnung
nach außen zur Legitimation und Absicherung unter allen Umständen – und sich ändernden politischen Systemen. Die sich ändern, aber Bürokratien
nicht. Durch die in ihnen – führend und vernetzt –
handelnden Menschen, ihr bürokratischer Habitus,
der sich von Generation zu Generation durch die
Bürokratie-Kultur reproduziert.
Die Durchsetzung des Führerprinzips in den
Gemeinden hatte zum Ziel die
»Identiizierung der Selbstverwaltungsidee mit
den politischen Zielen und weltanschaulichen
Programm der NSDAP«.
So Karl Dietrich Bracher u. a. in »Die nationalsozialistische Machtergreifung.« (Köln 1974. Bd. 2.
S. 102).
Die Ortsgruppenleiter hatten in den Gemeinden
wesentlichen Einluss auf insbesondere:
• Stellungnahmen zu Schutzhat fällen
• Stellungnahmen zu Entlassungsanträgen von
Schutzhät lingen
• Stellungnahmen zu politischen Polizeiangelegenheiten
• Stellungnahmen zu Verlegungen von Schutzhät lingen in KZ und zur »Moorkultivierung«
• Stellungnahmen zur Überwachung von
Gemeindeeinwohnern
• Politische Beurteilungen von Gemeindebeamten,
Lehrern etc.
• Einluss auf alle gemeindlichen Entscheidungen.
»In Düsseldorf schloss Mitte November 1933
ein kommunalpolitischer Gaukongress die
Phase der Machtergreifung in den Gemeinden
ab. Zuvor hatte sich das Gauamt für Kommunalpolitik eine vollständige Übersicht über die
Stellenbesetzung verschat.«
Peter Hüttenberger. Die Gauleiter. Düsseldorf 1969.
S. 95.
Auch die kommunale Ebene war vernetzt. Dann in
der Symbiose NSDAP-Hauptamt für Kommunalpolitik und Deutscher Gemeindetag in Verbindung
mit der Symbiose NSDAP-Hauptamt für Beamte
und Reichbund Deutscher Beamter in der bürokratischer Umsetzung des Holocaust in den Gemeinden. Im Sinne des Führerprinzips und der na-
Die erste Intrige
| 37
tionalsozialistischen Volksgemeinschats-Ideologie
wurden alle Maßnahmen gegen »Gemeinschatsfremde«, insbesondere die als »Juden« deinierten
Menschen, horizontal und vertikal vernetzt koordiniert – dies bürokratisch-strukturell wie personell.
Wobei Bürgermeister den »Führerwillen« antizipierten und durch ihre Vorab-Maßnahmen die formellen partei-staatlichen politischen Bürokratien unter
Zugzwang setzten und damit zu formellem Nachvollzug mit Erlassen und Anweisungen zwangen.
Um die Einheit von Partei und Staat zu stabilisieren,
vollzogen die übergeordneten Bürokratien die –
koordinierten – kommunalen Maßnahmen nach.
Alles ist vernetzt – im Sinne der Zielsetzungen des
NSDAP-Programms.
Der Bürgermeister war in allen Fragen auf Koordinierung mit der NSDAP angewiesen, sei es mit dem
Ortsgruppenleiter oder anderen NSDAP-Amtswaltern vor Ort oder höheren Parteiinstitutionen
wie Kreisleiter Niehm oder Gauleiter Florian, ggf.
auch Oberpräsident und Gauleiter in Essen Terboven in Koblenz. Die Zuständigkeiten Partei – Staat
waren sowohl parallel als auch vernetzt – institutionell wie personell. Damit besonders efektiv und
eizient. Wobei die Frage war: Wer hat »die Hosen an«. In Osterath war es Bürgermeister Hugo
Recken, weil er im Sinne der NSDAP-Interessen
deren bestmögliche Realisierung versprach. Die
Konkurrenzsituation bedingte Synergieefekte im
Sinne der NSDAP-Interessen in der Umsetzung
des NSDAP-Programms: »Konkurrenz belebt das
Geschät.«
Die von den Bürgermeistern an den Regierungspräsidenten auf dem formellen Bürokratie-Dienstweg 1934 im Sinne des Führerprinzips in den Gemeinden eingereichte Liste mit Kandidaten für die
Gemeinderäte wurde dann von dort an Gauleiter
Florian weitergeleitet, begutachtet und genehmigt.
Das Gauamt für Kommunalpolitik führte eine Kartei über sämtliche Bürgermeister. »Weiterhin übte
die Gauleitung auf die Gemeindeverwaltungen vor
allem dadurch Druck aus, dass sie bei Stellenumbesetzungen auf die Einholung von Personalgutachten der Politischen Leiter (der NSDAP-Ortgruppen,
LK) über den Bewerber bestand.« (Hütteberger.
S. 100)
Dieser Druck wurde nach unten weitergegeben:
»Im August 1934 forderte der Landrat alle kreisangehörige Gemeinden auf, ›in Zukunt Vorschläge
von Beigeordneten, Schulzen und Schöfen zunächst
dem Ortgruppenleiter der NSDAP vorzulegen‹.«
So Konrad hies und Wolfgang Schluning (Hrsg.)
in »Der Kreis Viersen am Niederrhein« (Stuttgart
1978. S. 118 f.)
38 | Die erste Intrige
Die Kreisleitung der NSDAP musste den Hauptsatzungen der Gemeinden zustimmen. Siehe: Kreisarchiv Viersen, Bestand Lank 91.
Staatliche Maßnahmen und Gesetze schlugen bis
in die Gemeinden durch. So das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« zur Entlassung aller als jüdisch deinierten Beamten 1933. Das
die bürokratischen Beamten-Strukturen so nachhaltig zerstörte, dass das Berufsbeamtentum nach
1945 rekonstruiert wurde. Diese Rekonstruktion
ohne Anpassungen auf Basis der historischen Erfahrungen ist der – antidemokratische – Geburtsfehler der Bundesrepublik Deutschland.
»Die Gemeinde als örtliche politische Ebene
war in der Hand der Partei. Durch die formell
weiter bestehende Selbstverwaltung war die
Gemeindeverwaltung sogar stärkeren Parteieinwirkungen ausgesetzt als die staatliche
und allgemeine Verwaltung. Das Ausmaß der
Parteieinwirkungen war regional und lokal
verschieden; nicht selten war es auch von der
Größe eines Ortes abhängig. Insbesondere in
den katholischen Gebieten lässt sich feststellen,
dass die konfessionelle und soziale Homogenität der Bevölkerung eine deutliche Schranke
für den Einluss der Partei auf die Gemeindeverwaltung darstellte.«
Horst Matzerath. Nationalsozialismus
und kommunale Selbstverwaltung.
Stuttgart 1970. S. 434.
Die Nationalsozialisten in Osterath waren selbst
(in wenigen Fällen: ehemalige) Katholiken. Für die
überörtlichen NSDAP-Führer war es gleichgültig,
wer vor Ort »die Hosen an hat«. Entscheidend war,
wer aus ihrer Perspektive versprach, die nationalsozialistischen Zielsetzungen vor Ort am nachhaltigsten zu realisieren. In Osterath war es Bürgermeister Hugo Recken. Nicht Ortsgruppenleiter Panzer,
nach 1942 Ortsgruppenleiter Dohmen. Deren Konkurrenzsituation weiter für Synergien im Sinne der
nationalsozialistischen Zielsetzungen sorgte.
»Die Verwaltung selbst unterlag im Dritten Reich
tiefgreifenden Strukturveränderungen. Auf relativ festen Normen beruhende geregelte Verwaltungsführung als fortwirkende Struktur des
Verwaltungs- und Rechtsstaates (Sic! Beachte die
Reihenfolge! LK) und der sich durch ›Maßnahmen‹
verwirklichende totale politische Anspruch der totalitären Staatspartei stellten widerstrebende, unvereinbare Prinzipien dar. Bedeutet das erste Prinzip, das um der Rationalität der Verwaltung willen,
wenn auch widerwillig, bis zu einem bestimmten
Grad hingenommen wurde, eine gewisse Schranke
für die Willkür des Maßnahmensystems, so war im
Ideal nationalsozialistischer Staats- und Verwaltungsführung dieser Widerspruch überwunden; die
total technisierte, an keine Norm und keine Gewalt
mehr gebundene Verwaltung, die nur noch Instrument, gleichzeitig aber durch die rein personale
Bindung des Gefolgsmanns an den ›Führer‹ bzw.
an den von ihm bestimmten ›Unterführer‹ indoktriniert und damit zur höchsten Leistung befähigt
war.« Matzerath. S. 435.
Die damit verbundene politische Verwaltungspraxis im Sinne der nationalsozialistischen Zielsetzungen insbesondere in der Realisierung des Holocaust auch in Verantwortung von Bürgermeister
Hugo Recken wurde dann schein-legitimiert und so
bürokratisch abgesichert. Um persönliche Verantwortlichkeiten zu relativieren, auch zu verschleiern,
um schein-verantwortungslos zu bleiben – unter
allen Bedingungen, auch des politischen Systemwechsels. Darin hatten – und haben – die deutschen
Bürokraten umfassende Erfahrung und diese Erfahrung nutzen sie – bürokratisch-gnadenlos. Erst
ich und mein Bürokratennetzwerk, dann der Rest
der Welt. Das Gegenteil des postulierten Gemeinwohls – in allen politischen Systemen –, das ideologischen bürokratischen Legitimationscharakter
nach außen hat.
Bei der Arbeitstagung in der Gauamtsführerschule
Wehlenberg 15. – 17. November 1935 ist im Protokoll
zu NSDAP-Gauamtsleiter Ebel zu lesen:
»In seiner Eröf nungsrede wies er darauf hin, dass
es an den Kommunalpolitikern, die zur Mitarbeit
an der Neugestaltung des kommunalen Lebens
berufen sind, liegt, dafür Sorge zu tragen, dass die
Maßnahmen der Reichsregierung und der Partei,
die eins sind, restlos durchgeführt werden.«
Stadtarchiv Düsseldorf. Nachlass Ebel: Gauamt für
Kommunalpolitik.
Die selbstverständliche Exekution des nationalsozialistischen eliminatorischen Antisemitismus in
den Kommunen. Auch durch das Gauamt für Kommunalpolitik in Verbindung mit dem NSDAP-Amt
für Kommunalpolitik bei der NSDAP-Reichsführung vernetzt mit dem Deutschen Gemeindebund –
»betreut« vom Reichinnenministerium – sowie
dem Reichsbund Deutscher Beamter als NSADPOrganisation koordiniert. Als efektive und eiziente Teil-Organisation des Holocaust.
Wer war in der Gemeindeverwaltung Osterath
dieser Mensch? Johannes Herbrandt.
Im Nationalsozialismus werden durch die
handelnden Akteure aller Ebenen »... Begrife
wie Rechtsstaatlichkeit und Rechtsbewusstsein
zu bloßen Worthülsen degradiert, wenn sich
der Staat über allgemein verbindliche sittliche
Wertvorstellungen, unter denen die Achtung
vor dem menschlichen Leben den ersten Rang
einnimmt, hinwegsetzt.«
Die speziisch deutsche Bürokratie-Kultur, die andere gesellschat liche Kulturen durch bürokratische Macht-Instrumentalisierung überlagert und
dominiert, auch die demokratische Kultur. Dies
mit negativen Konsequenzen für diese gesellschatlichen Kulturen und die Gesellschat insgesamt
im Sinne von Verhinderung notwendiger gesellschat licher Evolution mit der Folge von Verschärfung von gesellschat lichen Gegensätzen, die einen
Punkt erreichen können, wo es zu gewaltsamen gesellschat lichen Konlikten kommen kann, weil es
keine friedlichen Möglichkeiten gesellschat licher
Evolution gibt.
Aus der Bürokraten-Perspektive geht es lediglich
um die Legitimation von Maßnahmen – zu ihrer
eigenen Absicherung von Verantwortungslosigkeit.
Das in Bürokratie-Sprache, durch die die Ideologie
durchscheint. Wenn man dies verstehen will.
»Führer einer Gemeinde kann nur sein, wer den
Geist der Nationalsozialistischen Weltanschauung in sich trägt.«
»Die kommunale Selbstverwaltung war eines
der traditionellen Elemente, die der Nationalsozialismus parasitär ausnutzte und zersetzte.«
Adalbert Rückerl. Vergangenheitsbewältigung
mit den Mitteln der Justiz. In: Aus Politik und
Zeitgeschichte 43/82. S. 25.
Matzerath. S. 437.
So der Leiter des Gauamtes für Kommunalpolitik Düsseldorf Ebel 1937. (Stadtarchiv Düsseldorf.
Nachlass Ebel: Gauamt für Kommunalpolitik 131)
Und an selber Stelle weiter:
»Dem Parteibeaut ragten steht die Auswahl und
politische Erziehung derjenigen Menschen zu, die
in der Gemeindeverwaltung tätig sind. Er hat die
Männer auszuwählen, die berufen sein sollen, die
Geschicke der Gemeinde zu lenken.«
Parasiten in diesem Sinne waren die Bürokraten,
die so handelten. Wie Bürgermeister Hugo Recken
und sein Symbiont Johannes Herbrandt in Osterath.
Das Bundesverfassungsgericht charakterisierte die
kommunale Selbstverwaltung in der NS-Zeit als
»bloße Erscheinungsform des dezentralen gesteuerten Einheitsstaates«. (BverfGE Bd. 11, S. 275)
Nach Matzerath. S. 434f.
Die erste Intrige
| 39
In dem bürokratische Akteure in ihren jeweiligen
Funktionen im Sinne der nationalsozialistischen
Programmatik vernetzt agierten. Wie in Osterath Bürgermeister Hugo Recken in Symbiose mit
Johannes Herbrandt.
Fokussiert auf die Personen Rudolf Bartels und
Hugo Recken im konkreten Umfeld in Osterath:
Die katholische Gemeindeelite instrumentalisierte ihre abgefallenen Glaubensbrüder von der
NSDAP – siehe auch: Osterather Pfarrchronik von
Pastor Hövelmann, S. 12 –, um die Chance zu nutzen, den Protestanten Bartels durch den Katholiken Recken ersetzten zu können. Dabei hatten die
Agierenden zwei vernetzte Zielsetzungen: Weitest
möglich die dörlich-katholisch-konfessionellen gesellschat lichen Bedingungen zu konservieren und
damit vernetzte katholisch-bürokratische Strukturen als integralen Teil der katholischen Dorf-Kultur
gegen die nationalsozialistischen Aulösungsbestrebungen zu konservieren. Ein Bündnis von Katholiken, dessen nachhaltiger Erfolg – über die NS-Zeit
hinaus – bedingt war durch das NS-Interesse nach
Konsolidierung nach dem »Röhm-Putsch«. Mit
einem im Hintergrund agierenden nationalsozialistischen Gemeindebeamten Johannes Herbrandt,
der rechten Hand von Recken, einer Symbiose im
gemeinsamen Interesse.
Zur Demonstration der katholischen Macht-Verhältnisse in Osterath hat Bürgermeister Hugo Recken an kirchlichen Veranstaltungen und Umzügen
40
| Die erste Intrige
teilgenommen. Die im Einzelfall in nationalsozialistische propagandistische Feierlichkeiten eingebettet waren.
Die Übergänge waren ließend und verschoben
sich. Es gab nicht einfach klar Braun oder Schwarz,
sondern Abstufungen dazwischen, die sich ändern
bzw. verschieben konnten. Wer aber in gesellschatlichen Funktionen war und blieb, der war Teil der
nationalsozialistischen bürokratischen Mordmaschine. Wie Hugo Recken und Johannes Herbrandt.
Spekulierend auf Unkenntnis der Besatzungsmächte und interessengeleitetem Desinteresse der –
neuen-alten – zuständigen deutschen Bürokratien
hat Hugo Recken dies nach der Befreiung 1945 zur
Selbst-Legitimation uminterpretiert und uminterpretieren lassen, insbesondere durch seinen Symbionten Johannes Herbrandt und die katholische
Geistlichkeit in Verbindung mit der katholischen
Gemeinde-Elite. Mit dem Ergebnis der pathologischen Recken-Legende.
Die Enkel und Urenkel im bürokratischen Geist
von Hugo Recken und Johannes Herbrandt führen dies heute fort. Wir werden erleben, wie weit
sie damit Erfolg haben. Nichts ist determiniert, so
Karl Popper.
»Es gibt drei Dinge auf der Welt,
die nicht lange verborgen werden können:
die Sonne, der Mond und die Wahrheit.«
Konfuzius
Hugo Recken als Bürgermeister in Osterath, Januar 1934 bis März 1945:
Antisemitische Maßnahmen gegen als Juden bezeichnete Menschen und
die geschichtswissenschaftliche Bewertung
a. Die Um- und Durchsetzung von antisemitischen Maßnahmen zur Diskriminierung,
Terrorisierung, Absonderung, Enteignung und
Ermordung der betroffenen Deutschen
in Verantwortung des Bürgermeisters in Osterath Hugo Recken
»Nicht der Staat beielt uns,
sondern wir befehlen dem Staat.«
Adolf Hitler
»Jede Herrschat äußert sich und funktioniert als
Verwaltung.«
Max Weber
Hugo Recken war Bürgermeister in Osterath. Damit Verwaltungschef und als solcher verantwortlich
Karte Osterath, 1940
für alles, was von Seiten der Gemeindeverwaltung
an Maßnahmen umgesetzt wurde. Dies trit ebenso zu für seine Rolle als örtlicher Polizeichef – und
dann seine Rolle als die örtliche Gestapo. Durch die
Verschmelzung von Partei und Staat auch auf der
kommunalen Ebene, durch die Übernahme der Polizei durch die SS in Verbindung mit den sich daraus ergebenden Aufgaben eines Verwaltungs- und
Polizeichefs war Hugo Recken Teil des NS-Terrorsystems. Und dieses Terrorsystem deinierte als einen zentralen zu eliminierenden Feind »den Juden«.
Dies auch im Sinne des Göbbels-Zitats: »Wer Jude
ist, bestimme ich.« Konkret: Wer »gemeinschatsfremd« sei, das wurde willkürlich deiniert. Aus
dieser Verquickung ergab sich die Mittäter-Rolle
von Bürgermeister Hugo Recken im Holocaust.
Reckens ideologische Ausrichtung wurde durch
jeweils einwöchige Schulungen des Gauamtes für
Kommunalpolitik Düsseldorf vertiet, zu denen er
41
regelmäßig dienstverplichtet war. So verinnerlichte er die Grundsätze der NS-Ideologie, niedergelegt
im NSDAP-Programm. Im Zentrum der eliminatorische NS-Antisemitismus.
Hitler – und über ihn die NSDAP – als Staatsgewalt
legitimierte alle Terror- und Gewalthandlungen damit, dass er – aus seiner Perspektive damit Deutschland – angegrifen würde und damit Notwehr zum
Selbstschutz gegeben sei. Notwehr im Sinne der Ermordung aller – vermeintlichen – Gegner. Fokussiert formuliert: »Mein Kampf«. Der Nationalsozialismus war – und ist – eine Kultur des Todes.
Per Gesetz galt das Postulat der »Einheit von Partei und Staat« – in dieser Reihenfolge und auf allen
Ebenen. Die Nationalsozialisten postulierten die
»Volksgemeinschat« – und deinierten, wer ihr angehört und wer nicht und deswegen ausgegrenzt bis
»sonderbehandelt« – also schein-legal ermordet –
wurde. Wobei das willkürlich festgelegt, geändert
und erweitert wurde. In dieser »Volksgemeinschat«
galt das Führer- und Gefolgschatsprinzip.
»Der nationalsozialistische Staat ist ein Rechtsstaat, weil in ihm die Rechtsidee aufs engste mit
der Staatsidee verbunden ist. Denn beide führen
sich auf dieselbe Quelle, nämlich die Volksgemeinschat, zurück.«
Prof. Dr. Otto Kollreuther. Der nationalsozialistische
Rechtsstaat. 1934.
Adolf Hitler
Führer NSDAP
Reichskanzler und
-Präsident, oberster
Gerichtsherr
Deutsches Reich
NSDAPReichsleitung
Reichsregierung
Gauleiter
Oberpräsidien
Bezirksregierungen
Kreisleiter
Kreise und
Kreisfreie Städte
Ortsgruppenleiter
Bürgermeister
NSDAP-Mitglieder
Gemeindebürger: Wer
der »Volksgemeinschat« zugerechnet
wurde
Die Hierarchie des NS-Partei-Staates:
Das Führerprinzip, Schaubild: Lothar Klouten
42
| Antisemitische Massnahmen
Diese Juristen-Sophistik ist juristische Perversion.
In diesem Stil ist alles zu legitimieren: Nenne mir
ein Ziel, ich legitimiere es schein-juristisch scheinbegründet. Positivistischer Wahn – ethiklos. Was
sich durchsetzt, ist Recht. Auch Auschwitz.
Die NSDAP-Institutionen dominierten nicht nur
die gesellschat lichen Subsysteme. Sondern nur
soweit die NSDAP-Institutionen von ihren Machtmöglichkeiten keinen Gebrauch machten, regelte
sich das private und öfentliche Leben nach den
Normen des überkommenen oder neu geschafenen
»Rechts«.
»Nazideutschland ist der Inbegrif der Lüge,
des Verbrechens und der brutalen Gewalt.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S. 8.
Oberpräsident für die Rheinprovinz war der Gauleiter von Essen Terboven.
Die Gestapo-Leitstelle Düsseldorf, die größte im
Deutschen Reich, war der Bezirksregierung Düsseldorf angegliedert und im selben Gebäude untergebracht. So war der Dienstweg zur Übermittlung
von Anordnungen zu Maßnahmen gegen »Juden«
und ihre Weiterleitung an die Kreis-, Stadt- und
Polizeibehörden besonders kurz – und bürokratisch
efektiv.
Im »Nachrichtenblatt der Staatspolizeistelle für den
Regierungsbezirk Köln« am 15. Oktober 1934 lesen
wir (LAV NRW R, RW 34 Nr. 001):
»... die Erfolge der Kreis- und Ortspolizeibehörden
auf dem Gebiet der politischen Polizei in erheblichem Maße zur Beseitigung staatsfeindlicher Bestrebungen und damit zur Befriedung des Regierungsbezirks beigetragen haben.«
Das gilt analog für den Regierungsbezirk Düsseldorf: Die Erfolge auch in Osterath unter Ortspolizeichef Bürgermeister Hugo Recken.
Im Gestapo-Gesetz vom 10. Februar 1936 hieß es
im § 4 »Zuträgerfunktion für alle Kreis- und Ortspolizeibehörden als Hilfsorgane der Gestapo« in
Absatz 1 Satz 2:
»In diesem Rahmen haben die Kreis- und Ortspolizeibehörden den Weisungen der zuständigen Staatspolizeistelle Folge zu leisten.«
Das bedeutet: Den Primat der Gestapo, einem aus
einer NSDAP-Parteigliederung entstandenen staatlichen Organ, gegenüber den Kreis- und Ortspolizeibehörden. Die wiederum über die Vernetzung
mit der SS mit der NSDAP nochmals vernetzt sind.
Was bedeutet das für die polizeiliche Praxis?
Die Kompetenzen waren neu geordnet worden.
Regionalapparat
Partei
Staat
14
Reichsstatthalter
in den nichtpreußischen
Ländern
13
Oberpräsidenten
in den
preußischen
Provinzen
31
11
Gauleiter in den nichtReichsstatthalter und Gauleiter
preußischen Ländern und
in den Reichsgauen
preußischen Provinzen
(Diese Gebiete wurden unter
dem Nazi-Regime dem Reich (Das Gebiet eines Gaus war
nicht immer mit der Grenze
angegliedert; beim Reichseines Landes oder
statthalter und Gauleiter
einer Provinz identisch)
in den Reichsauen handelte
es sich um eine Person)
Regierungspräsidenten
Landräte Bürgermeister
(Land)
(Stadt)
Da Bürgermeister und Ortspolizeibehörde und damit örtliche Gestapo auch NSDAP-Mitglieder waren, war eine weitere Vernetzung gegeben. Auch
mit den örtlichen NSDAP-Gliederungen, dies auch
in der Verwaltung.
Am Beispiel von Bürgermeister Hugo Recken
inden wir in den Gestapo-Akten im Staatsarchiv
Nordrhein-Westfalen einige Schreiben von ihm
an die Gestapo-Außendienststelle Krefeld oder die
Gestapo-Leitstelle Düsseldorf. Seine schrit liche
formelle dienstliche Kommunikation bezieht sich
auf »Fälle«, in denen er im Rahmen der deinierten
Kompetenzen agierte, auch initiativ.
H. G. Adler in »Der Verwaltete Mensch. Studien zur
Deportation der Juden aus Deutschland« (S. 1025)
zitiert aus »Stuckart / Schurbarth. Verwaltungsrecht« (Leipzig 1938, S. 60 – 62) zur »Organisation
der Polizei«:
»4. Ortspolizeibehörden sind
a. in den Städten: die Leiter der Gemeinden
(... Bürgermeister)
...
1. Die Geheime Staatspolizei
...
c. Kreis und Ortsbehörden der Geheimen
Staatspolizei sind die Kreis- und Ortspolizeibehörden«
In den Dokumenten des Nürnberger Prozesses
ist PS-1852 »Der Aubau der Deutschen Polizei
(Stand Sommer 1940)«. Ein Auszug:
»Der Reichsminister des Innern
Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen
Polizei: Heinrich Himmler
– NSDAP und Staat
I
Ortspolizeibehörden
Bürgermeister mit Gemeindepolizeibeamten
und Gestapo«
Kreisleiter
Ortsgruppenleiter
Raul hilberg:
Der Regionalapparat
Im »Polizei-Handbuch« (37. Aulage, Lübeck 1942)
wird in »Erster Teil: Staatsrecht« ausgeführt:
»Vorbemerkungen
Der Staat
I. Das Parteiprogramm
Mit einer neuen, zum Durchbruche und Siege gelangten Weltanschauung durchpulst in
uns Geist staatliche Formen und staatliches
Leben. Nur vom Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung her kann eine neue
Staatslehre aubauend über Begrife formen.
Mit dem Siege der Idee sind die Parteidogmen
und der sie vertretenden Kampbewegung die
neue Staatsgrundsätze der Gemeinschat des
Volkes geworden. Sie sind richtungsweisend
für neue und überkommene Gesetze (NSDAPProgramm).
Verfassung und Verwaltung
Nationalsozialistische Verfassungsgrundsätze.
1. Die nationalsozialistische Weltanschauung
ist die weltanschauliche Grundlage der Existenz und damit der Organisation des Dritten
Reiches.
»Die nationalsozialistische Idee hat ihren Sitz
in der Partei.« (Hitler)
II. Staatsgrundgesetze
Da wesentliche Teile der Reichsverfassung vom
11. 8. 1919 z. Zt. aufgehoben oder gegenstandslos
geworden sind, im übrigen auch in absehbarer
Zeit eine Verfassung nationalsozialistischer
Prägung erwartet werden kann, ist von dem
Abdruck der veralteten Wortlauts Abstand genommen worden.«
Die juristischen Gehirnkrämpfe drücken sich in
der verqueren Sprache aus. Der Text in Kurzfassung: Der Führerwille – aller Ebenen – ist Recht.
Alles Weitere ist Legitimations-Beiwerk – für maß-
Antisemitische Massnahmen
| 43
lose schein-legale Willkür. Im NS-Staat gab es kein
Recht im juristischen Sinn. Alle Maßnahmen waren
illegal und illegitim, damit kriminell und strabar.
Wolfgang Benz hat formuliert:
»Mit der Verschmelzung von SS und Polizei
verwischten die Grenzen zwischen normativkontrolliertem staatlichen Handeln und im
Vollzug nationalsozialistischer Ideologie ausgeübter Willkür.«
Eben willkürlicher Staats-Terrorismus bis zur Gemeindeebene, schein-legal kostümiert.
Raul Hilberg hat in »Die Vernichtung der europäischen Juden« (S. 48) nach dem Dokument aus dem
Nürnberger Prozess PS-2905 – von Reichsinnenminister Frick beglaubigte Organisationstafeln – den
»Regionalapparat« dargestellt (s. vorherige Seite).
Zu den Hierarchien formuliert Hilberg (S. 49):
»Alle vier Hierarchien trugen nicht nur mit administrativen Maßnahmen, sondern auch mit ihren
jeweiligen organisatorischen Eigenheiten zum Vernichtungsprozess bei. Die Beamtenschat brachte
ihre unbestechliche planerische und verwalterische
Gründlichkeit ein.«
In meinem Buch »Hubert Vootz. Ein Leben für
die Freiheit – Vom deutschen Kaiserreich bis zur
Bundesrepublik Deutschland« (S. 91) habe ich ein
Terror-Schaubild veröfentlicht, das die Vernetzung
von NSDAP und Staat auf allen Ebenen für die Rolle
der Bürgermeister integriert:
Anselm Faust benennt in »Die Kristallnacht im
Rheinland« (S. 69) die »personellen Verlechtungen
zwischen Partei und ihren Verbänden, den kommunalen Verwaltungen und dem Polizeiapparat.«
»Die Vernichtung der Juden war nicht zentralisiert.
Weder hatte man ein Behörde für Judenangelegenheiten gegründet, noch ein Budget für den Vernichtungsprozess bereitgestellt. Die antijüdischen
Maßnahmen verteilten sich auf den Staatsdienst,
das Militär, die Unternehmen und die Partei. Alle
deutschen Organisationen wurden in das Projekt
einbezogen. Jede einzelne Behörde trug dazu bei;
man nutzte jede Spezialisierung; und an der Umklammerung der Opfer waren durchweg alle Gesellschatsschichten beteiligt.« So Raul Hilberg in
»Täter, Opfer, Zuschauer« (S. 33).
Zum arbeitsteiligen Charakter der Deportationen
schreibt Yvonne Riecker in »Von der rechtlichen
Gleichstellung bis zum Genozid« (S. 253):
»An deren Vorbereitung und Durchführung sowie
an der Abwicklung der Folgeprobleme waren auf
regionaler und lokaler Ebene in der Tat zahlreiche
Instanzen beteiligt ... Es waren kleine und kleinste Verwaltungsakte, die erst in der Bündelung eine
Deportation ergaben. Eine solche Aufspaltung der
Zuständigkeiten entlastete die Beteiligten und enthemmte sie zugleich. Sie waren zudem durch die
Terror
Der Verfolgungs-, Unterdrückungs- und Vernichtungsapparat
SA
Justiz
Verwaltung
Oberbürgermeister
Kommunaler
Polizeichef
Polizei
– in SS integriert
– staatlich, inkl.
Gestapo
SS
Aufgabe: örtliche
Gestapo
Kommunale Polizei
Gegner
Vermeindliche und reale:
Krankheitserscheinungen
.....> Bekehren oder Beseitigen / Ausrotten
Urteil Nürnberger
Hauptkriegsverbalprozess :
SS, SD, Gestapo,
politische Leiter der NSDAP :
verbrecherische Organisationen
44
| Antisemitische Massnahmen
Konsequenz der Integration / Vernetzung :
dies bedeutet, dass damit erfasst sind
die Polizei, die Oberbürgermeister
und über sie
die Kommunalverwaltungen
Terror
Schaubild:
Lothar Klouten
Sprache abgesichert, in deren Zentrum die Termini ›Evakuieren‹ und ›Arbeitseinsatz‹ standen. Diese
Begrife verhüllen den systematischen Mord gerade
durch ihre Deutungsofenheit.«
Dies auch in der Form, dass sich heute der Meerbuscher Stadtarchivar Regenbrecht selbstverständlich
nichts dabei denkt, den Terminus »Evakuieren« unrelektiert wiederzugeben.
Raul Hilberg führt in »Täter, Opfer, Zuschauer«
(S. 36) unter »Tätergruppen« »Kommunalbehörden« auf: »Beschränkungen der Freizügigkeit und
des Wohnrechts.«
Stefan Nothe formuliert in »Alte Kameraden und
neue Kollegen« (S. 36 f.):
»Ab 1936 war die gesamte Polizei formal ein Hilfsorgan der Gestapo und hatte diese bei allen ihren
Maßnahmen zu unterstützen – und sie ist dieser
Aufgabe in erheblichem Maße nachgekommen.«
Hilfsorgan im Sinne von: Integraler weisungsgebundener Bestandteil.
Holger Berschel formuliert in »Bürokratie und
Terror« (S. 431):
Für die Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen und ihre Zusammenfassung in ›Judenhäusern‹
waren zuerst die Gemeindebehörden zuständig, ehe
1941 die Gestapo auch hier die Leitung übernahm.«
»Die örtlichen Stadt- und Landpolizeistationen waren angewiesen, alles zu übermitteln, was ihnen an
politisch interessantem zu Ohren kam.«
Ausführlich hat Hans-Günter Adler in seinem Buch
»Der verwaltete Mensch« die Rolle der Bürgermeister beleuchtet:
»Die Landräte ... beaut ragten mit den verlangten Maßnahmen die Bürgermeister der Städte und
übrigen Gemeinden ihres Kreises. In allen solchen
Orten wurde die vorbereitende Deportationsarbeit
trotz Beaut ragung der städtischen Schutzpolizei
und auf dem Lande der Gendarmerie vom Bürgermeister mitbesorgt oder zumindest genau überblickt. Kein Landrat und kein Bürgermeister in
Deutschland, aus dessen Verwaltungsgebiet auch
nur ein einziger Jude verschickt worden ist, konnte nach dem Winter 1941/42 über den bürgerlichen
Tod der Juden in Unkenntnis bleiben. Mit Ausnahme der Vorgänge bei der Verladung in einen
Deutschland endgültig verlassenden Zug gibt es
ungefähr keine wichtige Einzelheit der Deportation, die ein Landrat oder Bürgermeister nicht ebenso
genau wissen musste wie ein Beamter der Gestapo,
soweit er in die blutigen Geheimnisse der ›Endlösung‹ eingeweiht war.« (S. 373)
Berschel weiter (S. 431):
»Die Abmeldung der Deportierten erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Einwohnermeldeamt.«
Auf der Einwohnermeldedateikarte von Dan Lucas
aus Osterath ist der Eintrag zu lesen:
»9.12.41 Osten Riga«
»Alle Informationen, die durch die ›Richtlinien‹
aus dem RSHA IV B 4 an die Gestapo gelangten,
sowie alles, was in diesem Zusammenhang die Gestapo für sich selbst schrit lich festlegte, sind auch
den Landräten, Bürgermeistern und zahlreichen
anderen Amtsinhabern der zivilen Verwaltung mit
Aut rägen zur Ausführung im eigenen Zuständigkeitsbereich oder nachrichtlich mitgeteilt worden.
Was diese Stellen sich dabei dachten oder zu denken
verabsäumten, ist eine andere Sache; mitgewirkt –
sofern auch nur ein betrofener Jude in ihrem Wirkungsbereich lebte – haben sie alle, wenn sie nicht,
sei es auch mit begreilicherweise verschwiegenem
Grunde, deswegen ihr Amt aufgegeben haben oder
zumindest für die Dauer der Aktion ›erkrankt‹
sind. Selbstverständlich mussten die Landräte und
untergeordneten Bürgermeister die Bestimmungen
über den zu deportierenden Personenkreis kennen.
Sie erfuhren, was mit dem Vermögen zu geschehen
hatte. Sie mussten sich darum kümmern, dass innerhalb ihres Kompetenzbereiches den Juden all das
weggenommen und sonst angetan wurde, was nur
in bestimmten großen Städten die Gestapo selbst
erledigte. Die Gestapo erteilte genaue Aufschlüsse,
wenn diese auch gewiss nicht überall gleich ausielen.« (S. 373)
Darüber hinaus hatten die Bürgermeister eine
generelle Kontrollfunktion, so Jaques Delarue in
»Geschichte der Gestapo« (S. 90 f.):
»Das Zusammenspiel war perfekt, die ›Geheimnisträger‹ wussten fast nichts mehr von dieser ihrer Eigenschat, weil sie im Staube der nicht den
Für Osterath bedeutet das:
Bis 1941 hat Bürgermeister Recken die »Entjudung«
und Ghettoisierung in »Judenhäusern« im Rahmen
seiner Amtsgewalt realisiert. Dann musste er sich
mit der zuständigen Gestapo-Außendienststelle in
Krefeld arrangieren. Daher sein Schreiben an diese
vom 4. Juni 1942: »Es wird um Abschiebung des Juden gebeten.« (RW 58-34996, in: Anselm Faust. Die
Kristallnacht im Rheinland, S. 100) Gemeint war
Julius Gutmann – gemeinsam mit seiner Ehefrau
Sabine. Am 24. Juli 1942 – also kaum sechs Wochen
später – wurde das Ehepaar Gutmann nach heresienstadt deportiert. Und: »Es« ist eine typische bürokratische Rationalisierung und Neutralisierung.
Wie das Wort »Abschiebung«.
Antisemitische Massnahmen
| 45
Menschen sehenden formalen Verwaltung ihr Gewissen erstickten oder gar nichts sehen und hören
wollten, was in den Papieren enthalten war, die sie
empingen, behandelten und selber schrieben, was
sogar noch dann galt, wenn sie, sei es auch durch
Vermittlung ihrer Untergebenen, unmittelbar leidvoll auf die Opfer der gesammelten unmenschlichen Maßnahmen einwirkten. Die Stuttgarter
Gestapo stand schwerlich allein, wenn sie einen
Landrat Ende März 1942 in der Sprache des ›Wannseeprotokolls‹ verständigte: ›Die in der letzten Zeit
in einzelnen Gebieten durchgeführten Umsiedlungen nach dem Osten stellen den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark
und im Protektorat Böhmen und Mähren dar.‹ –
Beginn der Endlösung, ganz unverfänglich steht es
hier, es hat nichts zu bedeuten, zu Sorgen liefert das
ofenbar keinen Anlass, wenn auch die Deportierten, nahezu ganz ihrer Habe beraubt, irgendwohin
verschwinden sollen. In diesem Brief wurde dem
Landrat noch eingeschärt: ›Im Hinblick auf die
vorläuig letzte Gelegenheit zur Entjudung der einzelnen Kreise ersuche ich, nur in schwersten Fällen
von Gebrechlichkeit bzw. Erkrankung Juden vom
Transport zurückzustellen.‹ Unbekümmert konnte
dieser Brief nach dem Absatz über den ›Beginn der
Endlösung‹ auf folgende Weise fortgesetzt werden:
›Im Rahmen dieser Umsiedlung geht in der nächsten Zeit ... ein weiterer Transport von Juden ... nach
dem Osten.‹ Wie gewiss viele seiner Amtsbrüder
in ähnlicher Lage, so hat auch unser Landrat am
30. März 1942 diesen Brief der Gestapo in ungefähren Wortlaut abgeschrieben, weil er den Aut rag
den Bürgermeistern zweier Städte zu übermitteln
hatte. Die Ankündigung des zweiten Transports
wurde wörtlich mit dem vorhin mitgeteilten Satz
über den ›Beginn der Endlösung‹ eingeleitet. Daran anschließend hat der Landrat auch alles Übrige
nach der Vorlage kopiert.« (S. 374 f.)
»Die vorgesehenen Transportopfer erfuhren amtlich von der Deportation mitunter durch eine
staatspolizeiliche ›Eröf nung‹, die schrit lich oder
mündlich oder in beiderlei Form im Büro der
Gestapo (in kleineren Orten auch bei einer lokalen
Polizeibehörde) erfolgen konnte. Ot war hierbei
der Empfang durch Unterschrit zu bestätigen ...
Mitunter wurden gleichzeitig die Reserveleute
herangezogen, doch kam es auch vor, dass sie
sogar noch am Tage der Abreise benachrichtigt
wurden.« (S. 390)
»Die Bürokratie nahm sich der Angelegenheit
an. Es war ein bürokratischer Vernichtungsprozess.«
So Raul Hilberg in »Die Vernichtung der europäischen Juden« (S. 41).
46
| Antisemitische Massnahmen
»Von Deutschland ging der Vernichtungsprozess
aus. Es verlief keine Klut zwischen dem Mann auf
der Straße und den Tätern, die man in jeder Behörde oder Dienststelle fand.«
So Raul Hilberg in »Täter, Opfer, Zuschauer« (S. 217).
»Wie wurde der deutsche Bürokrat mit seinen
moralischen Widerständen fertig? Mit einem
Unterdrückungsmechanismus und einem System von Rationalisierungen.«
So Raul Hilberg in »Die Vernichtung der europäischen Juden« (S. 686).
Wie Hugo Recken: »Es« – nicht »Ich«.
Im Sinne des Deutschen Beamtengesetzes §3 Abs. 2:
Der Beamte hätte »jederzeit rückhaltlos für den
nationalsozialistischen Staat« einzutreten.
Das bedeutete für den Bürgermeister als örtliche
Polizeibehörde und damit örtliche Gestapo nach
Bader / Pohlen »Polizeirecht (in »Die Verwaltungsakademie«. O. J. (1940), S. 47):
»Die Geheime Staatspolizei hat in unmittelbarem Kampfe die politischen Feinde der
Volksgemeinschat zu erforschen, zu bekämpfen und zu vernichten.«
An oberster Stelle der politischen Feinde waren
nach dem Verständnis der Nationalsozialisten per
Geburt alle Menschen, die sie als »Juden« deinierten. Die die – wie es hieß – »kämpfende Verwaltung« im Rahmen ihrer Aufgaben endzulösen hätte.
In den Dokumenten des Nürnberger Prozesses
inden wir einen Geheimbericht der Einsatzgruppe A als PS 2273. Im Kontext von »Säuberungsarbeit« wird dort zu »möglichst restlose Beseitigung
des Judentums« beschrieben, nach dem NSDAPProgramm das – im doppelten Wortsinn – globale
Kernziel des nationalsozialistischen eliminatorischen Antisemitismus. Zu dessen ideologischen
Wahn auch gehörte, dass es nach dem Verständnis
von nationalsozialistischen Mördern für ihre nichtjüdischen Mordopfer nicht zumutbar sei, neben
ihren jüdischen Mordopfern verscharrt zu werden.
So von Eugen Kogon in »Der SS-Staat« beschrieben.
Das bedeutet: Eliminatorisch ist weitestdenkbar zu
verstehen. Auch im Sinne von: Alles jüdische in und
aus Osterath zu eliminieren – Menschen und ihre
Häuser nebst Inventar und Geld sowie Sachen wie
Leichen und Grabsteine, auch durch Überbauung
des jüdischen Friedhofs mit Einfamilienhäusern.
Recken »schwebte sicher die Idee eines ›judenreinen‹
Friedhofs vor«, so Günter Janß (S. 45). Mit Bezug
auf die ursprüngliche Überlegung der Gemeindeverwaltung, eine Umlegung auf den neuen Friedhof
in Osterath zu realisieren, was dann von Hugo Recken nach seinem Amtsantritt in Osterath im Januar 1934 mit Zielrichtung auf einen »Export« nach
Krefeld annuliert wurde. Die Bauherren der Einfamilienhäuser direkt über dem jüdischen Friedhof
waren nicht zufällig aktive Osterather Nationalsozialisten. Dessen Existenz von Hugo Recken 1946 –
als antisemitisch zu werten – amtlich schrit lich
geleugnet wurde – und dies folgenlos. Da er persönlich als Bürgermeister für dessen Beseitigung initiativ verantwortlich war – auch im justiziablen, also
straf- und zivilrechtlichen sowie dienstrechtlichen
Sinn. Die Strafanzeige gegen ihn wegen »pietätloser Beseitigung des jüdischen Friedhofs« 1946 –
im Kontext wohl von Sabine und Julius Gutmann
gestellt – wurde bürokratisch ignoriert und mittels
eines »Persilscheins« seines Symbionten und bürokratischen Mit-Täters Johannes Herbrandt zur Legitimation dieser Rechtsverweigerung neutralisiert.
Bürokraten vertrauen – blind – erstrangig Bürokraten, ihresgleichen, und können sich darauf ebenso
blind verlassen. Bürokratie-Prois spielen die Bürokratie-Klaviatur zur Aushebelung von – formalem – Recht im Sinne ihrer Deinitionsmacht von
Realität. In dieser bürokratischen Kontinuität ist
heute der Meerbuscher Stadtarchivar Regenbrecht
im Aut rag seines bürokratisch-politischen Vorgesetzten Bürgermeister Spindler zur apologetischen
Legitimation aller Maßnahmen von Hugo Recken
aktiv – insbesondere auch aktiv-passiv, um auf Zeit
und Vergessen zu spielen.
Ex-NRW-Innenminister Herbert Schnoor schrieb
1990 (Melling S. 496):
»Auch die Polizei war ein Mittel des Terrors,
auch sie hat die Gewaltherrschat von 1933 bis
1945 ermöglicht, getragen und gestaltet.«
Dr. Anselm Faust formulierte in einer eMail an
mich am 12. März 2012:
»Wer seit 1933 NSDAP-Mitglied und von 1934 bis
1945 Bürgermeister einer Gemeinde war, muss als
aktiver Nationalsozialist angesehen werden; hätte
er Vorbehalte gehabt oder gezeigt, hätte er sein Amt
sehr schnell verloren. Auch wenn Recken nur ein
›kleiner Täter‹ gewesen sein sollte, hat er doch das
nationalsozialistische Unrechtsregime aus freien
Stücken gestützt.«
Das Landgericht Düsseldorf stellte in einem Urteil
am 27. Mai 1948 (8 KS 21/49) fest:
»Die gesamte Tätigkeit der Gestapo, die einen
wesentlichen Teil der nazistischen Gewalt- und
Willkürherrschat darstellte, war ... ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«
Ein Urteil gegen den Leiter des Judenreferats der
Gestapo-Leitstelle Düsseldorf, Georg Pütz, auch
verantwortlich für Deportation und Ermordung
der aus Osterath verschleppten Menschen. In enger
bürokratischer Koordinierung mit seinem Kollegen
in Osterath, Hugo Recken.
Wo beginnen bürokratische interessengeleitete Zweck-Lüge und Antisemitismus? Auch durch
Dokumenten- und Informationsunterdrückung
und deren Manipulation sowie bewusster gezielter
interessengeleiteter bürokratisch-politischer Fehlbeurteilung (nicht geschichtswissenschat licher
Analyse und Wertung) – auch durch kommentarlosen, den Inhalt ignorierenden, Abdruck von Quellen. Deren Inhalt dann auch negiert, wegbeurteilt,
als nicht geschichtswissenschat lich diskreditiert
wird – mit dem sie Zitierenden, also mich persönlich. Auch durch die Behauptung, Quellen-Zitate
seien »Vorwürfe von Klouten« – gegen Hugo Recken. Das ist bürokratische Perversion gegen meine
Würde. Und die Würde der Opfer, die so symbolisch
ein weiteres Mal aktiv zu Opfern gemacht werden.
Die Akten der Gemeinde Osterath, insbesondere
was die Gemeindepolizei und die antisemitischen
Verwaltungsmaßnahmen betrit, sind erkennbar
»ausgedünnt«. Dazu zwei Hinweise:
Egon hiel schreibt in »Die Polizei in Osterath«
(Meerbuscher Geschichtshete 1995, S. 68):
Susanne Melling formuliert in »Immer treu«
(S. 364 f.):
»Durch höchstrichterliche Entscheidung wurde die
systemstabilisierende Funktion der Beamtenschat
als integraler Bestandteil des Nationalsozialistischen Unrechtsstaates unmissverständlich zum
Ausdruck gebracht.«
Ähnlich formuliert Hans Kaiser in »Zum Schicksal
der rheinischen Juden« (Viersen 1991, S. 82):
»Beim Kreis und in den Gemeinden hat man sich
kurz vor dem Einrücken der Amerikaner Anfang
März 1945 bemüht, alle Akten, die die Amtsträger
des NS-Regimes hätten belasten können, zu vernichten.«
»Was das Auinden von Akten aus der Zeit des
Nationalsozialismus angeht, so ist dies immer
mit großen Schwierigkeiten verbunden. In den
meisten Fällen wurden die Akten der Polizeiund Kommunalverwaltungen noch schnell vor
dem Einrücken der Allierten vernichtet. Vielfach gingen somit nicht nur belastendes Material, sondern auch alle weiteren historisch interessanten Akten unwiederbringlich verloren.«
Antisemitische Massnahmen
| 47
Amtsträger des NS-Regimes in Osterath waren u. a.
Bürgermeister Hugo Recken und seine rechte Hand
in der Gemeindeverwaltung, Johannes Herbrandt.
Die Vernichtung der Akten, von der mir Zeitzeugen
berichteten, bedeutet auch: Die Handelnden hatten
ein Bewusstsein des Unrechtes dessen, was damit in
Papierform dokumentiert »entsorgt« werden sollte.
Doch nur dann, wenn man ausschließlich die Kommunalarchive einbezieht, ist eine große Lücke festzustellen. In den Akten z. B. des Staatsarchivs NRW
in Düsseldorf sind die Lücken zumindest teilweise
zu schließen.
»Ortsgruppenleiter Panzer gedachte des durch
jüdische Mörderhand niedergestreckten deutschen Diplomaten vom Rath, wobei eine Musikkapelle das Lied vom guten Kameraden
spielte. Gauredner Amelung führte in seinem
Vortrag aus, dass der jüdische Einluss sich in
den Jahren vor der Machtergreifung (sic!) immer mehr ausgeweitet habe. Die Juden seien
uns Deutschen artfremde Elemente, die nur
das Ziel verfolgten, die Geschlossenheit des
deutschen Volkes zu zerstören. Immer mehr
sei nach der nationalsozialistischen Erhebung
das Judentum zurückgedrängt worden und
nunmehr sei die Zeit gekommen, wo Deutsche
in jüdische Paläste einziehen könnten und den
Juden einmal Siedlungs- und Volkswohnungen zugewiesen würden. Nach Beendigung des
Vortrages schloss der Ortsgruppenleiter mit
der Führerehrung.«
Was Meerbusch betrit, so gibt es ein weiteres – in
die speziisch Meerbuscher Kultur passendes – Detail: Johannes Herbrandt hat in den 1980er Jahren
ehrenamtlich und allein das Stadtarchiv Meerbusch
geführt. Ich habe ihn in diesem Kontext im Rahmen meiner Recherchen zu meiner Ersten Staatsarbeit »Verfolgung und Widerstand in Meerbusch
1933 – 1945« kennen gelernt.
Aus dieser Perspektive sind alle Dokumente im
Stadtarchiv Meerbusch im Bestand Osterath und
diese in ihrer Gesamtheit zu verstehen und geschichtswissenschat lich zu bewerten. Und sie
können in den Kontext der Dokumente in anderen
Archiven gebracht werden, die das – zum Teil – abbilden, was in Osterath »verloren ging«.
In wenigen Sätzen kommt der gesamte antisemitische Wahn der Nationalsozialisten zum Ausdruck,
den Zeitgenossen voll präsent und bewusst. Welche
jüdischen Paläste – in Osterath? Und hier ist klar
formuliert: Nach dem Ausschluss aus der »Volksgemeinschat« kommt der nächste Schritt: die Enteignung. Als Selbstverständlichkeit zur Kenntnis
genommen. Perversion und Pathologie als – vermeintliche – Normalität.
Auch in Lokalzeitungen wie der Osterather Zeitung sowie in Regionalzeitungen wie der in Düsseldorf erscheinenden »Rheinischen Landeszeitung.
Volksparole« inden sich Berichterstattungen aus
Osterath mit antisemitischen Bezügen. Hier ein Beispiel: In der »Rheinischen Landeszeitung. Volksparole« lesen wir am 13. November 1938 im Kontext
der Reichskristallnacht zu einer »Großkundgebung
der NSDAP-Ortgruppe Osterath im Saal Hannen
(heute Weindorf, LK), die voll besetzt war«:
Im Bestand Osterath im Stadtarchiv Meerbusch
gibt es insbesondere eine Akte mit zahlreichen
Dokumenten zu antisemitischen Maßnahmen
durch Bürgermeister Hugo Recken: III 1997 – in
der – alten – Aktennummerierung von Johannes
Herbrandt P 15. So z. B. zur Familie Dr. Goldberg,
Arzt deutscher Nationalität in Osterath, jüdischen
Glaubens.
Modell der NS-Zeit
Schaubild: Lothar
Klouten
Modell der NS-Zeit
Kontra : Widerstand
Kontra : Gegner
Zuschauer
Pro : Mitläufer
Pro : Aktivisten
48
| Antisemitische Massnahmen
In der Osterather Zeitung inden wir am 5. April
1933 und am 23. April 1935 Anzeigen von Dr. Goldberg:
ihr Kind Herbert dann auf eine Schule in Luxemburg geschickt.
Mit Datum vom 23. August 1936 erhielt Dr. Goldberg von Bürgermeister Hugo Recken das folgende
Schreiben:
Anzeige Dr. Goldberg, 5. April 1933
»Es wurde polizeilicherseits festgestellt, dass in
Ihrem Haushalt die österreichische Staatsangehörige Gertrud Kreutner, 15 Jahre alt, ohne
Genehmigung beschätigt wird. Nach ... (Aufzählung einer Verordnung und deren Durchführungsbestimmung, LK) Da Sie hiernach
gegen die Bestimmungen der vorgenannten
Verordnung verstoßen, fordere ich Sie auf, die
Gertrud Kreutner sofort aus Ihren Diensten zu
entlassen.«
Das bedeutet: Recken hat seinen Dorfpolizisten
schnüfeln lassen, um etwas zu inden, Dr. Goldberg
zu terrorisieren.
Anzeige Dr. Goldberg, 23. April 1935
Der Unterschied der beiden Anzeigen:
Dr. Goldberg war von den antisemitischen Maßnahmen gegen jüdische Ärtze betrofen. Er musste seine Öf nungszeiten massiv einschränken. Wie
der mit einer »Jüdin« verheiratete »arische« Arzt
Dr. Langenbach.
Dies wie alle anderen antisemitischen Maßnahmen waren den Menschen in Osterath bekannt.
Und deren Folgen für die betrofenen Familien. Am
Beispiel der Familie Cervelli – Paul Cervelli »Halbjude«, seine Frau »Arierin«, der Sohn Paul »Vierteljude« – hat mir Frau Cervelli 1984 berichtet, dass es
Menschen in Osterath gab, die ihre Familie u. a. mit
Nahrungsmitteln unterstützt haben.
Am 10. September 1935 erließ der Preußische Minister für Wissenschat, Erziehung und Volksbildung
eine Anordnung zur Entfernung der Juden aus den
Schulen. Zur Durchführung erstellte die Gemeinde Osterath eine Aufstellung: »Nachweisung der
Rassenzugehörigkeit der die öfentlichen und privaten Volksschulen besuchenden reichsdeutschen
Kinder«, bei der die Zahl der »Volljuden (beide
Elternteile jüdisch)« mit »eins« angegeben ist, mit
der handschrit lichen Zufügung »Goldberg«. Die
Glaubensangehörigkeit des Kindes wird mit »mosaisch« angegeben, die Frage nach der Unmöglichkeit des Verbleibs an der Schule – der Volksschule
Bovert – mit »ja«. Das Ehepaar Dr. Goldberg hat
Herbert Goldberg kehrte nach der Flucht der Familie 1938 am 1. März 1945 als US-amerikanischer Soldat nach Osterath zurück. Er hat geholfen, Deutschland von den Nationalsozialisten zu befreien.
Wer tatsächlich zielgerichtet sucht, der indet.
Oder das Gegenteil, wenn es politisch gewollt ist,
wie im Fall des Meerbuscher Stadtarchivars Regenbrecht. Verbunden mit bewusster Ignorierung von
Quellen – auch im »eigenen« Archiv – und bewusster politischer Fehl-Bewertung – nicht geschichtswissenschat licher Interpretation.
In zwei Beiträgen von Marie-Sophie Aust in den
Meerbuscher Geschichtsheten – »Jüdische Familien in Osterath« (1) und »Ein jüdischer Mitbürger in
Osterath: Julius Gutmann und seine Familie« (2) –
inden wir Hinweise dieser Zeitzeugin und von anderen Zeitzeugen zur Entwicklung der partei-staatlichen kommunalen antisemitischen Maßnahmen
durch Bürgermeister Hugo Recken und in seiner
Verantwortlichkeit als Bürgermeister, örtlicher Polizeichef und damit örtliche Gestapo – sowie deren
Folgen:
»Das gute Zusammenleben endete bald nach
der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Da es verboten wurde, Kontakt
mit der jüdischen Bevölkerung zu unterhalten,
konnten jüdische Freunde nur noch heimlich
besucht werden, immer in der Furcht, evtl. von
einem aktiven Nationalsozialisten gesehen und
auf dem Bürgermeisteramt oder bei der Leitung
der NSDAP ... angezeigt zu werden« (1, S. 77)
Antisemitische Massnahmen
| 49
Die Reihenfolge Bürgermeisteramt – NSDAP ist
kein Zufall: Recken war der Garant des NS-Terrorsystems in Osterath für die Realisierung des
NSDAP-Programms.
»Eine allgemeine Angst vor Repressalien und Denunziantentum hatte sich unmerklich eingeschlichen und bestimmte mehr und mehr das Klima. Im
dörlichen Osterath, wo damals noch jeder jeden
kannte und seiner Gesinnung nach einzuordnen
wusste, hatte sich Misstrauen breitgemacht. Der
Alltag hatte seine Normalität verloren.« (1, S. 77)
»Es begann im März (1933, LK) mit dem Aufruf
der Partei zum Geschätsboykott. Überall wurde verkündet: ›Deutsche – kaut nicht beim Juden!‹. Diejenigen, die sich davon nicht abhalten
ließen, bekamen es zu spüren und wurden unter Druck gesetzt, z. B. wurde den Gemeindebeamten und -angestellten verboten, in jüdischen
Geschäten einzukaufen.« (2, S. 53)
Eine antisemitische Maßnahme von Bürgermeister
Hugo Recken. In eigener Verantwortlichkeit, im
Vorgrif auf eine Anordnung dazu von überörtlichen partei-staatlichen Bürokratien.
1933 »beim Juden« – dann von Recken am
4. Juni 1942 an die Gestapo-Außendienststelle
Krefeld: »Es wird um Abschiebung des Juden gebeten«. »Es«: Eine unpersönliche Sache – das Ehepaar
Gutmann, das er persönlich – amtlich – terrorisiert
hat. Wobei die Gestapo-Außendienstelle Krefeld
dann von »den Juden« bzw. dem »jüdischen Ehepaar Gutmann« an Recken schrieb, also »weniger«
nationalsozialistisch-ideologisch als Recken.
»Damals lebte auf der Strümper Straße eine Frau,
die von ihrer Nachbarin angezeigt worden war, weil
sie ›jüdische Hühner gefüttert hatte‹. Diese Frau
wurde auf das Bürgermeisteramt geladen, verhört,
verwarnt und musste anschließend für viel Geld
eine 2 Meter hohe Mauer zwischen ihrem Grundstück und der benachbarten jüdischen Familie bauen. Es durte kein Törchen in dieser Abtrennung
sein, damit jeder heimliche Kontakt mit den Juden
unmöglich war. (2, S. 53)
So satirisch dieses Geschehen heute wirken mag,
es ist ein Spiegelbild der damaligen Realität –
und des realen Habitus der großen Mehrheit der
»Volksgemeinschat«. Was lesen wir? Die Nachbarin zeigte die Fütterin jüdischer Hühner beim
Bürgermeister an, der umgehend konsequent seines
nationalsozialistischen Amtes waltete. Bürokratisch
perfekt – und gnadenlos, als furchtbarer Bürokrat.
Stellen Sie sich einmal vor: Sie gehören zu der
betrofenen jüdischen Familie. Oder sie wissen als
50
| Antisemitische Massnahmen
Teil der katholisch-dörlichen »Volksgemeinschat«
von diesem und allen weiteren antisemitischen
Maßnahmen von Bürgermeister Hugo Recken. Was
denken und fühlen Sie? Genau darum ist es gegangen. Und genau darum geht es auch heute.
»Judenfreundliches Verhalten« wurde zumeist auf
Denunziation bei der Gestapo verfolgt und in
zahlreichen Fällen bestrat. Verfolgt und bestrat
wurde ein menschliches Verhalten gegenüber MitMenschen, das als gegen die Volksgemeinschatsideologie gerichtet ideologisch verstanden wurde:
Die Exklusion der Menschen, die die Nationalsozialisten als »Juden« bezeichneten und töten
wollten, wurde »hintergangen«, also die »nationalsozialistische Bevölkerungspolitik« im Sinne des
NSDAP-Programms. In den Gestapo-Akten im
Staatsarchiv NRW in Düsseldorf inden sich dazu
viele Beispiele. In Kontext seiner Gestapo-Rolle
hat Bürgermeister Recken staatspolizeiliche Verwarnungen ausgesprochen und Betrofene scheinlegal zu Exklusions-Maßnahmen genötigt. Da in
Osterath diese Maßnahmen bekannt waren mit der
Wirkung in der Gesellschat. Die so von Recken als
örtlichem nationalsozialistschen partei-amtlichbürokratischen Repräsentanten des NS-Regimes
beabsichtigt war. Auch in Richtung auf NSDAPFunktionäre lokal und regional sowie gegenüber
seinen Vorgesetzten. Es ging schließlich um seinen
guten Ruf als Bürgermeister. Demonstriert in dokumentiertem – damals wie heute – Agieren im Sinne des exakten Gegenteils von »judenfreundlichem
Verhalten«.
Sabine Gutmann schrieb am 17. Dezember 1945
(KK 1023 Bl. 182), nachdem sie mit ihrem Mann
Julius als einzige Überlebende der aus Osterath
deportierten Menschen aus dem KZ heresienstadts nach Osterath zurückgekehrt war und Hugo
Recken in Osterath erzählte, er würde wieder – wie
1933 – Rudolf Bartels als Bürgermeister ablösen:
»Recken ist von jeher eifrig bemüht gewesen, in
seiner Eigenschat als Bürgermeister den Nationalsozialisten herauszukehren. Besonders in
der Judenfrage war er unerbittlich ... Von vier
jüdischen Häusern ließ Recken zwei verkaufen,
damit nicht soviel jüdische Häuser am Platze
seien, wie Recken selber sagte.«
»Arisierung« war nationalsozialistisch-ideologisches Schein-Legales Wirtschatsverbrechen im
Sinne von ungesetzlichem Recht. Im Kontext der
Wiedergutmachung wurde dies nach 1945 juristisch so beurteilt. Auch in Bezug auf die auf Initiative von Bürgermeister Hugo Recken »arisierten«
Häuser von Menschen jüdischen Glaubens in Osterath und ihrem Eigentum. Dazu gibt es zahlreiche
Akten im Bestand des Landgerichts Krefeld – und
in weiteren Beständen.
antwortlichkeit war in Lemgo vor 30 Jahren. Die
Uhren in Meerbusch gehen langsam – und nach.
Angela Genger und Hildegard Jakobs formulieren
in Düsseldorf – Getto Litzmannstadt (S. 19):
Der Fokus des Beitrags ist die »aktive Rolle Gräfers
bei der Verwirklichung nationalsozialistischer Politik im lokalen Bereich« (S. 217) – versus: »Die Verklärung seiner Person.« (S. 212)
»Einige waren nach den Pogromen vom
November 1938 in die größeren Städte zu
Verwandten gezogen, weil die NSDAP-Funktionäre und ihre Helferinnen und Helfer sie
nach Jahren massiver Bedrohung und direkter Gewalt endgültig vertrieben hatten und es
keine jüdischen Hilfseinrichtungen für sie gab,
von den sie nach dem Gewerbeverbot hätten
unterstützt werden können. Sie hatten schon
bis Ende 1938 fast alles verloren oder zurücklassen müssen, was sie ihr Eigen genannt hatten. Ihre Ersparnisse – soweit sie überhaupt
nach solche besaßen – standen ihnen nur mehr
nach Abzügen durch Sondersteuern und auf
Antrag zur Verfügung.«
Osterath war von dieser Welt.
Nach der Befreiung 1945 war Recken dann der verfolgte Katholik, der den Nationalsozialisten aus
katholisch-christlicher Überzeugung Widerstand
leistete, die Osterather Juden auch schützte. So heute kontextlos von Stadtarchivar Regenbrecht rezipiert, die Recken-Selbst-Legitimation wiedergebend, als geschichtswissenschat liche Wahrheit.
Weil es von Bürgermeister Spindler bürokratischpolitisch so gewollt ist.
Ein Hohn für die Opfer, die so symbolisch ein
zweites Mal von Bürgermeister Spindler zu Opfern
gemacht werden. Tote können sich nicht wehren.
Bürokratische Perversion, mit allen Mitteln inkl.
struktureller Gewalt vertreten. Dies auch im Sinne
von: Ich darf als Bürgermeister bürokratisch-politisch alles für mich persönlich folgenlos machen,
um meine bürokratisch-politischen Ziele zu verfolgen. Es hat sich diesbezüglich in Meerbusch nichts
geändert. Auch die Gefolgschat nicht.
In den »Lippische Mitteilungen aus Geschichte und
Landeskunde« inden wir im Band 51 (1982, S. 211–
239) den geschichtswissenschat lichen Beitrag von
u. a. Arnd Bauerkämper »Zur Stellung des Bürgermeisters im nationalsozialistischen Staat. Wilhelm
Gräfer in Lemgo«.
Die Lektüre dokumentiert: Hugo Recken war
wie Wilhelm Gräfer ein Fraktal als Mensch in seinen gesellschat lichen Rollen, gestaltet nach seinem
freien Willen.
Der Konlikt in Lemgo um die Rolle des Bürgermeisters in der NS-Zeit und seine persönliche Ver-
Das Besondere an Gräfer: Ähnlich wie Jürgens in
Düsseldorf wollte er den US-amerikanischen Einheiten Lemgo im April 1945 kamplos übergeben,
wurde deswegen von Nationalsozialisten scheinlegal ermordet.
Im Gegensatz dazu beruht die Recken-Legende
auf seinen eigenen apologetischen Behauptungen
nach 1945, gestützt durch seine rechte Hand seit
1934 und nach 1945 Johannes Herbrandt sowie der
Allianz katholischer Geistlichkeit und katholischer
Gemeindeelite – sowie dem Zeitgeist, den Interessen der britischen Militärregierung und denen seiner Vorgesetzten auf Kreisebene.
Der besondere Fokus der Autoren liegt auf
»seinen (Gräfers, LK) Handlungsmöglichkeiten
und seine realen Entscheidungen mit ihren
vielfältigen Konsequenzen,« (S. 215) »das individuelle Handeln Gräfers innerhalb seines
Kompetenzbereichs.« (S. 216)
Also exakt der Fokus dieser Arbeit zu Osterath und
die Rolle von Recken, Herbrandt und weiteren lokalen Nationalsozialisten.
»Am 29. 12. 1923 wurde Wilhelm Gräfer zum Bürgermeister von Lemgo gewählt.« (S. 217). Recken
war Bürgermeister in Vorst, trat nach seiner Versetzung im Sinne einer Anerkennung Ende Januar
1934 seinen Dienst in Osterath an.
Er hatte eine »national-konservative politische
Einstellung.« (S. 218) Was für Hugo Recken im
Grundsatz auch konstatiert werden kann.
Gräfer
»... am 1. Mai 1933 in die Partei eintrat und im Gegensatz zu vielen anderen Bürgermeistern im Amt
blieb.« (S. 220)
Identisch zu Recken, inkl. des Termins.
Die Frage ist interessant: Welche Einrittsdaten hatten alle anderen Bürgermeister, die zur NSDAP
übertraten und im Amt blieben? Es wird bei sehr
vielen der 1. Mai gewesen sein und dies hat aus der
Perspektive der Nationalsozialisten hohen symbolischen Charakter – für die Machtübernahme in allen deutschen Kommunen.
Antisemitische Massnahmen
| 51
Die Annäherung von Gräfer an die NSDAP belegen
die Autoren mit Zitaten von ihm:
»... bis der letzte Feind vernichtet ist ... einem
dreifachen Sieg Heil ... gegründet auf die Gemeinschat von Rasse und Vaterland.« (S. 222 f.)
Den Kontext zu Recken-Zitaten in diesem Buch
können Sie relektieren.
»... die Bestrebungen der nationalsozialistischen
Machthaber nach möglichst vollständiger Erfassung der Bevölkerung, wobei der Bürgermeister in
Lemgo als ausführendes Organ fungierte.« (S. 228)
Wie in Lemgo, so in Osterath mit Recken.
»Andererseits unterlagen auch Bürgermeister und
Gemeindebeamte der Kontrolle und Aufsicht von
Staats- und Parteiinstanzen, so dass deren Stellung
zunehmend der von Staatsbeamten glich.« (S. 228)
Genauer dürte es heißen: Partei-Staats-Beamte –
die »Einheit von Partei und Staat« auf kommunaler Ebene. Dieser Aspekt wurde in Osterath durch
die Machtübertragung auf Recken durch NSDAPKreisleiter Niehm sowie die quasi Doppel-AgentenRolle von Johannes Herbrandt – teilweise – neutralisiert.
52
Zu »Die Durchsetzung der NS-Judenpolitik in
Lemgo« formulieren die Autoren (S. 229): »Im Zuständigkeitsbereich Gräfers als Vorsitzender der
Ortspolizeibehörde und als Vorgesetzter der kommunalen Verwaltung lag die Verwirklichung der
staatlichen Judenpolitik auf kommunaler Ebene.«
Analog: Bei Recken in Osterath.
»Antisemitische Maßnahmen«, »die Judenfriedhöfe geschändet« (S. 230), »die Ghettoisierung
in sog. Judenhäusern« (S. 233): Ein Fraktal –
generell, also auch für Osterath.
Ebenso wie die bewertenden Sätze der Autoren:
»... Bürgermeister Gräfer seinen Entscheidungsspielraum nicht zugunsten der jüdischen Einwohner Lemgos nutzte. Er hat vielmehr sowohl Verordnungen vorgesetzter Behörden ausgeführt als auch
selbstständig die allgemeine Judenpolitik des Nationalsozialistischen Regimes durch weitere Maßnahmen auf kommunaler Ebene durchgesetzt.« (S. 233)
In einer NSDAP-Stellungnahme zu Gräfer heißt es:
»Gräfer ist ein sehr wendiger und anpassungsfähiger Mensch.« (S. 235)
»Als eine der wichtigsten Funktionen des Bürgermeisters oblag Gräfer die Kontrolle über die
Ortspolizei.« (S. 228)
Das kann so verstanden werden: Er zweck-lügt
besser als wir. Ist also der bessere Bürokrat – und
Politiker. Und Hugo Recken? Bürokraten in ihren
Bürokratien erhalten sich für ihre Interessen als
Selbstzweck – unter allen – politischen – Bedingungen. Staatsformunabhängig.
Analog wie bei Recken in Osterath. Und genau
die Bedeutung – und Vernetzung – dieser Bürgermeister-Funktion wird heute in Meerbusch
(-Osterath) bürokratisch-politisch interessengeleitet wegdeiniert und wegmanipuliert, sowie als
nicht geschichtswissenschat lich verleumdet.
»Konlikte mit der NSDAP-Ortsgruppe sind
jedoch nicht als ›Widerstand‹ gegen das nationalsozialistische Regime zu interpretieren,
sondern als Reaktion auf Versuche der Partei,
in Kompetenzen des Bürgermeisters einzudringen.« (S. 237)
»Bei Anfragen höherer Polizeidienststellen war
Gräfer verplichtet, Informationen weiterzugeben und gegebenenfalls ermitteln zu lassen. Als
Beispiel für die praktische Durchführung sind
Anfragen der Außendienststelle Detmold der
Gestapo an den Bürgermeister als Ortspolizeibehörde.« (S. 228)
Analog bei Recken. Allerdings unter umgekehrten
Vorzeichen: In Osterath hatte er als Bürgermeister
»die Hosen an«. Deswegen waren seine Teilnahmen
an (rechts-)katholischen Veranstaltungen – auch
in propagandistische NSDAP-Feierlichkeiten eingebettet – Machtdemonstrationen gegenüber den
Osterather Nationalsozialisten.
In Osterath: Anfragen der Gestapo-Außendienststelle Krefeld an Bürgermeister Recken als Ortspolizeibehörde. Warum genau diese Schritstücke
im Bestand Osterath nicht überliefert sind, das hat
seinen nachvollziehbaren Grund:
Recken und Herbrandt war klar, dass sie – auch im
juristischen Sinn – Schuld auf sich geladen hatten,
sie hatten Unrechtsbewusstsein.
»Das politische Verhalten Gräfers ist ... durch weitgehende Übereinstimmung mit der NS-Ideologie
und deren Realisierung sowie durch enge persönliche Kontakte zu führenden lokalen und regionalen
Parteigrößen gekennzeichnet« (S. 237), »eine immer
deutlicher werdende Hinwendung zur neuen nationalsozialistischen Regierung.« (S. 237) »... drücken
Grundstimmungen und Ideologiemuster national
| Antisemitische Massnahmen
und monarchistisch gesonnener Bevölkerungsteile
aus. Der Übergang von dieser politischen Aufassung zur speziisch nationalsozialistischen Ideologie muss als ließend angesehen werden.«
Da sie auf Ideologien aubaute und sie auch integrierte bzw. vereinnahmte. Erneute Analogie zu Recken – und dem Osterather Rechtskatholiken, der
katholischen Gemeinde-Elite, im Verhältnis zu den
katholischen Osterather Nationalsozialisten.
»Am Beispiel der nationalsozialistischen Judenpolitik lässt sich zeigen, dass Gräfer nicht nur
Anordnungen und gesetzliche Regelungen, die
seinen Kompetenzbereich berührten, rückhaltlos ausführte, sondern auch bestehende
Freiräume in seiner Amtsführung nicht nutzte ... Eigeninitiative ... Anpassung und willige Unterordnung ... Opportunismus ... Die
NSDAP vertraute einem Bürgermeister, von
dem sie nicht ohne Grund annahm, dass er in
der Gemeinde Zustimmung inden, andererseits gemäß den Prinzipien nationalsozialistischer Politik handeln würde.« (S. 238f.)
Wie Recken. Er im Kontext seiner katholisch-dörflichen sowie bürokratischen Eingebundenheiten
auch nach der Befreiung 1945. Osterath ist nicht
von ihm und seinem Symbionten Herbrandt befreit
worden. Das hat bis heute gesellschat liche Konsequenzen. Auch im Sinne von unbewältigter Vergangenheit.
»Anhand der Analyse der Stellung des Bürgermeisters Gräfer wird die hese bestätigt, dass
der Nationalsozialismus bei der ›Machtergreifung‹ in der ›Provinz‹ weitgehend auf Repräsentanten der traditionellen dörl ichen und
kleinstädtischen Elite zurückgrif.« (S. 239)
Auch Osterath ist – wie ich es in diesem Buch herausgearbeitet habe – ein Fraktal dieser Feststellung. Wobei Recken im Januar 1934 als Beförderung aus einem nahen katholischen Nachbardorf
»exportiert« wurde, aus Vorst. Zur Sicherstellung
katholischer Dorf-Kultur-Kontinuität, gegen den
evangelischen Bürgermeister Rudolf Bartels – 1933
und nach der Befreiung 1945. Also staatsformunabhängig.
»Gelogen wird nicht nur mit Worten,
sondern auch mit Schweigen.«
Arienne Rich
Die Namen der deutschen Bürokratie-Prois sowie
ihre bürokratischen Funktionen sind austauschbar,
auch fraktal. Was ist es, dass die speziisch deut-
sche Bürokratie-Kultur so ofensichtlich von anderen Bürokratie-Kulturen – negativ – abhebt, der
»furchtbare« Bürokrat eher der Normalfall ist?
Die zielführenden Fragen dazu hat 1946 Alfred
Weber in seinem Beitrag »Bürokratie und Freiheit«
formuliert (S. 1033):
• Welche Allgemeinbedingungen unseres Daseins
führen zur Bürokratisierung?
• Welche besondere Form hat sie?
• Wie weit ist sie abwendbar, ablösbar, wie weit
unentrinnbar?
• Wie können wir ihren ofenkundigen Gefahren
der Ausgestaltung zum Totalitarismus oder gar
Terrorismus entgehen?
• Wie können wir die Freiheit retten?«
Um das analytisch zu erfassen, ist es zielführend,
auf Arbeiten zum hema Bürokratie von drei Deutschen zurückzugreifen, die es aus ihrer jeweiligen
zeitlichen und inhaltlichen Perspektive und damit
sich synergetisch ergänzend durchdrungen haben:
• Otto Hintzen. Der Beamtenstand. 1911.
• Max Weber. Wirtschat und Gesellschat.
Grundriss der verstehenden Soziologie. 1922.
• H. G. Adler. Der verwaltete Mensch. Studien zur
Deportation der Juden aus Deutschland. 1973.
Die Erscheinungsjahre sind von Bedeutung:
1911 – vor dem Ersten Weltkrieg, im monarchistischen Deutschland.
1922 – nach dem Ersten Weltkrieg, in der sich konsolidierenden Weimarer Republik.
1973 – nach der NS-Terrorherrschat und mit dem
zeitlichen Abstand, der unter Einbeziehung
der bis dahin vorliegenden Forschungsergebnisse einen tiefen, geradezu röntgenartigen Blick auf die Bürokratie und ihre Rolle
im Holocaust, davor und danach, erlaubte.
1999 erschien der – kurze – Sammelband-Beitrag
von Bernd A. Rusinek »Nationalsozialismus, Judenverfolgung und ›Bürokratie‹« mit Fokus auf die Rolle der Finanzbehörden. Einem Bürokratie-Fraktal.
»Preußen war das Krebsgeschwür
Deutschlands. Sein Gesetz: wachsen,
verschlingen, zerstören.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S.128 f.
Ergänzend dazu auf S. 130: »neurotische Folgen«
Das mittelalterliche Vasallen-Verhältnis zwischen
Lehen-Geber und Lehen-Nehmer transformierte
sich im 18. /19. Jahrhundert in den modernen Verwaltungs-Staat. Wobei der preußische VerwaltungsStaat und dessen speziische Bürokratie-Kultur bereits vor der Reichsgründung 1870 in den Staaten
Antisemitische Massnahmen
| 53
des Deutschen Bundes eine Hegemoniestellung
einnahm. Die nach 1870 weiter wucherte, insbesondere in Verbindung mit »Assessorismus« – der
bürokratiekulturellen Auslese und Prägung durch
Verwaltungslehranstalten – und dem – preußischen
»Militarismus« – der bevorzugten Besetzung von
Beamtenstellen durch ausgediente Unteroiziere,
den »Militäranwärtern«. Zwei im wilhelminisch
monarchistisch-obrigkeitsstaatlichen Deutschland
vernetzte, sich gegenseitig verstärkende bürokratiekulturelle Tendenzen, die bis heute staatsformunabhängig in die Gesamtgesellschat wirken. Nicht
auf Deutschland begrenzt: In die EU und damit
international / global. »Am deutschen Wesen soll
die Welt genesen.«
Otto Hintze arbeitete in »Der Beamtenstand« (1911)
Merkmale der deutschen Beamten heraus:
• Unselbstständigkeit
• gegen den Dienstherren
Abhängigkeit
Treue
Gehorsam
Verschwiegenheit
Dafür als Gegenleistung:
• Schutz des Dienstherren
• Lebenslange Anstellung bei leidlicher Versorgung
• Das Prestige, Staatsdiener zu sein
• und damit an der Macht teilzuhaben.
Ein Teilaspekt der Bürokratie-Kultur ist das damit
verbundene Ethos der Träger der Obrigkeitsfunktionen. Ausprägungen dieses Ethos:
• positiv: eine besondere Verantwortung und
Plicht
• negativ: die Lust an der administrativen
Exponierung
Hier zeichnet sich ein Spannungsverhältnis ab:
Gesellschat licher Aut rag
versus
bürokratisches Machtstreben –
in Verbindung mit bürokratisch organisierter –
im doppelten Wortsinn –
Verantwortungslosigkeit.
»Führerprinzip« in diesem Sinn:
Den Führerwillen handelnd adaptieren,
die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln
imaginär auf den »Führer« projezieren –
der ebenso verantwortungslos ist.
Dies augenscheinlich in:
• Streberei und Unterwürigkeit nach oben
versus
Brutalität nach unten
• Geist der Abhängigkeit
• Routine und seelenloser Dienstmechanismus
54
| Antisemitische Massnahmen
»Tatsächlich ist die Tüchtigkeit in vielen Teilen
Preußens und in Nazideutschland zu einem
Selbstzweck geworden. Ihr wird eine Bedeutung beigemessen, die sie nicht hat – die eines absoluten Wertes ... Tüchtigkeit ist in den
Augen der meisten Deutschen heute zu einem
Wert und Selbstzweck geworden, weshalb sie
keinen höheren Maßstab kennen.«
Sebastian Haffner. Jekyll and Hyde. 1939. S. 47 + 51.
»Unten« in der NS-Zeit:
Die Nicht-Volksgenossen, auf die die gesamte bürokratische Aggression und Perversität gelenkt wurde, sich widerstandslos – auch vorauseilend Hitler
im Sinne des Führerprinzips und der Volksgemeinschats-Ideologie antizpierend – lenken ließ.
Das normative Beamten-Ethos nach Otto Hintze:
• Treue, Ergebenheit, Plichteifer im Diensttag
• wohlwollende patriarchalische Fürsorge
• die in der NS-Zeit ausschließlich den »Volksgenossen« galt.
Und konsequent umgekehrt.
»Patria atque Parentes.«
Das römische Gesellschafts-Prinzip
»Die Bürokratie ist ›rationalen‹ Charakters: Regel,
Zweck, ›sachliche‹ Unpersönlichkeit beherrschen
ihr Gebaren.«
Max Weber
Die normative Bedingung dafür:
Die Einhaltung des Gleichheitsgrundsatzes.
Wird diese normative Bedingung – wie im Nationalsozialismus – negiert, dort durch die Volksgemeinschatsideologie in ihr Gegenteil verkehrt,
dann bedeutet dies Ausgrenzung und organisierten
Mord an ungleich behandelten Menschen.
Im nationalsozialistisch-ideologischen Partei-Staat
gilt zentral der Ungleichheitsgrundsatz – in Vernetzung mit dem Führerprinzip:
Zu antizipieren, was Hitler im Kontext der
NS-Ideologie – des NSDAP-Programms und »Mein
Kampf« – wünscht, vorauseilend und seelenlosbrutal, eben als »kämpfende Verwaltung« in durchaus militärischem Sinn. Zur Legitimation eigenen
doch persönlichen Handelns und Nicht-Handelns,
dessen Unrechtscharakter also bewusst war, nach
der Befreiung 1945 umgekehrt: Ich konnte nicht anders, war gezwungen, hatte einen Befehlsnotstand.
Rusinek führt ein konkretes Beispiel an:
Den höheren Finanzbeamten Heisig.
Leitend an der Umsetzung antisemitischer Bürokratie-Maßnahmen beteiligt, so dem Schreddern
von Grabsteinen Menschen jüdischen Glaubens
zum Straßenbau, und generell an der »Verwertung
jüdischen Vermögens«.
Heisig macht eine staatsformunabhängige
bruchlose Karriere.
1946 erklärt er in juristischer Perversion, die
Finanzverwaltung – damit er – habe mit der Enteignung der Juden »nichts zu tun gehabt«. Gegen einen
überlebenden Menschen jüdischen Glaubens geht
er mit bürokratischer Perversion vor, handelt sich
so einen dezenten Rüfel des NRW-Innenministers
ein, »ein seltenes Beispiel für Sprachgefühl in den
Akten«.
Heisig betrieb unmittelbar nach Kriegsende seine Beförderung, und zwar »ggf. im Weg der
Wiedergutmachung«. Er stellte sich als Mann des
Widerstands dar, der wegen seiner »ablehnenden
Haltung zum nationalsozialistischen Staat« und
wegen der Schwierigkeiten mit der NSDAP von Beförderungen ausgeschlossen gewesen sei.
Am 9. April 1949 wird Heisig zum Präsidenten
des Finanzgerichts Düsseldorf ernannt.
Ein Fraktal der Symbiose Recken – Herbrandt – wie
für unzählige weitere Täter und Mit-Täter.
Die Begrife »Sachlichkeit« und »Routine« sind vernetzt und sind nach Hintze und Weber die Grundcharakteristika der Bürokratietätigkeit.
Sachlichkeit zieht von einem Gesamtvorgang die
Bestandteile ab, die der angestrebten und gleichmäßigen und arbeitsteiligen Verwaltungshandhabung
im Wege stünden. Die Menschen und ihre Schicksale werden auf administrative Praktikabilität reduziert und es wird eine Distanz zu ihrem Schicksal
geschafen.
Dasselbe gilt für die Routine. Routinehandeln
dampt darüber hinaus Einzelschicksale in Gleichförmigkeiten ein und versucht, sie auf den ausgetretenen Wegen tradierter Verwaltungstechnik zu behandeln. Menschen werden dabei auf den Vorgang
reduziert und dabei in ihrer Identität notwendig
negiert.
Die Funktion von Distanzierung, Reduktion der
Menschen auf Vorgänge, alleinige Übersetzung
des Geschehens in Delikts- und Verordnungsrelevanz hat auch die Sprache der Bürokratie. In dieser
selbst geschafenen verbalen Bürokratie-Umwelt,
durch die im NS-Terrorstaat das ganze Ausmaß der
mitproduzierten Perversität auf Distanz gehalten
wurde, sind Sachlichkeit und Routine miteinander
vernetzt.
Bürokraten sind nicht emotionslos. Ihre Afekte
von Mitgefühl und Hass sind in ihrem Handeln zu
inden. Das, was Karl Jaspers als
»heimliche Liebe und Abneigung«
umschreibt, bedingt eine Sachlichkeit mit vorgelagerter Abneigung – und dem damit verbundenen
persönlich zuordnenbaren bürokratischen Handeln
gegen z. B. Menschen jüdischen Glaubens.
Wie bei der Symbiose Recken – Herbrandt.
Januar 1934 bis März 1945 – und dann weiter bis
zum Tod von Recken 1953. Sowie für Herbrandt bis
zu dessen Tod.
Das Handeln von Bürokraten hat die Spielräume Ermessen und Zeit – im Sinne von Nutzung zugunsten von Menschen und Verschleppung. Die fraktale Realität der NS-Zeit waren Nichtnutzung von
Ermessensspielräumen in kurzen Fristen. Beispiele
zu Hugo Recken sind in diesem Buch dargestellt.
Diese bürokratische Zeitpolitik war Ausdruck der
Abneigung, des persönlichen Antisemitismus. Die
Bürokraten wie Recken und Herbrandt waren im
Takt des nationalsozialistischen Unrechtsregimes.
»Bürgernahes« Handeln galt selbstverständlich ausschließlich NS-Funktionären und weiteren »Volksgenossen«, also den Tätern und Mit-Tätern.
H. G. Adler arbeitet auch die sprachliche Perspektive heraus:
• Verwaltung
• Walten
• Gewalt
• Staatsgewalt
Hier spiegelt sich Verwaltungslogik, -denken und
-handeln, die »Normalität« bzw. »Selbstverständlichkeit« bürokratischen Handelns – staatsformunabhängig und unter allen Bedingungen.
»Kratie« mit altgiechischer Wurzel bezeichnet
Herrschatsformen.
Bürokratie bezeichnet demnach Büro-Herrschat,
die Herrschat der – leitenden – Büro-Menschen.
Nach Bürokratie-Synonymen im Web gegoogelt,
kam ich zu folgenden Ergebnissen:
• Beamtenherrschat
• Beschränktheit
• Borniertheit
• Bürokratismus
• Dummheit
• Enge
• Engstirnigkeit
• Exaktheit
• Intoleranz
Antisemitische Massnahmen
| 55
• Pedanterie
• Umständlichkeit
• Verwaltungsstaat
• Vorurteil
In den vierzehn alphabetisch sortierten Synonymen
scheint durch, was bürokratischen Handeln von
Bürokraten unter speziischen Bedingungen sein
kann: pervers.
H. G. Adler formuliert zum »Grundsatz der Verhältnismäßigkeit« (S. 1022):
»Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn
nicht peinlich genau deiniert und gegen böswillige wie leichtfertige Verletzung abgesichert,
ist ein fragwürdiges Mittel gegen polizeiliche
Eigenmächtigkeiten. Bei jeder Erschütterung
der rechtsstaatlichen Ordnung stehen wir vor
dem Abgrund.«
Was für das Bürokratie-Subsystem Polizei gilt, das
gilt für das gesamte gesellschat liche Subsystem
Bürokratie, ist ein Fraktal. Historisch, gegenwärtig, zukünt ig und staatsformunabhängig. Wie das
Beispiel der Symbiose Recken – Herbrandt exemplarisch dokumentiert.
Zu »Verwaltung und Missbrauch« (S. 980) führt
H. G. Adler fokussiert auf das Handeln von Bürokraten aus:
»Beim subjektiven Verhältnis geht die Verwaltung über ihren Aufgabenkreis hinaus und tut
das von sich aus, wozu sie von ihr fern stehenden Kräten im objektiven Verhältnis missbraucht wird; sie maßt sich ihr nicht zukommende Aufgaben an und verletzt die dienende
Rolle, die ihrer Stellung innerhalb der öfentlichen Einrichtungen zukommt.«
Beispiele dazu der Symbiose Recken – Herbrandt
inden Sie in diesem Buch zahlreich.
Die Adressaten dieses persönlich zurechenbaren bürokratischen Handelns erleben Missbrauch
durch durchaus persönliche Bürokraten.
»Schutz des Menschen vor Verwaltung« formuliert
H. G. Adler in Anbetracht der speziisch deutschen
Bürokratie-Erfahrungen dezidiert (S. 987 – 989):
»Die Rolle der öfentlichen Verwaltung bleibt so
lange bedenklich, als es nicht gelingt, sie auf die
ihr zustehenden Aufgaben zu beschränken. Die
Verwaltung wird in dem Augenblick für die Gesellschat gefährlich, wo sie selbstständig handelt.
Ebenso verderblich ist es, wenn die Verwaltung
beaut ragt oder gar ermächtigt wird, als Befehls-
56
| Antisemitische Massnahmen
instanz zu wirken und in eigener Kompetenz ›behördenplichtigen‹ Menschen namentlich über sie
verfügende Befehle zu erteilen. Durch eine derart
missbrauchte Verwaltung entsteht gleichsam eine
Gegenwelt zur menschlichen Gesellschat. Dann
dient die Verwaltung nicht mehr der Gesellschat,
bildet sie nicht mehr ab; das korrelative Verhältnis
wird aufgehoben und durch ein reziprokes ersetzt.
Schließlich versucht die Verwaltung die Gesellschat – genauer: den Wandel der Zustände – insofern zu ersetzen oder zu übernehmen, als sie ihr
verschiedene Funktionen des sozialen Verkehrs
abnimmt oder geradezu entzieht. So kommt die
Verwaltung dazu, gleichsam ein Duplikat der Gesellschat zu erzeugen. Das ist so zu verstehen, dass
die Spiegelung, die das Gesellschat liche in den Vorgängen der Verwaltung erfährt, durch die eigene
Vorzeichnung ersetzt und diese in den gesellschatlichen Ablauf, mit der Absicht ihn zu bestimmen,
hineinträgt. Sobald dies geschieht, wird der Verwaltungsakt zum Akt schlechthin: der Akt, der das
Leben, den Akt des Lebens in seinen Ausdruck, –
eben das Gesellschat liche – nachzeichnen soll,
kehrt sich um und will selbst Leben, will gesellschat liches Dasein sein ...
Eine intakte Verwaltung, die der Gesellschat
dient, schat mit jedem Vorgang, den sie verbucht
(›beurkundet‹) ein Korrelat zu einem Vorgang in der
gesellschat lichen Wirklichkeit. Jeder Verwaltungsakt ist deswegen – zumindest auch – eine res gesta,
also ein Vorgang. Im Vorgang spiegelt sich ein Geschehen der gesellschat lichen Welt.«
Das war der Sinn der Machtübertragung auf
Hugo Recken in Osterath. Dass er diesem Sinn
im nationalsozialistisch-ideologischen Sinn entsprach, machte er bewusst in der »Umlegung« des
jüdischen Friedhofs unmissverständlich in beide
Richtungen deutlich.
»Eine Herrschat, wenn nicht die des Papiers, so
doch mit dem Papier hat begonnen. In einem so
verwalteten Staat büßt der Mensch viel von seinem
natürlichen Wesen ein; durch die vielen Verknüpfungen mit dem Schreibbetrieb der Verwaltung
wird er gewiss nicht künstlerisch, sondern künstlich und gekünstelt. Gegen die ihn überschwemmende Ordnung der Verwaltung bleiben ihm als
Grundlage seines natürlichen Daseins dann bald
nur noch die ursprünglichen vitalen Akte zwischen
Geburt und Tod ...
Leicht verdrängt die Verwaltung das primär
Menschliche oder erkennt es nur stilisiert an; dann
wird bald der Akt der Verwaltung als das sozial eigentliche (und möglichst ausschließlich) Wertvolle
postuliert. Der Mensch, den die Verwaltung jetzt
meint oder ›ergreit‹, ist nicht mehr der autonome
im Geist einer humanen Aufassung, worunter sich
ebenso demokratische, liberale oder humanitäre
Ideale verstehen lassen. Ein so behandelter Mensch
wird seiner natürlichen Würde beraubt.«
Darin war die Symbiose Recken – Herbrandt im
nationalsozialistisch-ideologischem Sinn geradezu
perfekt.
»Zu leicht wird mit der Verwaltung über den
Mensch verfügt, wo das nicht durch gesetzliche
oder andere Vorschriten verhindert wird; im totalitären Staat kann auf diesem bequemen Weg Menschen alles Recht, Beruf, Hab und Gut, Freiheit und
Leben geraubt werden ... Hier wird eine ermächtigte
... Administrative zusammen mit der exekutiven
Polizei angeschirrt: dies der verrufene Apparat, wo
wir die ›Schreibtischmörder‹ genannten Funktionäre entdecken.
Mit der Hypertrophie jeder, auch der nicht bewusst oder gar absichtlich inhumanen Verwaltung
erwächst die Gefahr der Zerstörung des Menschen ...
Jedenfalls ist es besser, den Schutz der Menschen
vor dem Missbrauch staatlicher Gewalt und der
öfentlichen Verwaltung zu übertreiben (falls dies
überhaupt denkbar wäre), als diesen in Wahrheit
zu ot fehlenden und meist zu geringen Schutz auch
nur im geringsten zu vernachlässigen.«
Recken war Bürgermeister, Chef der örtlichen Polizei und damit der örtlichen Gestapo, also mit
Macht-Potenzierung ausgestattet. So, wie er in
diesem Rahmen in Symbiose mit Herbrandt im
nationalsozialistisch-ideologischem bürokratischpolitisch handelte, war es das Armageddon der
davon betrofenen Menschen. Wie soll sonst der
Tod als Konsequenz daraus von 21 der 23 betroffenen Menschen jüdischen Glaubens deutscher
Nationalität deiniert werden? Und das bürokratische Verhalten, wie es in diesem Buch beschrieben ist, nach der Befreiung 1945, das auch mehrere
tödliche Ausgänge hatte?
Für Recken und Herbrandt war ihr Handeln
ofensichtlich immer normal und selbstverständlich – mit Unrechtsbewusstsein. Und diese Normalität und Selbstverständlichkeit wurde und wird
von der Osterather bzw. Meerbuscher Volks-Gemeinschat bzw. Dorf-Elite geteilt, materialisiert in
der Straßenbenennung nach Hugo Recken – sowie
der Recken-Legende. Ver-rückter Wahn-Sinn.
H. G. Adler hat seine Analyse in einer Grai k (siehe
unten) fokussiert (S. 972).
Etwas pointiert formuliert:
Die Bürokratie als Spinne im Netz, mit Agenten in
allen anderen gesellschat lichen Subsystemen.
H. G. Adler:
Der verwaltete Mensch
| 57
Bürokraten in Bürokratien haben »ihre« Bürokratie als Selbstzweck im Fokus. Agieren staatsformunabhängig, die jeweilige Verfassung, die politische
Ideologie und das Recht haben für sie ausschließlich
Legitimationscharakter – ihres persönlichen bürokratischen Handelns, vernetzt mit dem in ihrer
Bürokratie und den weiteren Bürokratien.
Eine Potenzierung erfährt dieses Muster, wenn in
bürokratischen Diktaturen – wie den faschistischen
und kommunistischen – sich Partei- und staatliche
Bürokratien vernetzen und gegenseitig durchdringen. Eine Partei übernimmt einen Staat, der lediglich Legitimations-Hülle bleibt. Bürokraten nutzen
das in ihrem Sinn – und gemeinsamen Interesse: Sie
nutzen die Chance, alle – wie es sich aus ihrer bürokratischen Perspektive darstellt – Fesseln für ihr
bürokratisches Handeln abzustreifen. Um – auch
aus ihrer Perspektive – absolut bürokratisch efektiv
und eizient handeln zu können. Das nationalsozialistische Führerprinzip bedeutete so gewendet: Es
gibt den Bürokraten, was sie wollen. Da das so ist,
sind sie ebenso loyal. Die kommunistische Analogie: »Die Partei hat immer Recht.« – Im doppelten
Wortsinn.
Eine Konsequenz ist, dass Macht und Gewalt bürokratischen Handelns sich potenzieren, für bürokratische Täter und ihre Opfer. Die Bedeutung im
Kontext der nationalsozialistischen Volksgemeinschats-Ideologie: Die willkürlich als »gemeinschatsfremd deinierten Menschen – insbesondere
»Juden« – sind so aus bürokratischer Perspektive
lebende Tote; es ist »nur« die Frage, wann und wie
der Zustand des gesellschat lichen – schrittweise –
in den biologischen Tod transformiert wird. Als
selbstverständlicher bürokratischer Verwaltungsakt, schein-legal schein-legitimiert. Die kommunistische Analogie: »Staatsgefährdung« bedingt den
sozialen Tod.
Und in Deutschland heute?
Die speziisch deutsche staatsformunabhängige
Bürokratie-Kultur dominiert alle gesellschat lichen
Subsysteme, auch die politische Kultur, stellt so
das Grundgesetz auf den Kopf und ist ihr eigener
illegitimer gesellschat lich-parasitärer Selbstzweck.
Jenseits von »Recht und Gesetz« – die ausschließlich bürokratischen Legitimationscharakter haben.
Die Diktatur der Bürokraten mit ihren vernetzten
Bürokratien. Gesellschats- und staatsgefährdend.
Aus dieser Perspektive sind die zu relektierenden
gesellschat lichen Fragen:
Wie ist die Gesellschats- und Staatsgefährdung
durch die speziisch deutsche staatsformunabhängige Bürokratie qualiizierbar und quantifzierbar?
58
| Antisemitische Massnahmen
Wie kann diese Bürokratie-Kultur in einen evolutionären Prozess im Sinne des gesellschat lichen
Aut rags von Bürokratie als gesellschat lichem Subsystem verändert werden: Dass Bürokratie und die
in ihr agierenden Menschen von ihrem Bewusstsein
und strukturell darauf fokussiert sind, ihren Beitrag zu einer gemeinsamen würdigen Zukunt aller
Menschen zu leisten?
Das ist eine gesamtgesellschat liche Aufgabe. Diesen Weg real zu be-schreiten ist das Ziel. Dieser
Weg beginnt mit der Relexion. Angefangen bei
Ihnen. Und Ihrer Kommunikation mit Menschen
darüber. Sowie der gesellschat lich wirksamen Organisation und Implementierung, die im Ergebnis
zu einem Prozess positiven Wandels der Bürokratie-Kultur mit Eigendynamik und Synergien führt.
Was bedeutet: Die bisherige Bürokratie-Kultur wird
vom Kopf auf die Füße gestellt.
»Die Frage heute ist, wie man die
Menschheit überreden kann,
in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.«
Bertrand Russell
Das 25-Punkte-Programm der NSDAP
»Wir werden weiter marschieren,
wenn alles in Scherben fällt.
Denn heute gehört uns Deutschland,
und morgen die ganze Welt.«
Nazi-lied
»Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt,
dann geht’s noch mal so gut.«
Nazi-lied
Das 1920 beschlossene NSDAP-Programm ist die
Fokussierung der Ideen des deutsch-österreichischen eliminatorischen Antisemitismus, verbrämt
mit »sozialistischen« Programmpunkten. Die 1919
gegründete Deutsche Arbeiterpartei DAP wurde
in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NSDAP umbenannt.
»Es gibt in der Geschichte den Begrif der wertlosen
Größe. Sie drückt ot tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat
hervorgeht.«
Konrad Heiden. Hitler. 1936. Bd. 1. S. 6.
Ein Fokus aus heutiger Perspektive ist die Analyse
der nationalsozialistisch-ideologischen Perspektive
dieses Programms:
Was verstanden Hitler und seine Vasallen unter den
verwendeten Zentral-Begrifen?
Wie sind auf dieser Basis die Programmpunkte in
ihrer nationalsozialistisch-ideologischen Vernetzung zu verstehen?
Die wiederum in ihrer Mobilisierungs- und Legitimationsfunktion ebenso vernetzt sind.
»Die Entwicklung einer simpliizierten Philosophie, die als ... Doktrin gilt und das gesamte
Denken auf Klischees reduziert.«
Otto F. Kernberg. Ideologie, Konflikt und
Führung.
»Im Kontext der Gruppen- und Massenpsychologie bezeichnet Ideologie ein System von
Überzeugungen, die einer Gruppe, einer Masse oder einer Gesellschat hinsichtlich des Ursprungs und der Funktion ihres Soziallebens
gemeinsam ist, so wie die für ihre Gesellschat
erstrebten kulturellen und ethischen Ziele und
Erwartungen.«
Otto F. Kernberg. Ideologie, Konflikt und
Führung.
»Unter psychoanalytischem Blickwinkel ist vor
allem das Ausmaß von besonderem Interesse,
in diesem ein ideologisches System eine Weltanschauung enthält, die per deinitionem all
jene ausschließt, die sie nicht teilen, und zu
Feinden erklärt, die kontrolliert und eliminiert
werden müssen – ein System also, das danach
strebt, sämtliche Aspekte des sozialen Verhaltens zu beherrschen.«
Otto F. Kernberg. Ideologie, Konflikt und
Führung.
Die Kernaussagen werden erläutert mit Zitaten aus:
Alfred Himstedt. Das Programm der NSDAP wird
erfüllt! Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachf.
München 19407. 85 Seiten.
In der Einleitung heißt es (S. 7 f.):
»Wenn du für die nationalsozialistische Deutsche
Arbeiterpartei kämpfst, so kämpfst du damit für
dein Volk. Adolf Hitler
So schreibt es der Führer im Vorwort eines jeden
Mitgliedsbuchs der NSDAP und letzten Endes heißt
Nationalsozialist sein weiter nichts als: glauben, opfern, arbeiten und kämpfen für das Leben des deutschen Volkes auf allen seinen Lebensgebieten.
Das Rüstzeug gibt uns die nationalsozialistische
Weltanschauung. Ihre erste Verkündung erfuhr sie
in den 25 Punkten des Programms der NSDAP ...
Ein neues Lebensgefühl hat mit diesen Punkten
Gestalt angenommen ... Das Programm ist so der
Bauplan unseres Reiches geworden und voller Stolz
können wir heute schon feststellen, dass der Bau
von Jahr zu Jahr wächst und einst seine restlose
Vollendung erfahren wird. Seit der Machtübernahme erleben wir die Verwirklichung des Programms
in einer Weise, die selbst die größten Optimisten nie
geahnt hätten.«
»... die restlose Verbundenheit mit der nationalsozialistischen Weltanschauung und ihrem Führer
Adolf Hitler. Sie herzustellen und ständig zu erneuern und zu vertiefen, ist eine der Hauptaufgaben
der NSDAP. Ihre Arbeit ist damit eine fortdauernde
und nie zu Ende gehende Erziehungsarbeit, in der
auch die Behandlung des Programms der NSDAP
stets ihren Platz behalten wird.«
»Der Nationalsozialismus will zur Religion werden.«
Konrad Heiden. Hitler. 1936. Bd. 2. S. 144.
Im NSDAP-Programm ist die partei-staatliche
nationalsozialistisch-ideologische Praxis von 1933
bis 1945 angelegt. In der wiederum die vernetzte
Praxis der nationalsozialistisch-ideologischen Zentral-Begrife Führerprinzip und Volksgemeinschat
der Kern der vernetzten Mobilisierungs- und Legitimationsfunktion waren.
Aus nationalsozialistisch-ideologischer Perspektive
bedeutet das Führerprinzip die Legitimation grenzenloser Willkür, in der »Recht« ausschließlich
formellen Legitimationscharakter insbesondere
für gesetzliches Unrecht hat. Dies ist vernetzt
mit der nationalsozialistisch-ideologischen Volksgemeinschat als Legitimation zur Exklusion aller
»Gemeinschatsfremden«, insbesondere willkürlich
deinierten »Juden« – im Sinne von Schuld durch
Geburt, die Eliminierung, also den Mord, legitimiert.
Die Kernaussagen des NSDAP-Programms:
1. Anschluss von Österreich.
Himstedt:
»Gerade in Erfüllung dieser Forderung hat der
Führer dem deutschen Volke bereits die größten Erfolge geschenkt.
Deutschland ist dort, wo Deutsche leben.
10.4.38 In allen fünf Erdteilen fanden an Bord
deutscher Schife Abstimmungen
statt, an denen sich die Auslandsdeutschen in bisher nicht gekanntem
Ausmaß beteiligten.
16.3.39 Böhmen und Mähren sind auf Beschluss der Prager Regierung in den
Schutz des Deutschen Reichs zurückgekehrt, zu dessen Lebensraum sie
schon einmal ein Jahrtausend lang
gehörten.
Antisemitische Massnahmen
| 59
1.9.39
Beginn des polnischen Feldzuges, der
uns weiteren ehemals bereits deutschen Lebensraum neu gewinnen
lässt.«
»Das Programm Adolf Hitlers ist das
Programm der deutschen Weltherrschat.«
18.1.39
Konrad Heiden. Hitler. 1936. Bd. 2. S. 254
2. Gleichberechtigung Deutschlands.
Himstedt:
»Adolf Hitler hat die Gleichberechtigung
Deutschlands wiederhergestellt.
Auhebung der Friedensverträge von Versailles
und St. Germain. Friedensgarnisonen, Politik
des Friedens und der Freiheit«
3. Forderung nach Kolonien.
Himstedt:
»Seit der Machtübernahme stets Ziel der deutschen Politik.
Mit unserem Recht auf Leben erklären wir auch
das Recht auf Raum für uns. Dabei können wir
uns nicht allein mit der inneren Kolonisation
begnügen. Sie reicht für die Lebensbedürfnisse
unseres Volkes bei weitem nicht aus. So werden
wir unser Recht auf Kolonien nie aufgeben.
Innere und großdeutsche Raumgewinnung
28.9.39 Grenz- und Freundschatsvertrag mit
der UdSSR
6.10.39 Der Führer stellt vor dem Reichstag
als wichtige Aufgabe der Zukunt die
Schaf ung fester, völkischer Verhältnisse im Osten durch Umsiedlung
klar heraus.
Vorbereitung kommender kolonialer Arbeit
14.6.35 Eine deutsche Kolonialtagung in
Freiburg erhebt in aller Form Protest
gegen die Koloniallüge.
18.1.36 Die ›Afrikanische Fruchtkompanie
AG:‹ in Hamburg, ein deutsches Planzungs- und Reedereiunternehmen,
berichtet, dass sie in Kamerun bereits
10.000 Hektar unter Bananenkultur
hat. Ähnliche deutsche Kolonialgesellschaten und vor allem deutsche
Unternehmen, Handwerker, Farmer
stellen in allen geraubten deutschen
Kolonialgebieten unter Beweis,
dass Deutsche auch unter ot schwierigen Verhältnissen zu kolonisieren
verstehen.
18.1.36 Gründung des ›Reichskolonialbundes‹
unter nationalsozialistischer
60
| Antisemitische Massnahmen
Aug. 40
25.8.40
1.10.40
1.10.40
Führung (Reichsleiter v. Epp) ...
Leistung notwendiger, vorbereitender
Arbeiten, unter anderem Unterhaltung kolonialpolitischer Ausbildungs- und Schulungsstätten.
In Windhuk beschließt eine Delegiertenversammlung des ›Deutschen
Südwestbundes‹ unter anderem einstimmig: ›Der Deutsche Südwestbund
steht auf dem Boden der moralischen
und sachlichen Berechtigung der
deutschen Kolonialforderung.‹
Das Deutsche Volksbildungswerk
führt Kurse für die afrikanische
Sprache Kisuaheli durch.
Der NSD Dozentenbund führt das
erste Arbeitslager der Kolonialwissenschat ler Deutschlands durch zur
Bildung der ersten festen Gemeinschaten.
Neuregelung der theoretischen und
praktischen Ausbildung des ›staatlich
geprüten Kolonialwirts‹ an der
Kolonialschule in Witzenhausen
durch Erlass des Reichserziehungsministers im Einvernehmen mit
dem Reichsinnenminister.
An der Universität Göttingen wird ein
Institut für koloniale Landwirtschat
gegründet.
Der Führer fordert Kolonien
28.4.39 ›Die einzige Forderung, die ich an
England stelle und immer stellen
werde, ist die Rückgabe unserer
Kolonien.‹ (Vor dem Großdeutschen
Reichtag)«
4. Staatsbürger = Volksgenossen = deutschen
Blutes – nicht: Juden.
5. Nicht-Staatsbürger: Gäste in Deutschland unter
Fremdengesetzgebung.
6. Nur Staatsbürger in staatliche Funktionen.
Gegen Parlamentswirtschat.
Himstedt:
»Diese Punkte (4.–6., LK) sind heute allgemein
anerkannte Staats- und Lebensgesetz unseres
Volkes.
Reichsbürgerbrief
8.10.34 Standesämter zu Sippenämtern ausgebaut
21.5.35 Wehrgesetz und seine Ergänzung vom
26.6.36, wonach jüdische Mischlinge
nicht Vorgesetzte in der Wehrmacht
werden können.
3.12.38 Eine Verordnung über den Einsatz
des jüdischen Vermögens enthält die
gesetzliche Grundlage für die Gesamtentjudung der deutschen Wirtschat.
Besonders wichtig ist auch die Entjudung des Haus- und Grundbesitzes.
15.4.39 Reichsleiter A. Rosenberg gründet das
›Institut der NSDAP zur Erforschung
der Judenfrage‹.
30.4.39 Ein Gesetz über Mietverhältnisse
mit Juden schat die Möglichkeit,
schneller als bisher auch auf diesem
Gebiet eine klare Trennung zwischen
Deutschen und Juden durchzuführen.
7. Staatsbürger haben Vorrang bei der staatlichen
Förderung von Erwerbs- und Lebensmöglichkeiten.
Himstedt:
»Heute ist das Recht auf Arbeit verwirklicht,
die Arbeitslosigkeit ist überwunden.«
8. Keine Einwanderung nach Deutschland.
Himstedt:
»Heute gesetzlich entsprechend geregelt.«
9. Staatsbürger: gleiche Rechte und Plichten.
Himstedt:
»Völlig erfüllt durch die nationalsozialistische
Gesetzgebung und Volksverbundenheit.«
10. Staatsbürger: Plicht, geistig oder körperlich
zu schafen.
Himstedt:
»Die Plicht zur Arbeit ist einer der ersten
durchgeführten Grundsätze des neues Reiches
geworden.«
11. Kein arbeitsloses Einkommen.
Brechung der Zinsknechtschat.
Himstedt:
»Durch eine Reihe von Maßnahmen und
Gesetzen heute bereits verwirklicht.«
12. Restlose Einziehung aller Kriegsgewinne.
Himstedt:
»Heute wird jede Spekulation schärfstens
bekämpt.«
13. Verstaatlichung von Trusts.
Himstedt:
»Bei Reichsbahn, Reichsbank und Reichspost
bereits völlig durchgeführt.«
14. Gewinnbeteiligung an Großbetrieben.
Himstedt:
»Freiwillig bereits von vielen Betrieben erfüllt.«
15. Großzügiger Ausbau der Altersvorsorge.
Himstedt:
»Als Staats- und Volksnotwendigkeit bereits
tatkrät ig in Angrif genommen.«
16. Mittelstandsförderung.
Himstedt:
»Durch zahlreiche Maßnahmen eingeleitet.«
17. Bodenreform und Bodenpolitik.
Himstedt:
»Heute bereits gesetzlich festgelegt.«
18. Rücksichtsloser Kampf gegen Schädiger des
Gemeininteresses: Todesstrafe.
Himstedt:
»Durch entsprechende Gesetze bereits verwirklicht.
Der Nationalsozalismus schützt deshalb die
deutsche Volksgemeinschat vor diesen Schädlingen durch deren rücksichtlose Bekämpfung.
Und wer gar das Leben dieser Gemeinschat auf
irgendeinem Gebiet antastet, der hat selbst sein
Leben verwirkt. Er wird vernichtet, genau wie
ein Bauer das Unkraut vertilgt, damit das wertvolle Leben nicht gestört oder gar erstickt wird.
26.4.33 Gesetz über die Schaf ung des
Geheimen Staatspolizeiamtes.
10.2.36 Gesetz über die Geheime Staatspolizei.«
19. Ersatz des römischen Rechts – diene der
materialistischen Welt – durch ein deutsches
Gemeinrecht.
Himstedt:
»In der nationalsozialistischen Gesetzgebung
heute schon wirksam. Durch die umfassende
nationalsozialistische Rechtserneuerung vor der
baldigen endgültigen Verwirklichung.
›Recht ist, was dem Volke dient, Unrecht, was
ihm schadet!‹
Von den wichtigsten weltanschaulichen
Gesetzen sei erwähnt:
21.3.33 Straf reiheit für Strataten, die im
Kampfe um die nationale Erhebung
des deutschen Volkes oder im Kampf
um die deutsche Scholle begangen
worden sind.
4.10.33 Schrit leitergesetz
1.12.33 Gesetz über die Einheit von Partei
und Staat
30.1.35 Deutsche Gemeindeordnung
15.9.36 Die Nürnberger Gesetze
26.1.37 Deutsches Beamtengesetz
1.5.35 Veröfentlichung der ›Nationalsozialistischen Leitsätze für ein neues deutsches Strafrecht‹ ... Die Plicht aus der
Antisemitische Massnahmen
| 61
Treue ist die höchste völkische, sittliche Plicht. Nur der Volksgenosse,
der seine Treueplicht erfüllt, hat seinen Platz, seinen Wert und seine Ehre
in der Gemeinschat. Wer diese Treue
verletzt, löst sich von seinem Volke,
wird zum Verräter an der Volksgemeinschat, verliert seinen Platz und
seine Ehre in der Volksgemeinschat
und muss einen Treuebruch sühnen.
Der Staat hat diese Sühne zu vollziehen und den Treuebruch zu bestrafen.
28.6.35 Das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches beseitigt die liberalistische
Einstellung ›Keine Strafe ohne gesetzliche Strafandrohung‹ und stellt den
nationalsozialistischen Grundsatz auf:
›Kein Verbrechen ohne Ahndung.‹«
20. Für Deutsche: Schul- und Begabtenförderung.
Himstedt.
»Heute bereits weitgehend erreicht.«
21. Hebung der Volksgesundheit.
Himstedt:
»Heute schon verwirklicht.
15.5.34 Schaf ung des Rassenpolitischen
Amtes der NSDAP.
15.1.35 Richtlinien für die rassenpolitische
Erziehung in den Schulen.
30.9.38 Keine jüdischen Ärzte mehr in
Deutschland!«
22. Bildung eines Volksheeres.
Himstedt:
»Heute volle Wirklichkeit.«
23. Presse- und Kulturlenkung: Nur Volksgenossen
dürfen in der Presse tätig sein. Zeitungsverbot
bei Verstoß gegen das Gemeinwohl. Bekämpfung »entarteter« Kunst.
Himstedt:
»Sofort in Angrif genommen und bis heute
immer mehr durchgesetzt.«
24. Religionsfreiheit, vorausgesetzt keine Staatsgefährdung und muss der germanischen Rasse
entsprechen.
Himstedt:
»Heute völlig gewährleistet.«
Gemeinnutz vor Eigennutz.
25. Zentrale Forderung zur Durchführung
von 1. – 24.:
Schaf ung einer starken Zentralgewalt.
Himstedt:
»Dieses ist geschehen.
62
| Antisemitische Massnahmen
Damit bekennt sich das Reich aber gleichzeitig
zur Totalität der nationalsozialistischen Weltanschauung und nicht zu einer reinen Totalität
des Staates.
19.5.33 Gesetz zum Schutz der nationalen
Symbole.
1.12.33 Das Gesetz zur Sicherung der Einheit
von Partei und Staat erhebt die
NSDAP zur Körperschat des öffentlichen Rechts und zur alleinigen
staatstragenden Bewegung.
15.9.35 Das Reichslaggengesetz von Nürnberg erklärt die Hakenkreuzfahne
zur alleinigen deutschen Reichs-,
National- und Handelslagge.
28.8.39 Erlass des Führers über die Vereinfachung der Verwaltung, um schnelle
und von bürokratischen Hemmungen
freie Entscheidungen der Behörden
herbeizuführen.«
Hitler war – bis 1932 – Österreicher. Daher der
Anschluss Österreich an erster Stelle. Im nationalsozialistisch-ideologischen Sinn gedanklich erweitert: Anschluss der gesamten Welt. Um aller »Gemeinschatsfremder« habhat zu werden, um sie
dann zu ermorden. »Gemeinschatsfremd« war
nach diesem Verständnis jeder Mensch, der nicht
»arischer« pathologischer Nationalsozialist war.
Das Selbstzerstörungs-Programm, das im Erfolgsfall die Selbst-Auslöschung der Menschheit bedeutet hätte. Denn dies war die innere Logik
der Vernetzung von Führerprinzip und Volksgemeinschat im nationalsozialistisch-ideologischem
Sinn. Wer Staatsbürger, Volksgenosse, Arier sei,
das wurde von den nationalsozialistischen Willkür-Habern deiniert. »Wer Jude ist, bestimme
ich«, so Göbbels. Und so ist die Vernetzung der
25 Punkte des NSDAP-Programms zu verstehen.
Inkl. Ankündigung von Diktatur mit ausschließlich partei-staatlicher Zentralgewalt, mit Lenkung von Presse und Kultur, partei-staatlicher
Exklusion-Politik inkl. Deportation und Mord:
Todesstrafe für die Schädiger des Gemeininteresses. Was aus nationalsozialistisch-ideologischer
Perspektive »Juden« durch Geburt waren.
»Als zu Beginn des Jahres 1933 erstmals ein Ministerialbeamter eine Deinition der Bezeichnung
›nichtarisch‹ in einen Richtlinienerlass hineinschrieb, war das Schicksal der europäischen Juden
besiegelt.«
Raul Hilberg
Die grausame Mord-Realität des nationalsozialistischen eliminatorischen Rassenwahns war auf Euro-
pa und Nordafrika begrenzt. In den Machtbereich
Hitlers gelangt, wäre jedes Land derselben Realität
begegnet. Letztlich dem deutsch-japanischen Showdown.
Adolf Hitler am 24. Februar 1942 vor »alten Kämpfern«:
»Meine Prophezeihung wird ihre Erfüllung inden, dass durch diesen Krieg nicht die arische
Menschheit vernichtet, sondern der Jude ausgerottet wird.«
Proklamation Hitlers an die NSDAP-Mitglieder am
24. Februar 1942:
»Heute haben die Gedanken unserer nationalsozialistischen und der faschistischen Revolution
große und gewaltige Staaten erobert und meine
Prophezeihung wird ihre Erfüllung inden, dass
durch diesen Krieg nicht die arische Rasse vernichtet, sondern der Jude ausgerottet wird. Was auch
immer der Kampf mit sich bringen oder wie lange
er dauern mag, dies wird sein endgültiges Ergebnis
sein. Und dann erst, nach der Beseitigung dieser
Parasiten, wird über die leidende Welt eine lange
Zeit der Völkerverständigung und damit des wahren Friedens kommen.«
Rademacher, Auswärtiges Amt, an dessen Personalabteilung am 24. März 1942:
»Je stärker sich der deutsche Sieg abzeichnen wird,
umso größer und vordringlicher werden die Auf-
gaben des Referats, denn die Judenfrage muss im
Laufe des Krieges gelöst werden, da sie nur so ohne
allgemeines Weltgeschrei erledigt werden kann.
Nach der Erledigung der Judenfrage in Deutschland wird es notwendig werden, an die anderen
europäischen Länder der Reihe nach heranzugehen.«
»Wir beinden uns in einer Situation, in welcher der
Untergang der Menschheit droht. Wie wir wissen,
überlebt der Mensch in einer sonst lebensfeindlichen Umgebung mit Hilfe Zivilisation, und das entscheidende Merkmal der Zivilisation besteht in der
Eliminierung von Gewalt.« S. 22.
»Weltherrschaft aus Langeweile.
Weil sie den Frieden sterbenslangweilig finden
Vernichtung
Hass und Verachtung.« S. 84 f.
»Aber die Zerstörung der eroberten Länder ist kein
ewiges Vergnügen. Es kommt der Tag, da sie völlig und endgültig zerstört sind. Dann muss etwas
Neues und Größeres zerstört werden.« S. 86.
»Alles ist dem Untergang geweiht.« S. 125.
Zitate aus: Sebastian Haffner. Germany –
Jekyll & Hyde. 1939.
Foto: Charlie Chaplin »der Grosse Diktator«
Antisemitische Massnahmen
| 63
Die ungebrochene Selbstverständlichkeit des NSBewusstseins in einem Fraktal:
Helge Grabitz war Oberstaatsanwältin in Hamburg:
»... die grausamen Fotos ... die zum großen Teil
heimlich von ... Beobachtern der Massaker, des
»normalen Lebens« im Ghetto, der Ghetto-Räumungen, oder zum Beweis und zur Erinnerung
an die glorreichen Heldentaten durch die Vollstrecker aufgenommen worden sind, und die wir
bei Hausdurchsuchungen nicht etwa gesondert
aubewahrt oder heute gut versteckt, sondern in
Familienalben (!) entdeckten. Zwischen Aufnahmen
von Oma, Kind und Hund fanden wir Fotograien
von Exekutionen, ofenen Massengräbern, übervollen Leichenkarren mit grauenhat ausgemergelten
Körpern oder Ghetto-Szenen. Friedliche spießbürgerliche Idylle wechselten in diesen Alben mit der
Dokumentation der Hölle.«
Helge Grabitz. NS-Prozesse. Psychogramme der Beteiligten. Heidelberg 1985. S. 161.
Die dantesche Hölle, die ein Spiegelbild der Hölle
in den Köpfen ist. Wie den Köpfen der BraunenArmee-Fraktion, die ein Fraktal der aktuellen Realität in deutschen Köpfen ist. Und ihre Basis in der
Fiktion der Stunde Null hat – wie die Rote-ArmeeFraktion. Und unter speziischen Bedingungen wieder zur gelebten Hölle werden kann. Weil es keine
institutionalisierten Schutzmechanismen gibt und
die »Erziehung nach Auschwitz« Kopfgeburt blieb.
Die Chance beides zu ändern haben wir – noch.
Stadtarchiv Düsseldorf:
Nachlass Ebel,
Gauamt für Kommunalpolitik
64
| Antisemitische Massnahmen
»... den schützenden Netzwerken der zurückgekehrten Täter, die bis weit in die Nachkriegszeit funktioniert haben. Massenmörder wurden in ihren Heimatdörfern voller gesetzestreuer Bürger der Justiz
entzogen, indem sie versteckt oder mit einer neuen
Identität versehen wurden.«
Harald Welzer. Täter. S. 266.
Die Analogie zu Osterath
Die Täter wie die Symbiose Hugo Recken und
Johannes Herbrandt, die Osterath nie verlassen
haben, waren weitgehend bruchlos in ihren gesellschat lichen Macht- und Gewaltpositionen – eine
Stunde Null ist Fiktion. Die Täter behielten ihren
Habitus bei, eine Änderung war rein äußerlich zur
Legitimation vor der alliierten Staatsmacht und
zur Kaschierung eines »demokratischen Neuanfangs«. Was von Historikern als Restauration bezeichnet wird – mit Blick auf die Weimarer Republik – war eine Re-Naziizierung. Es gab formell
kein Führerprinzip und keine Volksgemeinschat
mehr – man nannte sie anders. Real gab es keine
Gestapo und keine Konzentrationslager mehr, den
bürokratischen Macht- und Gewaltmitteln wurde
im Einzelfall – der empfundenen Bedrohung entsprechend – direkte Gewalt eingesetzt. Wenn Johannes Herbrandt an hellen Tag in seiner schwarzen
SA-Uniform z. B. 1948 »Hausbesuche« bei Familie
Dr. Langenbach machte. Dr. Langenbach war kurze Zeit später tot. Wo ist im Efekt der reale Unterschied zu Gestapo und Konzentrationslager?
b. 1935: Die Umlegung des jüdischen Friedhofs Osterath nach
Krefeld und die Kontroverse über die Rolle von Bürgermeister
Recken bis heute
»In Osterath wurde der dortige jüdische Friedhof
1934 geschändet und zerstört.«
Text auf der Webseite »Denkmalgalerie in Meerbusch«
des »Ortskuratoriums Meerbusch der Deutschen
Stiftung Denkmalschutz«.
Zwei Menschen haben sich mit der Geschichte
des jüdischen Friedhofs in Osterath intensiv auseinandergesetzt:
– Günter Janß. Der Osterather Judenfriedhof und
die Geschichte der jüdischen Gemeinde. Meerbuscher Geschichtshete 14. 1979. S. 49 – 78.
– Manfred Klaes. Auf den Spuren der Vergangenheit. Lebensbilder Osterath. Meerbusch 2002.
Der Beitrag von Günter Janß wurde 1996 unter anderem Titel und in anderer Version in »Die Heimat.
Krefelder Jahrbuch« veröfentlicht. Auf diesen Beitrag hatte Frau Dr. Schupetta verwiesen, als bei ihr
von der Stadt Meerbusch angefragt wurde. Doch
welche Schlussfolgerungen auf diesen Hinweis und
den Inhalt beider Versionen sind von Herrn Regenbrecht gezogen worden – außer die Version in den
Meerbuscher Geschichtsheten als Literatur zu benennen? Dazu schweigt er beredt. »Man kann nicht
nicht kommunizieren.« Paul Watzlawick.
Im Bestand Osterath III 1997 inden wir
ein Schreiben von Bürgermeister Hugo Recken
an den stellvertretenden NSDAP-Ortsgruppenleiter
Schwengers vom 10. Dezember 1934:
oben: Schreiben von Bürgermeister Hugo Recken an
den Stellvertretenden Ortsgruppenleiter Osterath
Also Umlegung auf eine weitestmöglich separierte
Ecke des Osterather Friedhofs.
In der Osterather Zeitung inden wir am 9. Februar
1935 die »Bekanntmachung: ›Errichtung von Eigenheimen‹« von Bürgermeister Hugo Recken.
Den sich bei der Gemeindeverwaltung meldenden Adressaten war klar, dass »ihr« Grundstück Teil
des jüdischen Friedhofs sein könnte.
links: Bekanntmachung von Bürgermeister Hugo
Recken, Osterather Zeitung, 9. 2. 1935
Umlegung des jüdischen Friedhofs | 65
Lothar Klouten. Das
Schicksal der
Meerbuscher Juden
1933 – 1945. in: Meerbuscher
Geschichtshefte 1, 1984
Am 18. Mai 1935 inden wir in der Osterather Zeitung die Meldung »Ausgrabungen auf dem israelitischen Friedhof«.
Was war in Osterath innerhalb weniger Monate
geschehen?
Diese Frage beantwortet Günter Janß: »In den
zwanziger Jahren soll in Osterath der Plan entwickelt worden sein, eine Siedlung für kinderreiche
Familien zu bauen. Dafür, dass das Projekt auch zu
Anfang der dreißiger Jahre noch nicht verwirklicht
worden war, gab es eine Menge Gründe: Inlation,
die noch ungewohnten Arbeitsstrukturen in der
jungen Demokratie und manches andere mehr.
Ein Grund bestand auch in gewissen Hemmungen,
weil die Gemeinde die Siedlung genau dort errichten wollte, wo sich der kleine Friedhof der Juden
befand, in der ›Hoterheide‹. Aber ermutigt durch
die immer aggressiver aut retende antisemitische
Propaganda wähnte man die Gelegenheit günstig
und beschloss im Herbst 1934 die Schaf ung der
Heimstätte für kinderreiche Familien, wie seit langem geplant, denn es gäbe im gesamten Bereich der
Kommunalgemeinde sonst kein anderes Gelände,
das derart für das Vorhaben geeignet sei.« (S. 51 f.)
Wer war »man«? Und wie ist das Argument keiner anderen Gelände-Alternative zu bewerten?
»Man« war die örtliche Elite in Gesellschat und
Politik inkl. Verwaltung, dort Hugo Recken und
seine rechte Hand Johannes Herbrandt. Zur ScheinLegitimation wurde in bürokratischer Manier ein
Grund erfunden: keine Gelände-Alternative. Ein
Blick auf eine Osterather Karte aus dieser Zeit genügt zur Einsicht. Bürokratie schat sich interessengeleitet ihre Legitimation – hier für eine extreme antisemitische Maßnahme. Zur bürokratischen
Absicherung nach außen der Brief an den stellvertretenden NSDAP-Ortsgruppenleiter.
In der aktuellen apologetischen Darstellung der
historischen Sachverhalte weist der Meerbuscher
Stadtarchivar Regenbrecht im Autrag von Bürgermeister Spindler – interessengeleitet bewusst –
66 | Umlegung des jüdischen Friedhofs
unrelektiert auf ein Argument, das Johannes
Herbrandt für Bürgermeister Hugo Recken – und
sich selbst – nach 1945 verwandte: Die Umlegung
des jüdischen Friedhofs sei im guten Einvernehmen
mit der jüdischen Gemeinde erfolgt. Sehen wir uns
dieses Legitimations-Argument genauer an.
Günter Janß führt aus, dass für die örtliche jüdische Gemeinde Gustav Kiefer einer Umlegung in
Osterath zustimmen wollte, die jüdische Gemeinde
in Krefeld, zu der die Osterather jüdischen Glaubens gehörten, teilte aber am 7. Februar 1935 Bürgermeister Hugo Recken schrit lich Bedenken mit.
Zu diesem Schreiben formulierte Janß: »Aus den
abschließenden Sätzen desselben Schreibens kann
man jahrhundertealte Erfahrung verfolgter Judengemeinden heraushören und spürt deutlich die Sorge vor der sich ausweitenden Intoleranz des nationalsozialistischen Staates. Dort heißt es: ›Nachdem
Sie uns bestätigt haben, dass das Eigentum an dem
Friedhofsgelände der Zivilgemeinde zusteht, haben wir uns den Anordnungen der Zivilgemeinde
zu fügen. Wenn also die Umlegung unvermeidlich
sein sollte, bitten wir Sie diese in pietätvoller Weise vorzunehmen ... Wir geben dabei der Erwartung
Ausdruck, dass nach menschlichem Ermessen eine
nochmalige Umlegung in späterer Zeit nicht mehr
in Frage kommt.‹ « (S. 52)
Wie oben zitiert war bereits am 9. Februar 1935 in
der Osterather Zeitung die oizielle Anzeige von
Bürgermeister Recken abgedruckt: »... auf dem
zwischen dem Sportplatz und Rheinischer Bahn
gelegenen Grundstück ...«, also unter Einbeziehung
des jüdischen Friedhofs. Die geschafenen Fakten
mussten von Recken noch Schein-Legal verpackt
werden, die Strategie der Nationalsozialisten.
Günter Janß führt weiter aus, dass Bürgermeister Hugo Recken auf die Verlegung des jüdischen
Friedhofs drängte. Und:
»Dem schwebte sicher die Idee eines
›judenfreien‹ Friedhofs vor.« (S. 54 f.)
»Ob und inwieweit er als Amtsträger in einem ideologisierten, totalitären Staat für den Wechsel des
Verhandlungsansatzes verantwortlich und sogar
letztverantwortlich war, kann im Rahmen dieser
Ausarbeitung nicht sachgerecht diskutiert und entschieden werden.« (S. 68, Anm. 16)
Hat Herr Regenbrecht seine Argumentation aus
diesem Zitat bezogen? Im Kontext der in diesem
Buch dokumentierten Aktivitäten von Bürgermeister Hugo Recken: Er wollte, das aus Osterath alles
Jüdische getilgt wird.
Janß weiter: »Als der Vorstand der Synagogengemeinde, um den innergemeindlichen Frieden
zu retten, am 21. Februar 1935 noch einmal an
die Landbürgermeisterei schrieb und dabei den
Wunsch der Osterather Judengruppe wieder ins
Gespräch zu bringen versuchte, antwortete man
mit ›Erstaunen und Befremden über den Sinneswandel‹. In dem Schreiben der Bürgermeisterei vom
9. März 1935 an die Krefelder Synagogengemeinde
werden nun schärfere Töne angeschlagen. Es wird
sogar gedroht: ›Bei den mündlichen Verhandlungen
war allen beteiligten Stellen zugesagt worden, dass
bei der Umlegung des Friedhofes und den dabei zu
trefenden Maßnahmen nach jeder Richtung Entgegenkommen gezeigt würde. Nachdem nunmehr die
von Ihnen aufgezeigten Schwierigkeiten aufgetreten
sind, kann der hiesigen Stelle eine Mehrleistung,
über die gesetzlich vorgeschriebene hinaus, nicht
zugemutet werden. Aus diesem Grund werden bei
einer Umbettung der Leichen auf den neuen Osterather Friedhof diejenigen Gräber nicht berücksichtigt, in welchen sich Leichen beinden, die bereits
vor (mehr als) 30 Jahren beerdigt wurden. Unter Berücksichtigung der Ihnen mitgeteilten Verhältnisse
bitte ich nochmals um die Übernahme der Leichen
hiesiger jüdischer Religionsangehöriger. Einer diesbezüglichen Mitteilung sehe ich bis zum 25. ds. Mts.
entgegen.« (S. 54)
Kreisarchiv Neuss:
Katasterkarte
Osterath Hoterheide
Umlegung des jüdischen Friedhofs | 67
In Elie Pracht-Jöns. Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen. Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf. Köln 2000. lesen wir auf S. 482 unter dem Titel
»Die Friedhöfe in der Hoterheide in Osterath und
an der Uerdinger Straße in Lank-Latum«:
»Im Jahre 1867 stellte die Bürgermeisterei Osterath
den in der Ortschat wohnenden Juden ein 638 qm
großes Grundstück für die Anlage eines Begräbnisplatzes zur Verfügung, das in der Hoterheide 1,5 km
nordöstlich des Ortszentrums lag ... Bei dem 1867
angelegten Osterather Friedhof handelt es sich um
ein extrem abgelegenes und einsames Terrain ...
Möglicherweise wurden lediglich die jüngeren
Gräber umgebettet.«
Geht es nicht wie bürokratisch gewünscht, fällt
der Schleier der bürokratischen Schein-Freundlichkeit und das Mittel der Nötigung wird genutzt.
Die bürokratische Verärgerung ist auch bedingt
durch den ausgelösten Zwang zur Schrit lichkeit.
Ergebnisse mündlicher Verhandlungen sind gut
interessengeleitet zu interpretieren, die Gegenseite
gegenüber Bürokraten chancenlos. Und: Noch am
9. März 1935 ist oiziell vom »neuen Osterather
Fried hof« als Option die Rede. Bürokratische
Aussagen ohne absolute rechtliche Absicherung haben keinen Wert. Und die konnte es für Juden in
Deutschland 1935 nicht geben.
Janß weiter: »Nach einer Zwischenantwort schon
am 13. März 1935 schreibt der Synagogenvorstand fristgerecht und endgültig: »Unsere Osterather Glaubensgenossen haben sich auf unsere
Vorstellung hin mit der Umbettung nach hier einverstanden erklärt ... Wir setzen aber voraus, dass
die Umbettung sämtlicher Leichen, die auf dem
Osterather Friedhof begraben sind, durch Sie und
auf Ihre Kosten erfolgt, dazu gehört natürlich auch
die Aus- und Zuwerfung der neuen Gräber hier und
die Wiederaufstellung der Grabsteine.« (S. 54)
»Neun der zur Diskussion stehenden Gräber
lassen sich auf dem neuen jüdischen Friedhof in
Krefeld im Feld 10, in den Reihen 8 und 9, wenn
auch sehr dicht gedrängt und in einer Ecke platziert, wiederinden.« (S. 56)
»So weit wäre alles ›legal‹ abgelaufen und in Ordnung, wenn sich nicht bis heute in Osterath und in
der Siedlung Gerüchte hielten, dass nach der Umbettung auf dem Gelände des früheren Friedhofes
noch Totenschädel und andere widerstandsfähige
Knochenteile gefunden worden wären. ›Als Zehnjähriger haben wir damals auf dem nahegelegenen
Sportplatz Fußball gespielt. Grauen hat uns erfasst!‹
erzählt ein Zeuge. Man will auch wissen, wo die
Knochen später innerhalb der Siedlung vergraben
wurden. Auch glaubt man, für die berichteten Be-
68 | Umlegung des jüdischen Friedhofs
obachtungen eine einleuchtende Erklärung liefern
zu können. Die Bürgermeisterei Osterath hätte damals eine Kolonne von zwangsweise zur Arbeit verplichteten Leuten mit der Umbettung beaut ragt.
Da den Leuten nur 10 Pfennig pro Stunde Lohn
gezahlt worden sei, wäre es durchaus verständlich,
dass sie nicht sonderlich motiviert für die unangenehme Arbeit gewesen wären. Auch habe es an
geordneter Aufsicht gefehlt. Die Osterather Juden
werden es nicht gewagt haben, die Abwicklung des
Umbettungsaut rages zu überwachen, beziehungsweise bei Nichteinhalten der getrofenen Abmachung Beschwerde einzulegen.« (S. 57 f.)
»Aber nicht nur das veränderte geistige Klima
im ganzen Land ließ die Osterather Juden hinsichtlich einer Beschwerde über die schludrige Ausführung der Umbettung vorsichtig sein, sondern auch
das Wissen um ihre absolute Minderheitensituation
im Ort.« (S. 60)
Sabine Gutmann schrieb am 17. Dezember 1945
(KK 1023 Bl. 182):
»Frühzeitig schon ließ er die jüdischen Gräber
unter einem nichtigen Vorwand entfernen.«
Julius Gutmann ergänzte: »... dass Recken in
pietätloser Weise die Särge auf einem Pferdefuhrwerk mit den Grabsteinen nach Krefeld
schafen ließ.«
Recken wahrte den äußeren Schein. Zu seiner bürokratischen Absicherung.
Die Rheinische Heimstätte GmbH Düsseldorf, eine
Vorgängergesellschat der Landesentwicklungsgesellschat Nordrhein-Westfalen, errichtete die Neubausiedlung, deren Häuser Schiefelberg 28 und 30
über dem jüdischen Friedhof liegen. Die Bauherren
dieser Häuser waren aktive Osterather Nationalsozialisten. Was aus der Perspektive der eliminatorischen antisemitischen Ideologie der Nationalsozialisten symbolische Bedeutung hat. Was überbaut
ist, hat nie existiert, es ist getilgt. Im Sinne von
Bürgermeister Hugo Recken. Auch nach 1945, wie
unten dokumentiert ist.
Der Meerbuscher Stadtarchivar Regenbrecht ist bis
heute nicht in der Lage, seinen »Irrtum«, die »Umlegung« sei auf den Friedhof in Uerdingen erfolgt, öffentlich zu korrigieren. Bürokratie irrt nie; irrt sie,
dann muss zur Legitimation die – vermeintliche –
Macht-Position durch Schweigen gehalten werden.
Johannes Herbrandt hat sich zum Vorgang in zwei
Schreiben geäußert, am 2. Januar 1946 und am
15. Juli 1947. Das erste Schreiben beindet sich in
den Akten des Stadtarchivs Meerbusch, das zweite
im Nachlass Herbrandt im Stadtarchiv Meerbusch.
Das erste Schreiben wird von Herrn Regenbrecht
herangezogen, das zweite nicht. Es trägte die Überschrit.
»Zu den gegen Herrn Gemeindedirektor Recken
aus Osterath erstatteten Anzeige wegen pietätloser Beseitigung des ehemaligen Judenfriedhofs in Osterath.«
Herbrandt wiederholt die bürokratisch-legitimierende und damit auch sich selbst legitimierende
und absichernde Position von 1934/35; wo beginnt
interessengeleitete bürokratische Zweck-Lüge? Die
von Herrn Regenbrecht unrelektiert übernommen
wird.
Zwei Formulierungen von Herbrandt sind darüber hinaus hervorzuheben: »Da eine Einebnung des
Friedhofes nicht aus pietätlosen Gründen vorgenommen wurde und eine Umbettung erfolgte, halte
ich die Errichtung eines Gedenksteins für nicht erforderlich.« »Der Judenfriedhof war damals bereits
sehr verwahrlost und seit vielen Jahren nicht mehr
benutzt.«
Johannes Herbrandt hat das ofensichtlich bürokratisch torpediert. Dafür gibt es den Begrif Insubordination – auch im strafrechtlichen und dienstrechtlichen Sinn. Dass dies so geschehen konnte,
dokumentiert, wie sicher sich Herbrandt sein konnte, dass er abgesichert ist.
Am 29. Juni 1946 folgte ein Schreiben des Oberpräsidenten der Nord-Rheinprivinz Düsseldorf
»Betrit: Instandhaltung jüdischer Friedhöfe«, das
über den Regierungspräsidenten Düsseldorf und
den Oberkreisdirektor Kempen-Krefeld an die
Gemeindedirektoren ging, in Osterath dann Hugo
Recken:
»Anliegende Abschrit übersende ich Ihnen mit
der Bitte, mir bis zum 24. ds. Mts. zu berichten,
ob in ihrer Gemeinde ein jüdischer Friedhof
liegt, in welchem Zustand sich dieser beindet,
welche Maßnahmen zur Wiederherstellung getrofen wurden und bis zu welchem Zeitpunkt
dieser Friedhof wieder ein würdiges Aussehen
bekommt.«
Handschrit licher Vermerk von Hugo Recken:
In der von Herrn Regenbrecht genannten Akte
Bestand Osterath III 1997 inden wir drei weitere
Dokumente:
Eine handschrit liche Notiz zum jüdischen
Friedhof von vor der »Auhebung«, auf der 18 Namen von Beerdigten mit Daten aufgelistet sind,
inkl. Moses Gutmann 1933, dem Vater von Julius
Gutmann. Und seine Mutter, die 1928 dort beerdigt
wurde. Recken und Herbrandt waren vollständig
informiert. 1934/35 und nach 1945.
Am 24. August 1945 schreibt der Regierungspräsident Düsseldorf die Oberbürgermeister und Landräte im Aut rag des Oberpräsidenten der NordRheinprovinz »Betrit: Jüdische Friedhöfe« an:
»Während der Naziherrschat sind die jüdischen
Friedhöfe verwüstet, zum Teil sogar eingeebnet
worden. Es ist ein selbstverständliches Gebot der
Pietät gegenüber den jüdischen Mitbürgern, dass,
soweit es nicht schon geschehen ist, der Zustand der
Verwüstung beseitigt und soweit die Friedhöfe eingeebnet sind, ein Gedenkstein errichtet wird, zum
Andenken an die auf diesen Friedhöfen beerdigten
Juden. Ich ersuche, das hiernach Erforderliche baldigst zu veranlassen.«
Der Landrat Kempen-Krefeld leitet dieses
Schreiben am 1. September 1945 an die Bürgermeister weiter, zu diesem Zeitpunkt in Osterath Rudolf
Bartels:
»Abschrit übersende ich mit Bezug auf meine
Verfg. vom 22. 8. 1945 zur Kenntnis mit dem Ersuchen, das Erforderliche baldigst zu veranlassen.«
»Fehlanzeige«
Bürokratie passt – so weit es in ihrer Macht liegt –
die Realität der von ihr deinierten und geschafenen Realität an. »Fehlanzeige« bedeutet: Recken teilt
auf dem bürokratischen Instanzenweg nach oben
mit, dass es in Osterath bezüglich der Fragestellung
eine »Fehlanzeige« gäbe; eine interessengeleitete
bürokratische Zweck-Lüge. Wie der Umgang mit
der schrit lichen Intervention des Ehepaares Gutmann und die Anzeige gegen Hugo Recken wegen
pietätloser Beseitigung des jüdischen Friedhofs,
legitimiert mit einer Gefälligkeits-Eidesstattlichen
Erklärung »Zu dem Judenfall Gutmann« bürokratisch vom Tisch gewischt wurde. In diesem Kontext erhalten die beiden Schreiben von Johannes
Herbrandt eine völlig neue Bedeutung. Nachträgliche Legitimation des Unrechts, an dem er beteiligt
war, in Symbiose mit Bürgermeister Hugo Recken.
Antisemitismus von verantwortlichen deutschen
Bürokraten nach der Befreiung, heute durch die
manipulierende bewusst auslassende Darstellung
von Herrn Regebrecht im Aut rag von Bürgermeister Spindler wiederum legitimiert und damit
toleriert. Hier stellt sich nicht nur die Frage, wo
Lüge beginnt. Sondern auch: Wo beginnt Antisemitismus?
Auf dem Straßenschild »Am Gutort« – der Name
wurde auf Anregung der evangelischen Kirchengemeinde gewählt – beindet sich heute der Hinweis:
Umlegung des jüdischen Friedhofs
| 69
»In der Nähe befand sich der Osterather jüdische
Friedhof Hoterheide / Schiefelberg, der ›Gute Ort‹
genannt. Er wurde 1935 überbaut.«
Auf den Straßenrand gegenüber dem Straßenschild
wurde ein Gedenkstein gelegt; ein Stein ohne alles.
Also ohne reales Gedenken. Schein-Gedenken. Im
Sinne der Recken-Legende.
Bild oben und links:
Gutort (Quelle: Falk Nevken)
Straße und der Heideckstraße umgesetzt, dies amtlich mit Datum vom 20. August 1935 festgehalten.
Auch dies ist ein Indiz dafür, dass sich die Symbiose
Recken – Herbrandt im Sinne des eliminatorischen
NS-Antisemitismus verhalten hat.
Manfred Klaes hat in akribischer Kleinarbeit
die Lage der Gräber auf dem jüdischen Friedhof
Osterath und dann auf zwei jüdischen Friedhöfen in Krefeld recherchiert und dokumentiert. Im
Gegensatz zu der Falschdarstellung von Johannes
Herbrandt 1945 und 1946 wurde die »Umlegung« je
etwa zur Hälte auf die Friedhöfe an der Gladbacher
Lagepläne der Grabsteine
auf zwei jüdischen Friedhöfen in Krefeld
70
| Umlegung des jüdischen Friedhofs
Wie ist die unrelektierte Wiedergabe heute der Legitimation dieser extremen antisemitischen Maßnahme 1934 / 35 und 1946 / 47 sowie in den Folgejahren von der Symbiose Recken – Herbrandt durch
Herrn Regenbrecht ethisch, politisch, archivwissenschat lich und geschichtswissenschat lich sowie
ggf. auch juristisch zu bewerten? Meine Bitte: Relektieren Sie diese Frage selbst.
»Es ist die Art aller Zeiten,
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.«
Johann Wolfgang von Goethe
c. Die Deportation nach Riga im Dezember 1941
Der organisierte Mord an der Mehrheit der von
den Maßnahmen gegen Juden betroffenen
Menschen und die Rolle von Bürgermeister
Hugo Recken
Kaka: »Ein Henker ist heute ein ehrsamer,
nach der Dienstpragmatik wohlbezahlter Beamtenberuf. Warum sollte also nicht in jedem
ehrsamen Beamten ein Henker stecken?«
Janouch: »Die Beamten bringen doch keine
Menschen um!«
Kaka: »Und ob sie dies tun! Sie machen aus
den lebendigen, wandlungsfähigen Menschen
tote, jeder Wandlung unfähige Registraturnummern .«
»Als zu Beginn des Jahres 1933 erstmals ein
Ministerialbeamter eine Deinition der Bezeichnung ›nichtarisch‹ in einen Richtlinienerlass hineinschrieb, war das Schicksal der
europäischen Juden besiegelt.«
Raul Hilberg. 1982. S. 709.
Nach der vollständigen Ausgrenzung, Entrechtung
und Enteignung blieb noch die inale Stufe: der bürgerliche und der biologische Tod. Der endgültige
bürgerliche Tod durch Ausbürgerung. Für »Vermögensverfall« und Ausbürgerung hat H. G. Adler den
Begrif »Finanztod« geprägt. Der biologische Tod
durch Deportation und Mord durch organisierten
Hunger, Erschießen, Erschlagen, Erhängen und
Vergasen. Und »Vernichtung durch Arbeit«.
Der Reichsleiter des deutschen Gemeindebundes
und Oberbürgermeister von München Fiehler
an das Reichsinnenministerium am 28. Oktober 1941
Das »Steueranpassungsgesetz« vom Oktober 1934
ist ein Fraktal der Terror-Willkür-Gesetzgebung im
Sinne gesetzlichen Unrechts gegen willkürlich als
Juden dei nierte Menschen. Es ging auf Fritz Reinhard zurück, dem NSDAP-Finanzfachmann, der
am 6. April 1933 Staatssekretär im Reichinanzministerium wurde. Für Hitler und seine Vasallen zentrale Bürokratie-Positionen wurden von NSDAP»Fachleuten« besetzt, um den gewünschten Prozess
anzustoßen, zu steuern, zu vernetzen und Synergien
im Sinne von – bürokratischer – Efektivität und Efizienz zu erreichen. Die kostengünstigste Organisation des Massenmords.
Ȥ1 (1) Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen.
§1 (3) Entsprechendes gilt für die Beurteilung von
Tatbeständen«
Das NSDAP-Progamm als rechtliche Grundlage
und Auslegungsmaßstab eines Gesetzes. Da den
ausführenden Beamten klar war, was wie gemeint
war, ersparte sich die Bürokratie so das mühsame Ändern aller einschlägigen Gesetze. Der Ermessensspielraum war unbegrenzt, also auch von
Steuergerichten nicht überprübar. Das Prinzip der
Ausführungsbestimmungen zur Deinition unbestimmter Rechtsbegrife für die Rechtspraxis und
damit auch einer juristischen Überprübarkeit im
Einzelfall wurde auf den Kopf gestellt, vollständig
ausgehebelt. Also gesetzliches Schein-Recht zur
äußeren Legitimation von Unrecht. Die Bürokratie
löste sich von ihrer verfassungsmäßigen Legitimationsbasis, wurde zum reinen Instrument zur Exekution der NS-Ideologie im NS-Terror-Mord-ParteiStaat mit dem Kernziel, alle willkürlich als Juden
deinierten Menschen weltweit zu ermorden.
»Was ist mit der nationalsozialistischen Weltanschauung?
... Hinter dem prahlerischen Namen verbirgt
sich entweder nichts oder die Doktrin, die es
gestattet oder sogar beiehlt, Juden zu berauben, zu quälen und zu töten.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S. 54.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion und die
umgehende Besetzung großer Gebiete sahen die
Nationalsozialisten und ihre bürokratischen Helfershelfer eine neue Realisierungsmöglichkeit für
ihr Ziel, Deutschland und weitere »angegliederte«
Gebiete »judenrein« zu bekommen: durch Deportation. Mit einem Schlag sollte die Hälte der
noch in diesem Gebiet lebenden Menschen, die die
Deportation nach Riga
| 71
Antwort des Reichsinnenministerium
Litzmannstadt=Ghetto Lodz
Landesarchiv Berlin Rp. 142/7, 1-2-6/ Nr. 1
den Gerichten wurde der Vorgang als ein bürokratischer Akt behandelt. Die Banken erließen genaue
Richtlinien, wie mit den Anordnungen des Reichsinanzministeriums umzugehen sei. Die NSDAP
und ihre Organisationen, vornehmlich die NSVVolkswohlfahrt, versteigerten und verteilten das
Hab und Gut der Deportierten, nachdem zunächst
vornehmlich die Finanzämter und andere Behörden sich aus dem beweglichen Hab und Gut für ihre
Zwecke bedient hatten.« www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-kommitee
So lesen wir in der Entschädigungsakte Bernhard
Abrahams in einem amtlichen Schritstück mit
dem Datum vom 7. Februar 1951 den Satz:
»Eine Herrenzimmereinrichtung beindet sich
noch im Finanzamt Krefeld.«
Nationalsozialisten als »Juden« deinierten, »abgeschoben« werden. Ein Teil in das Ghetto Riga,
das dazu »judenrein« gemacht wurde: Etwa 43.000
überwiegend lettische, aber auch z. B. emigrierte
Deutsche, wurden innerhalb weniger Tage in der
Nähe von Riga »endgelöst«, erschossen und in Massengräbern verscharrt. Dazu kamen die ersten Deportationen, die direkt »miterledigt« wurden.
Adolf Hitler war also federführend von vornherein
in den Holocaust involviert. Er war schließlich »der
Führer«. Und sein Kernziel war die Ermordung aller Menschen, die er als Juden deinierte. Wenn er
sich die Ernennung bis runter zum NSDAP-Ortsgruppenleiter vorbehielt: Sein Herzensanliegen war
»Chefsache«. Siehe Dokumente Seite 71 unten links
und Seite 72 oben links.
Aus den »Richtlinien für die Schulung im Kriege« der Reichsorganisation der NSDAP von 1942:
»Er (der Jude, LK) muss als der schließliche und
entscheidende Gegner erkannt werden, auf den
sich der Vernichtungswille unseres Volkes zu
konzentrieren hat.«
»Die Deportationen der deutschen Juden war ein
in den Behörden weithin bekannter Vorgang, der
die Verwaltungen umfangreich beschät igte. Von
den Arbeitsämtern, den Industriebetrieben, den
Finanzämtern, den Wohlfahrtbehörden bis hin zu
72
| Deportation nach Riga
»Am 4. November 1941 ... teilte das Reichsinanzministerium den Oberpräsidenten die grundsätzlichen Regelungen der Arbeitsteilung bei den Deportationen mit ... In den folgenden detaillierten
Bestimmungen wurde auch die Zusammenarbeit
weiterer Dienststellen geregelt: mit den Regierungspräsidenten..., den Stadtverwaltungen, die möglichst schnell frei gemachte Wohnungen übernehmen sollten.«
Hans-Dieter Schmid. S. 142
Das bedeutet: Über ihre Rolle im Holocaust sind
die Kommunalverwaltungen, also die Bürgermeister wie Hugo Recken, von der Bezirksregierung
Düsseldorf informiert worden. Und wie die Kooperation mit allen Dienststellen zu erfolgen habe.
Hans-Dieter Schmid führt dann (S. 142) zu »Schreibtischtätern« aus:
»Schreibtischtäter in ›normalen‹ Bürokratien
wie Stadtverwaltungen ... ohne deren ›fachkundige‹ Beihilfe die Verbrechen von SS und Gestapo, insbesondere die systematische Ermordung
der europäischen Juden, nicht möglich gewesen
wäre.«
Hugo Recken handelte nicht nur von seinem
Schreibtisch aus. Er erfüllte seinen Part im Holocaust auch ganz persönlich von Angesicht zu Angesicht, wenn er z. B. Sabine und Julius Gutmann
durch dauernde Vorladungen zu sich ins Rathaus
terrorisierte und Julius Gutmann zum Verkauf seines elterlichen Hauses nötigte.
Bei Friedberger (S. 2) lesen wir:
»Das Formular zur Vermögenserklärung war
ein Musterbeispiel für die pedantisch-bürokratische Vorgehensweise bei der restlosen
Verwertung des von den Deportierten zurückgelassenen Vermögens. Im Unterschied
zum Vermögensverzeichnis von 1938 fragte
der zunächst 8-seitige, später 16-seitige Vordruck auf den Seiten 8 – 10 dezidiert nach dem
Wohnungsinventar und den Kleidungsstücken.
Dort wurde den für die Deportation vorgesehenen Personen zugemutet, jeden einzelnen
Strumpf, jede Lampe und jeden Stuhl etc. aufzulisten, den sie noch besaßen. Das Formular
wurde in der Regel mit der Benachrichtigung
über den Deportationstermin und der Anweisung, sich in einem Sammellager einzuinden,
zugeschickt, so dass das Ausfüllen des Formulars zugleich mit dem Gefühl der Angst und
Ungewissheit über das bevorstehende Schicksal
verbunden war.«
Bewusst organisierte bürokratische Perversion, in
Osterath in Kooperation mit Bürgermeister Hugo
Recken exekutiert. Indem er sich persönlich z. B.
das Sparbuch von Julius Gutmann aushändigen
lässt, den er dazu vorgeladen hatte, um es dann
zuständigkeitshalber an die Gestapo-Leitstelle Düsseldorf wiederum zur Weiterleitung an den Oberpräsidenten zu schicken.
dieser Verwaltung an den nationalsozialistischen
Verbrechen.« Friedberger. S. 24.
Solche Personalakten existieren auch im Bestand
des Finanzamtes Krefeld von Menschen aus Osterath.
Der überwiegende Teil der niederrheinischen
»Juden« wurde am 11. Dezember 1941 vom Schlachthof Düsseldorf-Derendorf nach Riga verschleppt.
Alle aus Osterath verschleppten Menschen wurden
im »Osten« ermordet.
»Der Transport war präzise vorbereitet; seit
Wochen haben die Juden, die im Kreisgebiet
(Kempen-Krefeld, LK) wohnten, das nötigste
Reisegepäck bereitstehen; etwa einen Monat
vor dem Abreisetermin sind ihnen die genauen
Vorschriten über Möbelverkauf, Kontenaulösung und Versiegelung der Wohnungen mitgeteilt worden.«
Hans Kaiser. S. 102
Der Holocaust war fraktal, also selbstähnlich.
Alle Schicksale und bürokratischen Mord-Prozesse ähnelten sich. Und Riga war das Auschwitz der
Osterather Juden.
Fraktal war er auch in der Perspektive deutscher
Bürokratien aller Ebenen.
»Ein Karteiblatt für jeden abgeschobenen
Juden erleichtert die Übersicht.«
Friedberger formuliert zusammenfassend (S. 10):
»... das ungetrübte, ja durchaus kollegiale Verhältnis der Finanzverwaltung zur Gestapo, das
die Finanzbeamten zu willigen Komplizen bei
der staatlich organisierten Judenverfolgung
werden ließ.«
In diesem Zitat können die Wörter »Finanzverwaltung« und »Finanzbeamte« durch die Worte »Kommunalverwaltungen« und »Bürgermeister« ausgetauscht werden. Alle Bürokratien kooperierten – ot
im vorauseilenden Gehorsam, den »Führerwillen«
quasi antizipierend, das ideologische Kernziel von
Hitler und den Nationalsozialisten zu erreichen:
Den Mord an möglichst allen Menschen, die sie als
»Juden« deinierten.
»Zu den Hinterlassenschaten dieser zwölf Jahre gehören unzählige einzelne Personenakten der
deutschen Finanzverwaltung, die in ihrer ganzen
bürokratischen Sachlichkeit und thematischen
Schlichtheit die Zerstörung menschlicher Schicksale und Biographien spiegeln und damit in jedem
einzelnen Fall Zeugnis ablegen von der Beteiligung
So ein Erlass des Reichsinanzministers vom 4. November 1941 im Kontext der anstehenden Deportationen.
»Da wir in der Organisation Anhänger von Sauberkeit und Ordnung sind, wird der politische
Gegner oder Jude festgenagelt, aber selbstverständlich nur auf der Karteikarte.«
Reichsorganisationsleitung der NSDAP. 19. 7. 1933
»Für sie, die Eingeweihten, war der Ton das, was
zählte, weil er ot mehr sagte als die Worte: ›Gebt
es ihnen‹, ›Los auf sie drauf‹, ›Wir werden es ihnen
zeigen‹ und ›Schlagt sie zusammen‹.«
Sebastian Haffner. Jekyll and Hyde. 1939. S. 79.
Bürgermeister Hugo Recken sandte wenige Tage
vor dem 9. Dezember 1941 der Gestapo-Leitstelle
Düsseldorf (II B4) Zimmer 226 auf die schritliche Anordnung wiederum wenige Tage zuvor
unter dem Betref »Evakuierung von 12 Juden aus
Osterath« die »ausgefüllten Formulare« zu diesen
zwölf Menschen weiter. Die betrofenen Familien
erhielten über ihn »Ausreiseauforderungen«, am
Deportation nach Riga
| 73
9. Dezember 1941 begann ihre »Aussiedlung« durch
ihre Festnahme.
»Mit der Benachrichtigung über die bevorstehende
›Evakuierung‹ erhielten die Betrofenen ein großes (15-seitiges) oder kleines (8-seitiges) Formular
zur ›Vermögenserklärung‹, das die Gestapoaußendienststellen oder Ortspolizeibehörden, meist zusammen mit den Namenslisten und statistischen
Angaben der zu Deportierenden, ausgefüllt und
von den Betrofenen unterschrieben, an die Gestapoleitstelle in Düsseldorf weiterleiteten. Angehängt
an die Formulare und ebenfalls von ihnen zu unterschreiben war eine Erklärung, in der es hieß, es
sei ihnen eröfnet worden, dass ihr Vermögen beschlagnahmt sei und dem Deutschen Reich zufalle.«
Genger / Jakobs. S. 23.
»Am Tag der Deportation waren Einheiten verschiedener Sparten aus den Reihen der Sicherheits- und Ordnungspolizei im Einsatz. Gestapomitarbeiter und Beamte der Kriminalpolizei sowie
Einheiten der Schutzpolizei und der Gendarmerie
führten die Verhateten und den Abtransport der
Juden nach einem festgelegen Einsatzplan durch.
Den Polizisten lag ein als ›geheim‹ klassiiziertes
... ›Merkblatt für eingesetzte Beamte‹ vor, das diese
in 13 Artikeln genauestens über ihre Aufgaben instruierte. Für den Abtransport aus den einzelnen
Orten war ein Kriminalbeamter als ›Transportführer‹ verantwortlich, dem ›je nach Bedarf‹ eine bestimmte Anzahl Kriminalpolizisten zugeteilt wurde. Wahrscheinlich erst an den ›Sammelstellen‹ in
den größeren Städten waren dann Beamte der Gestapo zur Durchführung weiterer Maßnahmen und
zur Überwachung des Abtransports zugegen. Jede
diese ›Sammelstellen‹ wurde von einem leitenden
Beamten befehligt, der den einzelnen Transportführern Listen mit den ›Namen und Anschriten
der festzunehmenden Personen‹ aushändigte.«
Andreas Nachama u. a. (Hrsg). Vor aller Augen. S. 17.
Auf die aus den Fotos hervorgehende »neugierige
Passivität« der Zuschauer bezogen:
»Der Historiker Peter Steinbach hat darauf hingewiesen, dass die Machthaber eine solche Teilnahmslosigkeit der Bevölkerung in dieser Form wohl nicht
erwartet hatten. Diese Reaktion machte ihnen endgültig deutlich, dass die Vertreibung und Beraubung deutscher Juden mittlerweile gesellschat lich
weitgehend akzeptiert wurde.«
Nachama. S. 20.
Osterather als »Juden« deinierte Menschen wurden
am 9. Dezember 1941 morgens im Halbdunkeln mit
einem LKW abgeholt. Die Bewacher waren Fremde
in Zivil.
74
| Deportation nach Riga
Auf der Einwohnermeldekarte von Dan Lucas lesen
wir den Eintrag des zuständigen Sachbearbeiters
des Einwohnermeldeamtes Osterath:
»9. 12. 41 Osten Riga«.
Marie-Sophie Aust hat in ihrem Beitrag in den
Meerbuscher Geschichtsheten »Jüdische Familien
in Osterath« (S. 77) beschrieben:
»Schon seit der Veröfentlichung des Reichsgesetzes über die Mietverhältnisse mit Juden
am 4. Mai 1939 hatte man begonnen, die
jüdischen Familien in sogenannten ›Judenhäusern‹ zwangsweise zusammenzulegen. Bis
1941 wurden ... alle noch in Osterath verbliebenen jüdischen Mitbürger in dem ehemaligen
Wohnhaus der Familie Kiefer, Kaarster Str. 14,
untergebracht. Von hier aus wurden sie am
9. Dezember 1941 auf einem Lastwagen der
Sauerkrautfabrik nach Düsseldorf zur Sammelstelle für die Deportation nach Riga verfrachtet.
Ruth Kiefer verheiratete Lucas mit ihrem noch
nicht zwei Jahre alten Söhnchen Danny durfte ›als Vergünstigung‹ wegen des schlechten
Wetters vorne beim Fahrer in der Kabine sitzen
und musste nicht wie die anderen auf der zugigen Ladeläche des LKW transportiert werden.
Als das geschah, standen ihre Nachbarn und
ehemaligen (sic!) Freunde weinend am Straßenrand und winkten ihnen hillos nach, wohl
ahnend, dass sie sie nie wiedersehen würden.«
Was Marie-Sophie Aust schrieb, ist Teil ihrer persönlichen Vergangenheitsbewältigung. Zu der ihre
Kooperation mit Johannes Herbrandt bis zu dessen
Tod in der 1990er Jahren zählt.
»Genau genommen weiß jeder Deutsche auf
Grund von Beobachtungen, was mit den Juden
in Deutschland passiert. Aber weil er kaum etwas
darüber liest und weil er das undeutliche Gefühl
hat, dass es nicht gut wäre, viel darüber zu wissen,
misstraut er ot lange dem, was er mit eigenen Augen sieht.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S. 109.
»In aller Öfentlichkeit, in Gegenwart hunderter
Zuschauer gerieten diese Verfolgungsmaßnahmen
von Polizei und Gestapo zusätzlich zu kollektiven
Proklamationen der NS-›Volksgemeinschat‹ zur
rassistischen Militanz des NS-Regimes und seiner
Führung.« Nachama. S. 63.
»Die ... besonders deutlich fokussierten Gestapomänner repräsentieren den gewalthaten Kern des
in der Bildfolge festgehaltenen Geschehens, stärker
noch als die beteiligten Angehörigen der Ordnungspolizei. Die Geheime Staatspolizei war die administrativ-politische, auch die logistische Schaltzentrale
der Deportationen. Die beiden Gestapomänner,
zwei ›Scharführer‹ der Sicherheitspolizei, strahlen
auf diesen Fotos in Körperhaltung und Gesichtsausdruck eine plebejisch-brachiale, bereits physischer einschüchterne Brutalität aus. Sie wirken wie
eine vulgäre Mauer aus Befehl, Hass und physischer
Gewalt, die kaum gebändigt in ihren Mienen zum
Ausdruck kommt.« Nachama. S. 63 f.
Nach der »Klein-Übung« bei der Reichskristallnacht 1938 auf der Wevelsburg waren die – aus NSPerspektive bürokratisch gelungenen – Deportationen 1940 nach Gurs das – fraktale – Muster für alle
Deportationen, die folgten.
Wer war »man«? Bürgermeister Hugo Recken – und
sein rechte Hand Johannes Herbrandt. Standen sie
mit am Straßenrand?
Dass beide Unrechtsbewusstsein hatten, dokumentiert sich durch die Aktenvernichtung vor der
Befreiung durch US-Amerikaner am 1. März 1945.
Die Täter wollten im Bewusstsein ihres Unrechts
ihre Taten vertuschen, um nicht bestrat zu werden.
Dieses Foto gehört zu einer Foto-Serie, aufgenommen
1940 in Lörrach und es ist fraktal: So oder ähnlich
war es immer und überall, wenn Nationalsozialisten
und ihre bürokratischen Mit-Täter – inkl. des PolizeiFotografen – 1940 bis 1945 Menschen aus ihren
Heimatorten verschleppten. Dargestellt ist aus der
Perspektive von 1940 eine Selbstverständlichkeit, die
vom Polizei-Fotografen als »ordnungsgemässe
Abwicklung« einer Amtshandlung festgehalten
wurde, die nach dem Verständnis der agierenden
Beamten und ihrer Vorgesetzten rechtmässig und
damit legal war.
Und wie bei der »Umlegung« des jüdischen
Friedhofs 1935 organisierte er 1941 die für die
Gemeinde Osterath kostengünstigste TransportLösung: nach einem Pferdefuhrwerk für die Grabsteine und Särge nun die Menschen auf einem ofenen LKW. Wobei Dan Lucas und seine Mutter das
Privileg erhielten, in der Fahrerkabine in den Tod
fahren zu dürfen.
»Am 10. Dezember 1941 saß der alte Mann in
Untersuchungshat. Nach Gegenüberstellungen mit
seinen Denunziantinnen und aussichtslosem Leugnen nahm sich Struckenmeyer das Leben. Am
11. Dezember um 3 Uhr morgens fand man ihn tot
in seiner Zelle.«
Robert Gellately. Hingeschaut und Weggesehen. S. 267.
»In schärfster Form Feinde des deutschen Volkes der gerechten Todesstrafe zuzuführen.«
Heinrich Himmler am 12. Dezember 1941 an die
Höheren SS- und Polizeiführer in der besetzen
Sowjetunion.
Vermögensverfall
Im »Buch des Gedenkens« inden wir die folgenden
Ausführungen zu den Deportationen nach Riga
(S. 7 f.) sowie zur Deportation am 11. Dezember
1941 ab dem Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf
(S. 692):
Deportation nach Riga
| 75
Foto oben: Arisierungsversteigerung
Foto links: Versteigerungsanzeige
Was ist die Botschaft dieses Fotos?
Es steht für Entzivilisierung und Brutalisierung der
deutschen Gesellschaft. Gewalt, Terror, Raub und
Ermordung von »Gemeinschaftsfremden« und die
Aneignung ihres Besitzes als Selbstverständlichkeit,
Normalität im Sinne von gesellschaftlicher selbstverständlicher Norm. Der Führerwille wird selbstverständlich exekutiert, von allen »Volksgenossen«.
Geworden-Sein wie – fanatische – Nationalsozialisten, und es nicht sehen, verstehen, wissen wollen,
verdrängen. Dass der Verkaufserlös – zu Gunsten der
Kriegsmitfinanzierung durch Abschöpfen von Kaufkraft – etwa 20 % des realen Wertes ausmachte, war
eine Form von Korruption der »Volkgemeinschaft«:
Für das NS-Partei-Staats-Regime kostenfreier Kauf
von Zustimmung und Loyalität – durch Mit-Täterschaft in Form des selbstverständlichen Kaufs von
Raubgut. Fraktal für die generelle perverse NS-ideologische Strategie: Mit Gewalt – psychisch und /oder
physisch – nötigen, um die Opfer zur Finanzierung
und Organisation ihrer Ermordung weitestmöglich
zu missbrauchen und die Gesellschaft gleichzeitig zu
korrumpieren. Was die Bereitschaft voraussetzt, sich
korrumpieren lassen zu wollen.
»Für die Transporte nach Minsk und Riga erließ ...
das Reichsinanzministerium am 4. November 1941
grundlegende Bestimmungen:
›Die Abschiebung der Juden wird von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) durchgeführt. Die
76
| Deportation nach Riga
Gestapo sorgt auch für die Sicherstellung des Vermögens ... Die Einziehungsverfügungen werden von
den Regierungspräsidenten ... erlassen. Sie werden
den Juden vor ihrem Abtransport durch Gerichtsvollzieher zugestellt.‹
Mit der 11. Verordnung schuf der Staat einen
gnadenlosen Automatismus. Der angebliche ›Auslandsaufenthalt‹, die Verbindung zu den emigrierten Juden, verband den Deportationsvorgang mit
dem Verlust der Staatsangehörigkeit und damit
dem gesetzlich geregelten Vermögensverfall. Mit
der eigenen Unterschrit mussten die auf die Deportation wartenden Menschen in den jeweiligen Sammellagern ihren bürokratischen Tod besiegeln. Die
Personalausweise, die ›Judenkennkarten‹, die ohne
hin mit einem ›J‹ gekennzeichnet waren, erhielten
darauhin den Stempel ›Evakuiert nach Riga‹.
Der nationalsozialistische Staat nahm seinen
eigenen Staatsbürgern die Staatsangehörigkeit und
das Vermögen. Die nichtjüdische Allgemeinheit
verdiente am Eigentum ihrer vertriebenen Landsleute.«
Über die konkrete lokale Bedeutung des Wortes
»Arisierung« haben bei der Veranstaltung im Dezember 2011 in Osterath Zeitzeugen berichtet: Wie
sie dabei waren, als ihre Eltern mit vielen anderen
Dorf-Einwohnern – Volksgenossen – in der Turnhalle einer Schule das gesammelte Raubgut der aus
Osterath verschleppten Menschen ersteigerten. Der
Sinn dieser Veranstaltungen: Kauk rat zur Kriegsinanzierung abzuschöpfen. Das war außerhalb des
Fokus der Steigernden. Wie die Tatsache, dass sie
sich unrechtmäßig bereicherten. Die Restribution
nach 1945 dokumentiert, das diese Handeln scheinjuristisch und schein-legal war. Wie eine verführte
Herde haben sich die Osterather Volksgenossen um
die Sachen gestritten.
»Partizipation und Zustimmung zu den rassistischen Maßnahmen des Nationalsozialismus
ist auch und gerade in den Kleinstädten des
›Dritten Reichs‹ nachhaltig belegt.«
Nachama. S. 99.
»Die Auswahl der zu deportierenden Personen erfolgte in Düsseldorf gezwungenermaßen durch die
Vertreter der jüdischen Gemeinde, in Orten ohne
innerjüdische Organisation durch die GestapoAußenstellen oder die Gemeindeverwaltung.
In der Regel erhielten die Betrofenen Ende November 1941, teilweise auch erst Anfang Dezember,
also weniger als zehn Tage vor dem vorgesehenen
Deportationstermin, eine schrit liche Mitteilung,
die sie über den Zeitpunkt der Deportation und
die damit zusammenhängenden Formalitäten, u. a.
Abgabe ihres Vermögens, Durchsicht und Plombierung des Gepäcks sowie der Höhe der Transportkosten, informierte. Wegen der großen Zahl der
beteiligten Ortschaten war die Zusammenziehung
und Beförderung der Personengruppen mit einem
enormen logistischen Aufwand verbunden. Für die
Organisation waren die Gemeinden weitgehend
selbst verantwortlich, so dass sich in Bezug auf
die Handhabung Unterschiede zwischen einzelnen Ortschaten feststellen lassen. Die betrofenen
Personen aus den kleineren Gemeinden wurden
in der Regel am frühen Morgen des 10. Dezember
1941 von einem Beamten der Gestapo oder einem
Ortspolizisten abgeholt, mit Lastwagen, teilweise
auch mit Pferdefuhrwerken, zum Bahnhof oder
zum Sammelpunkt in der nächstliegenden Stadt
gebracht.
Die Züge mit den Juden aus den umliegenden
Ortschaten trafen im Laufe des 10. Dezember 1941
am Düsseldorfer Hauptbahnhof ein. Von dort aus
mussten alle Personen, auch die älteren Menschen
und Kinder, die rund fünf Kilometer lange Strecke
bis zum Schlachthof in einer streng bewachten Kolonne durch eigens zu diesem Zweck abgesperrte
Straßen zu Fuß zurücklegen. Die von den Juden im
Schlachthof vorgefundenen Bedingungen entsprachen der ursprünglichen Funktion des Gebäudes:
eine kahle, feuchte und dreckige Halle, in der zudem ein fürchterlicher Gestank geherrscht haben
muss. Dieser Aufenthaltsort wurde von den Vertretern der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf in
ihren Benachrichtigungsschreiben euphemistisch
als ›Versammlungsraum des städtischen Gebäudes, Rather Str. 23‹ bezeichnet und kann nur als
verzweifelter Versuch gewertet werden, diese weitere Herabsetzung der zur Deportation bestimmten
Juden etwas abzuschwächen. In dieser Umgebung
mussten die über tausend Menschen die Nacht vor
Schlachthof DüsseldorfDerendorf: Düsseldorf –
Litmannstadt, S. 61.
| 77
ihrer Abfahrt aus Düsseldorf in eisiger Kälte und –
in Ermangelung jeglicher Sitzgelegenheit – zumeist stehend verbringen. Zusätzlich sahen sich die
Anwesenden permanenten Schikanen des Wachpersonals ausgesetzt, das während der in alphabetischer
Reihenfolge durchgeführten Leibesvisitationen und
Gepäckkontrollen willkürlich Wertgegenstände
und Teile des Gepäcks koniszierte.
Nach einer rund zwölfstündigen Wartezeit
im Schlachthof mussten die Juden am 11. Dezember 1941, gegen 4:00 Uhr morgens, den Weg zum
Güterbahnhof Derendorf antreten, wo sich die Ankunt des Personen-Sonderzuges, dessen Abfahrt für
9:30 Uhr vorgesehen war, aufgrund personeller
Probleme bei der Reichsbahn wesentlich verzögerte. Als Konsequenz dieser Verspätung mussten die
Betrofenen zunächst bis zur Einfahrt des Zugs vier
Stunden an der Verladerampe warten, um dann unter Gewaltandrohung und größter Hast in die Abteile gedrängt zu werden.«
Hilde Sherman beschreibt in »Zwischen Tag und
Dunkel« zwei Begebenheiten im Schlachthof Düsseldorf-Derendorf:
»Ich drehte mich um ... , als ich plötzlich einen
Stoß in den Rücken bekam und die schmale
Treppe in den Schlachthof hinunterstürzte.
Diesen Augenblick werde ich im Leben nicht
vergessen: Oben bei der Treppe stand P. (Pütz,
LK), ein hoher Gestapobeamter. Mit wutverzerrtem Gesicht brüllte er hinter mir her: ›Auf
was wartest du noch? Auf die Straßenbahn? Die
fährt für dich niemals mehr.‹« (S. 29 f.)
»Plötzlich schlugen sie (die Gestapobeamten,
LK) einem jungen Mann mit einem Gummiknüppel auf den Kopf. Er sank zusammen und
blieb auf der Rampe liegen. Dort lag er drei
Stunden später noch immer, der erste Tote unseres Transports.« (S. 31)
Aus dem Abgleich der Deportationsliste gehen drei
Namen hervor, die den Schlachthof nicht lebend
verlassen haben. Das Morden begann in Deutschland, im Schlachthof.
Ab Düsseldorf wurden ca. 9.000 Menschen verschleppt, zumeist ab dem Schlachthof Derendorf.
Der ganz überwiegende Teil dieser Menschen wurde »im Osten« von den Nationalsozialisten und ihren Mord-Mittätern ermordet.
Die immer noch genannte Zahl von 6.000 deportierten Menschen ab Düsseldorf beruht auf
rudimentären staatsanwaltschat lichen Ermittlungen in den 1960er Jahren gegen Angehörige des
Juden-Referats der Gestapo-Leitstelle Düsseldorf,
78
| Deportation nach Riga
siehe Berschel, S. 363. Bis auf eine liegen uns heute
alle Deportationslisten vor. Aus den vorliegenden
Deportationslisten ergibt sich eine Gesamtzahl
von ca. 8.400 verschleppten Menschen. Im Kontext der Deportationen davor und danach werden
mit der – bisher – nicht dokumentierten Deportation ca. 9.000 Menschen verschleppt worden sein.
Wo ist eine Grenze geschichtswissenschat licher –
bürokratischer – Penetranz, wo beginnt – normale –
Menschlichkeit?
Vor bundesdeutschen Gerichten gab es zwei große
Verfahren im Kontext der Deportationen ab dem
Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf sowie dem
Mord-Geschehen in und um Riga, deren Urteile in
»Justiz und NS-Verbrechen« abgedruckt sind.
Vor dem Landgericht Düsseldorf gegen Mitglieder des Judenreferats der Gestapo-Leitstelle
Düsseldorf. Deren Leiter Georg Pütz wurde 1949 zu
acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt: Wegen insbesondere Mitwirkung an der Deportation der Juden
aus Düsseldorf und Umgebung nach Lodz, Minsk,
Riga, Izbica und heresienstadt. (Nr. 142)
Deren Verwaltungsbeamter Hermann W. wurde 1949 zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt: Wegen insbesondere Mitwirkung an den
Deportationen nach Lodz, Minsk, Riga, Izbica und
heresienstadt durch Erfassung des jüdischen Vermögens, Aufstellung der Deportationslisten, Abfassung der Schlussberichte für das Reichssicherheitshauptamt, Beschaf ung der Transportmittel bei der
Reichsbahn sowie Abwicklung und Begleitung der
Transporte und Gepäckkontrolle. (Nr. 148)
Vor dem Landgericht Hamburg wurden die
Mordtat-Geschehen in Lettland verhandelt. 1951
wurden Kurt Richard Rudolf Migge und Rudolf
Joachim Seckt zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen
verurteilt: Als Mitglieder der Sicherheitspolizei Riga
für insbesondere die Selektion und den Abtransport
von Juden des Rigaer Ghettos, die anschließend in
einem auswärtigen Waldstück erschossen wurden.
(Nr. 307)
1973 wurde Otto Tuchel zu lebenslänglicher
Freiheitsstrafe verurteilt: Als Mitglied des Polizeibattallions 21 wegen insbesondere Liquidierung
des Rigaer Ghettos, bei der im Wald von Rumbula
mindestens 25.000 lettische Juden erschossen wurden. (Nr. 789)
Gerhard May wurde 1977 zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt: Als Mitglied der Sicherheitspolizei Riga und der Einsatzgruppe A wegen der
Selektion von Juden im Rigaer Ghetto, die anschließend in der Nähe Rigas erschossen wurden.
(Nr. 843)
Viktor Bernhard Arjas wurde 1979 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt: Als Leiter der lettischen Hilfspolizei wegen insbesondere der Mas-
Rheinische Post, 29. Oktober 2003
senerschießung der im Großen Ghetto lebenden
Juden im Wald von Rumbula. (Nr. 856)
Karl Tol wurde 1983 zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt: Als Mitglied der Einsatzgruppe 2 wegen insbesondere Massenerschießungen von
Juden im Bickernicker Wald, im Ghetto Riga sowie
in der Nähe von Riga. (Nr. 883)
Verurteilt wurden also ausschließlich Polizeibeamte. Die Polizei ist ein Bürokratie-Fraktal.
Im Interview mit dem Überlebenden Karl Coppel
aus Neukirchen-Vluyn 2001 lesen wir zur Ankunt
auf dem Bahnhof Skirotawa:
»Dort wurden zunächst alle alten, kranken und
gebrechlichen Transportteilnehmer in einen
nahe gelegenen Wald bei Skirotawa transportiert und von SS-Leuten erschossen.«
Hilde Sherman hat in einem Interview 1994, im
Archiv von Yad Vashem Kassette Nr. VD 431, berichtet:
»Und ein Kind von vier Jahren.«
Damit kann sie Dan Lucas gemeint haben.
Mehr habe ich bis heute nicht zu seinem Schicksal
in Riga inden können. Die Recherche geht weiter.
Details zu den Verschleppten, die Deportation und
ihr Schicksal in Riga in den Dokumenten dieses
Kapitels und im Teil »Dokumente«.
Umsiedlungsaktion –
Man spricht nicht von Tod
zwei Stunden noch
alles ist gepackt
fünfzig Kilo
der Morgen ist kalt
wir sind nicht mehr jung
zu alt
um unser ganzes Leben auf unsere Schultern
zu laden
dorthin zu gehen
wohin wir nicht gehen wollen
wissend
wissend
dass wir nicht hierher zurückkommen werden
wir sind erschöpt
diese Jahre waren hart
lieber Gott wie konnte es dazu kommen
wir sind die Verlorenen
wir sind vergessen
Gott hat uns verlassen
löscht das Feuer
macht das Licht aus
schlüssel
um die Tür unseres Lebens abzuschließen
wir haben eine lange Reise vor uns
in welches fremde Land
mit welchem Empfang?
Anne Ranasinghe Katz
Deportation nach Riga
| 79
Lothar Klouten
Menschen jüdischen Glaubens in Osterath
A. Deportationen
Litzmannstadt 27. 10. 1941
Emily Ephraim, geb. Salomon
Riga 11. 12. 1941
Bernhard Abrahams
Berta Gutmann
Marta Königsthal
Selma Königsthal
Alfred Levy
Alice Fellheimer, geb. Kiefer
Franziska Kiefer
Selma Kiefer
Gustav Kiefer
Carola Lucas, geb. Kiefer
Ruth Lucas, geb. Kiefer
Dan Lucas, geb. 23. 02. 1939
Izbica 24. 04. 1942
Ida Kiefer
heresienstadt 25. 07. 1942
Klara Lachs, geb. Kiefer.
dann: 26. 09. 1942 Treblinka
Selma Davids, geb. Kiefer
Valentin Davids
Hedwig Davids, geb. Rives
Julius Gutmann
Sabine Gutmann
heresienstadt 27. 07. 1942.
Dann: 16. 10. 1944 Auschwitz
Karl Gutmann
Emmi Gutmann, geb. David
Sobibor 20. 03. 1943 aus den Niederlanden
Siegfried Gutmann
Aus der Geburtsurkunde von Dan Lucas geht hervor, dass seine Mutter ihn zu Hause, im »Judenhaus« Kaarster Str. 14, ohne Hilfe eines Arztes oder
einer Hebamme geboren hat.
Dan Lucas wurde gemeinsam mit seiner Mutter
Ruth nach Riga verschleppt. Er wurde im Alter von
noch nicht einmal drei Jahren von den Nationalsozialisten ermordet.
Der Vater von Dan Lucas – Max – und dessen
Bruder Justin, verheiratet mit der Schwester seiner Mutter, waren nach Kenia ausgewandert. Hatten dann keine Chance mehr, ihre Familien aus
Deutschland nachzuholen, die bei den Eltern bleiben wollten.
Von den 23 verschleppten Menschen überlebten
lediglich Sabine und Julius Gutmann. Sie kehrten
nach Osterath zurück.
B. Adressliste
Schiefelberg. Jüdischer Friedhof. 1934 aufgehoben
Meerbuscher Str. 7. Bis ca. 1900 Standort der
Synagoge
Meerbuscher Str. 27. Nach 1900 im Anbau Betsaal
Meerbuscher Str. 17. Familie Langenbach
Meerbuscher Str. 21. Familie Goldberg
Kaarster Str. 8. Sabine und Julius Gutmann sowie
Berta Gutmann. Dann: Kaarster Str. 14 und Strümper Str. 25
Kaarster Str. 14. Familie Kiefer
Hoterheideweg 44. Familie Lucas,
dann Kaarster Str. 14
Strümper Str. 25. Marta und Selma Königsthal
Krefelder Str. 11. Paul Cervelli
C. Weitere Verifizierungen sind möglich
Geburtsurkunde
Dan Lucas
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| Deportation nach Riga
Stadtarchiv Meerbusch:
Vorderseite der Einwohnermeldekarte von
»Dan lucas« –
»9. 12. 41 Osten Riga«
Stadtarchiv Meerbusch:
Rückseite der Einwohnermeldekarte von
»Dan lucas« –
»9. 12. 41 Osten Riga«
Die überwiegend deutschen Menschen jüdischen Glaubens kamen aus über 60 Gemeinden, u. a.
Alpen
Anrath
Breyell
Brüggen
Dinslaken
Dülken
Düsseldorf
Duisburg
Dormagen
Emmerich
Friemersheim
Garzweiler
Goch
Grefrath
Grevenbroich
Hamborn
Hochneukirch
Hüls
Issum
Jüchen
Kaldenkirchen
Kamp-Lintfort
Kempen
Korschenbroich
Krefeld
Langenfeld
Lank
Lobberich
Mönchengladbach
Monheim
Moers
Mülheim/Ruhr
Neuss
Oberhausen
Odenkirchen
Oedt
Opladen
Osterath
Rees
Rheinhausen
Rheydt
Ruhrort
St. Hubert
St. Tönis
Straelen
Süchteln
Uedem
Viersen
Waldniel
Wesel
Wevelinghoven
Wickrath
Willich
Deportation nach Riga
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Yad Vashem: Gedenkblätter für die von Nationalsozialisten ermordeten Menschen aus Osterath
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| Deportation nach Riga
Yad Vashem: Gedenkblätter für die von Nationalsozialisten ermordeten Menschen aus Osterath
Deportation nach Riga
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Yad Vashem: Gedenkblätter für die von Nationalsozialisten ermordeten Menschen aus Osterath
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| Deportation nach Riga
Lothar Klouten: Karte des Deportationsweges nach Riga
Plan des Ghettos in der Moskauer Vorstadt 1942
Deportation nach Riga
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Lage der Lager und Massengräber in und um Riga
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der
Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Lucas, Dan
geboren am 23. Februar 1939 in Osterath /
Kempen-Krefeld / Rheinprovinz
wohnhat in Osterath
Deportationsziel:
ab Düsseldorf
11. Dezember 1941, Riga, Ghetto
Todesdatum/-ort:
für tot erklärt
Bundesarchiv | Stand: 12. März 2012
Bundesarchiv: Eintrag »Dan Lucas« im Gedenkbuch
86
| Deportation nach Riga
d. Drei Familien als exemplarische Beispiele
1. Sabine und Julius Gutmann
Julius Gutmann wurde am 9. Februar 1883 in Osterath geboren. Sein Vater führte im elterlichen Haus
Kaarster Str. 8 eine kleine Metzgerei, die Julius Gutmann nach seiner Ausbildung zum Metzgermeister
übernahm.
Das Elternhaus von Julius Gutmann war durch
die – die große Mehrheit der Deutschen jüdischen
Glaubens betrefenden – Entwicklung geprägt: Im
19. Jahrhundert identiizierten sich diese Menschen
zunehmend mit dem aukommenden deutschen
Nationalbewusstsein. Sie neigten ihrer Sozialstruktur entsprechend der bürgerlichen Mitte und
der Rechten zu. Und sie waren ganz überwiegend
akulturiert, national denkend und kaisertreu. So
besaßen sie ein Selbstverständnis als Deutsche jüdischen Glaubens. Diese Haltung war gekennzeichnet
durch das gleichzeitige Festhalten an der religiösen
Tradition und am deutschen kulturellen Erbe. Die
so sozialisierten Menschen lehnten dann eine Emigration prinzipiell ab. Bei vielen von ihnen verband
sich politische Naivität mit dem blinden Glauben
an ihre christlichen Mitbürger und die deutsche
Kultur. Dieses Festhalten am Deutschtum wurde
vor allem für die älteren Generationen zu einer ausweglosen Tragödie, die dann auch ihre Kinder und
Kindeskinder betrefen konnte; wie bei Dan Lucas
in Osterath, wenn die Kinder gemeinsam mit den
Kindeskindern ihre Eltern nicht verlassen wollten.
Bis in den Tod in Ghettos und KZs kennzeichnete
ein hilloses Nichtverstehen ihren Habitus.
Julius Gutmann war ein Spiegelbild, ein Fraktal
dieser Entwicklung. 1909 ist er Schrit führer im
Osterather Kegelklub »Alle Neune«. Er ist Mitglied
der Synagogengemeinde Krefeld, zu der Osterath
gehörte, und des jüdischen Jugendbundes Krefeld.
Im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer u. a. in Riga,
mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und dem Verwundetenabzeichen ausgezeichnet und 50 % kriegsbeschädigt, hat er an der Ost- und Westfront für
»Kaiser, Volk und Vaterland« sein Leben eingesetzt
und gekämpt. Die deutschen Soldaten jüdischen
Glaubens im Ersten Weltkrieg haben nicht nur ihre
persönliche Ehre, sondern auch die des deutschen
Judentums vor ihren Kameraden vertreten. Mit dieser Vergangenheit glaubten sie, ein gutes und anerkanntes Glied im Vaterland geworden zu sein.
Julius Gutmann lernte während der Lazarettbehandlung in Krefeld Helene Zimmermann kennen.
Nach dem zuerst die Mutter, dann 1933 der Vater
gestorben war – begraben auf dem jüdischen Friedhof in Osterath, dann 1935 auf den in Krefeld »verlegt« – verlobten sich die beiden 1933. Sie planten
für August 1935 die Trauung, wollten dann abwarten bis rechtlich klar war, ob dies zulässig sei. Denn
Helene Zimmermann war nach dem nationalsozialistischen Rechtsverständnis 1935 »Arierin«. Nach
Erlass der »Nürnberger Gesetze« beantragte Julius
Gutmann eine Ausnahmegenehmigung. Dazu die
Dokumente aus Bestand Osterath III 1997, dann
eine geschichtswissenschat liche Kommentierung.
Mit Datum vom 26. November 1935 stellt »Der Bürgermeister als Ortspolizeibehörde« Julius Gutmann
ein Führungszeugnis aus: »... in der Zeit vom Tage
der Geburt bis zum heutigen Tage hier polizeilich
gemeldet gewesen und dass über ihn in den polizeilichen Listen eine Stratat nicht verzeichnet ist.«
Stadtarchiv
Meerbusch:
Führungszeugnis
Julius Gutmann
| 87
Seine »Stratat« nach dem Verständnis der nationalsozialistischen Partei-Staats-Ideologie war seine Geburt als Mensch mit jüdischen Glauben. Die
Rolle von Hugo Recken als Bürgermeister, örtlicher
Polizeichef und damit örtliche Gestapo war die
Exekution der nationalsozialistischen antisemitisch-eliminatorischen Partei-Staats-Ideologie vor
Ort, auch ganz persönlich gegenüber Julius Gutmann, das auch von Angesicht zu Angesicht.
»Weil ich Frontkämpfer bin, wende ich mich vertrauensvoll an den Führer, der immer Verständnis
für die Sorgen seiner Frontkameraden gezeigt hat.
Seiner Entscheidung werde ich mich in jedem Fall
beugen ... Mit deutschen Gruß!«
Aus heutiger Perspektive unglaubliche Formulierungen. Vor allem, dass ein Mensch jüdischen
Glaubens Ende 1935 einen Brief »Mit deutschem
Gruß!« beendet. Hier spiegelt sich das Selbstverständnis von Julius Gutmann. Für ihn ist es undenkbar, dass sein Glaube ihn auf einmal außerhalb
der deutschen Volksgemeinschat stellt.
Dass dies so ist, wird in einer kaum zu überbietenden Deutlichkeit im Schreiben der NSDAP-Kreisleitung Viersen-Kempen vom 8. Juni 1936 formuliert:
»Er hat seine Plicht als Soldat getan. Das haben
auch die Negersoldaten unter General v. Letow-Vorbeck in Afrika getan. Das berechtigt aber keinesfalls
zur Heirat mit einer deutschen Frau!«
Was fällt hier noch auf? Es ist keine staatliche
Behörde, die eine Stellungnahme zu einem Antrag
an die Reichsregierung formuliert. Die staatliche
Behörde – das Preußische und Reichsministerium
des Innern – hatte den Ausnahmeantrag von JuliEinwohnermeldekarte
Julius Gutmann
88
| Sabine und Julius Gutmann
us Gutmann auf dem realen Instanzenweg an die
NSDAP-Kreisleitung Viersen-Kempen geleitet. Die
NSDAP ist real der Staat, dessen formale Institutionen noch als leere Hülle zur Schein-Legitimation
existieren dürfen. Wie die Bezirksregierung Düsseldorf, die laut Eingangsstempel vom 25. Juni 1936 auf
dem Schreiben der NSDAP-Gauleitung Düsseldorf
vom 22. Juni 1936 die Vorgabe der NDSAP gegenüber Julius Gutmann formal – und nach Außen –
zuständigkeitshalber bürokratisch zu exekutieren
hatte. Organisierte Intransparenz im höchstem
Maß, die heute zur Legitimation von bewussten
Fehl-Interpretationen instrumentalisiert wird.
Im Detail und Einzelfall geht es dann um die Frage: Bedingt durch die – jenseits von formalem Recht
und Gesetz sowie formaler Bürokratieorganisation
gelegenen – Interessen des NSDAP-Partei-Staates
handeln Menschen in ihren partei-bürokratischen
Rollen, wie Bürgermeister Hugo Recken in Osterath
im Macht-Verhältnis hier zum NSDAP-Ortsgruppenleiter, dem örtlichen NSDAP-Beaut ragten für
Kommunalpolitik und der NSDAP-Gemeinderatsfraktion. Wer ist im konkreten Einzelfall im Rahmen dieser Interessen, die überörtlich andere als
örtlich sein können, womit dann das Führerprinzip zum Tragen kommt, »Chef im Ring«? Das ist
nicht selbstverständlich zu Gunsten der örtlichen
NSDAP-Funktionäre entschieden, wie das Beispiel
Recken dokumentiert.
Wenig später lernte Julius Gutmann Sabine Herzberger aus Krefeld kennen, ein »Volljüdin«. Sie hat
ihr Leben in einem Artikel in der Rheinischen Post
am 25. November 1978 zusammengefasst:
Ergänzungsbogen Julius Gutmann (Vorderseite)
»Am 11. Januar 1901 wurde Sabine Gutmann als
Tochter des Pferdehändlers Herzberger ... geboren.
Die Familie gehörte zum alteingesessenen Stamm
der Krefelder Juden. Sabine wuchs behütet im kleinbürgerlichen Haushalt auf, wo von Politik eigentlich nie gesprochen wurde. Man fühlte rheinisch-
krefeldisch, gehörte im übrigen religionstreu der
jüdischen Gemeinde an. Sabine besuchte die jüdische Volksschule ... und die Bürgermädchenschule.
Sabine heiratete den Metzger und Viehkaufmann
Julius Gutmann, selbstverständlich einen Juden,
und zog mit ihm nach Osterath. Während Julius
Sabine und Julius Gutmann
| 89
Ergänzungsbogen Julius Gutmann (Rückseite)
Gutmann in Osterath seinen Geschäten nachging,
arbeitete Sabine Gutmann in der Krawattenfabrik
Herz in Krefeld. Die Firma war in jüdischem Besitz, beschät igte zahlreiche jüdische Angestellte.
›Wir hörten Bemerkungen vom arischen Personal.
Vier Wochen vor der Kristallnacht wurde die Inhaberin, Frau Herz, enteignet, die Firma arisiert.
Am Tag nach der Kristallnacht wurden alle Juden
rausgeworfen. Mein Mann durte auch nicht mehr
arbeiten. Ich habe uns mit Näharbeiten über Wasser gehalten.‹ Eines Morgens um 5:30 Uhr drangen
SA-Leute in die Osterather Wohnung des Ehepaares Gutmann ein. ›Es blieb keine Untertasse ganz.
90
| Sabine und Julius Gutmann
Alles, aber auch alles, wurde kaputt gemacht. Es
waren SA-Leute aus Uerdingen.‹«
Zur Reichskristallnacht in Osterath schrieb Julius
Gutmann am 17. Dezember 1945 (KK 1023 Bl. 182):
»1938 wurden wir von Recken ins Gefängnis
geworfen. Recken erschien im Gefängnis und
erklärte uns Juden, dass wir alle nach Anrath
ins Staatsgefängnis gebracht würden. In derselben Nacht wurde unter Duldung des Recken
unser ganzes Heim zerstört.«
Sippentafel Julius Gutmann (Seite 1)
Es gab keinerlei legale Legitimation für Verhatung
und Hat von Julius Gutmann und allen anderen
betrofenen Menschen. Schein-Legal verfügte dann
die Reichsregierung, dass von Zerstörungen betrofene Menschen keine Versicherungsansprüche
hätten. Und dass die Gemeinschat der deutschen
Juden die Schäden als Sühne mit 1.000.000.000
Reichsmark zu zahlen habe, was ein Gutteil des
noch verbliebenen Vermögens war, an das die
Nationalsozialisten zur Kriegsvorbereitung und
-durchführung vollständig herankommen wollten.
Marie-Sophie-Aust führt zu Julius Gutmann aus
(S. 59):
»... wurde Julius Gutmann am 10. November 1938
gegen 9:30 Uhr in seiner Wohnung abgeholt und
für einen Tag auf dem Bürgermeisteramt Osterath
in Schutzhat gehalten. In der folgenden Nacht, in
Sabine und Julius Gutmann
| 91
Sippentafel Julius Gutmann (Ausschnitt von Seite 2)
Sippentafel Julius Gutmann (Ausschnitt von Seite 3)
der Nacht vom 10. zum 11. November, in den frühen Morgenstunden zwischen 3 und 4 Uhr, haben
ihn dann auswärtige SA-Männer verhatet und
nach Anrath gebracht. Dort wurde er bis zum
30. November 1938 im KZ-Flügel des Gefängnisses
in Willich-Anrath festgehalten.«
Wegen seiner Kriegsbeschädigung ist Julius Gutmann nicht ins KZ Dachau deportiert worden.
Im Kontext der Reichskristallnacht gab es eine Beobachtung, die sich dann bei den Versteigerungen
nach Arisierung und Deportation konsequent fortsetzte:
92
| Sabine und Julius Gutmann
»Nachbarn unterschlugen Gegenstände, die ihnen
anvertraut worden waren, oder stahlen Einrichtungsgegenstände in den aufgebrochenen Nachbarwohnungen.« Karola Frings. S. 44.
Umwertung und Aulösungen von Werten, die
nationalsozialistische Gewalt-Praxis im Privaten –
Sozialdarwinismus legitimiert mit »Gemeinschatsfremdheit« im Sinne der Volksgemeinschats-Ideologie.
Erst brennen die Bücher.
Später brennen die Gotteshäuser.
Dann brennen die Menschen.
Schreiben von Julius Gutmann an das Reichs- und Preussische Ministerium des Innern, Eingang am 6. Januar 1936
Sabine und Julius Gutmann
| 93
Stellungnahmen
zum Schreiben von
Julius Gutmann:
NSDAP-Kreisleitung
Viersen Amt für Volksgesundheit und N.S.D.
Ärztebund 8. Juni 1936
Stellungnahmen
zum Schreiben von
Julius Gutmann:
Gauamtsleiter Schulze,
17. Juni 1936
94
| Sabine und Julius Gutmann
Stellungnahmen
zum Schreiben von
Julius Gutmann:
Gauleiter-Stellvertreter
22. Juni 1936 – mit
Eingangsstempel der
Bezirksregierung
Düsseldorf, 25. Juni 1936
Zu der Folgezeit in Osterath formulierte Sabine
Gutmann am 17. Dezember 1945 (KK 1023 Bl. 182):
»Uns selbst ließ Recken sehr ot vorladen und
drang darauf, dass wir Osterath verließen.«
Dazu formulierte Julius Gutmann an selber
Stelle: »Ich habe damals in ständiger Angst gelebt, die insbesondere durch die Einstellung des
Bürgermeisters R. hervorgerufen wurde. Niemals ist es Recken eingefallen, als Mensch zu
handeln und etwas zur Erleichterung unserer
Lage zu tun. Jedesmal, wenn die Hausklingel
ging, wurde ich in große Angst versetzt, wieder
zu Recken gerufen zu werden.«
Der amtliche Terror von Bürgermeister Recken gegen das Ehepaar Gutmann. Um sie aus Osterath
wegzunötigen. Als Teil seines Ziels eines judenfreien Osterath, nachdem der jüdische Friedhof
bereits unter seiner bürokratischen Federführung
beseitigt war. Damit der Osterather Friedhof judenrein bliebe.
Was hätten die anderen Familien aus Osterath
zu berichten gehabt, die dieselben Erfahrungen mit
Bürgermeister Hugo Recken machten? Die nicht
berichten konnten, weil sie alle verschleppt und ermordet wurden, unter Beteiligung vor Ort in Verantwortung von Bürgermeister Hugo Recken.
Hier traf keine anonyme bürokratische Institution auf als »Juden« bezeichnete Menschen, sondern ein Bürokrat handelte als Mensch gegenüber
anderen Menschen, ganz persönlich, auch von Angesicht zu Angesicht. Und er funktionierte uneingeschränkt im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie der Volksgemeinschat, aus der als »Juden«
deinierte Menschen ausgeschlossen waren – mit
allen Konsequenzen, bis zur Ermordung.
Zum elterlichen Haus Kaarster Str. 8 schrieb Julius
Gutmann am 17. Dezember 1945 im Kontext von
Steuerschulden bei der Gemeinde Osterath (KK
1023 Bl. 182):
»Seiner Zeit hatte ich 300 RMK. Schulden bei
der Gemeinde. Recken war als Gläubiger unbarmherzig. Seinem hartnäckigen Drängen
folgend musste ich schließlich zum Verkauf
meines Hauses schreiten, zumal ich durch die
drohende Beschlagnahme jüdischen Vermögens keinen anderen Ausweg mehr hatte.«
Sabine und Julius Gutmann
| 95
Bürgermeister Recken exekutierte bürokratischantisemitisch. Wieder ein »Judenhaus« weniger in
Osterath.
Wodurch war die ofensichtliche ökonomische
Misere von Julius Gutmann bedingt? Dazu lasen
wir vorher die Schilderung seiner Frau. Und MarieSophie Aust schreibt dazu (S. 53):
»So fuhr Julius Gutmann mit seinem Rad
durchs Dorf, auf dem Gepäckträger das von
treuen Kunden bestellte Fleisch, und lieferte
seine Ware persönlich aus. Aus einem Bericht
des Osterather Bürgermeisters an den Landrat
wissen wir, dass der Metzger jede Woche eine
halbe Kuh kaute und diese nach erfolgter Bearbeitung pfundweise weiterverkaute. Es traute sich kaum noch jemand, seinen Fleischerladen auf der Kaarster Straße zu betreten, denn
das hätte ja beobachtet und der Betrefende
angezeigt werden können. Inzwischen hatten
alle Angst vor der Macht und dem Einluss der
allgegenwärtigen Partei, die derartige Anzeigen verfolgte.«
Nachdem Julius Gutmann der Viehhandel untersagt wurde, bestand die Metzgerei auf dem Papier
noch bis 1938. Dann blieb noch die karge Kriegsversehrtenrente. Und die Näharbeiten seiner Frau.
Julius Gutmann versuchte trotz aller Recken –
Schläge sein gewohntes Leben in seinem Heimatdorf
Osterath so weit wie möglich fortzuführen. Am
1. Juli 1941 heirateten er und Sabine standesamtlich,
am 9. Juli 1941 religiös.
Gestapo-Aussendienststelle Krefeld
96
| Sabine und Julius Gutmann
Nach dem zwangsweisen Verkauf des elterlichen
Hauses Kaarster Str. 8 zog das Ehepaar Gutmann
gemeinsam mit seiner Schwester Berta in das
Osterather »Judenhaus« Kaarster Str. 14. In dieses
Haus und in das Haus Strümper Str. 25 wurden alle
noch in Osterath lebenden »Juden« auf Veranlassung von Bürgermeister Hugo Recken auf engstem
Raum zusammengepfercht. Diese Menschen und
die beiden Häuser waren das, was Bürgermeister
Hugo Recken noch bürokratisch zu exekutieren
hatte – und wollte.
In den Akten der Gemeinde Osterath wurde dann
ein Eintrag gefälscht: Das Ehepaar Gutmann sei
vorübergehend in Krefeld auf der Alten Linner
Str. 39 wohnhat gewesen. Wer in der Gemeindeverwaltung Osterath hatte die Möglichkeit Akten zu
»frisieren«? Und was wurde noch »frisiert«?
Die Schwester von Julius Gutmann, Berta, wurde
am 11. Dezember 1941 gemeinsam mit vielen weiteren Menschen aus Osterath und Lank nach Riga
deportiert und dort von den Nationalsozialisten
und ihren bürokratischen Helfershelfern ermordet. Julius Gutmann erhielt von seiner Schwester
Berta kein Lebenszeichen mehr. Ebenso wenig wie
von den Angehörigen seiner Familie und der seiner
Frau. Bis auf die Familienmitglieder von Sabine und
Julius Gutmann, die wie sie selbst nach heresienstadt deportiert wurden, und dort bzw. in Auschwitz von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Fast alle ihre Familienmitglieder ermordeten die
Nationalsozialisten – bis z. B. einen Nefen, der 1939
mit einem Kindertransport nach England kam.
Vom Haus Kaarster Str. 14 wurde das Ehepaar
Gutmann in das Haus Strümper Str. 25 vertrieben,
dann erreichte Bürgermeister Hugo Recken sein
Ziel: Alle Osterather deutscher Nationalität, die
im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie als
»Juden« deiniert wurden, wurden deportiert, alle
»Judenhäuser« »arisiert«, Osterath war »judenrein«.
Abgesehen von einigen Menschen wie Paul Cervelli – »Halbjude« – und Frau Dr. Langenbach, mit
einem »Arier« verheiratete »Volljüdin«, den Bürgermeister Recken zur Scheidung versuchte zu nötigen,
um die »Jüdin« loszuwerden. Um seinem guten Ruf
als nationalsozialistischer Bürgermeister gerecht zu
werden.
Was passierte im Kontext des Hauses Kaarster
Str. 14? Dazu die Dokumente aus einer Gestapo-Akte zu Julius Gutmann (LAV NRW R, RW 58- 24996),
dann eine geschichtswissenschat liche Kommentierung dieser Dokumente.
Bürgermeister Hugo Recken schreibt mit Datum
vom 4. Juni 1942 die Gestapo-Außendienststelle
Krefeld an.
»Das Finanzamt Krefeld hat das Haus ... als ehemaliges Judenhaus in Verwaltung genommen.«
Das Haus ist also formell »arisiert«, es muss von
Bürgermeister Recken noch »entjudet« werden. Es
ist in Vorbereitung der folgenden, ebenfalls vor Ort
von Bürgermeister Recken organisierten Deportationen »arisiert«.
»Dem Finanzamt liegt ein Kaufgesuch des Hellings vor. Es bestehen keine Bedenken ... das Haus
als Eigentum zu übertragen.«
Ein konkretes Beispiel für die reibungslose bürokratische Koordinierung der antisemitischen
Maßnahmen zur Enteignung und Deportation zwischen Gestapo, Finanzverwaltung und Bürgermeister Recken als Gemeindeverwaltung, Ortspolizeibehörde sowie örtliche Gestapo – im Rahmen der
jeweiligen Zuständigkeiten.
»Es liegt im Interesse der Gemeinde, dass der
Jude das Haus sofort räumt ... Wohnung ...
Volksgenosse frei wird.«
»Der Jude«: Gemeint ist das Ehepaar Gutmann.
Das Feindbild der nationalsozialistischen Ideologie: »Der Jude.« »Es« und »der Jude« als bürokratische Rationalisierung – unpersönliche Exekution
einer »normalen« Verwaltungsmaßnahme. Dies zu
Gunsten eines »Volksgenossen«. »Juden« sind keine
Volksgenossen, werden daher »rechtmäßig« durch
die Gemeindeverwaltung in Person Bürgermeister
Hugo Recken exekutiert, enteignet und vertrieben.
»Der Jude hat bisher keine Anstalten gemacht ... Es
wird um Abschiebung des Juden gebeten.«
Nach dem nationalsozialistischen Verständnis ist
Jude-Sein Legitimation für bürokratische Zwangsmaßnahmen, Deportation und Mord. Das Ehepaar
Gutmann lässt sich von Bürgermeister Hugo Recken trotz aller seiner bürokratischen »Bemühungen« nicht einfach vertreiben. Also will Bürgermeister Hugo Recken, dass die Gestapo im Rahmen
ihrer Kompetenzen durch Deportation nachhilt.
Dazu wird er persönlich initiativ.
Antwort der Gestapo-Außendienststelle Krefeld
an Bürgermeister Hugo Recken mit Datum vom
9. Juni 1942 – also nach fünf Tagen, der Bedeutung
aus nationalsozialistischer Perspektive angemessen
umgehend.
»... ist die staatspolizeiliche Aulage zu erteilen.«
Recken hat sein Ziel, das er mit seinem Schreiben an
die Gestapo-Außendienststelle Krefeld verbunden
hat, erreicht: Im Rahmen der Kompetenzverteilung
die bürokratische Auforderung an Bürgermeister
Hugo Recken, das Ehepaar Gutmann formell als
Ortspolizeibehörde und damit örtliche Gestapo
»eine staatspolizeiliche Aulage zu erteilen«.
Das hat er dann umgehend weisungsgemäß als
Gestapo-Hilfsorgan bürokratisch exekutiert.
Sabine und Julius Gutmann
| 97
Bürgermeister-Schreiben an die Gestapo-Leitstelle Düsseldorf vom 23. Juli 1942
Aktenvermerk der Gestapo-Außendienststelle vom
11. Juli 1941 – in rot
»... die Juden sind demnächst zu evakuieren!«
In rot hat die bürokratische Bedeutung: Umgehende Maßnahme.
»Die Juden« – das Ehepaar Gutmann. Im Gegensatz
zu Recken oben: »der Jude«. Bürgermeister Hugo
Recken formuliert nationalsozialistisch-ideologischer als die Gestapo-Außendienststelle Krefeld.
Die Deportation des Ehepaares Gutmann ist terminiert (s. Deportationsliste S. 104).
Aktenvermerk der Gestapo-Außendienststelle Krefeld am 4. August 1942:
»Das jüdische Ehepaar Gutmann, wohnhat in
Osterath wurde am 24. 7. 1942 nach heresienstadt
evakuiert und dürte die Angelegenheit ihre Erledigung gefunden haben.«
»Evakuiert«, also verschleppt, und damit »erledigt«:
Die euphemistische Feststellung des bürgerlichen
Todes des Ehepaares Gutmann, deren bürokratischer Nicht-Existenz. In Verantwortung von Bürgermeister Hugo Recken, auch durch entsprechende Einträge des Einwohnermeldeamtes Osterath auf
die Einwohnermeldekarten von Sabine und Julius
Gutmann bürokratisch exekutiert.
Herr Regenbrecht hat die Dokumente aus dem Buch
von Dr. Anselm Faust in seinem »Recherchebericht«
abkopiert – kommentarlos. Hat dann Frau Dr. Schupetta instrumentalisiert, um ihr über die Pressemitteilung der Stadt Meerbusch eine Bewertung dessen
98
| Sabine und Julius Gutmann
in den Mund zu legen, was ich nie veröfentlicht
oder vorgetragen habe, dies als »Vorwürfe« gegen
Recken qualiiziert. In Kenntnis der Dokumente –
und ihrer Bedeutung. Wie ist dieses Handeln von
Herrn Regenbrecht – als Archivar und Historiker –
aus ethischer, politischer und archivwissenschat licher sowie geschichtswissenschat licher Perspektive
zu bewerten? Und wo beginnt – strabewährter – Antisemitismus – durch bewusste und gezielte
Quellen- und Informationsunterdrückung?
In der zweiten Gestapo-Akte zu Julius Gutmann –
LAV NRW R, RW 58-9277, Bl. 3 –, von Herrn
Regenbrecht in seinem Recherchebericht »vergessen«, indet sich ein Brief von Bürgermeister Hugo
Recken – zuständigkeitshalber – an die GestapoLeitstelle Düsseldorf datiert auf den 23. Juli 1942
(siehe oben):
Das bedeutet: Bürgermeister Hugo Recken war
vollständig in den Teil-Holocaust von Osterath
direkt und persönlich involviert. Er hatte alle
Informationen zu den Zuständigkeiten inkl. seiner
als Bürgermeister, Ortspolizeibehörde und damit
örtliche Gestapo, war vollständig in den bürokratischen Informationsluss der Holocaust-Umsetzung einbezogen und handelte im Sinne seines
guten Rufs als Bürgermeister; hier auch mit der
Formulierung »Israel«. Und hier konkret, indem
er das Sparbuch von Julius Gutmann, das dieser
ihm persönlich im Bürgermeisteramt hatte aushändigen müssen, der zuständigen Bürokratie zusandte, der Gestapo-Leitstelle Düsseldorf.
Auf Blatt 4 noch der Eintrag des Gestapo-Sachbearbeiters:
»... dem Oberinanzpräsidenten Düsseldorf zu den
bereits abgegebenen Evakuierungsunterlagen nachgesandt.«
Wieder das reibungslose Zusammenagieren der
deutschen Bürokratien im Holocaust. Immer dasselbe fraktale Muster.
Die Kopie des Bürgermeister-Schreibens an die
Gestapo-Leitstelle Düsseldorf ist in den Akten der
Gemeinde Osterath »verloren gegangen«.
Wieder die Worte »evakuieren« und »abgeschoben«. Euphemismen – im Sinne von: Beschönigung,
Verdeckung, bürokratische Zweck-Lüge.
Am 3. September 1945 – nach der Befreiung – teilt
der Osterather Bürgermeister Rudolf Bartels dem
Landrat in Kempen zu »Betrit: Wiedergutmachung Gutmann« u. a. mit (KK 7855):
»Das Sparkassenbuch wurde nach Mitteilung
der Kreissparkasse abgerechnet und ordnungsgemäß dem Landesinanzamt Düsseldorf mit
einem Bestand von 463,14 RM überwiesen.«
In dem bereits mehrfach zitierten Artikel in der
Rheinischen Post am 25. November 1978 berichtete
Sabine Gutmann über ihre Erlebnisse in heresienstadt:
»Als wir in heresienstadt ankamen, wurde ich
aus dem Waggon geprügelt. Mit 35 Frauen hatten wir einen Raum von 16 Quadratmetern.
Viele von unserem Transport starben in der
ersten Nacht. 15 nahmen sich das Leben. Acht
Monate habe ich krank auf einem Bett in der
Ecke gelegen. Einer meiner Brüder und seine Frau waren auch da, sie wurden bald nach
Auschwitz geschat ... Ich habe mir Git besorgt. Man hat es mir abgenommen und ich
musste meinem Mann versprechen, dass ich
mich nicht umbringe.«
Wie das »Leben« des Ehepaars Gutmann im KZ
heresienstadt verlief, wie sie überlebten, dazu
gibt es fast keine Informationen. In den Entschädigungsakten des Ehepaars Gutmann sind wenige
Hinweise zu inden. So, dass Sabine im Juli 1943
zwangsweise sterilisiert wurde, die extrem schlechten Bedingungen zu massiven gesundheitlichen
Folgeerkrankungen führten. Die von den zuständigen Entschädigungsbeamten zunächst generell angezweifelt wurden, weil sie davon ausgingen, dass es
in heresienstadt kein Krankenhaus gegeben habe.
Mit einem Gutachten zu einer eingehenden medi-
zinischen Untersuchung konnte Sabine Gutmann
dann diesen Punkt zur »Zufriedenheit« dieser Beamten klären lassen.
Hans Kaiser formuliert in »Zum Schicksal der Rheinischen Juden 1933 – 1945« (S. 104) zu der Deportation nach heresienstadt am 25. Juli 1942:
»Etwa die Hälte der Deportierten aus Krefeld und dem Landkreis war bereits nach fünf
Monaten tot, davon die meisten im ersten und
zweiten Monat nach der Ankunt; und für viele
andere wurde heresienstadt zum Vorhof für
das Vernichtungslager Auschwitz.«
Siehe Zimmerlisten auf den Seiten 102 – 103.
Raul Hilberg schrieb in »Die Vernichtung der europäischen Juden« zu heresienstadt:
141.184 Zugänge
16.832 Überlebende, also ca. 12 %
Nach der Befreiung durch sowjetische Truppen am
8. Mai 1945 kehrte das Ehepaar Gutmann am 27.
August 1945 nach Osterath zurück, in ihr Heimatdorf. Dazu Sabine Gutmann in dem Artikel in der
Rheinischen Post am 25. November 1978:
»In Osterath haben die Leute gewinkt, als wir ankamen. Ich wog noch 85 Pfund.«
Dem Tod so eben entkommen. Um in Osterath eine
scheinbar veränderte Situation vorzuinden.
Marie-Sophie Aust schreibt (S. 60 f.):
»... auf der kleinen Mauer vor dem Bürgermeisteramt Julius Gutmann und seine Frau mit kleinen
Köferchen saßen und darauf warteten, dass jemand
ihnen weiterhalf. In Gutmanns Haus lebten fremde
Leute und sie wussten zunächst nicht, wohin, bis
ein ehemaliger Klassenkamerad von Julius das Ehepaar in seinem Haus aufnahm.
Sabine Gutmann, die bei ihrer Rückkehr 44 Jahre alt war, überlebte die schwere Zeit der Verfolgung
und Vertreibung. Sie engagierte sich schon bald in
Osterath in der Gemeindepolitik und gehörte zu
den ersten 20 Gemeindevertretern, die 1946 von
der britischen Militärregierung zur Bildung eines
Gemeinderates aufgefordert wurden. Am 6. Februar 1946 trat dieser noch nicht gewählte, sondern
ernannte Gemeinderat erstmals zusammen und
Sabine Gutmann wurde bei dieser ersten Sitzung
zum Mitglied des Arbeits-Ausschusses und des
Entnaziizierungs-Ausschusses gewählt. Sie gehörte
diesen Gremien bis zum Oktober 1946 an, als nach
erfolgten Kommunalwahlen eine neue Gemeindevertretung aus Kandidaten der verschiedenen Parteien ihre Arbeit aufnahm.
Sabine und Julius Gutmann
| 99
Julius Gutmann dagegen erholte sich nie mehr von
den durchlittenen Nöten. Am 14. März 1948 ist er
im Alter von 65 Jahren im Dominikus-Krankenhaus in Düsseldorf-Heerdt gestorben. Er wurde in
Krefeld auf dem Neuen Jüdischen Friedhof an der
Alten Gladbacher Straße begraben.
Einige Jahre nach seinem Tod kehrte Sabine
Gutmann nach Krefeld zurück und verbrachte ihren Lebensabend in ihrer Heimatstadt. Dort starb
sie am 27. Dezember 1986 im Alter von beinahe 86
Jahren. Ihre letzte Ruhestätte fand sie neben ihrem
Mann im Grab Nr. 4 in der ersten Reihe von Feld 2.«
Als das Ehepaar Gutmann nach Osterath zurückkehrte, war die rechte Hand von Bürgermeister
Hugo Recken weiter im Amt. Hugo Recken dann
wieder ab Ende Januar 1946 als Gemeindedirektor. Als das Ehepaar Gutmann im Dezember 1945
von den intriganten Bestrebungen erfuhr, wie 1933
Bürgermeister Rudolf Bartels durch Hugo Recken
ersetzen zu lassen, legten sie beim zuständigen
Landrat in Kempen schrit lich dagegen Protest ein.
Obwohl Sabine Gutmann als Gemeinderatsmitglied
und Mitglied des Entnaziizierungsausschusses politischen Einluss hatte: Der bürokratische Einluss
von Johannes Herbrandt zu Gunsten »seines« alten
Chefs war stärker. In Verbindung mit dem Bürokratennetzwerk – in Person des Oberkreisdirektors. So
weit waren die lokalen Verhältnisse in Osterath und
im Kreis Kempen-Krefeld schon wiederhergestellt.
Diesmal nicht ofen, sondern verdeckt. Wie die gesellschat liche Isolierung des Ehepaars Gutmann,
auch im Kontext von Hugo Recken und Johannes
Herbrandt. Daher ging Sabine Gutmann nach dem
Tod von Julius Gutmann in ihre Heimatstadt Krefeld zurück.
Schreiben des Oberkreisdirektors am 10. Januar
1946 an den Regierungspräsidenten (KK 1023 Bl.
206):
»Ich bin nach eingehender Nachprüfung der von
den Eheleuten Gutmann gegen den Bürgermeister
Recken erhobenen Vorwürfe eingetreten und zu der
Aufassung gekommen, dass sie zu Unrecht erhoben
werden. Anliegend füge ich die Berichte des Gemeindeinspektors Herbrandt und des Gemeinderentmeisters Narsawa, desgleichen eine eingehende
Stellungnahme des Bürgermeisters Recken zur gel.
Kenntnisnahme bei.
Ich habe den Eindruck, dass weniger die Eheleute Gutmann Veranlassung zu der Beschwerde geben,
sondern der vom Amt suspendierte Bürgermeister
Bartels und der mit der Verwaltung der Gemeinde
beaut ragte K. Bürgermeister Wienands: Wie mir
mitgeteilt wird, sollen diese die Eheleute Gutmann
mit einem Krat wagen nach Düsseldorf gefahren
haben.
100
| Sabine und Julius Gutmann
Da die gegen Bürgermeister Recken erhobenen Beschuldigungen sich als haltlos erweisen, bitte ich die
Beschwerde der Eheleute Gutmann abzulehnen. In
diesem Zusammenhang dürte Sie interesseieren,
dass der Bürgermeister Recken nach eingehender
Prüfung seiner Person von der Militärregierung als
Gemeindedirektor wieder zugelassen worden ist.
Ob allerdings Recken für die Verwaltung des Amtes
Osterath bestellt worden ist, steht noch nicht fest.«
Dasselbe Muster wie in der aktuellen bürokratischen Vorgehensweise: ein Spinnennetz interessengeleiteter bürokratischer Zweck-Lügen. Hier
verwaltungsintern, so dass die Opfer, das Ehepaar
Gutmann, keine Chance haben. Und gleichzeitig
werden Rudolf Bartels und Anton Wienands direkt
bürokratisch efektiv miterledigt. Dass das Ergebnis von vornherein vorgegeben ist, indet seinen
Ausdruck in der mehrfachen Formulierung »Bürgermeister Recken« – nicht ehemaliger oder suspendierter, sondern ohne jeden Zusatz, also ohne
Einschränkung. In der Bürokratensprache teilt der
Oberkreisdirektor seinem vorgesetzten Regierungspräsidenten mit: Unser Bürokraten-Netzwerk ist
wieder weiter konsolidiert, die Fremdkörper werden exekutiert. Unter Instrumentalisierung des
Ehepaares Gutmann, das sich – von Hörensagen
aber als Tatsache hingestellt – habe von Bartels und
Wienands benutzen lassen. Wenn sie – warum zu
zweit? – das Ehepaar Gutmann mit einem PKW
nach Düsseldorf gefahren haben sollten: Dann wird
aus einem Akt der Freundlichkeit eine Intrige konstruiert, die Realität also bürokratisch auf den Kopf
gestellt.
Lesen Sie »Die Debatte 2012« – ein Déjà-vu bzw. ein
Fraktal. Nichts hat sich geändert.
»Der Täter passt nicht zu den Untertanen. Das
Ungeheuerliche wird von sehr durchschnittlichen,
schwachen, unbedeutenden Männern begangen ...
Nicht anders sind ihre bürokratischen Kollegen, die
in den Büros sitzen und ihre Opfer mit Methoden
quälen, die zwar geringere körperliche Schmerzen
hervorrufen, aber nicht weniger wirksam sind. Dieser Sadismus ist überall pedantisch und roh und die
Qualen der Opfer werden damit ins Unerträgliche
gesteigert.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S.83.
LAV NRW R, BR 2080 Nr. 675
Akte des Oberversicherungsamts Düsseldorf zu
Sabine Gutmann:
Julius Gutmann starb am 14. März 1948 in einem
Krankenhaus. Er war dort einige Tage zuvor eingeliefert worden. Diagnostiziert wurde eine Kombination von Herzschwäche, Leberschwellung, hochgradiger Erregung und akutem Verwirrungszustand.
Die Spruchkammer des Oberversicherungsamtes
Düsseldorf entschied am 2. September 1953, also
etwa fünfeinhalb Jahre nach dem Tod von Julius
Gutmann, mit Urteil (Bl. 7/8):
»Es ist sicher, dass der Ehemann der Klägerin
ohne die erlittene Verfolgung mindestens 1 Jahr
länger gelebt hätte, die Verfolgung also ursächlich
für den Tod anzusehen ist.«
»Kurz nach seiner Aufnahme sei er unruhig und
verwirrt worden, habe KZ-Wachen gesehen und geglaubt, er würde jeden Augenblick wieder abgeholt.«
Die Ursache des posttraumatischen Belastungssyndroms von Julius Gutmann war ein »Hausbesuch«
von Johannes Herbrandt in seiner schwarzen SAUniform kurz vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus. Für Julius Gutmann war so Deutschland
weiter ein großes ofenes Konzentrationslager. Aus
ärztlicher Perspektive konnte es sich dabei nur um
Halluzinationen eines Verwirrten handeln. Wie
dann fünf Jahre später für die Richter am Oberversicherungsamt Düsseldorf.
Was die entscheidenden Menschen nicht im Fokus
haben konnten, weil es außerhalb ihrer bürokratisch limitierten Wahrnehmung lag:
Welchen gravierenden Einluss auf das mutwillig verkürzte Leben von Julius Gutmann die mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für
ihn traumatischen Deja-Vu-Erlebnisse mit seinem
NS-Peiniger Hugo Recken und dessen Symbionten
Johannes Herbrandt hatten, so wie ich es in diesem
Buch konkret beschreibe.
Es gibt auch einen durch bürokratische strukturelle Gewalt – fahrlässig / mutwillig – herbeigeführten sozialen Tod. Und es sind immer Menschen, deren konkretes, persönlich zurechenbares Handeln
Menschen so massiv betrefen kann. Im Kontext
des Terminus Mobbing mit zunehmend deutlicheren juristischen Konsequenzen. Was 1945 bis 1948
noch nicht justiziabel war, das war unethisch – und
unchristlich.
Wie die verdeckte bürokratische strukturelle
Gewalt durch Bürgermeister Hugo Recken nachträglich legitimiert wurde, wird aus einer Eidesstattlichen Erklärung von Frau Polakowski vom
14. Juli 1949 deutlich, die wir im Bestand Osterath
III 1997 inden und die sicher mitverantwortlich für
die lange Dauer des Verfahrens war:
»Zu dem Judenfalle Gutmann gebe ich nachstehende Erklärung ab:
Ich bin längere Zeit Mieter bei der jüdischen Familie Gutmann in Osterath, Neusserstr. 8 gewesen und
habe dort zur Zeit des Judenpogroms gewohnt. Die
Verhatung des Julius Gutmann und den Überfall
auf die Wohnung habe ich miterlebt. In der eigent-
Karteikarte Theresienstadt Sabine Gutmann
Karteikarte Theresienstadt Julius Gutmann
lichen Pogromnacht vom 9.–10. November, in der
sonst überall etwas passierte, ist bei Gutmann und
den anderen Juden in Osterath nichts vorgefallen.
Am Morgen des 10. November ist Herr Gutmann
vormittags spätestens zwischen 9 ½–10 Uhr verhatet worden. Ich entsinne mich dieser Zeit genau
und irre nicht. Ob Gemeindepolizei oder Gendarmerie die Verhatung vorgenommen haben, kann
ich nicht sagen. Gegen elf ½ Uhr des gleichen Tages
kam die Berta Gutmann, Schwester des Inhat ierten, zu mir und sagte, dass Bürgermeister Recken
alle Erleichterungen zugesagt habe. Die Männer
säßen bereits im Keller-Vorraum und es könnten
Verplegung, Decken, Kissen und anderes herüber
gebracht werden. Dann kam es in der folgenden
Nacht vom 10. zum 11. November 1938 in den frühen Morgenstunden zwischen 3 und 4 Uhr zu dem
Überfall durch fremde S.A. Ich bezeuge insbesondere, dass mir Berta Gutmann, wenn sie auf ihr Leid
zu sprechen kam, mehrfach betont hat, dass Bürgermeister Recken ein guter Mensch sei, der auch
Sabine und Julius Gutmann
| 101
ihnen, den Juden, gut sei. Ich entsinne mich dabei
des Vorfalls, als einmal Herr Recken draußen am
Fenster vorbeiging, Berta Gutmann dies wiederum
bestätigte.«
Das ist so dick aufgetragen, dass es heute schon
fast satirisch wirkt. Als es geschrieben wurde, war es
extrem pervers. Eine Ermordete so zu instrumentalisieren. Gegen deren bereits auch toten Bruder und
dessen Ehefrau, auch Opfer des NS-Rassewahns.
Verbrämter Antisemitismus. Im Interesse von Hugo
Recken. Weil Sabine Gutmann sich nicht bürokratisch von Recken abschrecken ließ und um ihr gutes
Recht im Rahmen des Entschädigungsverfahrens
kämpte. Also das Fraktal der für den Adressaten
nicht veriizierbaren, weil intransparenten büro-
»Hier ist begraben (hebräisch)
Julius Gutmann
9. 2. 1883 – 14. 3. 1948
Seine Seele sei eingebunden in das (hebräisch)
Bündel des Lebens (hebräisch)
Im Gedenken
An die lieben Geschwister
Carl, Siegfried, Berta,
Emmi, Else,
Henny, Hanna, Josef,
Max, Siegmund.
Ermordet in Auschwitz u. Riga.«
Der Text des Grabsteins von Julius Gutmann,
www.steinheim-institut.de
102
| Sabine und Julius Gutmann
kratischen Zweck-Lügen. Bürokratie agiert i. d. R.
nicht-öfentlich, bzw. lässt nicht-öfentlich agieren.
Wie aktuell im Kontext des Ältestenrats des Rates
der Stadt Meerbusch in Verantwortung von Bürgermeister Spindler. Dessen Konsequenz eine Verhöhnung der Osterather Opfer des nationalsozialistischen Rassewahns ist, dies in Verantwortung vom
im Kontext auch antisemitisch-initiativen Bürgermeister Recken. Wo beginnt Antisemitismus?
Fast alle Familienangehörigen von Sabine und Julius Gutmann sind von den Nationalsozialisten und
ihren Mit-Tätern ermordet worden. »Viele verlorene
Stimmen und Leben«, so Elie Wiesel. Darum kehrte Julius Gutmann »geschlagen an Leib und Leben«
(Aust S. 60) zurück. »Sehr still in sich gekehrt, auf
Fragen nur in sich hineinschweigend. Ein Überlebender.« (Aust S. 51) Die Summe der physischen und
psychischen Folgen von Verfolgung – insbesondere
ganz persönlich von Bürgermeister Hugo Recken
durch dessen antisemitischen bürokratischen Terror auch von Angesicht zu Angesicht – und KZAufenthalt bedingten das, was heute als posttraumatische Belastungsstörung deiniert wird und das
Sterben von Julius Gutmann massiv beschleunigte. Dass derselbe Mensch und dessen rechte Hand
Johannes Herbrandt dann wieder massiv Einluss
auf das Leben von ihm und seiner Frau nahmen und
sie trotz schrit licher Intenvention organisiert ignoriert wurden, wie oben dokumentiert, das wird für
seinen physischen und psychischen Gesundheitszustand auch nicht folgenlos geblieben sein.
wird Julius Goldschmidt vom NS-Kollegen von
Recken genötigt, sich mit einer »Frist von einer
Woche« zum Verkauf von Grundstücken zu entscheiden, deklariert als »Ausgleichsgrundstücke
für den sozialen Wohnungsbau«. Was dem einen
»sein« jüdischer Friedhof für eine Kinderreichensiedlung, ist dem anderen »sozialer Wohnungsbau«
auf dem Grund eines Menschen jüdischen Glaubens. Und das bürokratische »Spiel« mit Zeit und
Schein-Legitimation. Wie Julius Gutmann wird
Julius Goldschmidt Schritt für Schritt die ökonomische Grundlage zielgerichtet entzogen, im Sinne der
»nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik«. Wie
Julius Gutmann muss er in ein »Judenhaus« umziehen, mit allen damit verbundenen Konsequenzen.
Zimmerlisten Ghetto Theresienstadt 29. April 1945 –
Sabine und Julius Gutmann
Auf dem Bürgersteig vor dem elterlichen Haus von
Julius Gutmann, Kaarster Str. 8, erinnert heute ein
Stolpersein an ihn, seine Frau Sabine und seine
Schwester Berta.
Ein Gutmann hat überlebt: Kurt, am 18. Februar
1927 in Krefeld geboren, weil es der Mutter von
Kurt gelang, ihn in einem Kindertransport nach
Großbritannien zu bringen. Wo er sich nach Erreichen des Mindestalters zur britischen Armee freiwillig meldete und bis zu seiner Entlassung 1948
Dienst tat. Seitdem lebt er in Deutschland und war
Dolmetscher und Redakteur. Er hat einen Sohn –
und Enkel. Ein Same bleibt immer. Kurt Gutmann
ist heute Vorsitzender des Verbandes Deutscher in
der Resistance, in den Streitkräten der Anti-Hitlerkoalition und der Bewegung »Freies Deutschland«
e. V. DRAFD.
Das reale Fraktal von Julius Gutmann und seinem
Peiniger Hugo Recken:
Ulrich Oppermann beschreibt in »›Es kann hier
keinerlei Rücksichten geben.‹ Enteignung und Deportation am Beispiel einer kleinstädtischen Familie« das Schicksal von Julius Goldschmidt, Jahrgang
1871, wie Julius Gutmann Metzgermeister, er in
Berleburg.
So, wie Julius Gutmann von Hugo Recken genötigt wurde, das elterliche Haus zu verkaufen, so
Wie Julius Gutmann wird Julius Goldschmidt am
27. Juli 1942 nach heresienstadt deportiert. Enteignet wird er auf Grundlage des »Gesetzes über die
Einziehung kommunistischen Vermögens vom 16.
Mai 1933 ... in Verbindung mit dem Gesetz über die
Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens vom 14. Juli 1933«. Die äußerliche bürokratische Legitimation dieses Unrechts.
Von den 21 Familienangehörigen von Julius
Goldschmidt werden 13 deportiert, nur er überlebt.
Wie Julius Gutmann kehrt er Mitte 1945 in sein
Heimatdorf zurück.
»Auf Goldschmidts Rückgabeverlangen ging die
Stadtverwaltung monatelang trotz Mahnung
erst gar nicht ein, kassierte aber weiterhin wie
selbstverständlich die Pacht. Sie lehnte jede
Rückerstattung ab. Es sei alles rechtmässig gewesen.«
Opfermann. S. 96.
So brachte die Stadtverwaltung von Berleburg bürokratisch zum Ausdruck, dass das Überleben von
Julius Goldschmidt ein nicht vorgesehener Betriebsunfall war. Wie der von Julius Gutmann für
Hugo Recken, der ebenso mit bürokratischer struktureller Gewalt gegen ihn agierte.
Das reale Fraktal zu Osterath nach der Befreiung am 1. März 1945 durch US-amerikanische
Einheiten:
»Die mehrheitsgesellschat liche Wahrnehmung
unterschied auch nach dem Ende des Nationalsozialismus auf bemerkenswerte Weise zwischen
den Handlungsträgern der Verfolgung und deren
Opfern. Während die familiären und berulichen
Jubiläen des Berleburger Zahnarztes Dr. Otto Nölke, Altparteigenosse, SS-Mitglied und 1949 wegen
Beteiligung an der Synagogenbrandstituung verurteilt, jeweils ausführliche und freundliche bis herzliche Erwähnung in der Lokalpresse fanden, musste
Sabine und Julius Gutmann
| 103
Julius Goldschmidt neunzig werden, um diese Form
der Anerkennung zu erfahren. In einer 1 ½ ZeilenNotiz aus Anlass seines Geburtstages einige Jahre
zuvor hatte man sich ohne nähere Begründung
gewundert, dass er so ›aufallend rüstig‹ sei. Als
Goldschmidt 1962 starb, war dies der lokalen Presse keine Meldung wert. Eine Woche nach ihm starb
Karl Heinrich Schneider, jener Parteigenosse und
ehemalige geschätsführende Bürgermeister, der es
sich nicht hatte entgehen lassen, das Hab und Gut
der deportierten Juden und angeblichen Zigeuner
persönlich öfentlich zu versteigern. Wegen Beteiligung an der Deportation der letzteren war er 1949
verurteilt worden. Nach dem Ende des Nationalsozialismus weitete dieser Mann in den besten Jahren
seine wirtschat lichen und gesellschat lichen Aktivitäten krät ig aus. Entsprechend umfangreich iel
der seine vielen Verdienste aufzählende Nachruf
aus. Nölke und Schneider hatten wie viele andere
vor wie nach 1945 geachtete Positionen in der Mitte
der kleinstädtischen Gesellschat inne, während Julius Goldschmidt an deren Rand blieb und froh sein
konnte, überlebt zu haben.« Opfermann. S. 97.
Da ist am Ende ein kleiner Unterschied. Weil
Julius Gutmann – gemeinsam mit seiner Frau Sabine – das Wirken der Symbiose Recken / Herbrandt
nicht still und schweigend hinnahm, nicht in der
ihm zugewiesenen Opferrolle blieb, sondern gegen
seine NS-Peiniger Recken und Herbrand direkt
aktiv wurde, hat das damit verbundene Handeln
seines NS-Peinigers Recken sein Leben in der
neuen Volksgemeinschat verkürzt, wie per Urteil
festgestellt.
ITS Arolsen: Blatt aus der Deportationsliste – Sabine und Julius Gutmann
104
| Sabine und Julius Gutmann
Nach dem Militärregierungsgesetz Nr. 59 vom
10. November 1947 wurde das Entschädigungsverfahren für Arisierungen geregelt. Die Umsetzung
lag bei der deutschen Bürokratie.
Das über zahlreiche Akten verteilte Entschädigungsverfahren von Sabine Gutmann ist ein Fraktal aller Entschädigungsverfahren der Menschen
aus Osterath, die ich alle durchgearbeitet habe. Das
Muster: Verfahrenszeit über viele Jahre, die bürokratische Zeit-Politik zu Lasten der Opfer. Alle
Angaben werden von zuständigen deutschen Bürokraten im Rahmen ihres Ermessens erst einmal
angezweifelt. Müssen im Detail dokumentiert und
nachgewiesen werden. Was unter den konkreten
Bedingungen nach Deportation, Enteignung und
Verlust aller beweglicher Güter inkl. Dokumenten
nicht möglich sein kann. Es waren also bewusste
bürokratische Schikanen, um das Recht formell,
aber nicht dem Sinn nach zu erfüllen. Im doppelten
Wortsinn verantwortungslos exekutiert. Die Opfer
wurden erneut bürokratisch zu Opfern gemacht.
Im Gegensatz zu z. B. den Pensionansprüchen von
verurteilten NS-Mördern, bei denen im Gegensatz
z. B. zu Beteiligten am 20. Juli 1944 nicht festgestellt
wurde, dass verurteilte Beamte bzw. deren Nachkommen keinen Pensionsanspruch mehr haben.
Die gelernte staatsformunabhängige bürokratische Willkür, mit ihren hintergründigen ideologischen braunen Färbungen, schein-sachlich exekutiert. Der bürokratische Kleinkrieg gegen die Opfer
– von Mit-Tätern. Wie denen bei der Oberinanzdi-
rektion Düsseldorf: Erst zentral für die Arisierungen zuständig, dann für die Entschädigungen – im
Sinne von Abwehr möglichst aller Ansprüche. Was
dieselben Beamten einmal vereinnahmt haben, das
wollen sie nicht mehr rücktransferieren. Denn das
ist das Eingeständnis ihres persönlichen Unrechts.
War es Zufall, dass die Zuständigkeiten so extrem unsachlich organisiert wurden? Dies widerspräche der speziisch deutschen Bürokratie-Kultur
diametral.
Das immer wiederkehrende Muster der Arisierungs-Proiteure auch in Osterath: Die Behauptung,
z. B. ein Haus sei in einem sehr schlechten Zustand
übernommen worden, die Investitionen müssten
auf Basis des Verkehrswertes gegengerechnet werden – die Proiteure rechnerisch im Einzelfall dann
Zahlungen der Opfer erhalten – wofür dann »Zeugen« angeführt werden, die bei amtlicher konkreter
Befragung keine Angaben zum Zustand des Hauses
bei »Arisierung« machen können oder wollen, um
keinen Meineid zu leisten. Ein guter Opfer-Anwalt
leitet dem zuständigen Gericht eine Zeitungsanzeige der Proiteure weiter, in dem das Haus mit Angaben angeboten wird, die im krassen Gegensatz zur
Behauptung des schlechten Zustandes bei Übernahme stehen. Wie gelernt wird gelogen, manipuliert und betrogen. Die Täter geben sich als Opfer,
die sich nur so gegen ungerechte Ansprüche wehren
können. »Der Jude« will ihnen schon wieder an ihr
Eigentum.
Sabine Gutmann in einem Entschädigungs-Formblatt:
»Verkauf Februar 1939 zur Bezahlung von Steuern
und Kontributionen sowie zur Finanzierung einer
eventuellen Auswanderung.«
Steuern = Gemeindesteuern
Kontributionen = »Sühnezahlung« nach der Reichskristallnacht 1938
Da sie schein-gesetzlich keinen Zugrif auf das
Bankkonto hatten, konnten sie keine Auswanderung organisieren.
»... von den Erwerbern in bar überwiesener Kaufpreis von RM 5.000 ganz oder teilweise zur freien
Verfügung erhalten hätte.«
Ein immer wiederkehrendes gern verwandtes
Schein-Argument: Die jüdischen Veräußerer hätten
einen Teilbetrag zur freien Verfügung gezahlt. Gute
Opfer-Anwälte wiesen dann nach, dass gesetzlich
gar nicht möglich war, dass Juden über ihre Konten
verfügen konnten. Und womit Täter und ihre Anwälte ofensichtlich nicht rechneten: Dass die Bank
wie im Fall Gutmann dem zuständigen Gericht eine
vollständige Kontenaufstellung zukommen lassen
konnte, aus der unzweideutig hervorging, dass eine
behauptetet Zahlung dort nie eingegangen ist. Die
alliierten Bomben haben nicht das getrofen, was
gewünscht war. Und die Bankangestellten ließen
keine Unterlagen »verschwinden«.
»... hier vorliegenden Unterlagen des Oberinanzpräsidenten Düsseldorf (Devisenstelle) vom
6. 11. 1939 nicht mehr frei über ihre Konten verfügen konnten.«
»Kuhaupt übergaben wir zur Aubewahrung bei
der Deportation ... Nichts davon erhielten wir
zurück.«
Deutsche – arische – Freunde in der Not.
»... meinem Bevollmächtigen Herrn Bartels ...«
Recken und Herbrandt waren keine Bartels-Freunde, so wurden sie noch mehr Feinde.
»... das Gesetz nur auf feststellbare konkrete Vermögensgegenstände bezieht ... .«
Was nicht mehr persönlich greibar ist oder wie
ein Haus materiell existiert, ist nach dieser bürokratischen Rechts-Auslegung von der Entschädigung
ausgeschlossen. Also fast alles. Gegen den Sinn des
Gesetzes.
Wenn dann alles nichts mehr gegen berechtigte Ansprüche half, dann wurde das Erbrecht
instrumentalisiert. Im Fall Gutmann mit der Behauptung, das Haus sei auf den Vater von Julius
Gutmann – Moses – eingetragen, der 1933 verstarb,
und Sabine Gutmann habe keinen Erbschein von
Moses Gutmann. An dieser Stelle trat dann – wie
in sehr vielen anderen Fällen – der auch für solche
Rechtsmissbrauchs-Fälle gegründete »Jewish Trust
Corporation for Germany« mit seinem »Regional
Oice« in Mülheim/Ruhr in Aktion, um berechtigte Ansprüche durchzusetzen. In vielen Fällen mit
Erfolg, ot im Form eines Vergleichs. Auf den sich
die Proiteure dann einließen, aus Angst, ansonsten
voll zahlen zu müssen.
Die Direktorin des Amtsgerichts Neuss, Frau
Gerats, bewegt sich im Rahmen ihrer rechtlichen
und bürokratischen Vorgaben. Im diesem Rahmen
schreibt sie mir mit Datum vom 12. Juli 2012:
»Zu Ihrer Frage, ob das Eigentum von Herrn Julius Gutmann auf die Gemeinde oder auf eine private Person gewechselt hat, kann ich Ihnen mitteilen,
dass eine Privatperson Eigentümer nach Julius Gutmann geworden ist.«
Ein auf den ersten Blick im Zeitkontext nicht
auf älliger Satz. Was macht diesen Satz so ganz besonders?
Das Landgericht Krefeld als zuständiges Restritutonsgericht für Julius Gutmann, seine Frau
Sabine und seine Schwester Berta hatte nach dem
Tod von Berta Gutmann und von Julius Gutmann
Erbansprüche und damit Restritutionsansprüche
Sabine und Julius Gutmann
| 105
mit dem Hinweis abgewehrt, im Grundbuch sei der
Vater von Julius Gutmann, Moses, eingetragen und
Sabine Gutmann müsse einen entsprechenden Erbschein vorlegen, um ihre Ansprüche zu dokumentieren. Was sie nicht konnte, da es diesen Erbschein
nicht geben konnte. Weil Julius Gutmann nach dem
Tod seines Vaters 1933 im Grundbuch eingetragen
war, Sabine als seine Frau Erbin von Julius war, wie
auch von Berta.
Was bedeutet das juristisch? Der entscheidende Richter am Landgericht Krefeld hat die Delikte
Urkundenfälschung und Urkundenunterdrückung
begangen, also zwei Strataten. Wo kein Kläger, dort
kein Richter. Insbesondere über einen kriminellen
Richter.
Beim Bundesamt für zentrale Dienste und ofene
Vermögensfragen in Berlin liegen Akten zu Berta
Gutmann, Valentin Davids, Margarete Königsthal,
Bernhard Abrahams, Carola Lucas sowie Selma
und Gustav Kiefer. Was bedeutet das grundsätzlich? Dass es zu diesen Menschen jüdischen Glaubens aus Osterath, die von Nationalsozialisten wie
Hugo Recken und ihren bürokratischen Mit-Tätern
verschleppt und ermordet wurden, bis heute 2012
ofene Vermögensfragen gibt.
In der Akte zu Berta Gutmann ist formell amtlich
festgehalten:
»I Sabine Gutmann
II a)Julius Gutmann (Ehemann von I)
b) Berta Gutmann (Schwester von Julius G.)
III Moses Gutmann (Erben: II a + b)«
Sabine Gutmann hat u. a. von »arischen Freunden«
zur Aubewahrung gegebene Gegenstände zurückgefordert. »... diese Gegenstände seien beim Einmarsch der Amerikaner abhanden gekommen. Hierüber hat das Amt die Ehefrau des Antragsgegners
als Zeugin gehört ... glaubhate Aussage der Zeugin
Kuhaupt.« Die gelernte juristische Sophistik zu Lasten eines Opfers – einer Jüdin. »Rauchen ist nicht
gesundheitsschädlich. gez. Dr. Marlboro«
Zu dem gern zur Abwehr von Restritutionsansprüchen genutzten Schein-Argument, Opfer hätten
über ihr Vermögen frei verfügen können: »Unsere
Ermittlungen haben inzwischen ergeben, dass das
Sparkonto des verfolgten Metzgermeisters Julius
Gutmann bei der Kreissparkasse Osterath Nr. 3545
auf Anweisung des Oberinanzpräsidenten Düsseldorf vom 10. 11. 1939 gesperrt wurde und der Ver-
106
| Sabine und Julius Gutmann
folgte lediglich einen monatlichen Freibetrag in
Höhe von RM 100,-- abheben durte.« Das galt generell. Wie so viele andere Begrife hat der »Freibetrag« hier eine neue entrechtende und enteignende
Bedeutung erhalten.
Constantin Goschler schreibt in der Web-Ressource »Die öfentliche Auseinandersetzung um die
Rückerstattung jüdischen Eigentums nach 1945
und 1990«:
»Die Auseinandersetzung um die Rückerstattung geraubten jüdischen Eigentums ... eignet sich
besonders dazu, um grundlegende Einstellungen
in der deutschen Öfentlichkeit gegenüber der Judenverfolgung zu untersuchen. ... basierte diese
Aufassung auf der Vorstellung der prinzipiellen
Kontinuität der bürgerlichen Rechtsordnung in
Deutschland vor und nach 1945, die während des
›Dritten Reiches‹ lediglich punktuell durch Staat
und Partei durchbrochen worden sei ... In dieser
vielstimmigen Kritik dominierte ein Bild der Judenverfolgung, wonach die Verantwortung beim
Staat bzw. nationalsozialistischen Parteigliederungen gelegen habe, während der deutschen Gesellschat keine lediglich passive Rolle zugesprochen
wurde ... jene heimliche oder ofene Obstruktion,
die das Handeln westdeutscher Verwaltungen und
Gerichte in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende ot mals geprägt haben ... Hier spielen symbolische Aspekte eine wesentliche Rolle: Die Auseinandersetzung um das jüdische Eigentum erinnert die
Europäer daran, dass das Projekt der europäischen
Integration auf eine Geschichte der Verfolgung und
Verwüstung reagiert. War die schöne phönizische
Königstochter Europa in der Mythologie nach ein
Objekt des Raubs, so muss sich das politische Europa heute damit auseinandersetzen, inwieweit es sich
als gemeinsames Subjekt unter anderem auch durch
den Raub des jüdischen Eigentums und den gewaltsamen Ausschluss der Juden konstituierte. Zukunt
und Vergangenheit Deutschlands und Europas liegen deshalb bei diesem hema eng beieinander.«
Arisierung, Rückerstattung und – wie im Folgenden dargestellt wird – Entnaziizierung inklusive
deren juristischer Begleitung stehen in einem unmittelbaren untrennbaren Zusammenhang. Der
bürokratischen Perfektion der Arisierung steht
die bürokratische Perfektion bei der organisierten
Nicht-Realisierung von Rückerstattung und Entnaziizierung gegenüber. Mit ihren gesellschat lichkulturell-politischen Konsequenzen bis heute. Wie
der pathologischen Recken-Legende.
2. Familie Cervelli: »Halbjuden« und ihre »arischen« Familien
trifft das »Recht« und Bürgermeister Hugo Recken – fast – gleichermaßen wie »Volljuden«
Paul Cervelli, geboren am 2. Juli 1906 in Viersen,
war nach den ideologischen Kriterien der Nationalsozialisten »Halbjude« – seine Mutter war getaute
Jüdin, sein Vater »Arier«. Seine Frau war »Arierin«,
ihr Sohn Helmut »Vierteljude«. Die Familie wohnte Krefelder Str. 11. Heute gedenkt auf dem Gehweg
vor dem Haus ein Stolperstein Paul Cervelli.
Er war von den Maßnahmen zur Ausschaltung
der als Juden deinierten Menschen aus dem Wirtschatsleben betrofen. 1937 setzte sich die Gestapo
mit ihm auseinander, weil er an einer Volksabstimmung teilgenommen hat. Seine Frau wurde erst in
die NS-Frauenschat genötigt. Als bekannt wurde,
dass ihr Mann »Halbjude« ist, wurde sie ausgeschlossen. So ging es dem Sohn Paul mit der HJ:
Erst reingenötigt, dann rausgeworfen.
Die NSV – Nationalsozialistische Volkswohlfahrt –
hatte größte Teile der staatlichen und kommunalen
Sozialleistungen übernommen, inklusive der dann
»Winterhilfswerk« genannten Unterstützungen. Familie Cervelli war von allen Unterstützungen ausgeschlossen, weil Paul Cervelli »Halbjude« war.
Frau Cervelli hat mir 1984 berichtet, dass die Familie von Menschen aus Osterath unterstützt wurde.
Und dass sich ihr Mann wegen der antisemitischen
Maßnahmen in Osterath, also in Verantwortung
von Bürgermeister Hugo Recken, das Leben nehmen wollte.
1939 wurde Paul Cervelli zur Wehrmacht eingezogen, blieb bis November 1942 Soldat – und damit
unbehelligt, wie seine Familie. Dann wurde Frau
Cervelli vom Gemeindebeamten Herbrandt ins
Rathaus einbestellt. Ihr Mann sei nicht arischer Abstammung. Die Gemeindeverwaltungsspitze hatte
also intensiv recherchiert, wer der Judenreinheit
von Osterath noch im Wege stünde. Bürgermeister Hugo Recken teilte dieses Ergebnis der Einheit
von Paul Cervelli mit, der dann umgehend aus der
Armee entlassen wurde und seine Uniform abgeben
musste.
Am 17. August 1944 kam der Dorfpolizist Ide im
Aut rag von Bürgermeister Hugo Recken in das
Haus Cervelli, und erkundigte sich nach dem Verbleib von Paul Cervelli. Er sei bei Dröge ein Bier
trinken. Zurückgekehrt musste Paul Cervelli so-
fort 30 Pfund Gepäck und für drei Tage Verplegung einpacken, um dem Dorfpolizisten Ide ins
Rathaus und dort ins Polizeigefängnis – eine Zelle
im Keller – zu folgen. »Wir nehmen ihren Mann in
Schutzhat, damit ihm nichts passiert.« Was verstanden die nationalsozialistischen Bürokraten unter »Schutzhat«? »Volksgemeinschatsfremde« zu
verhaten, dann endzulösen. Paul Cervelli wurde
zum Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf transportiert. Kam von dort nach einigen Stunden zurück: Es habe sich um einen Irrtum des Landrats in
Kempen gehandelt.
Nach den Erinnerungen von Helmut Cervelli wurde sein Vater Sonntag morgens verhatet, war mittags zurück: weil er getaut sei.
Der Vater habe in Krefeld, wohin er nach der
Verhatung gebracht worden sei, noch seine verhate Mutter gesehen. Die nach Berlin-Moabit verschleppt worden sei, wo sie von den Russen befreit
wurde.
Am selben Tag nach der Rückkehr hätte die Familie Nachmittags den Dorfpolizisten Ide getrofen,
NSDAP-Mitglied: »Wie, Sie sind noch hier? Da haben Sie aber noch einmal Glück gehabt.« Dieser Satz
spricht für das umfassende Wissen eines Dorfpolizisten über die Verfolgungsmaßnahmen.
An Ide hat Helmut Cervelli eine weitere Erinnerung: Solange er in das Jungsvolk gezwungen wurde
und nicht hinging, wurde er von diesem abgeholt.
»Recken hatte immer das NSDAP-Parteiabzeichen am Jackett.«
Die Familie Recken wohnte gegenüber etwa 50 Meter Lut linie zur Familie Cervelli im Rathaus.
Helmut Cervelli und der Recken-Sohn kannten sich
gut. Drauf komme ich später zurück.
Aus Paul Cervellis Familie sind etwa 40 Menschen
von den Nationalsozialisten und ihren Mit-Tätern
ermordet worden.
Nach der Befreiung durch US-amerikanische Einheiten wollten viele (Ex-)Nationalsozialisten von
Helmut Cervelli, Mitglied des Osterather Entnaziizierungsausschusses, »Persilscheine« für die Entnaziizierung, auch wenn er sie nicht kannte. Wie der
Ortsgruppenleiter Dohmen und der Lehrer Weiß.
Familie Cervelli
| 107
Schriftliche Erklärung
Hugo Recken schrieb im Kontext seines Entnaziizierungsverfahrens von »Verhatung durch die Gestapo«. Die reale Bedeutung dieses Recken-Satzes:
Der im Aut rag von Bürgermeister Hugo Recken
handelnde Dorfpolizist Ide hatte als Legitimation
seinen Dienstvorgesetzten auch als örtliche Polizeibehörde – und damit örtliche Gestapo. Recken
spekulierte darauf, dass diese Verquickung nicht
bekannt sei. Heute ist sie – seit langem – bekannt,
wird aber im Kontext der Recken-Legende im Auftrag von Bürgermeister Dieter Spindler apologetisch verleugnet, ihr sogar in seinem Autrag vom
Stadtarchivar Regenbrecht die Geschichtswissenschat lichkeit abgesprochen. Ein Bürgermeister,
von Hause aus Jurist, maßt sich an zu bestimmen,
was geschichtswissenschat lich sei. Der Anspruch
auf Deinitionsmacht ist Ausdruck von Diktaturen
aller Couleur.
Aus der Entschädigungsakte von Paul Cervelli
geht hervor, dass die zuständigen deutschen Bürokraten entschieden, dass es bei ihm und seiner
Familie nichts zu entschädigen gäbe.
Für diese Einschätzung war ein Schreiben von
Gemeindedirektor Hugo Recken an die Kreisverwaltung vom 22. Juli 1952 maßgeblich (Bestand
Osterath III 1997):
108
| Familie Cervelli
»Es trit zu, dass Cervelli in Osterath ein
Friseurgeschät hatte. Nach Bekanntwerden
seiner Abstammung war es Parteimitgliedern
untersagt, mit C. in geschät liche Verbindung
zu treten. Diese feindliche Einstellung weiter
Kreise führte sicherlich zu einem geschät lichen Rückgange. Wie hoch sich der wirtschatliche Schaden bezifert, kann von hier aus
nicht angegeben werden, da Unterlagen darüber
nicht vorliegen und Vergleiche nicht möglich
sind. Vielleicht kann das Finanzamt in Krefeld
einen Überblick geben über die Einkommensentwicklung des Geschäts Cervelli. Mir ist bekannt, dass C. von der Polizei verschiedentlich
vernommen worden ist. Wie diese Vernehmungen durchgeführt wurden und ob es zu den geschilderten Übergrifen gekommen ist, entzieht
sich meiner Kenntnis.«
Bürokratische Perversion und Scheinheiligkeit in
kaum zu überbietender Form. Rhetorisch lavierend indet Recken die Schein-Legitimation für den
Status quo in seinem – ihn in seiner Rolle als NSBürgermeister, örtlichen Polizeichef und örtliche
Gestapo rechtfertigenden – Sinn: »Was damals
Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.« Muss
nur gut bürokratisch verpackt legitimiert werden.
Die Steigerung war, dass Hugo Recken vorher in
seinem Entnaziizierungsverfahren für einen Persilschein mit einer Unterschrit von Paul Cervelli
diese Unterschrit fälschte. So sein Sohn Helmut
nach Einsicht des Dokuments. Er hat Originalunterschriten seines Vaters unter Zeugnisse.
1984 waren die Geschehnisse seit 40 Jahren Geschichte. Nach dieser langen Zeit war Frau Cervelli
im Gespräch deutlich anzumerken, wie sehr sie dabei unter dem Erlebten noch litt. Welche Relexion,
Einsicht und Trauer stand dem und steht dem gegenüber? Und welches Gedenken?
»Oh, welche wirren Netze wir weben,
wenn wir die Welt täuschen streben.«
Sir Walter Scott
Zeugnis mit Unterschrift von Paul Cervelli
Familie Cervelli
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Handschriftlicher Brief von Helmut Cervelli
Helmut Cervelli
Jahnstr. 25
40670 Meerbusch
22. 06. 2012
Sehr geehrter Herr Klouten!
Eidesstattliche Erklärung vom 12. 7. 49
Punkt 1: korrigiert »kenne Recken« Punkt!
Punkt 2: ich Helmut Cervelli kannte jeden Kunden meines Vaters. Korrigiert: Recken war nie
Im Geschäft meines Vaters. Mein Vater hat Recken nie die Haare geschnitten.
– Lüge –
Punkt 3: Bürgermeister Recken konnte sich demnach nicht mit meinem Vater unterhalten
haben, weil er kein Kunde war. – Lüge –
Punkt 4: Judenfrage mit meinem Vater???? Verdammte – Lüge – siehe Recken / Gutmann.
Punkt 5: Einstellung und Haltung des H. R.
So einen Wisch / leider Dokument hätte mein Vater nie geschrieben geschweige
unterschrieben. Ich vermute, dass hier ein Faksimile angelegt wurde. So ein Stück
Lüge habe ich noch nie gelesen.
Ernst Recken, Sohn des H.R.
E. R. hat während des Krieges kleine Jungen verführt und misshandelt. Er ist mit uns in den
Heizungskeller des Amtes gegangen. Ich habe ihm einmal gegen das Schienenbein getreten!!
E. R. besuchte das Fichte Gymnasium in Krefeld. Als ich dort 1946 eingeschult wurde, bekam
ich gerade noch mit, dass E. R. der Schule verwiesen wurde, wegen Jungenmissbrauch.
Danach war er in Neuss mit den gleichen Umständen ist er dort ebenfalls verwiesen worden.
Letztlich hat er in Köln sein Abitur gemacht!! Alte Seilschaften des alten Recken.
Recken – nein Danke!!
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Helmut Cervelli
Abschrift des handschriftlichen Briefs von Helmut Cervelli
110
| Familie Cervelli
3. Familie Dr. Langenbach: Die von Hugo Recken in seinem Entnazifizierungsverfahren missbrauchten »Entschuldigungsjuden«
»Eine merkwürdige, nur wenigen eingeweihten Nazis bekannte Tatsache ist, dass mit den
›Nürnberger Gesetzen‹ Liebenden der Krieg
erklärt wurde und zwar solchen, die trotz des
Gesetzes und der Drohungen zusammenblieben. Endlich konnte man sich an jener ›bürgerlichen‹ Liebe rächen, die nicht nüchternberechnend war.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S. 79 f.
Im Kontext seines Entnaziizierungsverfahrens behauptete Hugo Recken schrit lich (KK 1023 Bl. 163):
»Schutz der Juden. Bürgermeister verhalf der Familie Dr. Langenbach (Frau ist Jüdin) zur Flucht vor
der Verhatung durch die Gestapo.« Dafür fanden
sich dann auch Zeugen.
Wie sah die Perspektive der Familie Dr. Langenbach aus?
Dr. Langenbach war »Arier« und Arzt, seine Frau
Lucie »Volljüdin« und Ärztin, ihre Tochter Jutta
war »Halbjüdin«. Bei dem Ehepaar Dr. Langenbach
handelte es sich also um eine »Mischehe«.
Dr. Langenbach unterlag denselben antisemitischen
Maßnahmen wie »jüdische« Ärzte. So wurde er
schein-legal gezwungen, seine Sprechzeiten – wie
Dr. Goldberg – massiv einzuschränken, wie eine
Anzeige in der Osterather Zeitung am 26. Juni 1936
dokumentiert:
Diktion die antisemitische Aggression durchscheinen lässt und in denen er die Diskriminierung
gegen »Mischehen« – wie bei der Familie Cervelli –
konsequent bürokratisch exekutiert, eins vom 23.
Dezember (sic!) 1936 (Bestand Osterath III 1997):
»Um unliebsame Erörterungen bzgl. der Belaggung der Wohnungen zu vermeiden, teile
ich zu Ihrer Orientierung mit, dass nach dem
Runderlass des Reichs- und Preuss. Ministers
des Innern vom 7. 12. 1936 ein Belaggen von
Gebäuden oder Wohnungen mit der Reichsund Nationallagge für solche deutschblütigen
Ehegatten nicht mehr gestattet ist, die in einer
deutschjüdischen Mischehe leben.«
Das bedeutet den optischen und faktischen Ausschluss aus der »Volksgemeinschat«.
Bürgermeister Hugo Recken forderte Dr. Langenbach auf, sich von seiner Frau scheiden zu lassen,
was deren Deportation zur Konsequenz gehabt
hätte. Das wusste und wollte Recken, um Osterath
»judenrein« zu bekommen. Er versuchte Dr. Langenbach zur Scheidung zu nötigen, da seine diskriminierenden Maßnahmen mit ihren ökonomischen
Folgen nicht den gewünschten Erfolg hatten. Hätte
Dr. Langenbach dem Druck von Recken nachgegeben und sich scheiden lassen, dann hätte er wieder
laggen dürfen; als Teil der »Volksgemeinschat«, in
deren Schoss er dann zurückgekehrt wäre.
»Die Gestapo und andere NS-Institutionen übten
enormen Druck auf die nichtjüdischen Ehepartner
in sogenannten Mischehen zwischen Juden und
Nichtjuden aus, doch gab es trotzdem im ›Altreich‹
noch immer 16.760 solcher Ehen.«
Robert Gellately. Hingeschaut und weggesehen. S. 201.
In Bestand Osterath III 1997 inden wir ein handschrit liches Schreiben von Lucie Langenbach, dass
den Eingangsstempel der Gemeinde Osterath vom
23. Januar 1939 trägt:
Osterrather Zeitung, 27. Juni 1936,
Anzeige Dr. Langenbauch
Wer hatte ihm dies amtlich-bürokratisch mitgeteilt? Bürgermeister Hugo Recken.
Als ein Beispiel solcher amtlich-bürokratischen
Schreiben von Bürgermeister Hugo Recken, deren
»Hiermit teile ich Ihnen mit, dass ich den
Vornamen Sara annehmen muss.«
Vor der Unterschrit »Lucie Langenbach« steht mit
Abstand und in abweichender Schreibweise »Sara«.
Familie Dr. Langenbach
| 111
bürokratisch. Und behauptete nach der Befreiung
das Gegenteil, sekundiert von der Osterather katholischen Geistlichkeit, Johannes Herbrandt und
»Zeugen«. Mit Erfolg – bis heute.
ITS Arolsen: Verkartung einer Anfrage –
Lucie Langenbach
Die Symbolik ist klar: Der aufgenötigte Name ist
fremd, nicht Teil ihrer Persönlichkeit.
Im Gesamtkontext hatte die Familie Dr. Langenbach keinerlei Veranlassung Bürgermeister
Hugo Recken zu vertrauen, denn die konkreten
Erfahrungen mit seinem realen antisemitischen
Handeln sprachen dagegen.
»Das Motiv vieler Denunziationen war im Zusammenhang mit Rassefragen der Gedanke an einen
persönlichen Vorteil.«
Robert Gellately. Hingeschaut und weggesehen- S. 268.
In der Gestapo-Akte von Dr. Langenbach (LAV
NRW R, RW 58- 40669) ist eine Erklärung von ihm,
datiert auf den 22. April 1940:
» ... erklärt hiermit, dass er arischer Abstammung und im Besitz eines Radioapparates ist.«
Das bedeutet: Die Familie Dr. Langenbach war wegen Radiohören von Juden denunziert worden. Das
Gerät durte er behalten, weil das Postamt Osterath
am 29. April 1940 der Gestapo schrit lich mitteilte
(LAV NRW R,RW 58- 40669):
» ... dass selbst darauf, dass die Ehefrau Langenbach Jüdin ist, gegen die weitere Teilnahme des
Langenbach am Rundfunkempfang Bedenken
nicht bestehen.«
Ein ungewöhnlicher Vorgang, denn die Stellungnahme hätte unter den Bedingungen des NS-Terrorsystems anders ausfallen sollen. Der verantwortliche Postmeister in Osterath hatte sich damit sehr
weit vorgewagt. Dass er – Herr Dohmen – später
auch der NSDAP-Ortsgruppenleiter wurde, macht
den Vorgang noch außergewöhnlicher. Und dokumentiert, welche Handlungsspielräume – auch für
Hugo Recken als Bürgermeister – es tatsächlich gab.
Recken nutzte diese Handlungsspielräume zugunsten von Menschen nicht. Er handelte antisemitisch-
112
| Familie Dr. Langenbach
Am 17. September 1944 sollte Frau Dr. Langenbach – wie Paul Cervelli – verhatet und nach heresienstadt deportiert werden – wie Sabine und
Julius Gutmann. Zu der Verhatung kam es nicht.
Weil die Familie gewarnt und versteckt wurde. Eine
Gemeinschatsaktion von Herrn Dohmen und dem
Ex-Bürgermeister Rudolf Bartels. Zu den Umständen der Warnung unten. Rudolf Bartels war Jäger,
hatte in der Eifel eine Jagd, auf dem Jagd-Gelände
einen ausrangierten Waggon. Dort wurde die Familie untergebracht und verplegt. Mitte 1945 kehrte
die Familie nach Osterath zurück.
Die Familie Dr. Langenbach war mit Rudolf Bartels
befreundet. Der nach der Flucht der Familie in deren Haus einzog, nach deren Rückkehr der Familie das Haus übergab. Diese Beziehung hat Rudolf
Bartels die zusätzliche Feindschat der Symbiose
Recken / Herbrandt eingetragen.
Dr. Eduard Langenbach wurde entnaziiziert. Und
als Entlasteter eingestut. Wie letztlich Hugo
Recken und Johannes Herbrandt. Opfer und Täter werden in der Bewertung zur Säuberung vom
Nationalsozialismus gleichgestellt.
Dr. Langenbach starb am 6. März 1948, im selben
Jahr wie Julius Gutmann und Rudolf Bartels. Aus
der Entschädigungsakte von Frau Dr. Langenbach
geht hervor, dass sie einen Antrag auf Entschädigung stellte, den aber dann zurückzog.
Dr. Langenbach hatte kurz vor seinem Tod von
Johannes Herbrandt in dessen SA-Uniform einen
»Hausbesuch« erhalten. Wie später im selben Jahr
ofensichtlich Julius Gutmann. Und wohl auch
Rudolf Bartels.
Wie die Unterschrit von Paul Cervelli wurden die
Unterschriten von Dr. Wilhelm Langenbach, seiner Frau Lucie und ihrer Tochter Jutta unter einem
Persilschein von Hugo Recken gefälscht.
Diese Fälschung war die Basis für ein auf den
1. Oktober 1948 datiertes Schreiben des Oberkreisdirektors Kempen-Krefeld, in dem auf weitere
»Beweise« Bezug genommen wird:
• Amtliche Erklärung des Gemeindedirektors in
Osterath, also Hugo Recken selbst.
• Bescheinigung des katholischen Pfarramtes Osterath, also von Pfarrer Josef Hövelmann. Der als
beamteter Lehrer in Krefeld 1934 den Beamteneid
auf Hitler unterschrieben hat. Und von dem die
zuständigen britischen Stellen ausgingen, dass er
die NSDAP aktiv unterstützt habe, deswegen entnaziiziert wurde.
• Rudolf Lensing: Bürgermeister in Osterath seit
Januar 1946, da vemeintlich nicht in der NSDAP,
nicht belastet und deswegen nicht entnaziiziert.
Mit der NSDAP-Mitgliednummer 8578766 seit
dem 9. November 1940 NSDAP-Mitglied.
Lucie Langenbach ist auf dem Osterather Friedhof
begraben.
Wer die Familie Dr. Langenbach warnte –
und wozu das Geheimnis von Hugo Recken
instrumentalisiert wurde
Es ist Herbst 1944. Die westalliierten Streitkräte
stehen fast schon an der belgisch-niederländischen
Grenze, nicht sehr weit von Osterath entfernt. Das
Leben in Osterath geht seinen gewohnten KriegsGang. So weit ist die dörliche Nazi-Welt noch
intakt.
NSDAP-Ortsgruppenleiter Dohmen ist der Osterather Postmeister. Eine seiner Mitarbeiterinnen
ist die Dienstverplichtete junge Frau Brassel. Da
sie unverheiratet ist, gehört zu ihren regelmäßigen
Verplichtungen der nächtliche Telefondienst.
Die Routine wird am Abend des 17. September
1944 durchbrochen. In Gegenwart von Frau Brassel zieht sich Herr Dohmen eine Postuniform über
und verlässt das Haus. Das weicht von allem Üblichen ab, weil der Postmeister grundsätzlich keine
Post austrägt, erst recht nicht in der Nacht. Nach
etwas zwei Stunden erkundigt sich Frau Dohmen
aufgeregt bei Frau Brassel, ob ihr Mann noch nicht
zurückgekehrt sei. Sie verneint, etwas später kehrt
Herr Dohmen zurück. Und sagte zu Frau Brassel:
»Bitte merken Sie sich: Sie haben mich heute Abend
nicht gesehen.« Frau Brassel denkt sich erst nichts
dabei. Auch in der späteren Nacht nicht, als Herr
Dohmen sie bittet, im Flur nicht Licht anzuschalten. Sie bekommt mit, dass das Haus von aktiven
Osterather Nationalsozialisten beobachtet wird.
Als sich Frau Brassel am nächsten Morgen auf
den Weg nach Hause macht, bemerkt sie an zwei
Stellen Straßensperren von SA-Leuten. Das ist sonst
nicht an der Tagesordnung. Auf dem Weg nach
Hause wird sie von Frau Fells in deren Wohnung
gebeten, entgegen deren üblichem Verhalten. Durch
einen Türspalt sieht Frau Brassel mehrere Osterather Nationalsozialisten, u. a. Herrn Held. Frau
Fells, die ihr später berichtet, unter Druck gesetzt
worden zu sein, versucht sie in ein Gespräch zu verwickeln. »Der Jud Langenbach ist gelüchtet.« Was
sie darüber wisse. Frau Brassel erklärt nichts zu wissen, da sie die Nacht im Post-Dienstraum zumeist
schlafend verbracht habe.
Nach der Rückkehr von Dr. Langenbach nach
Osterath hat er Frau Brassel auf deren Nachfrage
bestätigt: »Ja, es war Herr Dohmen, der mich und
meine Familie gewarnt hat.«
Einige Zeit später nach der Befreiung durch USamerikanische Einheiten am 1. März 1945 hat das
Ehepaar Dohmen Frau Brassel besucht, um sich
dafür zu bedanken, dass sie geschwiegen hat. Geschwiegen hat sie auch gegenüber ihren Eltern und
allen anderen Menschen.
In seinem Entnaziizierungsverfahren hat Hugo Recken ausschließlich am Beispiel seiner behaupteten
Warnung an die Familie Dr. Langenbach belegen
wollen, er habe Juden geholfen. Eine Zweck-Lüge.
Die mit Unterstützung aus der Allianz katholischer
Geistlichkeit und katholischer Gemeindeelite sowie
des Gemeindebeamten Johannes Herbrandt Erfolg
hatte, auch weil der Zeitgeist dem entsprach.
Hugo Recken hat sein Amt als Bürgermeister und
damit Polizeichef – und örtliche Gestapo – umfassend systemkonform ausgefüllt. Dabei hat er nicht
unter Zwang, sondern freiwillig – und auch initiativ – gehandelt.
Die Geschehnisse hatten bei Dr. Langenbach nach
1945 die Folge geistiger Verwirrung und den frühen
Tod.
Hugo Recken hatte keine negativen gesundheitlichen, psychischen, materiellen oder berulichen
Folgen. Nach einer kurzen Phase von etwa einem
Jahr nach der Befreiung am 1. März 1945 hat er
seinen berulichen Weg bis zu seinem Tod 1953
in ungebrochener Kontinuität fortgesetzt. Als sei
er als NS-Bürgermeister von 1934 – 1945 nicht im
Rahmen seiner von ihm umfassend systemkonform
ausgefüllten Funktion entsprechend in das NS-Terrorregime direkt und auch aktiv verstrickt gewesen.
Gedenktafel auf dem Osterather Friedhof
für die Opfer der Nationalsozialisten
Foto: Christoph Behlen
Familie Dr. Langenbach
| 113
Nachtrag von Manfred Klaes
114
| Familie Dr. Langenbach
e. Geschichtswissenschaftliche Bewertung
Osterath war ein fraktaler Mikrokosmos der antisemitischen »Bevölkerungs-Politik« des NS-Terrorregimes. Vor Ort von den dafür Verantwortlichen
bürokratisch exekutiert, allen voran Bürgermeister Hugo Recken – in Symbiose mit seiner rechten
Hand Johannes Herbrandt. Recken war ein williges
und auch initiatives Rädchen im Holocaust-Getriebe, ein williger Vollstrecker Hitlers. Gemeinsam
mit Herbrandt und seinen Helfershelfern.
Wolfgang Benz (2009, S. 15 f.) führt zur Symbiose
Hitler / Bormann aus:
»Als ... verkörperte er die zweifelhaten Tugenden des ausführenden Organs ohne eigene
Macht und Bedeutung, nämlich Servilität gegen dem Inhaber der Macht und Härte in der
Durchsetzung nach unten ... trat nach außen
kaum in Erscheinung, spielte hinter den Kulissen eine erhebliche Rolle.«
Dieses symbiotische Handeln begegnet uns bei
Recken / Herbrandt. Wobei Herbrandt im Gegensatz zu Bormann auf Reichsebene aufgrund seiner
Funktionen als Blockleiter und NS-Beamtenführer
in Osterath reale Macht hatte.
Solche Symbiosen ziehen sich durch die Weltgeschichte und folgerichtig durch die Literatur.
So bei J. R. R. Tolkien »Herr der Ringe« Saruman
und Grima. Im Gegensatz zu diesen beiden überlebten Recken und Herbrandt ihren Showdown am
1. März 1945 – als sei nichts gewesen.
Hugo Recken hat als Katholik im Januar 1934 erst
den evangelischen Bürgermeister Rudolf Bartels abgelöst, sich dann gegen die örtlichen NSDAP-Funktionäre durchgesetzt. Flankiert von der Union von
katholischen Geistlichen und katholischer Gemeindeelite. Recken war daher in seinem VerwaltungsHandeln relativ frei. Diesen Spielraum hat er für
als »Juden« deinierte Menschen nicht genutzt. Wie
Julius Gutmann auf den Punkt brachte: »Niemals ist
es Recken eingefallen, als Mensch zu handeln und
etwas zur Erleichterung unserer Lage zu tun.«
Hugo Recken handelte als nationalsozialistischer
Bürokrat. »Es wird um Abschiebung des Juden
gebeten.« »Es« – eine unpersönliche bürokratisch
entmenschlichte Sache. Ein Ding wird »abgeschoben«. Für 21 der betrofenen Menschen deutscher
Nationalität aus Osterath mit tödlichem Ausgang.
Im Sinne des NSDAP-Programms.
Die interessengeleiteten bürokratischen ZweckLügen von vor und nach 1945 inden heute engagiert apologetisch – im Sinne von Wolfgang Benz –
ihre Fortsetzung. So kann Zeit auch gerinnen.
Johannes Herbrandt hat eine »Orts- und Kriegschronik der Gemeinde Osterath« überliefert, die
1989 vom Stadtarchiv Meerbusch in Auszügen
veröfentlicht wurde. Johannes Herbrandt listet in
der Chronik die im Krieg zu Tode gekommenen
Osterather in zwei Kategorien auf: Gefallene Soldaten und »Weitere Kriegsopfer«. Bei den »weiteren
Kriegsopfern« inden wir eine Gruppe von Menschen nicht: Die deportierten und ermordeten Osterather deutscher Nationalität. Das war bisher das
selbstverständliche Bewusstsein in Osterath und
Meerbusch insgesamt. Und lässt auf das Bewusstsein sowie damit auf die reale Einstellung zu den ermordeten Osterathern deutscher Nationalität – wie
die aus Büderich und Lank – schließen: Sie seien
Opfer des – unpersönlich-anonymen – Nationalsozialismus allgemein, ohne konkreten – menschlichen – Bezug zu Osterath bzw. Meerbusch. Die
Grundlage der »Basiserzählung« in ihrer speziisch
Meerbuscher dorf-kulturellen Ausprägung. Mit gesellschat lichen und individuellen Konsequenzen
bis heute, die Gegenwart und die Zukunt.
»Legenden, Lügen, Vorurteile«
Buchtitel von Wolfgang Benz
Was hier zum Ausdruck kommt, ist die – nationalsozialistische – Wahnvorstellung der Angst vor
»dem Juden« und dessen vermeintlicher Rache. Das
schlechte Gewissen meldet sich. Und diejenigen, die
es haben, schließen von sich auf die Opfer.
Wie war die Realität dieses vermeinlichen Rache-Bewusstseins der Opfer?
Herbert Goldberg kommt am 1. März 1945 als
Mit-Befreier nach Osterath zurück. Freundestrahlend geht er in ein Geschät: »Ich bin zurück«. In
meinem Heimatdorf.
Eine Frau Lucas kommt in der 1950er Jahren
nach Osterath, geht freudestrahlend in ein Osterather Geschät: »Ich bin zurück!« In meinem Heimatdorf.
Sabine und Julius Gutmann kehren aus heresienstadt nach Osterath zurück. Sie wollen im
Frieden im Heimatdorf von Julius leben. Ohne von
ihren NS-Terroristen weiter drangsaliert zu werden.
Die Familie Dr. Langenbach kehrt nach ihrer
Flucht nach Osterath zurück. Sie wollen im Frieden in
ihrem Heimatdorf leben.
Geschichtswissenschaftliche Bewertung
| 115
Der »Judenfreund« Rudolf Bartels, 1918 als Protestant nach Osterath zugezogen, lässt sich trotz aller
»Bemühungen« von Recken und Vasallen unter Instrumentalisierung auch der Gestapo nicht aus Osterath vertreiben. Die Verbundenheit zu seiner WahlHeimat Osterath indet im Relief auf seinem Grab
auf dem Osterather Friedhof seinen Ausdruck.
Menschen können nur in Frieden leben, wenn man
sie lässt. Osterath, die katholische Gemeindeelite,
war – und ist – mit sich selbst nicht im Frieden.
Kein Frieden nach innen – kein Frieden nach außen.
Lediglich Schein-Äußerlichkeit. Ein Ausdruck davon war und ist das schlechte Gewissen den Verfolgten gegenüber, kompensiert in Angst und Neid.
Typisch deutsch. Wir sind immer und unter allen
Nach der Befreiung von der US-Armee
für das Rheinland herausgegebene
deutschsprachige Zeitung
2. April 1945
12. Mai 1945
3. Juli 1945
116
| Geschichtswissenschaftliche Bewertung
Umständen die eigentlichen Opfer. Dafür lassen
sich immer Argumente zur Legitimation basteln.
Das Ergebnis steht fest, es muss nur scheinbegründet werden. Nur nicht dran rühren, am
Tabu. Konkret der Manifestation in Form der
Recken-Legende. Die mit allen Mittel verteidigt
wird. Was ein Beweis ihrer Existenz und des Wissens um die Fakten der daran Beteiligten ist. Es ist
die Angst, mit der Recken-Legende die Legitimität
als Dorfelite zu verlieren. Aus dieser Perspektive:
Diese Legende ist pathologsch. Und diese Pathologie färbt ab.
So kamen 1948 innerhalb weniger Monate Julius Gutmann, Dr. Langenbach und Rudolf Bartels
unter aktiver Wirkung von Johannes Herbrandt
zu Tode.
1945: Die zweite Intrige gegen Bürgermeister Rudolf Bartels
Der vom US-amerikanischen Ortskommandanten eingesetzt wurde. Diesmal über die dazu instrumentalisierte britische Militärregierung – Wie Hugo Recken abermals Rudolf Bartels ablöste
und das kurze Intermezzo des kommissarischen Bürgermeisters Anton Wienands, KPD
Am 1. März 1945 wurden Osterath und die Osterather durch US-amerikanische Einheiten vom
Nationalsozialismus und den Nationalsozialisten
befreit. Wie die katholische Geistlichkeit und die
katholische Gemeindeelite – unabhängig davon, ob
sie, wie in den meisten Fällen, NSDAP-Mitglieder
geworden waren oder nicht –, die nun trachtete,
sich mit der neuen Staatsgewalt in ihrem Sinn zu
arrangieren. Zunächst wurde Bürgermeister Hugo
Recken vom US-amerikanischen Ortskommandanten in seinem Amt belassen.
»Alles war vorher geplant und koordiniert.
Nichts blieb dem Zufall überlassen.«
Heiner Lichtenstein.
Ein Merkmal der organisierten Nationalsozialisten
war ihre bürokratische Perfektion – für alles. So
hat der Kern der aktiven Nationalsozialisten auch
den erneuten Übergang in den Untergrund organisiert. Im Gegensatz zu den 1920er Jahren auf der
Basis der noch umfassenden auch ökonomischen
Möglichkeiten. In Konferenzen z. B. im Haus der
Wannseekonferenz in Berlin sowie in Straßburg im
Herbst 1944 wurde der Übergang geplant. Ökonomisch und organisatorisch.
Das Doppelspiel auch zur Täuschung war: Es gab ab
Herbst 1944 die ARLZ-Maßnahmen in Zuständigkeit der Gauleiter als Reichsverteidigungskommissare – Aulösungs-, Räumungs-, Lähmungs- und
Zerstörungs-Maßnahmen. Es gab auf der parteistaatlichen Ebene regionale »Richtlinien für Maßnahmen bei unmittelbarer Feindbedrohung und
Feindbesetzung«.
Hierzu zählte der Aufruf von Gauleiter Friedrich Karl Florian am 10. April 1945 in der Rheinischen Landeszeitung zum »Kampf dem jüdischangloamerikanischen Sklaventum«.
Und es gab die NSDAP-internen Maßnahmen zum
»Täuschen – Tarnen – Verpissen«, wie sie in der
Eidesstattlichen Erklärung des Osterather Nationalsozialisten Josef Smeets am 25. August 1945
deutlich werden, aufgenommen durch den Hilfspolizisten Heinrich Eller (Stadtarchiv Meerbusch
Bestand Osterath, Entnaziizierung):
Nach der Befreiung von der US-Armee für das Rheinland herausgegebene deutschprachige Zeitung,
3. Juli 1945
Die zweite Intrige
| 117
»Am 15. September 1944 erhielten wir als Ortsgruppe den Befehl von der Kreisleitung in Neuss sämtliche Unterlagen der Ortsgruppe und der einzelnen
Ämter, sämtliche Parteisachen in Kisten zu verpacken, weil dieselben von der Kreisleitung abgeholt
würden. Die alten Sachen wurden bei Stein auf Anordnung durch den Ortsgruppenleiter (Dohmen,
LK) verbrannt. Die Parteisachen (Schritstücke)
wurden nach ein paar Tagen durch Hubert Gather
nach Neuss gebracht … Der nach September 1944
eingegangene Schrit verkehr und Anordnungen befanden sich im persönlichen Besitz von Dohmen in
Mappen mit dem Vermerk: Geheim. Wo dieselben
geblieben sind, weiß ich nicht.«
»Der lautlose Übergang von der Lüge zum
Selbstbetrug ist nützlich: Wer auf ›Treu und
Glaube‹ lügt, lügt besser, spielt seine Rolle besser, indet leichter Glauben beim Richter, beim
Historiker, beim Leser, bei Frau und Kindern.«
Primo Levi. Die Untergegangenen und die
Geretteten.
Terroristische Bewegungen wie die NSDAP stellen
sich auf jede Situation aus ihrer Perspektive ein. Dabei antizipieren sie auch das Bild, das ihre Feinde
von ihnen haben. Um dies dann zu instrumentalisieren. So wurden aus überzeugten Nationalsozialisten gute Katholiken. Da sie antizipiert hatten:
Insbesondere die West-Alliierten hatte ein Deutschlandbild, nach dem es eine Klut zwischen NSDAP
und katholischen Eliten gegeben habe. Das berechnend wurde zwischen den NSDAP-Aktivisten vor
Ort auch vereinbart, wessen Namen dann nicht in
zu schreibende NSDAP-Mitgliederlisten autauchen
sollen. Wie in Osterath der Name Rudolf Lensing.
Im Kölnischen Kurier inden wir am 7. Juli 1945 den
Artikel »Der Dritte Weltkrieg war schon im Geheimen vorbereitet«. Beschrieben wird der Bericht des
US-Unterstaatssekretärs im Außenministerium
Clayton vor einem Untersuchungsausschuss des
Senats:
»Selbst während große Teile deutschen Gebietes
schon von den alliierten Armeen bereits besetzt waren, schaten die Nationalsozialisten
noch beträchtliche Geldmittel und besonders
ausgebildete Fachleute ins Ausland, um dort
Hilfsmittel für einen neuen Versuch der Welteroberung anzusammeln.«
Dieses Komplott wurde aufgedeckt.
So inden sich auch Artikel über Schein-Selbstmorde von NSDAP-Aktivisten: Täuschen – Tarnen – Verpissen – Weitermachen bis zum »Endsieg«
– dem »deutschen Frieden«. Es gibt in diesem Kontext Selbsttötungen, die kritisch gesehen werden
können. Wie die von Terboven als Reichsstatthalter in Norwegen – Gauleiter Essen, Oberpräsident
Rheinprovinz, ein sehr enger Hitler-Vertrauter – in
seinem Residenzbunker bei Oslo.
Der US-amerikanische Ortskommandant Mondell
bestellte am 10. April 1945 Rudolf Bartels, Rechtsanwalt Dr. homassen und Fabrikant Georg Stoessel ein, seine Kandidaten für das Amt des Bügermeisters. (KK 875 Bl. 128f.) Dr. homassen und
Stoessel lehnten ab, weil ihre Berufsplichten sie
bänden und weil sie in der Kommunalverwaltung
unerfahren seien. Bartels ließ sich überzeugen und
dann zusichern, dass Mondell ihn bei den von ihm
erwarteten örtlichen Problemen unterstützt.
»Alles wurde zugesagt und auch bis zum Abzug
der Amerikaner gehalten. Bereits einige Wochen
Nach der Befreiung von der US-Armee
für das Rheinland herausgegebene
deutschprachige Zeitung, 12. Juli 1945
118
| Die zweite Intrige
später verfasste ein hier ansässiger übelbeleumdeter Zeitungsreporter Karl Hubert Meier (Strafregisterauszug beiliegend) eine Eingabe an die amerikanische Besatzung, die unwahre Behauptungen
über mich enthielt. Diese Schmähschrit über mich
überbrachte der hiesige katholische Pfarrer persönlich der Militärregierung … Der Pastor Hövelmann
… trat für seinen Schützling Recken ein, weil dieser
Katholik ist … Er wird geschützt durch eine kleine,
aber örtlich einlussreiche Klique, die sich zum Teil
aus früheren Nationalsozialisten zusammensetzt.
Bürgermeister Recken versucht erklärlicher Weise
aus dieser Situation für sich Nutzen zu ziehen. Er
lässt durch den Pfarrer behaupten, dass er niemals
innerlich Nationalsozialist gewesen sei. Ich stelle
hingegen zum Beweis, dass er Parteimitglied war
und sogar in öfentlichen Parteiversammlungen als
Redner für die Partei aufgetreten ist.«
Die autistische Perspektive der katholischen Dorfelite ist festgehalten in der Chronik der Pfarrei
St. Nikolaus Osterath:
»Auf ganz seltsame Weise wurde der Bürgermeister Hugo Recken beiseite geschoben. Sein Vorgän-
ger brachte es fertig, ihn fast ein Jahr aus dem Amt
zu treiben. Dann konnte er in sein Amt zurückkehren.«
Die extrem selektive Wahrnehmung schließt alles
aus, was nicht »passt«, insbesondere was von außen kommt. Es kann ausschließlich in persönlichen
Feindbildern gedacht werden. Hier der Protestant,
der den guten Katholiken aus dem Amt drängt, der
dann zurückkehren kann, also seinen legitimen
Platz wieder einnehmen kann.
Das Pathologische daran: Es hat sich bis heute
in Meerbusch nichts geändert: »Die Vorwürfe von
Klouten gegen Recken.« »Es wird um Abschiebung
des Juden gebeten.« Fakten werden bürokratisch
im Sinne von struktureller Gewalt zu persönlichen
Meinungen umdeiniert, die inkompetent und illegitim seien, insbesondere persönlich auf den vermeintlichen Absender bezogen.
Annette Barfurth-Igel führt zu dieser ersten Phase
von Bürgermeister Rudolf Bartels aus (S. 557): »Zu
seiner Beratung und Unterstützung ernannte die
Militärregierung noch als vorläuige Gemeinderäte
den Rechtsanwalt Dr. Gustav homassen sowie den
Fabrikanten Georg Stoessel und berief den als Kommunisten bekannten Anton Wienands zum besoldeten Beigeordneten. Die Bevölkerung wurde auf
die neue Verwaltung mit dem Hinweis verplichtet,
dass ›den Anordnungen der neuen Gemeindeverwaltung unbedingt Folge zu leisten sei‹.«
In der Übergangsphase zwischen Recken und
Bartels leitete die rechte Hand von Hugo Recken,
Johannes Herbrandt, Ende März bis zum 10. April
die Gemeinde kommissarisch. Was ihm die Chance
gab, sowohl gegenüber Ortskommandant Mondell,
den Mitarbeitern in der Gemeindeverwaltung als
auch der verbündeten Allianz katholischer Geistlichkeit und katholischer Gemeindeelite im gemeinsamen Interesse für die Zukunt mit Recken
weiter – auch illegitimen – Einluss zu nehmen.
Er führte seine Rolle im nationalsozialistischen
Terrorsystem bruchlos weiter. Das war möglich,
weil ihn Ortskommandant Mondell trotz aller über
ihn vorliegenden Informationen im Amt ließ, Mondell ließ sich täuschen. Mit gesellschat lichen Konsequenzen bis heute. Kleine Ursache, große nachhaltige Wirkung.
Im Pfarrarchiv Osterath inden wir das folgende
Dokument (K16/157):
»Johann Mathias Münks, geboren am 25. 5. 1892 zu
Osterath, hat heute vor mir und den beiden mitunArtikel von Dwight D. Eisenhower, Oberkommando
der alliierten Streitkräfte in Europa , 2. April 1945
Die zweite Intrige
| 119
Nach der Befreiung von der US-Armee für das Rheinland herausgegebene deutschprachige Zeitung, 12. Juli 1945
120
| Die zweite Intrige
terzeichneten Zeugen Leo Hövelmann und Joseph
Tepel den früheren Irrlehren abgeschworen und
das vorgeschriebene Glaubensbekenntnis abgelegt.
Darauf ist Krat bischölicher Ermächtigung vom
7. Nov. 1946 Johann Mathias Münks durch mich
seine Aufnahme in den Schoss der katholischen
Kirche erfolgt. Hövelmann Pfarrer …«
Die Irrlehre war der Nationalsozialismus. Die verlorenen Schafe wechselten von »heim ins Reich«
zu »heim ins himmlische Reich«. Nachdem sie ein
»Reueprotokoll« unterschrieben und eine dreimonatige »pfarramtliche Unterrichtung in den religiösen Wahrheiten« absolviert hatten, wurden sie feierlich in die katholische Kirche wieder aufgenommen
(Hövelmann S. 13) Es fand also eine katholischideologische Umerziehung statt, eine Reeducation
besonderer Art. Die erfolgreich Umerzogenen haben dann sicherlich auf Auforderung von Pfarrer
Hövelmann Briefe unterschrieben, um den Katholiken Recken wieder gegen den Protestanten Bartels
durchzusetzen.
In der Chronik der Pfarrei St. Nikolaus Osterath
lesen wir:
»Zwischen 1933 und 1944 waren 61 Katholiken
aus der Kirche ausgetreten. Viele davon wegen
ihrer Parteizugehörigkeit. Nun kehrten 27 wieder zurück.«
Wohin kehrten sie konkret zurück?
Pfarrer Hövelmann hat als Lehrer für katholische
Religion in Krefeld 1934 seinen Amts-Eid auf Adolf
Hitler unterschrieben, wie seiner Personalakte im
Stadtarchiv Krefeld im Original zu entnehmen ist.
Die zuständigen britischen Behörden sahen ihn als
aktiven Unterstützer der NSDAP an, daher musste
er das Entnaziizierungsverfahren durchlaufen, was
seiner Entnaziizierungsakte im Staatsarchiv NRW
entnommen werden kann. Sein Habitus wird auch
daran deutlich, dass er, wie vielfach überliefert ist,
als Lehrer an der katholischen Dorfschule in Osterath ot Kinder misshandelt hat. Ein in verschiedener Weise gewaltsamer Mensch in einer gewaltsamen Gesellschat – mit dem katholischen Mantel.
Die US-amerikanische Journalistin Martha Gellhorn berichtete im April 1945 aus dem Rheinland:
»Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen. Es hat vielleicht ein paar Nazis im nächsten
Dorf gegeben und es stimmt schon, diese Stadt da,
zwanzig Kilometer entfernt, war eine regelrechte
Brutstätte des Nationalsozialismus. Um die Wahrheit zu sagen, ganz im Vertrauen, es hat hier eine
Menge Kommunisten gegeben. Wir waren schon
immer als rot verschrien. Oh, die Juden? Tja, es gab
eigentlich in der Gegend nicht viele Juden. Zwei
vielleicht, vielleicht auch sechs. Sie wurden weggebracht. Ich habe sechs Wochen lang einen Juden
versteckt … Wir haben nichts gegen Juden; wir
sind immer gut mit ihnen ausgekommen. Wir haben lange schon auf die Amerikaner gewartet. Ihr
seid gekommen und habt uns befreit … Die Nazis
sind Schweinehunde … Oh, wie wir gelitten haben
… Die Bomben … Sie reden alle so. Wir stehen mit
fassungslosen und verächtlichen Gesichtern da.«
Am 22. Juni 1945 lösten die Briten im heutigen
Nordrhein-Westfalen die US-Amerikaner ab.
Im August 1945 hatte Osterath 4.391 Einwohner.
Ähnlich wie 1933 mit 4.314 Einwohnern.
Die rechte Hand von Hugo Recken als Bürgermeister ab Januar 1934 war der Gemeindebeamte Johannes Herbrandt, seit dem 11. Juli 1933 in einer
Gehilfenstelle bei der Gemeinde Osterath beschäftigt. (KK 1022 Bl. 309f.) Herbrandt wurde vom USamerikanischen Ortskommandanten Mondell im
Gegensatz zu Recken in der Gemeindeverwaltung
belassen.
Herbrandt war von 1936 bis 1945 im Reichsbund
der deutschen Beamten, in diesem Kontext »Vertrauensmann der Gemeindebeamten«. 1938 wurde er Mitglied der NSDAP, 1933 der SA, und war
stellvertretender Blockwart in Osterath. Beginnend
am 11. Juli 1933 als Gemeinde-Inspektor brachte er
es im Laufe seiner Symbiose mit und für Recken in
zwölf Jahren bis zu seiner Ernennung zum stellvertretenden Gemeindedirektor am 23. Februar 1946.
Herbert Roser (S. 76) schreibt:
»Nach der ›Machtergreifung‹ bildeten die NS›Vertrauensmänner‹ die unterste Stufe des
überall in der Verwaltung verbreiteten Spitzelsystems … Auf lokaler Ebene wurden außerdem ›Beamtenarbeitsgemeinschaten‹ gebildet,
deren Mitglieder sich größtenteils nicht aus beamteten Parteigenossen, sondern Angehörigen
und Sympathisanten der NS-Bewegung zusammensetzen.«
Sympathisanten einer terroristischen Bewegung.
»Das Parteiprogramm bildet die Richtschnur für
das Tun und Lassen des Beamten.«
Dr. Karl Vogt. Hauptschriftleiter des Reichsbundes
deutscher Beamter 1939
Auf der Webseite des Bundesarchivs lesen wir:
»Dem Hauptamt (der NSDAP für Beamte, LK) ob-
Die zweite Intrige
| 121
lag u. a. die Betreuung des 1934 errichteten Reichsbund Deutsche Beamte (RDB), ein der NSDAP angeschlossener Verband. Der Leiter des Hauptamtes
für Beamte war in Personalunion Reichswalter des
RDB. Aufgabenbereich war u. a. die Beförderung
und Versetzung.«
Gössel schreibt zum »Reichsbund Deutscher Beamter« (S. 107):
»Der Reichsbund Deutscher Beamter … wurde zur
Einheitsorganisation für alle Beamte … Zu seinen
Aufgaben gehörten lt. Satzung die Erziehung der
Mitglieder zu vorbildlichen Nationalsozialisten.«
Im Deutschen Beamtengesetz 1937 lesen wir:
Ȥ 1
(1) Der deutsche Beamte steht zum Führer und
Reich in einem öfentlich-rechtlichen Dienst- und
Treueverhältnis (Beamtenverhältnis).
(2) Er ist Vollstrecker des Willens des von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei getragenen Staates.
(3) Der Staat fordert von dem Beamten unbedingten Gehorsam und äußerste Plichterfüllung; er sichert ihm dafür eine Lebensstellung.
§3
(2) Der Beamte hat jederzeit rückhaltlos für den
nationalsozialistischen Staat einzutreten und sich
in seinem gesamten Verhalten von der Tatsache leiten zu lassen, dass die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei in unlöslicher Verbundenheit
mit dem Volke steht.
§4
(1) Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reichs und Volks, Adolf Hitler,
treu und gehorsam sein …«
Prof. Dr. Arthur Brand führte dazu in seinem
Kommentar zum DBG u. a. aus:
»Das sog. Ethos des Berufsbeamtentums …
kommt darin zum Ausdruck, dass die Partei
mit ihrem nationalsozialistischen Ideengut den
Staat und die ihn verkörpernde Beamtenschat
führt … Der neue Staat verlangt eine Beamtenschat, … die unausgesetzt tatkrät ig mithelfen
muss, den Sieg der nationalsozialistischen Bewegung im Volke mehr und mehr zu festigen
… Der Beamte ist politischer Soldat in Zivil …
Es gilt der Satz; ›Erst Deutscher (Nationalsozialist), dann Beamter.‹«
Die am 21. April 1933 verfügte Mitgliedssperre der
NSDAP ab dem 1. Mai 1933 wurde am 20. April
1937 gelockert.
»… für diejenigen Volksgenossen verfügt worden, die durch ihre nationalsozialistische Haltung und Betätigung in den Jahren seit der
Machtübernahme des Führers sich eine Anwartschat auf Aufnahme in die NSDAP erworben haben. Bei der Aufnahme von Volksgenossen in die NSDAP muss oberster Leitsatz aller
mit der Aufnahme befassten Dienststellen der
Partei sein, dass der Führer in der Partei eine
verschworene Gemeinschat politischen Kämpfertums gestaltet wissen will. In die NSDAP
sollen nach dem Ausspruch des Führers nur die
besten Nationalsozialisten aufgenommen werden. Die Freiwilligkeit ist eines der wertvollsten
und wesentlichsten Merkmale der Bewegung,
das voll aufrechterhalten werden muss.«
Weiter auf Seite 127
Bundesarchiv
Berlin:
NSDAP-Aufnahmeantrag
Paul Salitter
122
| Die zweite Intrige
Hauptamt für Beamte der Reichleitung der NSDAP. ABC des Deutschen Beamtengesetzes. Berlin 1940:
Themenfokussierte Zusammenfassung
»Die Nazis belügen Gott und die Menschen.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 103.
der Skrupellosigkeit. Der Novize muss in der Lage und
dazu bereit sein, die Schutzlosen zu verfolgen, zu berauben und zu ermorden.«
Diese Quelle ist ein Fraktal:
Für das, in welchem Legitimations-Kontext Beamte
handelten, deutsche Bürokratien insgesamt und die
deutsche Gesellschat insgesamt. Sowie wie alle Teilaspekte von der NS-Führung vernetzt organisiert waren, damit Eigendynamik und Synergien erhielten –
im Sinne der Realisierung des NSDAP-Programms, im
Zentrum die Ermordung aller »Juden« der Welt.
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 70.
In dieser Quelle wird deutlich:
Jedes einzelne Wort, dies dann vernetzt mit den Sätzen, Absätzen, Artikeln und Gesamt-ABC ist aus nationalsozialistischer Perspektive zu verstehen, es ist ein
ABC des nationalsozialistischen Selbst-Verständnisses. So wie Sebastian Haf ner in Jekyll & Hyde, 1939,
feststellte: Wenn Nationalsozialisten »Weiß« sagen,
dann verstehen wir – erst einmal – »Schwarz« – und
umgekehrt. Die speziische ideologisierte NS-Sprache
muss übersetzt, dekodiert werden, um den Sinn hinter
den Buchstabenkombinationen zu verstehen, zu deuten, zu interpretieren – und Schlüsse daraus zu ziehen.
Alles wird umgewertet, in sein Gegenteil verkehrt. Zur
Legitimation des Mordens.
»Diese Männer kennen keine Religion, Moral und Ästhetik. Nicht einmal eine soziale Norm … Die Naziführer haben nichts, keine Verfassung, kein Prinzip, kein
Ideal. Sie dienen nicht einmal ihrem Land.«
In diesem Kontext mein Hinweis auf:
Lutz Winckler. Studie zur gesellschat lichen Funktion
faschistischer Sprache. Frankfurt a. M. 1977. Sprache
und Ideologie dienten den Nationalsozialisten als
Machtinstrument für ihre gesellschat lich totale terroristische Herrschatsausübung. So wie es fraktal in
allen Diktaturen und terroristischen Bewegungen ist,
allen Kulturen des Todes.
»Leistungen als Beamte für ›Führer, Volk und Reich‹ «
bedeutet:
Nach und mit allen Kräten gelebte Volksgemeinschat
im Sinne von unbegrenztem Kampf gegen Gemeinschatsfremde mit allen »legalen« Mitteln, also allen
Mitteln bis zur Ermordung.
Sebastian Haffner: Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 53.
»Deutscher Friede« bedeutet:
Alle als Juden willkürlich deinierte Menschen sowie alle anderen willkürlich als gemeinschatsfremd
deinierten Menschen sind weltweit ermordet. Also
alle Menschen, die nicht-arisch und nicht pathologische Nationalsozialisten sind, so gut wie die gesamte
Menschheit.
»Die entscheidenden Merkmale der Naziführer sind
grenzenlose Korruption, grenzenlose Tüchtigkeit und
grenzenloser Zynismus.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 43.
»Deutsch« bedeutet:
Bewusst ein Teil der »arischen« »Volksgemeinschat«
zu sein.
Woraus sich Vernetzungen ergeben, insbesondere
die selbstverständliche Übernahme der Umkehrung:
»Gemeinschatsfremde«, also insbesondere »Juden«,
werden ausgegrenzt und ermordet. Denn als Gemeinschatsfremde haben sie kein Lebensrecht, sind lediglich eine unzumutbare Belastung der Volksgemeinschat.
»Ein im deutschen Volk wurzelndes, von nationalsozialistischer Weltanschauung durchdrungenes Beamtentum, das dem Führer des Deutschen Reiches und
Führer Adolf Hitler in Treue verbunden ist, bildet einen Grundpfeiler des nationalsozialistischen Staates.«
bedeutet:
Die Volksgemeinschat-Bürokratie setzt adaptierend
den Willen von Adolf Hitler zum Mord an allen »Gemeinschatsfremden« um, schat dazu die Voraussetzungen, inkl. der efektiven und eizienten Realisierung: Kostengünstiger Mord an allen willkürlich als
gemeinschatsfremd deinierten Menschen – in Vernetzung mit den weiteren Macht-»Pfeilern«, also insbesondere NSDAP, Polizei inkl. Gestapo und Wehrmacht.
»Ziel und Richtung des Staates werden durch die nationalsozialistische Weltanschauung und durch die Partei
bestimmt.« bedeutet:
Der Primat der pathologischen Welt-Anschauung, des
Welt-Verständnisses der pathologischen Nationalsozialisten als Vorgabe im Sinne des NSDAP-Programms:
grenzenloser Mord. Die NSDAP als Instrument Hitlers
ist der Staat, dessen von allen Beamten gelebtes Kernziel die Ermordung aller Gemeinschatsfremden ist.
»Die Prüfung zur Feststellung der Eignung als Nazi ist
jedoch keine Mutprobe, sondern dient dem Nachweis
»Die außerordentliche Wirkung seiner primitiven Propaganda erklärt sich … daraus, dass Hitler von Anfang
»Hitler verfolgt keine Idee, dient keinem Volk, hat kein
staatsmännisches Konzept, sondern befriedigt einzig
sein Ego. Seine Motive sind sture Eigenliebe, Erbitterung und korrupte Phantasie. Er ist ein armseliger
Mensch – ohne Würde, ohne Haltung, ohne wahre
Größe … Alles ist vorgetäuscht und Taktik.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 27.
Die zweite Intrige
| 123
an Propaganda, Überzeugen und Verhandeln mit
Gewalt und Terror verknüpt hat. Gewalt, ständige,
direkte unverhüllte Anwendung nackter Gewalt, um
jeder Behauptung und Forderung Nachdruck zu verleihen – das ist Hitlers Methode, mit der er steht oder
fällt.«
Sebastan Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 24.
»Aktive Betätigung … Der Beamte darf nicht nur
Mitläufer, er muss Mitkämpfer des Führers sein.« bedeutet:
Bewusste aktive Adaption des Führerwillens – im
Sinne des Führerprinzips.
Es konnte bei den Beamten keine »Mitläufer« geben – wie sie sich dann nach 1945 in den Entnaziizierungsverfahren – meist mit Erfolg – präsentiert haben.
Denn wer von Nationalsozialisten als »Mitläufer« verstanden wurde, der wurde sofort entlassen.
»Von Angst und Ehrgeiz getrieben handeln sie gegen
ihr Gewissen.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 102.
»Außerdienstliches Verhalten« bedeutet:
Im Bewusstsein seiner NS-Stellung tritt der »deutsche« Beamte immer und überall als Vollstrecker
des hitlerschen Willens auf. Das gilt im besonderen
Maße für Beamte, die »Politische Leiter« sind, wie z. B.
Blockleiter. Totale gesellschat liche Machtausübung,
es gibt kein im Sinn des NSDAP-Programms unpolitisches Privatleben.
»Hitlers Doktrin, wonach nur die größten Lügen eine
Chance haben, geglaubt zu werden – weil es unmöglich
scheint, dass jemand den Mut hat, sie auszusprechen.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde & Hyde.
1939. S. 44,
»Deutscher Gruß »Heil Hitler« bedeutet:
Die Beamten grüßen immer – im Dienst und außerdienstlich – mit dem »Erheben des rechten Armes und
durch den gleichzeitig deutlichen Ausspruch ›Heil
Hitler‹«.
Als gleichzeitige Ergebenheitsgeste und Machtdemonstration. Ein Fraktal für diesen Aspekt der NSRealität.
An dieser Stelle passend der aus meiner Perspektive
trefendste Flüster-Witz aus der NS-Zeit:
»Heil Hitler!« – »Heil Du ihn.«
»Flaggenhissung. Das Hissen der Hakenkreuzfahne
bei feierlichen Anlässen (z. B. Geburtstag des Führers,
1. Mai, Entedankfest, 9. November usw.) gehört zu den
Plichten eines jeden deutschen Beamten.«
»Gefolgschatsappelle, die meist aus besonderen Anlässen oder aus Anlass allgemeiner Gedenktage stattinden, bekunden den nationalsozialistischen Geist
der Betriebs- und Behördenangehörigen und ihre Verbundenheit untereinander und mit den übrigen Volksgenossen.« bedeutet:
Alle Formen von Ergebenheitsgesten und Macht-
124
| Die zweite Intrige
demonstrationen sind vernetzt.
»Gehorsam. Will ein Beamter die Plicht zur Treue seinem Führer gegenüber ganz erfüllen, so muss er unbedingt alles tun, was ihm dienstlich geheißen wird.«
bedeutet:
Selbstverständlicher preußisch-bürokratischer Kadavergehorsam. »Führer beiehl, wir folgen.« Im Sinne
des Führerprinzips: Es ist klar, was Hitler will, und es
wird selbstverständlich exekutiert.
»Er lebt in der ständigen Angst, betrogen zu werden,
und fühlt sich nur sicher, wenn er jemand einen Schlag
versetzen kann; er hat kein friedliches, sondern ein
kriegerisches Selbstbewusstsein.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde & Hyde.
1939. S. 32.
»Mitgliedschat bei Gliederungen der Partei und den
ihr angeschlossenen Verbänden«. Als Mitglied des
Reichsbund Deutscher Beamte: »Unterstützung der
Regierung als Vollzieher der Weisungen des Führers
in ihren beamten-politischen Maßnahmen.« bedeutet:
Da aus Perspektive der Nationalsozialisten alles Handeln politisch war, meint diese Formulierung den
selbstverständlichen Hinweis auf die Rolle der Beamten in der Ermordung der »Gemeinschatsfremden«.
»Nationale Feiertage«. Ernennung und Beförderung
i. d. R. zu nationalen Feiertagen: »30. Januar, 20. April,
1. Mai, 30. September, 9. November«, bevorzugt »der
Geburtstag des Führers«.
So indet es sich auch bei NSDAP-Mitgliedschaten.
Hugo Recken: 1. Mai 1933. Als – freiwillige – Ergebenheitsgeste.
»Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Die
NSDAP ist Trägerin des neues deutschen Staates« als
»Körperschat des öfentlichen Rechts«. bedeutet:
Die schein-juristische schein-legale Vernetzung von
NSDAP und deutschem Staat – das Primat der
NSDAP: Ein Partei-Staat, in dem die formalen staatlichen Institutionen die tote Legitimations-Hülle für
bürokratische Realisierung des hitlerschen terroristischen Willens sind.
»Nationalsozialistische Presse. Das regelmäßige Studium der nationalsozialistischen Tagespresse, in erster
Linie des Völkischen Beobachters, gehört zu den unerlässlichen Plichten des deutschen Beamten.« bedeutet:
Selbstverständliche und freiwillige Selbst-Indoktrinierung durch das Göbbels-Zentralblatt, über das die
oiziellen »Sprachregelungen« des NS-Staats-ParteiStaates kommuniziert wurden. Internalisierung des
eliminatorischen NS-Antisemitismus, der selbstverständlich exekutiert wurde. »Ich habe nur meine
Plicht getan, kein Unrecht begangen, als katholischer
Christ gehandelt, war gezwungen.«
»Öfentliche Kundgebungen und sonstige Veranstaltungen der NSDAP. Diese Kundgebungen sind dazu
bestimmt, den deutschen Volksgenossen zum Nationalsozialistischen Staatsgedanken zu erziehen. An ihr
müssen deshalb auch alle Beamten in erster Linie teilnehmen.« bedeutet:
Die Nationalsozialisten vernetzten alle ihre MachtMöglichkeiten zur tiefen Implantierung des selbstverständlichen Mordes an allen »Gemeinschatsfremden«.
»Opferbereitschat. Der Beamte muss bereit sein,
für sein Vaterland und sein deutsches Volk jedwedes
Opfer zu bringen.« bedeutet:
Sich selbst bewusst freiwillig zum Sklaven zu machen,
Preisgabe der eigenen Würde, des persönlichen Selbst.
Um alle humanen gesellschat lichen zivilisatorischen
Schranken abzulegen, so zum perfekten Instrument
des Vernichtungs-Willens Hitlers und seiner Vasallen
zu werden. Sich freiwillig und bewusst zu einem armseeligen Menschen zu transformieren.
»›Deutschland‹ verlangt auch Opfer, die ganz allgemein als unehrenhat angesehen werden:
Opfer an Charakter, Gewissen, Einsicht und Moral.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 124.
»Partei und Staat«, »Wort des Führers: ›Nicht der Staat
beiehlt uns, wir befehlen dem Staat‹.«
Klarer und deutlicher ist es nicht zu formulieren.
»SA. Sturmabteilung der NSDAP ist eine Gliederung
der Partei. Der Beamte muss politischer Kämpfer sein;
unpolitisch sein heißt, kein Interesse zu haben an der
deutschen Volksgemeinschat, ein Haltung, die für
einen Beamten des nationalsozialistischen Staates
unmöglich ist.« Mitgliedschat in SA – oder SS – des
Beamten als Plicht. »… dienen die deutschen Volksgenossen in erster Linie als Instrument zur Vertretung
und Stärkung des Weltanschauungskampfes der Bewegung.« bedeutet:
Synergetische Vertiefung der Bindung des Beamten an
Hitler und damit an die selbstverständliche Mitwirkung im Rahmen aller persönlichen Fähigkeiten bei
der Ermordung aller Gemeinschatsfremden.
»Treueeid. Die dem Führer und Reichskanzler bis zum
Tode zu haltende Treue wird mit dem Treueeid besiegelt.«
»Die Naziführer haben überhaupt nichts für Deutschland getan. Sie lieben Deutschland nicht. Es ist ihnen
völlig gleichgültig und sie bemühen sich niemals, es zu
kennen oder zu befragen. Es würde ihnen auch nichts
ausmachen, es zu zerstören.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde 1939. S. 55.
»Vaterlandsliebe«
»Das erste Land, auf dem sie rumgetrampelt sind, war
Deutschland. Nicht einmal Deutschland ist sich dessen genügend bewusst.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 57.
»Plichten« bedeutet:
Selbstverständliche freiwillige bewusste Realisierung
des NSDAP-Programms.
»Politische Leiter. Bei Beamten, die Politische Leiter
sind, gilt ein Verhalten im Rahmen ihrer parteiamtlichen Tätigkeit nicht als außerdienstliches Verhalten.«
»Keine Vaterlandsliebe, sondern Vaterlandsbindung.
Es ist ein Gefühl, das die sittliche, geistige und ästhetische Verantwortung teilweise lähmt. Es ist sozusagen
ein blinder Fleck im geistigen Auge.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde 1939. S. 125.
»Völkische Plichten«
»Der Machthaber ist niemandem gegenüber verantwortlich, er ist respektabel und unangreibar.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 24.
»Politische Plichten … er jederzeit rückhaltlos für
den nationalsozialistischen Staat eintritt und für die
Idee Adolf Hitlers kämpt und die nationalsozialistische Weltanschauung gegen jeden Angrif verteidigt.
Zur Plicht des Beamten der Partei gegenüber gehört
es auch, dass er alle Vorgänge, die den Bestand des Reiches oder der NSDAP gefährden könnten, zur Kenntnis eines Dienstvorgesetzten bringt.« bedeutet:
Redundante Formulierung zu dem, was bereits vorher kommuniziert wurde. Und sowohl Auforderung
zur Denunziation als auch Drohung für den Fall des
Unterlassens. Ausdruck des grundsätzlichen und pathologischen Misstrauens der Nationalsozialisten gegenüber allen anderen Menschen – weil sie sich selber
kannten.
»Volksgemeinschat«
»Diese Deutschen führen ein Doppelleben wie Dr.
Jekyll and Mr. Hyde.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 105.
»Für den Durchschnittsdeutschen existiert eine private und eine politische Moral, wobei die politische
Moral das ganze Gegenteil von der privaten ist. Verrat, Erpressung, Diebstahl, Meineid, Mord, Raub sind
nach deutscher Aufassung im politischen Leben keine
Verbrechen und Exzesse wie im Privatleben.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939. S. 116.
Die zweite Intrige
| 125
Bundesarchiv Berlin:
NSDAP-Zentralkartei
Johannes Herbrandt
(Vorder- und Rückseite)
Bundesarchiv Berlin:
NSDAP-Gaukartei
Johannes Herbrandt
126
| Die zweite Intrige
NSDAP-Reichsschatzmeister und Oberster Parteirichter (Hrsg.). Richtlinien für das Verfahren bei
der Aufnahme neuer Mitglieder in die Partei. O. O.
1937. Im Bundesarchiv Berlin, NS 001/001117
»Bei der Lockerung der Mitgliedersperre 1937, die
zeitlich mit dem stark erhöhten Personalbedarf
nach der Umstrukturierung der Blöcke zusammeniel, wurde versucht, gezielt ›Volksgenossen‹ aufzunehmen, die zu aktiver Mitarbeit bereit waren und
dies bereits in anderen NS-Organisationen in den
vergangenen Jahren unter Beweis gestellt hatten.«
Müller-Botsch. S. 296.
Ȇber die Bestimmungen zur Aufnahme von
Mitgliedern steuerte die NSDAP zugleich die
Zusammensetzung des Funktionärskorps
entlang der NS-Rassepolitik und legte immer
strengere Kriterien bei der Aufnahme und
Funktionsübertragung an.«
Müller-Botsch. S. 98.
Johannes Herbrandt gab seinen NSDAP-Aufnahmeschein bei der NSDAP-Ortsgruppe Osterath
ab. Der Aufnahmeschein ging mitsamt einer positiven Stellungnahme von NSDAP-Ortsgruppenleiter Panzer an einen für Parteiaufnahmen gebildeten
Prüfungsausschuss bei der NSDAP-Kreisleitung in
Kempen. Dieser Prüfungsausschuss bewertete in
einer Sitzung in Anwesenheit von Ortsgruppenleiter Panzer und zwei weiteren »verdienten« Osterather NSDAP-Mitgliedern, ob Herbrandt die notwendigen Voraussetzungen zur Aufnahme in die
NSDAP erfüllt. Kreisleiter Diestelkamp stimmte
dem positiven Prüfungsergebnis zu, Herbrandt war
in die NSDAP aufgenommen. Denn der Düsseldorfer NSDAP-Gauleiter Florian verzichtet auf sein
letztes und entscheidendes Wort.
»Diese Leute, die allein schon dadurch einen Beweis
für Charakterschwäche geliefert haben, dass sie die
Aufnahme in die Partei beantragen, tendieren, sobald sie ihr angehören, ohne Zweifel dazu, rasch
ihre bisherigen Meinungen aufzugeben und das
nazistische Gedankengut zu übernehmen.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S. 89.
Mitglied der NSDAP zu werden bedeutete das
bewusste Bekenntnis zum gelebten nationalsozialistischen eliminatorischen Antisemitismus. Es war
immer ausdrücklich freiwillig und auf eigenen Antrag. Die NSDAP war eine nach außen geschlossene terroristische Gesinnungs- und Kampfgemeinschat, die alles tat, um aus ihrer Perspektive nicht
unterwandert zu werden. Um in ihr Aufnahme zu
erhalten, musste der dies Begehrende beweisen,
dass er dieser Ehre und diesem Privileg durch sein
Organisationhandbuch der NSDAP 1937: Block- und
Zellensystem der NSDAP
praktisches Tun – in seinem privaten und berulichen Leben, aus NS-Perspektive auch eine untrennbare politische Einheit – im Sinne des NSDAPProgramms durch Gefolgschat und Treue würdig
war. Als einlussreicher Gemeindebeamter mit
konkreten existenz- und lebensbedrohenden Konsequenzen für die von dieser terroristischen ParteiStaats-Ideologie auf Basis des NSDAP-Programms
betrofenen »Gemeinschatsfremden«, insbesondere denen, die an erster Stelle gemeint waren: »Der
Jude ist unser Unglück.« »Juda verrecke.«
Die NSDAP-Mitgliedskarte erhielt Herbrandt von
der dafür zuständigen NSDAP-Reichsleitung. In
der Zwischenzeit war er »Parteianwärter«. Damit
oblagen ihm alle Plichten der Parteigenossen, insbesondere die Melde- und Beitragsplicht, allerdings konnte er nicht alle Rechte eines ordentlichen
NSDAP-Mitglieds beanspruchen. Nachdem er wie
vorgesehen seine NSDAP-Mitgliedskarte innerhalb
von drei Monaten erhalten hatte, war er NSDAPMitglied mit allen Plichten und Rechten.
Der Schulungsleiter der NSDAP-Ortsgruppe Osterath leitete NSDAP-Veranstaltungen, um die
»NSDAP-Tauglichkeit« neuer Mitglieder wie Herbrandt zu prüfen. Die Teilnahme war obligatorisch.
Nur wer diese NSDAP-Kurse »erfolgreich« absolvierte, kam für »höhere« Aufgaben wie der Mitarbeit in NSDAP-Blocks in Betracht. Wie dies bei
Die zweite Intrige
| 127
Herbrandt der Fall war, der dann Blockleiter werden wollte. Dies bedingte, dass er zu den »besten
Parteigenossen innerhalb der Ortgruppe zählte«.
NSDAP-Ortsgruppenleiter Panzer berief Herbrandt
zum Blockleiter-Anwärter. Nach einer mehrmonatigen Probezeit mit »erfolgreichem« Praxiseinsatz
und dem »Nachweis der arischen Abstammung bis
1800« wurde Herbrandt auf Vorschlag von Ortsgruppenleiter Panzer von Kreisleiter Diestelkamp
feierlich zum NSDAP-Blockleiter in Osterath ernannt. Wie alle Politischen Leiter der NSDAP trug
Herbrandt eine hellbraune NSDAP-Uniform. Er
hatte auch – über 1945 hinaus – seine graue SAUniform. Seine NSDAP-Dienstbezeichnung lautete
Im »Dienstbuch für Blockleiter in der N.S.D.A.P.« lesen wir:
»… die Hoheitsträger an der Front mitsamt den
Zellen und Blockleitern … in steter Fühlung mit
den Volksgenossen ihres Bereichs lebende Führer
ihrer Gefolgschat sein sollen.«
»Der Stellvertreter des Führers« Rudolf Hess
»Die Block- und Zellenleiter sind mit die wichtigsten Politischen Leiter der Partei. Sie sind die
Stütze unserer Organisation und tragen als unmittelbare Mittler der Partei dem Volk gegenüber
eine ungeheure Verantwortung … Sie sollen die
Seelsorger, Mittler und Vertrauensleute der Partei
sein, die ihr höchstes Ziel darin sehen, das volle
Vertrauen des ihnen anvertrauten Volksteils zu
erhalten.«
»Reichsorganisationsleiter« Dr. Robert Ley.
»Der Blockleiter ist somit der äußere Führer der
Partei und muss dazu beitragen, folgende Aufgaben möglichst restlos zu lösen.«
a) Clearingstelle zu »allen wertvollen Volksgenossen«, also denen, die freiwillig und bewusst an der
Umsetzung des NSDAP-Programms mitwirken.
»b) alles Verwerliche, Sabotierende und das
Volksganze Schädigende auszuschalten und dafür zu sorgen, dass Saboteure und Volksschädlinge durch die zuständigen Organe der Partei und
des Staates unschädlich gemacht werden; denn
die NSDAP will die Einheit, weil Zersplitterung
Schwächung unserer Krat bedeutet.«
Also »Ausschaltung« im Sinne von KZ und Ermordung aller »Reichsfeinde« wie »Gemeinschatsfremde«, um alle Kräte auf die Realisierung des NSDAP-Programms konzentrieren zu
können, im Kern die Ermordung aller »Juden«
weltweit, was einen globalen Eroberungskrieg
bedingte.
c) und d) Im Kern Redundanzen zu a)
»Zu diesem Zweck muss der Blockleiter sich im
klaren sein, und sich fortlaufend unterrichten.«
a) b) c)
zu a: »Er muss insbesondere wissen, dass er sich
der Ehre, Politischer Leiter und damit Mitarbeiter des Führers sein zu dürfen, durch ständig neue
Erfüllung der übernommenen Plichten stets von
128
| Die zweite Intrige
neuem würdig zu erweisen hat … die Kameradschat als schönstes Erlebnis unserer politischen
und weltanschaulichen Gemeinschat.«
»zu b: Dieses Kameradschatsgefühl greit über
auf das Volksganze. Im Kleinen muss die Einheit
des Volkes angestrebt und verwirklicht werden.«
Der Block als gesellschat liches Fraktal im terroristischen NS-Partei-Staat.
»Mit der intensiven Überwachung und Schulung
der Parteigenossenschat … auf das genaueste erledigt.«
Allseitige Überwachung und Indoktrinierung im
Sinne des NSDAP-Programms.
»Bei der inanziellen Sicherung der Maßnahmen
der Partei fallen dem Blockleiter ganz besondere
Aufgaben durch die Einziehung der Mitgliederund Hilfskassenbeiträge, durch den Verkauf von
Eintrittskarten, Broschüren, Plakaten, Anzeichen
usw. zu.«
Die NSDAP als hypermoderne MerchandisingPartei. Merchandising zur Abschöpfung von
Kauk rat mit dem Ziel der Mit-Kriegsi nanzierung als Bedingung des Kern-ParteiprogrammZiels: alle »Juden« weltweit zu ermorden. Wobei
dieses Merchandising – auch im Kontext der
Blockhelfer – »allen wertvollen Volksgenossen«
sowie denen gilt, die so ihre systemkonforme
Haltung dokumentieren wollen.
»Die Handhabung des Dienstbuches.«
Ein Fraktal bürokratisch-perfekter Anweisung –
Perfektion ohne Kontext zur Realisierung des
NSDAP-Programms. Ein Beispiel von mehreren:
»Das Öf nen des Markenhetchens erfolgt zweckmäßigerweise derart, dass Daumen und mittlerer
Finger der linken Hand an der Ecke links oben
und rechts unten einen kleinen Druck ausüben.
Das Hetchen öf net sich dann von selbst wie eine
Tüte und es können die Markenwerte mit der
rechten Hand ohne weiteres herausgenommen
werden. Nach Gebrauch ist das Markenhetchen
dann stets wieder in die hierfür vorgeschriebene
Tasche zu schieben.«
Der kleine Fingerdruck für den Holocaust.
Bild links: Lothar Klouten: Foto Blockleiter
Bild rechts: SA-Sturmhauptführer
»Blockleiter der NSDAP«. »Die Grundhaltung des
Politischen Leiters ist soldatisch«, so das NSDAPOrganisationshandbuch.
1932 – vor der Machtüberragung am 30. Januar
1933 – waren die Kreisorganisationen gebildet worden, zeitgleich wurde das Block- und Zellensystem
eingeführt. Ein Zufall? 1937 erfuhr das Blocksystem
eine wesentliche Änderung: Von der Organisation
nach der Anzahl der Parteigenossen wurde die Größe der Blocks nach Einwohnern bestimmt. Dies als
Teil der bereits seit April 1933 laufenden Kriegsvorbereitungen, denn der von den Nationalsozialisten
erwartete Bürgerkrieg blieb aus, sie konnten sich
auf den äußeren Krieg konzentrieren.
Die NSDAP deinierte den geographischen Bereich
eines Blocks als »Hoheitsgebiet« – des jeweiligen
Blockleiters als Führer der Partei- und Volksgenossen in »seinem« Hoheitsgebiet. In einem Block lebten etwa 170 Volksgenossen; »Juden« zählten nicht.
Der Blockleiter wurde – jährlich wiederholend –
persönlich auf Hitler vereidigt. Wie Beamte – auch
der Polizei – und Wehrmachtsangehörige.
In »seinem« Block, seinem »Hoheitsgebiet«, hatte Herbrandt mehrere ehrenamtliche Helfer, de-
ren »Führer« er war. Diese Helfer waren z. T. nicht
NSDAP-Mitglieder, hatten aber ihre »arische Abstammung« nachzuweisen. Diese »Blockhelfer« waren von Ortsgruppenleiter Panzer berufen und ernannt worden, soweit sie nicht NSDAP-Mitglieder
waren. Die wurden von ihm wohl berufen, aber von
Kreisleiter Diestelkamp ernannt. Blockhelfer waren
»Vertrauensmänner der NSDAP«.
Im Block, der Zelle und der Ortsgruppe Osterath
gab es monatliche »Führerbesprechungen« und
»Dienstappelle«. Für die monatlichen Trefen mit
seinen Blockhelfern galt für Herbrandt: »Der Blockleiter legt für die Zukunt vorgesehene Aufgaben
fest.« (Radatz. S. 14)
Dem Organisationshandbuch der NSDAP von 1936
entnehmen wir zu den Aufgaben eines Blockleiters:
Er war für die »gesamtpolitische Lage in seinem
Hoheitsgebiet verantwortlich«.
»Die Verbreiter schädigender Gerüchte hat er
feststellen zu lassen und sie an die Ortsgruppe zu melden, damit sie zuständige staatliche
Dienstellen unterrichten kann. Der Blockleiter
treibt nationalsozialistische Propaganda von
Mund zu Mund.«
Die zweite Intrige
| 129
»Ewig rührige Prediger, Mahner und Verfechter der
nationalsozialistischen Weltanschauung.«
und rennen hin, ›Heil Hitler‹ und schon waren sie
drin. Und denn kuschen sie schon.«
»Der Hoheitsträger«. Nr. 2. 1937.
Eine 1906 geborene Hamburgerin
»Der Hoheitsträger muss sich um alles kümmern.
Er muss alles erfahren. Er muss sich überall einschalten.«
»Man sagte, die da oben, die sind nicht so schlimm,
am schlimmsten sind die Kleinen, die Blockwarte,
die konnten einen triezen und bedrohen wegen Äußerungen. Da musste man vorsichtig sein.«
Hauptamt der NSDAP zu den
Aufgaben eines Blockleiters
»Der Blockleiter hat die propagandistische Kernarbeit zu leisten, er muss bei den Volksgenossen
die innere Bereitschat erzeugen, das Verständnis
wecken, er muss die Voraussetzungen schafen, die
immer notwendig sind, um eine politische Aufgabe
erfolgreich durchzuführen.«
Der Stuttgarter Kreisleiter 1937
»Die Wohnungen gehörten ja schon dem Blockwart, da hatte der Hauswirt nichts mehr zu melden.
Die kamen ja dauern an, die hatten immer irgend
etwas. Die klingelten Sturm, da denken sie Wunder
Eine Zeitzeugin.
»Kleine Hitler«
Formulierung zahlreicher Zeitzeugen
»Es gibt jedoch einige Merkmale, an denen man erkennen kann, ob man es mit einem Nazi zu tun hat.
Im großen und ganzen sind die Nazis unter den …
niederen Parteifunktionären … Das wichtigste und
einfachste Kriterium ist die Haltung zur Politik gegenüber den Juden in Deutschland … Ein Nazi ist
jemand, der dieser allgemeinen und sadistischen
Orgie vorbehaltlos zustimmt und sich daran beteiligt … Schon seit Jahren bemühen sich die Nazis
Linzer Tagesblatt, 28. 10. 1939: Aus dem Tagewerk eines Blockwalters
130
| Die zweite Intrige
nicht mehr, sich Vorwände auszudenken, um die Juden zu berauben, zu quälen und zu ermorden.«
Sebastian Haffner. Germany: Jekyll & Hyde 1939. S. 68f.
»Die Blockwarte haben durch ihre tägliche selbstverständliche, ja ot unbewusste Aufsicht über die
Bewohner mehr zur Stärkung des Regimes beigetragen als die Geheime Staatspolizei.«
Erich Kordt. 1947
»Bei den unteren NSDAP-Funktionären »handelte
es sich um eine aktive, organisierte Unterstützung
der NSDAP-Parteiorganisation. Die Funktionäre der NSDAP-Ortsgruppen bildeten eine Gruppe
von NS-Aktivisten, die mehrheitlich erst nach der
Machtübernahme der Nationalsozialisten in die
NSDAP eintraten … Mit dieser Kategorisierung –
NS-Aktivisten, die aus dem Befreiungsgesetz von
1946 aufgegrifen wird – ist meines Erachtens die
Gruppe am zutrefendsten bezeichnet. Innerhalb
der fünf Untergruppen von Verantwortlichen wird
sie als eine Untergruppe zu der Gruppe 2 (Belastete)
angeführt.« Müller-Botsch. S. 8.
»Die schrittweise Entrechtung und Verfolgung
der Jüdinnen und Juden in Deutschland bis hin
zu ihrer Deportation in Konzentrationslager
und Vernichtungslager erfolgte zu einem erheblichen Teil vor dem Hintergrund und dem
Zusammenspiel mit der antisemitischen Propaganda- und Verfolgungspraxis der unteren
NSDAP-Funktionäre auf Ortsgruppenebene.«
Müller-Botsch. S. 42.
Ȇber diese Struktur des Erfassens und Meldens
beteiligten sich auch die unteren Parteieinheiten
an der Verfolgung tatsächlicher und vermeintlicher
politischer Gegner, deren systematische Verfolgung
bis zur Deportation der in ihrem Zuständigkeitsbereich lebenden Juden sowie Verfolgung der »jüdischen Mischlinge« und weiterer »rassepolitischer
Gegner.«
Müller-Botsch. S. 99.
»Vernichtungskartelle aus Mitläufern und Blockwarten, Beamten und NS-Bonzen.«
Karin Wickmann in »Die Zeit«. 16. Januar 1998
»Faktisch arbeiteten ›Blockwarte‹ … als Hilfspolizisten der Gestapo zu, indem sie die ständige Kontrolle von politisch Verdächtigen übernommen oder
besondere Vorkommnisse zur Anzeige brachten.«
Detlef Schmiechen-Ackermann. S. 592.
In Karl Reibel »Das Fundament der Diktatur: Die
NSDAP-Ortsgruppen 1932 – 1945« inden wir folgende Informationen:
NS-Nachrichtendienst in den Ortsgruppen
»SD-Beobachter«. »Einsatz der Politischen Leiter der NSDAP im Dienst des RFSS« – Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler. (S. 310)
»… nahmen die Politischen Leiter in den Ortsgruppen eine exponierte Stellung im organisierten Überwachungswesen des NS-Regimes
ein – zum einen im Feld der ›politischen Beurteilungen‹, zum anderen als direkte Informationslieferanten für den SD bzw. die Gestapo.«
(S. 310)
»… mit welchem Selbstverständnis die unteren
Parteifunktionäre über die Menschen in ihrem
Dienstbereich urteilten und sie Krat ihres Postens in ›gute‹ und ›schlechte‹ Staatsbürger im
Sinne des NS-Regimes einteilten.« (S. 314)
»Ein elementarer Bestandteil der Aufgaben der
NS-Funktionäre in den Ortsgruppen war die
… aktive Mitwirkung an der Verfolgung und
Vernichtung jüdischen Lebens in den Städten
und Gemeinden in Deutschland.« (S. 316)
»Treibende Krat war ein antisemitisch geprägter oder von Ideologie- und Regimetreue geleiteter Wille zur Gewalt.« (S. 321)
»Die Ortsgruppenverwaltung bildet … ein
wichtiges Bindeglied zwischen den Organen
der NSDAP und den in die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland ebenso verwickelten Kommunal-Instanzen.« (S. 327)
»Die NSDAP-Ortsgruppenorganisation war eines der entscheidenden Herrschatsinstrumente der Hitler-Partei zum Aubau und Erhalt der
Diktatur in Deutschland.« (S. 382)
»Ein gravierendes Problem für die Ortsgruppen-Bürokratie war der Mangel an Personal …
durch den Einsatz von ›Stellvertretern‹ Ersatz
für Amtsleiter im Fall ihres Ausscheidens bereitstellen zu können.« (S. 384)
»Eine der Hauptaufgaben der Politischen Leiter in den Ortsgruppen war die Umsetzung der
Grundprinzipien der NS-Weltanschauung in
die Wirklichkeit, um die Bevölkerung in den
Ortsgruppen so zu beeinlussen, dass sie die
Ziele von Hitlers Ideologie als ihre eigenen begrifen.« (S. 386)
Das Gewicht der Zellen im NS-Herrschatsgefüge
wird auch dadurch deutlich, dass die unteren zehn
Ränge der insgesamt 30 »Amts«-Ränge der NSDAP
die der Zelle umfassten. Das dokumentiert: Die
NSDAP-Basisgliederung hatte die zentrale MachtPosition in der Umsetzung des Mordes an allen
willkürlich als Juden deinierten Menschen, an allen
»Gemeinschatsfremden« – beginnend bei »Asozi-
Die zweite Intrige
| 131
alen«, weil sich abweichend äußernden Menschen.
Der unbegrenzte Mord als Normalität, an der sich
zu beteiligen Selbstverständlichkeit ist.
Johannes Herbrandt war als gelernter und aktiver
Bürokrat ein perfekter NSDAP-Blockleiter in Osterath, der seinen gesamten parteiamtlichen Aut rag
umfassend umsetzte, dabei seine persönliche Synergie als rechte Hand von Bürgermeister Recken im
Sinne des NSDAP-Parteiprogramms nutzte.
Ein Aspekt der Blockleiter-Tätigkeit von Herbrandt
war die kontinuierliche Anfertigung von Berichten zu Stimmung und politischer Lage in »seinem«
Block sowie zu den dortigen NSDAP-Aktivitäten
und dessen Organisationsstand. Kontinuierlich
und systematisch bürokratisch verfolgte er die
Umsetzung der bevölkerungspolitischen Ziele der
NSDAP: Erfassung, soziale Isolierung und Terrorisierung der willkürlich als »gemeinschatsfremd«
deinierten Menschen, insbesondere der »Juden«.
Herbrandt führte die »Hauskartei« »seines« »Hoheitsgebietes«: In dieser Kartei erfasste er lückenlos
alle Bewohner und nutzte Hausbesuche und Gespräche, um sich einen Eindruck von allen im Block
lebenden Menschen zu verschafen, den er schritlich festhielt.
Was die als »Juden« deinierten Menschen betraf:
Herbrandt registrierte in enger Zusammenarbeit
mit der (Gemeinde)Polizei und dem Osterather Einwohnermeldeamt diese Menschen in seinem »Hoheitsgebiet«. Um sie letztlich loszuwerden, denn das
war der Sinn der ganzen Aktivitäten.
Hatte Herbrandt etwas zu »berichten«, und das
wurde von ihm erwartet, kam er dieser Erwartung
plichtgemäß nach, dann ging es auf einem normierten Dienstweg über die NSDAP-Kreisleitung
in Krefeld ggf. an die zuständige Gestapo-Außendienststelle Krefeld. Oder in seinem Fall auch informell an Bürgermeister Recken, der dann selbst tätig
wurde oder seine Gemeindepolizei beaut ragte.
Leumundsanfragen der Gestapo wurden über die
»Hauptstelle Politische Gutachten« bei der Gauleitung Düsseldorf direkt an die Blockwarte und Zellenleiter gerichtet.
Zur Durchsetzung des NSDAP-Programms hatte
Herbrandt »Judenfreunde« zu melden und auf die
Einhaltung aller Vorschriten für Juden zu achten.
Es listete jüdischen Besitz und jüdische Wohnungen auf. Eine Informationsgrundlage für die folgenden »Arisierungen« und Verschleppungen. Zur
politischen Überwachung führte er eine normierte
132
| Die zweite Intrige
Haushaltskartei, notierte Unmutsäußerungen und
Verhalten bei Belaggung, gab Leumundszeugnisse ab und war Ansprechpartner für Menschen, die
etwas über andere Menschen zu berichten hatten.
Er hatte zu vermerken, seit wann der »Völkische
Beobachter« bezogen wurde, ob die Familie bereits
vor dem Flaggengesetz von 1935 eine Hakenkreuzfahne besaß und welche Rundfunkgeräte im Haushalt vorhanden waren.
Als NSDAP-Blockleiter hatte Herbrandt die »Volksgenossen« »seines« Blocks zum Besuch von NSDAPKundgebungen und NSDAP-Feierstunden anzuhalten und ihnen den Beitritt zu Parteigliederungen
und angeschlossenen Verbänden nahezulegen.
Herbrandt war auch für die Organisation der »inneren Front« in »seinem« Block zuständig, der Organisation der Kriegsvorbereitungen. Im Krieg hatte
er Blockleiter-Aufgaben während und nach Bombenangrifen auf Osterath, die Überwachung von
Zwangsarbeitern und nächtliche Streifendienste.
Die NSDAP wollte auf Nummer sicher gehen und
vertraute nur ihren eigenen Mitgliedern.
Sein Vorgesetzter Bürgermeister Recken war hier
als »stellvertretender Gemeindegruppenführer« des
Reichslutschutzbundes ab 1937 in einer weiteren
amtlichen Funktion mit ihm vernetzt. Wie auch
im Kontext des Deutschen Roten Kreuzes, dessen
Ortsgruppenschatsleiter Bürgermeister Recken
ab 1939 war. Die Nationalsozialisten instrumentalisierten das DRK für die Umsetzung des NSDAPProgramms. Der im April 1933 gegründete Reichslutschutzbund diente der Kriegsvorbereitung und
war in Osterath nach der Berichterstattung in der
Osterather Zeitung als Ortsgruppe mit Zellen und
Blocks – wie die NSDAP – organisiert.
Herbrandt war ganz umfassend willfähriges Instrument der Umsetzung des NSDAP-Programms
in allen seinen persönlichen und mit Bürgermeister
Recken vernetzten Funktionen und Ämtern.
Ein Teil von Osterath war also das persönliche Hoheitsgebiet von Herbrandt. Und er war der NSDAPParteiführer der Osterather Beamten. In Symbiose
mit Recken führte er die Gemeinde Osterath.
Es gab also zwei vernetzte Bürokratien: die
partei-staatliche und die partei-amtliche, deren
Schnittstelle Herbrandt in Osterath war – quasi
als Doppelagent für Bürgermeister Recken und die
NSDAP, nach allen Seiten lexibel und ofen.
In einem Schreiben von Bürgermeister Hugo Recken an den Landrat in Kempen am 20. 12. 1937
steht zur »Anstellung Herbrandt« (KK 1022 Bl. 310):
»Während der Zeit seiner Beschät igung hat
Herbrandt gezeigt, dass er bereit ist, jederzeit
rückhaltlos für den nationalsozialistischen
Staat einzutreten. Es ist verheiratet und hat die
arische Abstammung für sich und seine Ehefrau nachgewiesen.«
So Recken zu seiner rechten Hand Herbrandt. Was
muss dann für Recken als Bürgermeister, örtlicher
Polizeichef und örtliche Gestapo gelten, über den
höheren SS- und Polizeiführer in Düsseldorf auch
unmittelbar mit der SS vernetzt? Siehe das Zitat aus
der Osterather Zeitung vom 23. März 1935: »… die
Gemeinde Osterath einen Bürgermeister erhalte,
der jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat
eintritt.« Die »Sprachregelung« für nationalsozialistische Amtswalter, denen die NSDAP-Verantwortlichen – aus guten Gründen – vertrauten: »rückhaltlos … eintritt«.
Dieses Schreiben ist ein manifestierter Ausdruck der Symbiose Recken / Herbrandt bis zum
Tod von Recken 1953 – und darüber hinaus, auch
dem Tod von Herbrandt.
Von allen diesen Zusammenhängen hatte erst der
US-amerikanische Ortskommandant Mondell,
dann der britische Ortskommandant Grier so gut
wie keine Vorstellung. Erst mit dem Nürnberger
Prozess wurde schrittweise klar, dass es »nicht
nur« Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit
insgesamt über 50.0000.000 Opfern gegeben hat,
sondern wie umfassend vor allem deutsche Bürokratien mit ihren Bürokraten aller Ebenen darin
verquickt waren. Vor Ort wie in Osterath kam es
dann darauf an: Wie gelang es interessengeleitet
den verantwortlichen Alliierten ein Bild der örtlichen Realität in Verbindung mit den konkreten örtlichen Verantwortlichkeiten zu vermitteln? Wobei
dies von denjenigen realisiert wurde, von denen die
Alliierten aus der Perspektive ihres Bildes der deutschen Realität annahmen, dass sie unbelastet und
daher glaubwürdig seien.
Wie katholische Geistliche und aktive Katholiken, die so unter den Generalverdacht des Widerstandes gegen das NS-Regime ielen, von ihnen
dann – auch in Entnaziizierungsverfahren – instrumentalisiert. So wurde von Alliierten ot der
Bock zum Gärtner gemacht. Gegen Gärtner dann
Wölfe in Schafspelzen intrigant installiert. In
Osterath – wie 1933 – Recken gegen Bartels. Hier
hat auch die Aktenvernichtung in Verantwortung
von Recken und Herbrandt vor dem Einrücken
der US-amerikanischen Einheiten in Osterath am
1. März 1945 eine erwünschte Wirkung erzielt.
Was zwischen den beiden Ortskommandanten und
ihren Osterather Gesprächspartnern ablief, war ein
Kommunikationsprozess, intern und extern, der
von beiden Seiten aus ihrer jeweiligen Perspektive
und ihren Interessen geführt wurde. »Gelernten«
Katholiken ist es auch hier – bedingt durch ihre katholische Sozialisation – gelungen, ihre Gesprächs»Partner« in ihrem Sinn zu beeinlussen. Beeinlussen im Sinne von: Erfolgreich ihre Sicht der Realität
zu »vermitteln« – der der örtlichen Osterather, auch
auf die Verantwortlichkeiten von Personen wie Recken und Herbrandt bezogen.
Die Entlassung von Bürgermeistern war alliiertes Postulat, die von Gemeindebeamten nicht. Und
mit diesem Ergebnis des Kommunikationsprozesses war die Basis für die Zukunt gelegt – wieder
mit Recken im verantwortlichen Gemeinde-Amt
in Osterath. Die Frage war »nur« noch: Wie gehen
wir das an, mit welchen konkreten Schritten? Und
wie lange dauert es – dieses Mal –, dieses Ziel zu
erreichen? Und wie sichern wir dieses Ziel nachhaltig – auch in der Zeit – ab?
Am 7. November 1945 schreibt der Landrat des
Kreises Kempen-Krefeld (KK 875 Bl. 107):
»Gegen den Bürgermeister Bartels, in Osterath,
ist von der Militärregierung heute eine Untersuchung angeordnet worden. Für die Dauer dieser Untersuchung wird Herr Bartels von
seinem Amt als Bürgermeister suspendiert und
der bei der Gemeinde Osterath als Beigeordneter tätige Anton Wienands mit der kommissarischen Leitung der Amtsgeschäte des Bürgermeisters, in Osterath, hiermit beaut ragt.«
Drei Tage später, am 10. November 1945, schreibt
Rudolf Bartels an die britische Militärregierung des
Kreises Kempen-Krefeld in Kempen (KK 875, B.
79f.):
Die angeordnete Untersuchung beruhe auf einer
Anzeige des entlassenen Hilfspolizeibeamten Josef
Lennsen, eines »alten Nazis«, der in der NS-Zeit
2. Beigeordneter der Gemeinde Osterath gewesen
sei. Diese Denunziation sei als Racheakt zu verstehen. Lenssen habe am 10. April bei seiner Amtsübernahme die Hilfspolizei in Osterath geleitet, sei
dazu von Recken eingestellt worden, zu dem dieser
eine enge Beziehung habe.
Das bedeutet: Recken hat die Gelegenheit, nicht
sofort am 1. März 1945 entlassen worden zu sein,
genutzt, personelle Weichen für die Zukunt zu
stellen, mit (Ex-)Nationalsozialisten, seinen TeilBündnispartnern, in Verbindung mit Herbrandt.
Der dann in der Übergangszeit zu Bartels kommissarisch die Gemeinde leitete und weiter konsolidierte – vor dem 10. April 1945, gerade etwa fünf
Wochen nach der Befreiung. Er und sein Umfeld
rechneten sicher damit, dass sich dies wiederhole,
Die zweite Intrige
| 133
Kreisarchiv Viersen:
Protokoll der Hilfspolizei
Osterath über die Vernehmung der Maria Hoters,
30. 11. 1945
wenn Bartels beurlaubt würde. Der Kommunist
Wienands, als kommissarischer Bürgermeister, war
ein »Betriebsunfall«, der schnell reguliert wurde,
auch durch Herbrandt von innen der Gemeindeverwaltung unter Kontrolle war. Und: Wienands war
kein Bürokrat, daher Bürokratie-Prois wie Herbrandt ausgeliefert.
Bartels weiter:
»Etwa Anfang Oktober ging bei mir eine Anfrage des Landgerichts Aachen ein, das wissen
wollte, wie der mit 3 Monaten Gefängnis und
Bewährungsfrist bestrate Josef Lenssen sich
geführt habe. Erst durch diese Anfrage erfuhren ich und der Ort Osterath, dass Lenssen vorbestrat war. Als ich ihm das mitteilte und ihm
sagte, dass er unter diesen Umständen nicht
mehr Polizeibeamter bleiben könne, begehrte
er auf … die Entscheidung der Militärregierung … ordnete seine Entlassung an. Als ich
ihm diese mitteilte, glaubte er, durch Drohung
mich zu beeinlussen, um sie rückgängig zu
machen.«
134
| Die zweite Intrige
In KK 875 Bl. 135 inden wir den folgenden Text des
Landrats vom 30. November 1945:
»Am … 29. Nov. … überbrachte ein Bote aus Osterath der Militär-Regierung in Kempen ein Schreiben in der Bürgermeisterangelegenheit in Osterath,
das von etwa 30 Bürgern der Gemeinde unterschrieben war … erklären hiermit an Eides statt, …
ohne Einwirkung und ohne Wissen des Herrn Bürgermeister Recken angefertigt und unterzeichnet
haben … Es solle damit zum Ausdruck kommen,
dass die gesamte Gemeinde dringend wünscht, dass
Bürgermeister Recken bald möglichst in sein Amt
eingesetzt wird.«
Recken wird als Bürgermeister tituliert, der wieder
in »sein« Amt eingesetzt werden solle.
Das Machtübertragungs-Revival ist im vollem
Gange.
Warum »an Eides statt«? Dazu das Protokoll der
Hilfspolizei Osterath der Vernehmung von Maria
Hoters am 30. November 1945 (KK 875 Bl. 134)
Die Antwort: So sollte das Vernehmungsprotokoll
neutralisiert werden. Was auch gelang. Die Intrige
konnte ungestört weiterlaufen. Organisiert von Recken selbst. Flankiert durch Herbrandt von innen
der Gemeindeverwaltung, abgesichert durch die katholische Geistlichkeit und die katholische Gemeindeelite, zu der auch NSDAP-Rückkehrer zählten.
Ein Bündnis in gemeinsamem Interesse. Das sich
mit dem Staatsformwechsel nicht verändert hatte.
Am 17. Dezember 1945 schreibt Julius Gutmann,
mit seiner Frau Sabine die beiden einzigen überlebenden Deportierten aus Osterath, an den Landrat
im Kempen, unterzeichnet auch von seiner Frau
(KK 1023 Bl. 181f.):
»Seit gestern wird hier in Osterath erzählt, und
zwar von Bürgermeister a. D. Recken, dass Herr
Bürgermeister Bartels zu seinen, Reckens, Gunsten,
auf das Bürgermeisteramt verzichten und Recken
wieder als Bürgermeister eingesetzt werde.«
Dagegen protestiert Julius Gutmann, insbesondere begründet mit dessen antisemitischen Verhalten auch ihnen persönlich gegenüber in der NS-Zeit.
Am 30. Dezember 1945 schreibt Bürgermeister Rudolf Bartels an den Landrat (KK 875 Bl. 136f.):
»… ich zu meiner Rehabilitierung Wert darauf legen
müsse, das Amt wenigstens auf kurze Zeit wieder
anzutreten … Ich bin nunmehr 52 Jahre Staat- und
Kommunalbeamter und möchte mit diesem Klecks
auf der Weste nicht in der Versenkung verschwinden.«
Eine Rehabilitierung wurde Bartels nicht gewährt.
Katholische Eliten kennen keine christliche Gnade.
Bartels verschwand in der Osterather Versenkung
und starb 1948. Wie Julius Gutmann und Dr. Langenbach.
Am 30. Januar 1946 schreibt der Landrat (KK 1023
Bl. 190), dass Rudolf Bartels von einem Militärgericht überführt worden sei. Wegen: »Falsche Anmaßung von Amtsgewalt der alliierten Streitkräte und
eine Handlung zum Schaden der guten Ordnung
oder des Interesses der alliierten Streitkräte.« Mir
gelang es nicht zu veriizieren, in welchem alliierten Recht das kodiiziert wurde und was für einen
Stratatbestand diese Formulierung umschreibt.
Denn es ist eine Allgemeindeinition, unter die alles
fallen kann.
Der Landrat verfügt die Entlassung von Bartels mit
Wirkung vom 7. November 1945.
»Da die Osterather Gemeindevertretung mit großer Mehrheit darum gebeten hat, dass der letzte
Bürgermeister Herr Recken zum Gemeindedirektor ernannt werden möge, gebe ich meine Zustimmung zur Übernahme dieses Amtes durch Herrn
Recken.«
Spiel, Satz und Sieg. In etwa neun Monaten – einer
Schwangerschat. Wie 1933, staatsformunabhängig
in einem Staatsformwechsel dieselbe – erfolgreiche – Intrige 1933 und 1945. Mit – überwiegend –
denselben Akteuren und demselben Ziel.
Am 25. April 1946 schreibt Rudolf Bartels an den
Oberkreisdirektor in Kempen (KK 875 Bl. 148):
»Mir ist erst heute bekannt geworden, dass durch
den Herrn Pastor Hövelmann in Osterath und
seinem engeren kommunalpolitischen Anhang
Anfang Dezember 1945 bei einer Sammlung von
Unterschriten für die Wiedereinsetzung des damals amtsenthobenen Bürgermeisters Recken eine
schwere Beleidigung gegen mich ausgesprochen
wurde, dadurch, dass behauptet wurde, ich sei
durch eigennützige und selbstsüchtige Handlungen von der Militärregierung vom Amt suspendiert
worden. Der frühere kommissarische Bürgermeister Wienands hat die Angelegenheit, da auch er angegrifen wurde, durch Bericht vom 6. Dezember
dorthin mitgeteilt mit dem Antrag, gegen die Verleumder Strafantrag zu stellen. Ich bitte um Mitteilung, ob die Angelegenheit dort aufgegrifen ist
und wie weit die Verfolgung dieses Antrages jetzt
vorgeschritten ist.«
Der Strafantrag gegen Pastor Hövelmann und dessen Entwurf in den Akten der Gemeindeverwaltung
– Recken Gemeindedirektor und Herbrandt sein
Stellvertreter – sind dann »verschwunden«. (KK 875
Bl. 149 und 152) Folgenlos.
Am 25. Mai 1946 schreiben mehrere Osterather an
Bürgermeister Rudolf Lensing (KK 875 Bl. 154):
»Die Berufung des früheren Bürgermeisters Bartels
und des früheren besoldeten Beigeordneten und
kommissarischen Bürgermeisters Wienands in den
Vorstand der Kreissparkasse in Krefeld indet den
immer stärker werdenden Widerstand der Mehrheit
der Bevölkerung.«
Die – neue – (Volks)Gemeinschat soll – wieder –
Katholiken-rein sein. Wer einer Minderheit – politisch oder religiös – angehört, der ist katholischgemeinschatsfremd. Der Unterschied: Es gibt keine
Gestapo und keine Deportation und kein KZ. Die
psychischen und physischen Auswirkungen auf die
Betrofenen sind dennoch ähnlich. Deswegen der
frühe Tod von Julius Gutmann, Dr. Langenbach
und Rudolf Bartels. Mehr als »nur« soziale Tode.
Ähnlich wie die bürgerlichen Tode vorher unter der
NS-Terrorherrschat.
Für Rudolf Bartels war 1933 und 1945 nicht zu verstehen, was passierte, mit und gegen ihn in Osterath
geschah. Ihm fehlte das Verständnis katholischer
Die zweite Intrige
| 135
Sozialisation. Obwohl er seit 1918 in Osterath lebte, von 1918 bis Ende 1933 Bürgermeister war, dann
wieder seit dem 10. April 1945: Die katholische Kultur war eine Welt außerhalb seiner Welt. Von beiden Seiten.
Ähnlich, wie ich es für Julius Gutmann stellvertretend für Menschen jüdischen Glaubens herausgearbeitet habe.
Wie es im Zitat aus »Geschichte der Juden im
Rheinland und Westfalen« bezogen auf Protestanten und Juden heißt:
»… die übermächtige und wenig tolerante
katholische Mehrheit«.
Zum Beginn der Phase nach der zweiten Intrige gegen Bürgermeister Rudolf Bartels schreibt Annette
Barfurth-Igel (S. 558): »Am 21. Januar 1946 fand sich
der ernannte Gemeinderat unter Anwesenheit von
Major Grier und Oberkreisdirektor Feinendegen
zu seiner ersten Gemeinderatssitzung zusammen.«
136
Ernannt waren u. a. Sabine Gutmann und Rudolf
Lensing, der zum Bürgermeister ernannt wurde.
In der Sitzung wurde die Besetzung der Stelle des
Gemeindedirektors mit Hugo Recken beschlossen.
Sabine Gutmann stimmte dagegen.
3. Januar 1946 Stadtrat Viersen
Kommandant Oberstleutnant Sewell
Protokollbuch der Stadt Viersen. Stadtarchiv Viersen
»Wir versuchen, alle Regierungen innerhalb der
britischen Zone, gleich welcher Instanz, zu demokratisieren, so dass das Volk selbst den Kreis regiert
und nicht die ganze Verwaltung in den Händen der
Beamten liegt …
Dann wünschen wir die Beseitigung des Führerprinzips, indem wir den höchsten Beamten mit
ausführender Gewalt zu einen politisch ungebundenen Diener der Stadtverwaltung machen. Indem
wir alle Mitglieder der Stadtverwaltung zu Staatsdienern machen, denen es nicht gestattet ist, sich
politisch zu betätigen. Wir hofen die Macht der Beamten herabzusetzen und die Macht der demokratischen Stadtvertretungen zu erhöhen … und sich
nicht von irgendeinem Beamten oder Blockleiter
kommandieren zu lassen.«
Was das betrit:
Osterath war wohl auch in der britischen Besatzungszone, aber nicht von dieser Welt. Die Gemeindevertretung wollte mit großer Mehrheit »ihren«
Gemeinde-Führer Hugo Recken – gemeinsam mit
seinem Symbionten Johannes Herbrandt – zurück.
Mit Wirkungen bis heute.
Wer war der mehrfach erwähnte Anton Wienands?
Und welche Rolle spielte er in Osterath?
Anton Wienands wurde am 26. Juni 1894 geboren. Er war Kommunist in Osterath. Er war KPDOrtsgruppenleiter, Gemeinderatsmitglied in Osterath und Kandidat für den preußischen Landtag.
Vom 28. Februar bis zum 16. März 1933 wurde er im
Polizeigefängnis Osterath inhat iert. Von dort kam
er in das Gefängnis Anrath; ein Flügel dieses Gefängnisses war bereits das für den gesamten linken
Niederrhein zuständige Konzentrationslager und
blieb es bis zur Befreiung 1945. Vom KZ Anrath
kam er bis einschließlich Juni 1933 in die Polizeigefängnisse Sonnenburg und Berlin-Plötzensee, die
in KZs umgewandelt worden waren. (RW 58-11767)
In der Osterather Zeitung am 4. März 1933 – er war
bereits inhat iert – lesen wir die »Wahlvorschläge für die Gemeinderatswahl am 14. März 1933«,
»Wahlvorschlag 3 Kennwort: Kommunistische Partei Deutschlands«, »1. Wienands Anton Hilfsmonteur«.
In derselben Ausgabe der Osterather Zeitung ist
zu lesen:
»Anstelle des Schlossers Anton Wienands, der
als Wahlvorsteher für den Bezirk 3 bereits ernannt und als solcher bekannt gegeben wurde,
ist … ernannt worden.«
In der Osterather Zeitung am 15. März 1933 lesen
wir unter »Feststellung der Ergebnisse der Gemeinderatswahl in Osterath«, »Verteilung der Mandate«:
»Kommunisten Wienands Anton«.
Nach der Befreiung von Osterath am 1. März 1945
wurde Anton Wienands mit der Ernennung von
Kreisarchiv Viersen: Schreiben des kommissarischen
Bürgermeisters Osterath Anton Wienands an den
britischen Kommandanten des Kreise Kempen-Krefeld
21. Januar 1946
Rudolf Bartels zum Bürgermeister am 10. April
1945 besoldeter Beigeordneter. Ein evangelischer
Bürgermeister und ein kommunistischer Beigeordneter: Für die katholische Geistlichkeit und die katholische Gemeindeelite eine Provokation durch die
neue Staatsgewalt, die sie in ihrem Sinn begannen
beheben zu wollen.
Vom 7. November 1945 bis zum 29. Januar 1946 war
Anton Wienands kommissarischer Bürgermeister –
eine noch größere Provokation.
Auf den 27. November 1945 ist ein Schreiben von
Wilhelm Maahsen an den Landrat datiert (KK 875
Bl. 127): »Beschwerde gegen den kommissarischen
Bürgermeister Wienands.« Eine Aulistung von Behauptungen.
Am 22. Januar 1946 schreibt Anton Wienands an
den Militärkommandanten in Kempen (KK 1023
Bl. 188): »Bewerbung auf die Gemeindedirektorenstelle in Osterath.«
Was fällt in diesem Schreiben auf?
Es ist ein persönliches Schreiben mit persönlichen
Details. Kein unpersönliches bürokratisches Schreiben – mit Hinweisen auf bürokratische Leistungen
und bürokratische Netzwerk-Verbindungen. Mit
Ausnahme seiner Verwaltungstätigkeit in Osterath
ab dem 10. April 1945. Die spielt aber in einer bürokratischen Bewertung keine Rolle.
Er wurde dann mit der Ernennung von Hugo
Recken zum Gemeindedirektor und von Rudolf
Lensing zum Bürgermeister Gemeinde-Angestellter, stieg also bürokratisch ab.
Am 9. November 1946 erhielt er von Recken eine
Kündigung zum 31. Dezember 1946. Der Kommunist sollte endgültig entsorgt werden.
Zum Kündigungsschreiben äußerte sich Anton
Wienands am 21. November 1946 in einem Schreiben an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf
(KK 16420):
Der im Kündigungsschreiben angegebene Grund
sei, dass die von ihm wahrgenommene Stelle wegfallen solle. Dies sei fadenscheinig. Denn auf die
Stelle werde auf Anordnung von Gemeindedirektor
Recken der Ex-Stahlhelmer und Ex-SA-Mann
Gelberg – mit Herbrandt in der SA Osterath – eingearbeitet, obwohl der Entnaziizierungsausschuss
beschlossen habe, dass dieser für fünf Jahre kein
Amt bekleiden dürfe.
Wo sind die Dokumente des Entnaziizierungsausschusses Osterath dazu? »Ausgedünnt«?
Die zweite Intrige
| 137
Eine der Bürokratie-Strategien: Unliebsame Stellenbesetzer werden durch – vermeintliche – Stellenstreichung legitimiert entsorgt. Es geht bei Bürokratie immer um formale Legitimation nach außen,
egal in welchem politischen System.
Und: An diesem Beispiel dokumentiert sich
die reale Entnaziizierungs-Praxis: Wer einem
Bürokraten-Netzwerk angehörte, der blieb oder
kam rein. Wer dennoch auf Veranlassung der Besatzungsmacht entlassen wurde, wurde nach deren
Ende wieder eingestellt.
Ein wesentlicher Aspekt, in dem sich Hugo Recken
und Johannes Herbrandt von sehr vielen Osterather
Männern unterschieden: Sie mussten nicht an die
Front. Die NSDAP sah ihren Platz für den Endsieg an der Heimatfront in Osterath. Dort bei den
verbliebenen Mitgliedern des Führungschorps der
NSDAP. Und im Gegensatz zu anderen NSDAPBürgermeistern wurde Hugo Recken von den USAmerikanern nicht interniert.
Die katholischen Verhältnisse in Osterth waren also
wiederhergestellt. In der Gemeindeverwaltung gesteuert durch Johannes Herbrandt. Ein deutscher
Bürokratie-Proi nahm illegitim Einluss auf die
Bürokratie vor Ort und darüber hinaus – auch zum
eigenen Vorteil und zur eigenen Absicherung. Ein
Instrument dazu war die interessengeleitete bürokratische Zweck-Lüge. Bis heute.
»Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge,
die sie schon hundertmal gehört haben,
als eine Wahrheit,
die ihnen völlig neu ist.«
Alfred Polgar.
Die Basis für die Recken-Legende war gelegt. Der
nächste Schritt war die bürokratie-immanente Legitimierung seiner – i ktiven – Amtszeit seit Ende
138
| Die zweite Intrige
Januar 1934, damals auf zwölf Jahre bis Ende 1946
begrenzt. Im »Auszug aus dem Protokollbuch der
Gemeindevertretung« Osterath vom 19. Februar
1946 – auf einem Vordruck mit »193« – lesen wir
(Kreisarchiv Viersen, Bestand KA):
»3. Festsetzung der Bezüge des Gemeindedirektors …
Der Gemeindedirektor erhält die Bezüge des
früheren beamteten Bürgermeisters (Bes.Gr.
A 3b). Für seine Person erhält Gemeindedirektor Recken den ministeriellen Richtlinien entsprechend nach einer 12-jährigen Dienstzeit in
Osterath die nächst höhere Besoldungsgruppe
A 2d.«
»Bürgermeister. Hauptamtliche B… werden nach
§ 44 DGO auf zwölf Jahre berufen. Sie sind also B.
auf Zeit und somit verplichtet, nach Ablauf ihrer
Amtszeit das Amt weiterzuführen.«
Hauptamt für Beamte der Reichsleitung der NSDAP.
ABC des Deutschen Beamtengesetzes. Berlin 1940. S. 30.
Genau das ist die – staatsformunabhängige –
Recken-Legende. Und genau um die geht es heute.
Wieder bürokratisch schein-legitimiert von Seiten
Herrn Regenbrecht im Autrag von Bürgermeister
Spindler. Koste es, was es wolle. Auch in der Verwendung bürokratischer Mittel – bis hin zu struktureller
Gewalt. Das ist die reale und wirksame Kontinuität
der speziisch deutschen staatsformunabhängigen
Bürokratie-Kultur. Unter diesen Vorzeichen bedarf es nur eines kleinen Schritts – in einem Staatsformwechsel – zu direkter bürokratischer Gewalt.
»Wer die Wahrheit nicht weiß,
der ist bloß ein Dummkopf.
Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt,
der ist ein Verbrecher.«
Bertolt Brecht
Die Rolle des Gemeindebeamten Johannes Herbrandt
Die Rolle des Gemeindebeamten Johannes Herbrandt sowie der Allianz von katholischer Geistlichkeit und katholischer Gemeindeelite sowie
deren geschichtswissenschaftliche Bewertung
In der ganz überwiegend katholischen Gemeinde
Osterath gab es seit der Weimarer Republik bis zur
Bundesrepublik Deutschland zwei vernetzte staatsformunabhängige Kontinuitäten. Der Gemeindebaamte Johannes Herbrandt machte im Kontext
seiner Symbiose mit Bürgermeister Hugo Recken
sowie den katholischen Geistlichen und der katholischen Gemeindeelite Karriere: Vom einfachsten
Gemeindeangestellten Juli 1933 bis Februar 1946
zum stellvertretenden Gemeindedirektor. Er war
der Mann im Hintergrund für alle Fälle – von Bürgermeister Hugo Recken und der NSDAP. Er zog im
Hintergrund die Fäden, ohne die primäre Verantwortlichkeit zu haben – oder anzustreben. Er wurde nach dem 1. März 1945 vom US-amerikanischen
Ortskommandanten Mondell im Amt belassen,
der britische Ortskommandant Grier änderte dies
nicht. In der Übergangszeit zwischen Recken und
Bartels leitete er kommissarisch die Gemeindeverwaltung, blieb dann in einer leitenden Funktion. So
konnte er von innen der Gemeindeverwaltung daran federführend mitwirken, dass »sein« Chef Hugo
Recken im Januar 1946 wieder in Amt und Würden
kam.
Beide Intrigen – 1933 und 1945 – liefen in jeweils
neun Monaten ab, der Zeit einer Schwangerschat.
Zwölf Jahre:
– von 1933 bis 1945 war die nationalsozialistische
Gewalt- und Terrorherrschat.
– von Februar 1934 bis gegen Ende 1946 war die
1934 NS-verfügte Amtszeit von Hugo Recken als
NS-Bürgermeister in Osterath, von März 1945 bis
Januar 1946 von den Alliierten unterbrochen, dann
durch Gemeinderatsbeschluss per interessengeleiteter bürokratischer Zweck-Lüge am 19. Februar 1946
legitimiert – die Recken-Legende war nach zwei
Schwangerschaten geboren.
– im Windschatten von Recken seit dessen Amtsantritt im Februar 1934 und als dessen Agent in der
Gemeindeverwaltung von März 1945 bis Januar
1946 hat Johannes Herbrandt seit seinem Dienstantritt als einfacher Angestellter bei der Gemeinde
Osterath im Juli 1933 bis Februar 1946 als beamteter stellvertretender Gemeindedirektor vergleichsweise schnell Karriere gemacht, von Februar 1934
bis zum 1. März 1945 als Doppelagent der NSDAP
und von Recken – als dessen Symbiont, dann weiter
bruchlos ab dem 2. März 1945.
Katholischer Geistlichkeit und katholischer Gemeindeelite ging es unter allen – politischen – Bedingungen darum, ihre Position zu behaupten.
Und dabei in Kooperation erst die Osterather Nationalsozialisten, dann die US- und die britische
Militärregierung gegen den Protestanten Rudolf
Bartels zu Gunsten des Katholiken Hugo Recken
zu instrumentalisieren. Nur im Zusammenwirken
konnte dies gelingen. Und es gelang. Auch 1934 zugunsten von Bürgermeister Hugo Recken die örtlichen NSDAP-Funktionäre auswechseln bzw. auf
Linie bringen zu lassen. Und 1945/46 das Ehepaar
Gutmann zur Machtsicherung – erneut – aus der
dörlichen (Volks)Gemeinschat zu isolieren.
Ein Teil – nicht mehr – der örtlichen Nationalsozialisten ist aus der katholischen Kirche ausgetreten.
Die Ausgetretenen sind überwiegend wieder in die
katholische Kirche eingetreten – um der neuenalten (Volks-)Gemeinschat anzugehören. Nach
katholisch-ideologischer Umerziehung. Und haben
damit die Macht der Allianz von katholischer Geistlichkeit und katholischer Gemeindeelite gestärkt.
Was wir hier vor uns haben ist ein exemplarisches Beispiel von staatsformunabhängiger Machtkontinuität in einem katholischen Dorf bis in die
1950er Jahre – und darüber hinaus. In der es keine
Stunde Null 1945 gab.
Für diese Kooperation von Bürokratie und Katholizismus existiert eine besondere Basis:
Für eine Bürokratie – religiös oder weltlich –
existiert nur das, was es – von ihr – schrit lich gibt.
Der logische Umkehrschluss: Beide vernetzten
Bürokratien gehen davon aus, dass Dokumentenvernichtung gleichbedeutend mit Nicht-Geschehen und Nicht-Existenz ist. Wird dies – z. B. mit
Dokumenten anderer Herkunt, selbst wenn sie
von Angesprochenen stammen – in Frage gestellt,
dann kommen bürokratische MachtabsicherungsMechanismen zum Tragen. Wie in der Debatte um
die – Umbenennung der – Hugo-Recken-Straße.
Johannes Herbrandt
| 139
Ernst Klee u. a. (HRSG.), »Schöne Zeiten«, Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt a. M., 1988
140
| Johannes Herbrandt
1945 – 1949: Die Entnazifizierung von Hugo Recken,
Johannes Herbrandt und Pastor Joseph Hövelmann sowie
ihre geschichtswissenschaftliche Bewertung
»Über Weniges ist nach 1945 so viel gelogen worden, wie über die Nähe oder Ferne zur NSDAP.«
Die Zeit. 10. Januar 2004.
»Verfassungsrecht vergeht,
Verwaltungsrecht besteht«
Otto Mayer
»Davon proitierten nicht wenig Belastete, die
glimplicher davonkamen als die minder belasteten Fälle, die zu Beginn der Entnaziizierung
behandelt worden waren.«
Wolfgang Benz. 2009. S. 17
Alles scheint aufs Vergessen angelegt.
Max Horkheimer. 1946
»Ideologien mag man abstreifen wie Kleider,
Mentalitäten hingegen bleiben an der Haut
kleben.«
theodor Geiger
Die – nicht aussagefähige – Ultrakurzfassung:
Hugo Recken wurde erst in Ia, letztlich in die
Kategorie V – Unbelastete – eingestut, Johannes
Herbrandt erst in die Kategorie II – Belastete, dann
nach einigem bürokratischem Aufwand und mehreren Stufen letztlich in Kategorie V.
Pastor Joseph Hövelmann musste einen Entnaziizierungs-Fragebogen ausfüllen. Dann ging das
Verfahren in deutsche Hände über – und wurde
beendet.
Was sagt das katholische Kirchenrecht in Bezug auf
die in diesem Buch dokumentierten Handlungen
von Pfarrer Hövelmann?
Richard Puzza. Katholisches Kirchenrecht.
Heidelberg 1986.
Norbert Reef. Das Recht der katholischen
Kirche nach dem neuen Codex Iuris Canonis.
Freiburg 1983.
Delikt c. 1374
Aktive Unterstützung ... kirchenfeindlicher
Organisationen.
Delikt C. 1391 nn. 1-3
n.1: Urkundenfälschung und
Urkundenunterdrückung
n.2: Verwendung gefälschter Urkunden
n3: Falsche Angaben in öfentlichen
kirchlichen Dokumenten
Recken, Herbrandt und Hövelmann spielten zusammen mit einer Gruppe Osterather und weiteren
regionalen (Ex-)Nationalsozialisten das BürokratieSpiel:
Das auf Zeit und Ermessen. In Verbindung mit
ihren Bürokraten-Netzwerken. Aus ihrer Perspektive mit Erfolg.
In der US-amerikanischen Direktive JCS 1067 zur
»Säuberung der öfentlichen Verwaltung« im April
1945 lesen wir:
»Alle Mitglieder der Nazipartei, die nicht nur nominell in der Partei tätig waren … (Als solche) sind
diejenigen zu behandeln, die (1) ein Amt innehatten
… von der örtlichen bis zu den Reichsstellen der
Partei … (2) irgendwelche Naziverbrechen, rassische Verfolgungen oder Diskriminierungen veranlassten oder an ihnen teilgenommen haben … keine
dieser Personen in irgendeiner der oben aufgeführten Beschät igungsarten aus Gründen der verwaltungstechnischen Notwendigkeit, Bequemlichkeit
oder Zweckdienlichkeit beibehalten werden.«
Dies ist in der Direktive Nr. 24 des alliierten Kontrollrates zur »Entfernung von Nationalsozialisten
aus öfentlichen Ämtern« vom 12. Januar 1946 – wenige Tage vor dem Dienstantritt von Hugo Recken
als Gemeindedirektor in Osterath – fast wortwörtlich übernommen und konkretisiert. Diese Direktive hatte den Charakter eines unmittelbar geltenden
Gesetzes, band also Legislative und Exekutive – also
alle Bürokratien – unmittelbar.
Dort heißt es in »1. Zweck und Ziel«:
»Diese sind durch Personen zu ersetzen, die nach
ihrer politischen und moralischen Einstellung für
fähig erachtet werden, die Entwicklung wahrer demokratischer Einrichtungen in Deutschland zu fördern.«
Unter »2. Begrifsbestimmungen« wird
ausgeführt:
2a) Als Personen, die der Partei ›aktiv und nicht
nur nominell angehört haben‹ und solche, ›die
den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstehen‹, sind anzusehen:
I. Personen, die als Amtsträger oder in einer anderen Weise in der Partei, von den Orts- bis
hinauf zu den Reichstellen, oder in einer ihr
Entnazifizierung
| 141
angeschlossenen oder in solchen Organisationen, die militärische Lehren fördern, aktiv tätig
waren;
II. Personen, die nationalsozialistische Verbrechen, Rassenverfolgung oder ungleichmäßige
und ungerechte Behandlung gutgeheißen oder
an solchen Taten willig teilgenommen haben.«
»Der Ausdruck ›öfentliches Amt‹ schließt alle
Staats- und Gemeindebeamten oder Angestellten ein … Der Ausdruck ›Entfernen‹ im Sinne der
Direktive bedeutet, dass der Betrefende sofort und
unbedingt zu entlassen … ist … Personen, die aus
öfentlichen Ämtern entfernt werden, haben keinen
Anspruch auf Ruhegehälter oder andere Beamtenrechte … Es ist wesentlich, dass die leitenden deutschen Beamten … erwiesene Gegner des Nationalsozialismus sind, selbst wenn dies die Anstellung
von Personen nach sich zieht, deren Eignung, ihren
Aufgabenkreis zu erfüllen, geringer ist.«
»f. Die Namen der entfernten Personen und die
Gründe für ihre Entfernung sind den zuständigen Leitern der Vermögensverwaltung (Militärregierung) oder den entsprechenden Behörden
der Militärregierung zu übermitteln, die gemäß
den einschlägigen Gesetzen und Anordnungen
der Militärregierung die Maßnahmen zur sofortigen Sperre und Kontrolle des Vermögens solcher Personen trefen.«
»b. Alle Mitglieder der NSDAP, die der Partei beitraten oder als Mitglieder aufgenommen wurden, bevor die Mitgliedschat in der Partei im
Jahre 1937 ein Zwang wurde oder die in anderer
Weise sich mehr als nominell an der Tätigkeit
der NSDAP beteiligt haben.«
»Beamte
Alle Personen, die nach dem 30. Januar 1933 zu einer der nachgenannten Stellungen ernannt wurden,
und diejenigen Personen, die solche Stellungen bereits inne hatten und sie trotz wiederholter nationalsozialistischer Säuberungsaktionen beibehalten
haben: … 68. Bürgermeister«
»11. Richtlinien für Entfernung und Ausschluss
nach Ermessen
Die Ausmerzung des Nationalsozialismus und
Militarismus macht es erforderlich, Personen, die
voraussichtlich undemokratische Traditionen verewigen würden, von allen ausschlaggebenden oder
einlussreichen Stellungen zu entfernen und auszuschließen.«
»12. Unter Entlassung oder Ausschluss nach Ermessen fallende Kategorien …
c) Personen, die nach dem 1. April 1933 der SA
beitraten …
f) Nominelle Mitglieder der NSDAP, die dieser Partei nach dem 1. Mai 1937 beitraten.«
Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 5 vom 31. März 1946,
S. 98 ff.
142
| Entnazifizierung
Hier spiegelt sich u. a., wie deutsche BürokratieProis durch für sie gewohnte sophistische Interpretation den klaren Willen des Gesetzgebers aushebeln wollten. Im diametral umgekehrten Verhältnis zu ihrem Handeln vor der Befreiung. Wenn sie
dies unter den Bedingungen der vollständigen alliierten Regierungsgewalt und Kontrolle taten, unabhängig vom Erfolg im Einzelfall – wie bei Herbrandt
und Recken –, wie agierten dann die staatsformunabhängigen Bürokraten-Netzwerke, wenn sie Spielraum für bürokratisches Handeln erhielten?
»Kontrollratsgesetz Nr. 10
Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder
gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben vom 20. Dezember 1945 …
Artikel II. 1. Jeder der folgenden Tatbestände
stellt ein Verbrechen dar: …
c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gewalttaten und Vergehen, einschließlich der
folgenden den obrigen Tatbestand jedoch
nicht erschöpfenden Beispiele: … Freiheitsberaubung … Verfolgung aus politischen,
rassischen oder religiösen Gründen …
2. … wird eines Verbrechens … für schuldig
erachtet, wer
a) als Täter oder
b) als Beihelfer bei der Begehung eines solchen
Verbrechens mitwirkte oder es befohlen oder
begünstigt oder
c) durch seine Zustimmung daran teilgenommen hat oder
d) mit seiner Planung oder Ausführung in Zusammenhang gestanden hat oder
e) einer Organisation oder Vereinigung angehört hat, die mit seiner Ausführung in Zusammenhang stand …
4. a) Die Tatsache, dass jemand ein amtliche
Stellung eingenommen hat, … befreit ihn nicht
von der Verantwortlichkeit für ein Verbrechen
und ist kein Strafmilderungsgrund.
b) Die Tatsache, dass jemand unter dem Befehl
seiner Regierung oder eines Vorgesetzen gehandelt hat, befreit ihn nicht vor der Verantwortlichkeit für ein Verbrechen …
Artikel III 1. Die Besatzungsbehörden sind berechtigt, innerhalb ihrer Besatzungszonen die
folgenden Maßnahmen zu trefen:
a) Wer sich innerhalb der Zone beindet und
der Begehung eines Verbrechens verdächtig
ist, … kann verhatet werden; das in seinem Eigentum stehende oder seiner Verfügungsmacht unterliegende bewegliche oder
unbewegliche Vermögen soll unter Aufsicht
gestellt bis darüber endgültig verfügt wird.«
www.verfassungen.de
Für den damaligen Kreis Kempen-Krefeld beschreibt die Rahmenbedingungen der Entnaziizierung:
Gerhard Rehm (Bearb.). Der Landkreis KempenKrefeld in der Nachkriegszeit. Die monatlichen
Berichte des Oberkreisdirektors an die Militärregierung (September 1945 – Juli 1948). Viersen 2008.
Daraus:
»September 1945 (S. 48)
Die Prüfung der Personen, insbesondere der
Anhänger der Nazipartei und ihrer Gliederungen, wird systematisch fortgesetzt …
Die Reinigung der Ämter ist noch nicht abgeschlossen. Sie waren überall stark mit Nazielementen durchsetzt. Die Frage von Ersatzmännern für gemaßregelte Beamte und Angestellte
stöß auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten.
Der Reinigungsprozess wird daher nur schrittweise vorwärts gehen.«
»Oktober 1945 (S. 71)
Soweit die Aufrechterhaltung der Verwaltungsbetriebe die Entlassung von Nazis zulässt, erfolgt diese sofort. Die aus den Ämtern
entlassenen Nazis halten enge Verbindungen
zueinander.«
Diese vernetzte bürokratische Argumentation »gegen den Strich« verstanden:
Damit legitimierten die Verantwortlichen in der
Kreisverwaltung Kempen-Krefeld ihr Handeln
gegenüber der Militärregierung im Kempen. Sie
legitimierten so, das Bürokraten-Netzwerker wie
Herbrandt nicht entlassen werden konnten, weil
»alternativlos«. Und wieder in Amt und Würden
eingesetzt wurden, wie im Januar 1946 Recken. Die
Militärregierung hat sich täuschen lassen. Bedingt
durch die Adaption ihres Bildes der deutschen Realität durch die Kreisverwaltungsspitze, die dies im
Sinne ihrer Mit-Bürokratennetzwerker instrumentalisierte. Staatsformunabhängig, auf das eigene
persönliche und Gruppen-Interesse bedacht, auf
das ein Recht bestünde, erarbeitet durch die Gefolgschat zuvor.
In den »Kempen-Krefelder Mitteilungen«, dem
»Amtsblatt für den Landkreis Kempen-Krefeld.
Herausgegeben von der Militärregierung« vom 18.
Januar 1946 lesen wir (Bestand Osterath 1500) zur
»Bildung von Säuberungsausschüssen« die »Ansprache des Kommandanten an den Kreistag« am
15. Januar 1946.
»Eine Hauptaufgabe des Kreistages ist die Säuberung des Landkreises von den Nazis … Die Militärregierung ist immer bemüht gewesen, die zu entfer-
nen, von denen sie annahm, dass sie Nazis gewesen
sind … Mit den Fällen der Gemeinden und den örtlichen Beamten sollen sich die Säuberungskommissionen der Gemeinden befassen.«
Das wurde dem äußeren Schein nach von den
Verantwortlichen in den deutschen Bürokratien
umgesetzt. Wie, das haben wir an den Beispielen
Herbrandt, Recken und Hövelmann vor Augen.
Eine klare – unbürokratische – Sprache: »Säuberungsausschüsse«.
Dann bürokratisch in »Entnaziizierung« umgedeutet. So dann u. a. von Historikern übernommen,
damit auch die veränderte Perspektive, bedingt
durch bürokratische Deinitions-Macht. Bis heute.
Die Briten bringen nicht ein Jahr nach Kriegsende
den Deutschen das Vertrauen entgegen, diese Angelegenheit selbst zu regeln. Und geben damit den
Bürokraten-Netzwerken den Handlungsspielraum
in die Hände, ihre Mitglieder zu protegieren. Unabhängig davon, ob sie nach dem geltenden Recht zu
sanktionieren und zu entlassen waren, denn für Bürokraten sind politische Fragen nur vordergründig
von Bedeutung, soweit sie sie zur Legitimation ihres
Bürokraten-Handelns instrumentalisieren können.
Zur Wahrung des Scheins wurde »gesäubert« – von
den aktiven Nationalsozialisten, die nicht den Bürokraten-Netzwerken angehörten. Drei Proiteure:
Hugo Recken, Johannes Herbrandt und Joseph Hövelmann.
In der britischen Besatzungszone bedeutete das
»Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und
Militarismus« vom 5. März 1946 den Übergang der
Entnaziizierung in deutsche Verantwortung, konkretisiert durch die Zonen-Instruktion Nr. 2 vom
17. Januar 1946. Im Gesetz heißt es:
»Die Beurteilung des Einzelnen geschieht
in gerechter Abwägung der individuellen
Verantwortlichkeit und der tatsächlichen
Gesamthaltung.«
Der Freibrief für bürokratisch genutztes
Ermessen.
Mit der Verordnung Nr. 110 vom 1. Oktober 1947
glaubte die britische Militärregierung dann den
deutschen Behörden einen aus ihrer Perspektive
zielführenden Handlungsrahmen vorgegeben zu
haben.
Im Entnaziizierungsverfahren – und darüber hinaus – haben sich die Beteiligten gegenseitig »Persilscheine« – und damit für sich selbst – ausgestellt. Im
Kontext ihrer bürokratischen Symbiose. Herbrandt
hatte trotz seiner Einstufung in die Kategorie »Minderbelastete« keinerlei Konsequenzen zu tragen,
Entnazifizierung
| 143
wurde also geschützt und protegiert. Im Gegenteil:
Er wurde weiter befördert. Da er sich gegenüber
Hugo Recken absolut loyal verhielt, dafür seinen
Vorgesetzten Bürgermeister Rudolf Bartels in einer
Weise hinterging, die dienstrechtliche, strafrechtliche und zivilrechtliche Konsequenzen hätte haben
müssen – auch für Recken. Hohes Risiko – hohe
Position: Stellvertretender Gemeindedirektor einen
Monat nach Reckens Amtseinführung als Gemeindedirektor im Januar 1946 – beginnend als einfachster Verwaltungsangestellter im Juli 1933.
Die geschichtswissenschat liche und die juristische
Literatur sind sich einig:
Die Entnaziizierung – die Säuberung von Nationalsozialisten – ist gescheitert.
Recken und Hövelmann, noch mehr Herbrandt,
sind Prototypen dafür.
Gescheitert an den Westalliierten, weil sie sich
täuschen ließen, dann täuschen lassen wollten – als
Selbst-Legitimation, als sie im beginnenden Kalten
Krieg auf die Feinde ihrer – kommunistischen –
Feinde zurückgrifen. Und an den deutschen Bürokratien, die die Entnaziizierung schnellstmöglich
beenden wollten. Vernetzt mit den lokalen und regionalen Bürokraten-Netzwerken, die »ihre« Angehörigen schützen und im Amt halten wollten. Wo
dies erst nicht gegen die alliierte Besatzungsmacht
gelang, dann später nach derem Ende durch Wiedereinstellung. Wiedereinstellung derer, die in diesen Netzwerken waren – im Einzelfall seit vor 1918.
Die Kontinuität deutscher Bürokratie – unter / in /
über welchem politischen System auch immer. Der
äußerliche Unterschied die jeweilige ideologische
Legitimation, die gewechselt wurde wie die Kleidung.
Mitglieder des Entnaziizierungsausschusses der
Gemeinde Osterath waren u. a. die NS-Verfolgten
Sabine Gutmann – für die KPD – und Paul Cervelli
– parteilos –. Sie waren erwiesenermaßen unbelastet. Im Gegensatz zu ihrem Gemeindeverwaltungsmitarbeiter Johannes Herbrandt. Paul Cervelli wurde von (Ex)Nationalsozialisten um »Persilscheine«
gebeten, gab sie aber nicht. Warum auch?
Sabine Gutmann schloss sich gegen ihre Herkunt
der Partei an, die für sie die Verfolgten am deutlichsten repräsentierte: die KPD. Stellte sich damit
außerhalb der – neuen – Dorf-(Volks)Gemeinschat. Weniger – aber auch – Paul Cervelli, da er
sich keiner der Dorf-Parteien anschloss, unabhängig blieb.
Als der Osterather Entnaziizierungsauschuss im
Februar 1946 gebildet wurde, war der besoldete
Beigeordnete Anton Wienands (KPD) aus dem Amt
144
| Entnazifizierung
gedrängt worden, wurde im selben Monat oiziell
durch Johannes Herbrandt als stellvertretender Gemeindedirektor ersetzt. Und die katholische Geistlichkeit verbunden mit der katholischen Dorfelite in
Union mit der Bürokratie in Person der Symbiose
Recken / Herbrandt war es gelungen, den evangelischen Bürgermeister Rudolf Bartels abermals – wie
1933 – mit einer Intrige durch den Katholiken Hugo
Recken ersetzen zu lassen. Die dörlichen katholischen Verhältnisse waren also wieder zurechtgerückt. Und im Entnaziizierungsausschuss saß für
die CDU der katholische Pfarrer Hövelmann. So
war auch dort durch den Recken-Protegee alles unter Kontrolle.
Vorher – im Jahr 1945 seit der Befreiung durch USamerikanische Einheiten am 1. März 1945 – gab es
eine aktive Entnaziizierung in Osterath, wie aus
den beiden Akten im Bestand Osterath 1500 und
1501 hervorgeht. In Verantwortung von Bürgermeister Rudolf Bartels und seines besoldeten Beigeordneten Anton Wienands. Also so weit, wie Johannes Herbrandt es – noch nicht – verhindern konnte.
Im August 1944 überschritten alliierte Einheiten
bei Aachen die deutsche Grenze, nicht weit von
Osterath. Neben den letzen regionalen DurchhalteKriegsanstrengungen gab es den Versuch der Fortführung der Mord-Politik im Rheinland.
Einer der Nürnberger Nachfolgeprozesse war
der Einsatzgruppenprozess in Nürnberg 1947/48.
Einer der Angeklagten war der Einsatzgruppenleiter Gustav Nosske. Er wurde zu einer lebenslangen
Freiheitsstrafe verurteilt, 1951 entlassen. Von den
24 Angeklagten schieden zwei wegen Krankheit
und Suizid aus dem Verfahren aus. Von den übrigen
24 Angeklagten wurden 14 zum Tode verurteilt, 4
tatsächlich hingerichtet, alle anderen nach kurzer
verbüßter Strafe entlassen.
Im Urteil gegen Nosske lesen wir (Trials of War
Criminals Before the Nürnberg Military Tribunals. Volume IV: »he Einsatzgruppen Case« »he
RuSHA Case«, S. 558f. Web-Ressource. Übersetzung des Autors):
»Im September 1944 wurde der Angeklagte, der
inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt war
(Nosske wurde Leiter der Gestapo-Leitstelle Düsseldorf, LK), vom Höheren SS- und Polizeiführer
(Düsseldorf, LK) beaut ragt, alle Juden und Halbjuden in diesem Bereich (Regierungsbezirke Düsseldorf, Köln und Dortmund, also aus Osterath Lucie
Langenbach und Paul Cervelli, LK) zu erschießen.
Der Angeklagte erklärte, dass er gegen diesen Befehl protestierte und der Befehl schließlich widerrufen bzw. er nicht zu dessen Durchführung gezwungen wurde. Nosske protestierte gegen diesen
Befehl mit der Begründung, dass er annahm, dass
viele der Opfer, insbesondere die Halbjuden, Deutsche seien (Als Einsatzgruppenleiter hat er da nicht
diferenziert. LK) Sein Handeln demonstriert entgegen der Gutachten mehrerer Angeklagter zum
Befehls-Zwang, dass die Mitglieder der deutschen
Wehrmacht gegen Befehle protestieren konnten
ohne Gefahr zu laufen, selbst erschossen zu werden. Obwohl es wahr ist, dass der Angeklagte einige
Nachteile erlitt wegen seiner Weigerung, die Menschen im Bereich Düsseldorf zu erschießen, wurde
er nicht erschossen oder entlassen.«
Kommentar: Nosske wird seinen Vorgesetzten Höheren SS- und Polizeiführer von Dienstzimmer zu
Dienstzimmer primär auf die Nicht-Durchführbarkeit des Befehls aufmerksam gemacht haben.
Nosske hatte nicht mehr »seine« Einsatzgruppe zur
Verfügung und es gab im Bereich Düsseldorf keine Polizei-Einheiten mehr. Die Gestapo-Beamten
mordeten »nur noch« individuell. Für kollektiven
Mord fehlte zu diesem Zeitpunkt im Bereich Düsseldorf das – ausgebildete – Personal. Das bedeutet:
Nosske hätte das »Gesetz gegen die Gemeinschatsfremden« ebenso konsequent umgesetzt wie seine
Tätigkeit als Einsatzgruppenleiter. Im Einsatz für
den Führer und sich an seinen Eid auf Hitler gebunden fühlend. Wie alle Menschen, die ihren persönlichen Eid auf Hitler geschworen hatten. Über die
Befreiung hinaus.
Damit haben wir bereits die Muster von vernetzten individuellem Habitus, Säuberung und juristischer Aufarbeitung erfasst.
1985 habe ich im Rahmen des heimatkundlichen
Arbeitskreises Osterath vorliegende Zeitzeugeninterviews zum Kriegsende in Osterath ausgewertet
und eigene Zeitzeugeninterviews geführt. Das Ergebnis war mein Beitrag in den Meerbuscher Geschichtsheten 1985 »Das Kriegsende in Osterath«
(S. 98 – 106). Daraus:
»Ein Teil der (am 1. März 1945, LK) auf den
Kirchplatz Geführten wurde anschließend in
die Kirche gebracht, in der Nacht in den Keller eines nahe liegenden Hauses. Neben Dr. Ley
wurden noch einige andere von ihnen in die
USA transportiert, wo sie in Gefangenschat
blieben. Bürgermeister Recken wurde Anfang
April 1945 seines Amtes enthoben. An seiner
Stelle musste der Gemeindebeamte Johannes
Herbrandt in den folgenden Tagen kommissarisch die Gemeinde leiten … Am 3. März mussten deutsche Gefangene den ganzen Tag mit
dem Gesicht zur Gartenmauer am ehemaligen
Plöneshof, jetzt heodor-Heuss-Straße, stehen. Der Grund war, dass die US-Amerikaner
wegen des Werwolfs teilweise in Panik gerieten
(Ein Werwolkommando hatte den von den
US-Amerikanern eingesetzten Bürgermeister
von Aachen ermordet). Bis Ende März durten
sich die Osterather nur im Ort auhalten, für
Ausnahmen wurden Passierscheine benötigt.
Diese Regelung wurde durch die Einführung
der Registration Cards im April 1945 abgelöst
… Im Haus Hochstraße 15 war in den ersten
Tagen die Kommandantur eingerichtet. Im
Bürgermeisteramt war ein niederes amerikanisches Militärgericht, im Keller ein Aufanglager eingerichtet … Am 19. März 1945 wurden
Büderich, Lank und Osterath bis zur Bahnlinie
geräumt. Das bedeutete weitere Einquartierungen … Die Evakuierung dauerte sechs Wochen.« (S. 105f.)
Aus meiner Ersten Staatsarbeit »Verfolgung und
Widerstand in Meerbusch 1933 – 1945« Kapitel 23.
Die Vorgänge in Meerbusch vom lokalen Kriegsende bis zur Gesamtkapitulation am 9. 5. 1945«
(S. 328 f.):
»Die gesamte gesetzgebende und vollziehende
Gewalt lag in den Händen der Militärregierung. Große Plakate, die öfentlich zum Aushang gebracht wurden und in englischer und
deutscher Sprache gedruckt waren, verkündeten Proklamationen, Deklamationen, Befehle,
Gesetze, Verordnungen, Bekanntmachungen,
Anordnungen, Anweisungen usw. des Kontrollrates, der zonalen, regionalen und örtlichen Befehlshaber und Gesetzgeber, und bestimmten, was Recht sei und was zu tun und
zu lassen sei. Es gab zunächst kaum eine Angelegenheit allgemeiner oder persönlicher Bedeutung, die nicht von oder über den Kommandanten entschieden wurde.«
NSDAP-Ortsgruppenleiter Dohmen und sein Vorgänger Panzer wurden von den Alliierten verhatet
und für längere Zeit interniert.
Mit Datum vom 19. Mai 1945 inden wir im Bestand
Osterath 1500 einen handschrit lichen Brief einer
Osteratherin »An die Militär-Kommandantur in
Osterath«, der typisch war. Der »Antrag auf Rückgabe des Radio-Gerätes« schließt mit der Formulierung:
»… bitte ich in der Sache den Herrn Pastor
Hövelmann zu hören.«
Sechs Wochen nach der Befreiung war das katholische Dorf-Machtspiel schon wieder im vollen
Entnazifizierung
| 145
Gange. Auch deswegen, weil es für die Besatzungsmacht – ob nun US-Amerikaner und dann Briten –
außerhalb ihres Fokus lag.
Eine Reihe Osterather Nationalsozialisten wurde
verhatet, musste u. a. die Radioapparate abgeben
und nach der Hatentlassung Hausarrest einhalten,
verbunden mit Dienstverplichtungen.
In KK 882 »Sofortmaßnahmen Aktion Werwolf« lesen wir ein Schreiben des Landrats Kempen-Krefeld
an die Bürgermeister vom 4. April 1945: »Bei allen
örtlich bekannten Mitgliedern, soweit sie Parteifunktionen ausgeübt haben, sind die Radioapparate
zu beschlagnahmen und sicher zu stellen«. In Osterath wurden bei 25 bekannten aktiven Nationalsozialisten 31 Radioapparate koniziert.
In einem Dokument von Bürgermeister Rudolf
Bartels vom 24. August 1945 sind von ihm die
»Personen nach Gesetz No. 52« – Sperre und Kontrolle von Vermögen von Nationalsozialisten – aufgelistet:
»43. Hugo Recken, Bürgermeister, Osterath,
Hauptstr. 1 (entlassen)«
»Überprüt wurde … der gesamte Lebenswandel
zwischen 1933 und 1945. Um ihre Belastung zu
mindern oder ihre Ablehnung des NS-Regimes unter Beweis zu stellen, legten viele Betrofene eidesstattliche Erklärungen von Freunden, Bekannten
und Kollegen, die sogenannten Persilscheine, vor,
die ihren politischen Leumund bezeugen sollten …
Persilscheine, deren Wahrheitsgehalt in vielen Fällen nicht allzu hoch anzusetzen war.«
Matthias Meusch. Die Entnaziizierung und die
Anfänge der juristischen Auseinandersetzung mit
den Verbrechen des Nationalsozialismus. in: Landtag Nordrhein-Westfalen. 1946. Politik und Alltag
im Gründungsjahr des Landes Nordrhein Westfalen. Düsseldorf 2006, S. 51.
»Beginnend im Oktober 1945 führte die Militärregierung das System der Kategorien ein …
Kategorie I – V
(I: Hauptschuldige, II: Belastete, III: Minderbelastete, IV: Mitläufer, V: Entlastete).
(Meusch. S. 51)
»12. 02. 1952 Inkrat treten des Gesetzes
zum Abschluss der Entnaziizierung im
Land Nordrhein-Westfalen«
(Meusch. S. 52)
In der diesem Dokument zugehörigen »Nachweisung über die aufgrund des Gesetzes Nr. 52 der
Militärregierung gesperrten Privatkonten« vom
1. November 1945 lesen wir:
»Hugo Recken 8.000, -Kreissparkasse Zweigstelle Osterath«
Das bedeutet:
Die britische Militärregierung für den Kreis
Kempen-Krefeld in Kempen ging davon aus, dass
Recken zu den NS-Tätern, zumindest NS-Mittätern,
zählen könnte.
Die Aufgabe des Entnaziizierungsausschusses war
insbesondere: Alle aktiven Nationalsozialisten aus
dem öfentlichen Dienst auszuschließen. Die realen
Machtverhältnisse in Osterath Ende 1945 dokumentierten sich dadurch, dass gerade Herbrandt
blieb, wo er war.
Im Gegensatz zu Sabine Gutmann und ihrem
Mann Julius, die erneut aus der (Volks-)Gemeinschat ausgeschlossen wurden. Weil sie es wagten, sich zu ihrem persönlichen Peiniger Hugo
Recken im Dezember 1945 schrit lich zu äußern
und sich so erst die bürokratische Feindschat von
Johannes Herbrandt, dann ab Januar 1946 von
Gemeindedirektor Hugo Recken – und seinem Stellvertreter ab Februar 1946 Johannes Herbrandt – zuzogen.
146
| Entnazifizierung
Etwa 10% der NRW-Einwohner wurden der Entnaziizierung unterzogen:
817.819 Personen
90 Kategorie I und II
33.531 Kategorie III
59.630 Kategorie IV
624.568 Kategorie V = über 75%
(nach: Meusch. S. 52)
Im Staatsarchiv Nordrhein-Westfalen gibt es gut
1.200.000 Entnaziizierungsakten. Das bedeutet:
Etwa 50% der Betrofenen gingen in die Berufung –
um dann i. d. R. als Unbelastet eingestut zu werden.
Im April 1948 beschloss der Landtag NordrheinWestfalen ein Entnaziizierungsgesetz. Das Gesetz wurde von der britischen Militärregierung
abgelehnt. Die Landtagsdrucksachen dazu sind
eine historisch interessante Lektüre. In der Landtagssitzung am 9. Dezember 1947 führte Landesjustizminister Dr. Heinemann – später Bundespräsident – aus:
»Als wir noch alle unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschat standen, hatte ein
großer Teil unseres Volkes den sehnlichen
Wunsch, die Träger und die Nutznießer dieses
Systems einmal für alle Schandtaten zur gründlichen Rechenschat gezogen zu sehen … Ich
bin überzeugt davon, dass eine spätere Zeit
einmal sagen wird, dass mit den Trägern des
Dritten Reiches ungeheuer glimplich verfahren worden ist.«
Wohin waren die – aktiven – Nationalsozialisten
verschwunden?
Eine rhetorische Frage: Sie waren ganz überwiegend
da, wo sie auch vorher waren. Nur das ihre Vergangenheit wegdeiniert wurde.
Um eine Perspektive darzustellen:
Der Leiter des Judenreferats der Gestapoaußendienststelle Krefeld Schulenburg – zuständig auch
für die als »Juden« deinierte Menschen in Osterath
und Lank – wurde in die Kategorie IV eingestut.
In die Kategorie IV wurde ebenso der Leutnant der Schutzpolizei Paul Salitter eingestut, der
den Deportationszug nach Riga 11. Dezember 1941
ab Schlachthof Düsseldorf-Derendorf leitete und
dessen Deportationsbericht eine zentrale Rolle im
Eichmann-Prozess in Jerusalem hatte.
Der Unterschied von Schulenburg und Salitter
zu Recken und Herbrandt: Sie durten nicht mehr
in den öfentlichen Dienst zurückkehren. Sie waren
also nicht in den Bürokraten-Netzwerken.
Werfen wir noch einen genauen Blick auf die Argumentation von Hugo Recken in seinem Entnaziizierungsverfahren sowie ihrer apologetischen Rezipierung heute durch Herrn Regenbrecht in Kontext
zu den geschichtswissenschat lichen Fakten.
In einer von Hugo Recken erstellten Aulistung von
zwei Seiten führt er elf Punkte zu seiner Entlastung
auf. (KK 1023 Bl. 163) Hier ist zwischen den Zeilen
die Gesamtkonstellation mit Johannes Herbrandt
sowie katholischer Geistlichkeit und katholischer
Gemeindeelite zu lesen – wenn diese Perspektive
wahrgenommen wird. Seine Darstellung wurde
ihm letztlich oiziell im Urteil des NRW-Entnaziizierungsausschusses vom 11. Juli 1949 bestätigt.
(LAV NRW R, NW 1034 Nr. 4803)
An seinem einzigen konkreten Beispiel der Familie Dr. Langenbach, »Schutz der Juden«, habe ich
in diesem Buch geschichtswissenschat lich dokumentiert, dass Hugo Recken in seiner Funktion
als Bürgermeister, örtlicher Polizeichef und damit
auch örtliche Gestapo keinen Menschen jüdischen
Glaubens oder als Halbjuden deinierte Menschen
geschützt hat. Im Gegenteil: Im vorauseilenden Gehorsam und auf eigene Initiative hat er Verfolgungsmaßnahmen umgesetzt bzw. umsetzen lassen.
Für Bürokraten ist die Zweck-Lüge Teil des Selbstverständlichen nicht nur im bürokratischen Alltag.
Und der Verweis auf zwei Recken-Entnaziizierungs-Akten im Landesarchiv NRW in Düsseldorf
und ihrer – vermeintlichen – Teil-Nichtverfügbarkeit wird von Bürgermeister Spindler als Legitimation benutzt, auf Zeit zu spielen, um im Sinne der
Recken-Legende bürokratisch auf Vergessen zu spekulieren. Tatsächlich sind alle Entnaziizierungsakten ohne Einschränkung frei verfügbar. Den Text
der entsprechenden eMail der zuständigen Mitarbeiterin des Landesarchivs NRW können Sie im
Kapitel »Die Debatte 2012« lesen.
Der NSDAP-Gauleiter Düsseldorf Florian wurde
von einem deutschen Gericht in Düsseldorf verurteilt, dann begnadigt.
Auf diese Begnadigung haben sich dann zahlreiche NS-Täter bezogen: Wenn dieser Haupt-Täter
begnadigt würde, dann könne er in Relation zur
Schwere der Taten nicht verurteilt werden. So Georg
Pütz, Leiter des Judenreferats der Gestapoleitstelle
Düsseldorf, auch zuständig für die Deportation der
Menschen aus dem heutigen Meerbusch.
Die Staatsanwaltschat Düsseldorf begann 1947 gegen ihn Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit. Diese Ermittlungen ergaben sich
aus dem Artikel II 1c des Kontrollratsgesetzes Nr.
10, nach dem die gesamten Maßnahmen gegen von
den Nationalsozialisten als Juden deinierten Menschen – ob nun durch die NS-Führung oder deren
Helfershelfern – als Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuklären und zu ahnden waren. Helfershelfer auf allen Ebenen.
Georg Pütz gehörte bis 1937 der katholischen Kirche an, trat dann aus, 1948 wieder ein. Was ihm
bereits vor dem Wiedereintritt die Unterstützung
von Seiten der katholischen Geistlichkeit in seinem
Gerichtsverfahren und später bei Begnadigungsanträgen eintrug.
Herbert Schmid zitiert aus den Vernehmungen von
Georg Pütz sowie der Urteilsbegründung zur Verurteilung u. a. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit:
»Aus Gründen der Menschlichkeit habe ich
mich dann bewegen lassen, den einen oder
anderen Juden vom Abtransport zu schonen.«
(S. 173) »Wäre es dem Angeklagten darauf
angekommen, nur seine unausweichlichen
Dienstobliegenheiten zu erfüllen, dann hätte er
das Los von der Verschickung betrofener Juden in vielfacher Hinsicht erleichtern und bei
der Durchführung der Transporte menschlich
handeln können, anstatt das Elend, die Not und
die Seelenpein der Opfer sowie ihrer Angehö-
Entnazifizierung
| 147
Georg Pütz wurde zu einer vieljährigen Hatstrafe
verurteilt, die er überwiegend verbüßte.
(Klasse II), unter besonderen Umständen auch als
Minderbelastete (Klasse III) angeklagt werden. Diese Vorhaben erfolgten auch vor dem Hintergrund,
dass das Korps der Politischen Leiter der NSDAP
als verbrecherische Organisation eingestut worden
war.« (S. 44)
Und das antisemitische bürokratische – auch initiative – Handeln von Hugo Recken und seiner rechten
Hand Johannes Herbrandt – vor und nach 1945 -,
wie es in dieser Arbeit dokumentiert ist? Und dessen – bürokratische – Legitimation heute?
Müller-Botsch bezieht sich auf das Urteil des Nürnberger Prozesses, in dem das Korps der Politischen
Leiter der NSDAP als verbrecherische Organisation
verurteilt worden war.
Im Fokus von ihr sind
Um sich einer Antwort auf diese beiden vernetzen
Fragen zu nähern, macht es Sinn, die Entnaziizierungsverfahren von Recken und Herbrandt in ihrem historischen Kontext vor und nach der Befreiung am 1. März 1945 im Detail auf der Basis des
fallrekonstruktiven biographischen Forschungsansatzes aus der historisch orientierten Politischen
Soziologie zu analysieren. Mit Bezug auf:
Christine Müller-Botsch. »Den richtigen Mann
an der richtigen Stelle.« Biographien und politisches Handeln von unteren NSDAP-Funktionären.
Frankfurt a. M. 2009.
»Selbstrepräsentationen gegenüber der NSDAP
und der Spruchkammer« (S. 266)
rigen und Freunde durch hartherziges, gefühlloses und unmenschliches Verhalten noch zu
vergrößern.« (S. 178)
Um einen Fokus zu beschreiben, drei Zitate aus:
Sebastian Haf ner. Germany: Jekyll & Hyde. 1939.
Berlin 1996.
»… Psyche der Deutschen verstehen. Zu deren
krankhaten Geisteszustand gehört ihre Fähigkeit, sich die Realität so vorzustellen, wie sie sie
brauchen.« (S. 33)
»Die Nazis sind wichtiger und gefährlicher als
ihre gegenwärtigen Führer … Nur wenn jene
Leute ausgeschaltet werden, sind der Frieden,
die Freiheit und die Zivilisation in Deutschland
wie in Europa gesichert.« (S. 60 und 67)
»Seine Führer begehen die Verbrechen, vor
denen er zurückschreckt, die er insgeheim für
notwendig und wünschenswert hält, und sie
ersparen ihm sogar gnädig die Unannehmlichkeit, sich als Mittäter vorzukommen.« (S. 117)
Christine Müller-Botsch führt – auf unser hema
fokussiert – aus:
»Je später das Spruchverfahren stattfand, desto
milder ielen die Sprüche aus. Davon proitierten insbesondere die stärker belasteten Funktionäre.« (S. 46)
»Im Befreiungsgesetz war vorgeschrieben, dass
sämtliche Funktionsträger auf Ortsgruppenebene
in der Klageschrit durch den öfentlichen Ankläger aufgrund ihrer formalen Belastung als Belastete
148
| Entnazifizierung
»Die Selbstrepräsentationen der Belasteten
sagen mehr über den allgemeinen gesellschatlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit als
über die jeweilige Person, die sich zu verantworten hatte.«
Christine Arbogast
»Die Selbstpräsentationen der NSDAP-Funktionäre im Spruchkammerverfahren können
als Prozess der selektiven Aufnahme und des
Mitkonstruierens der westdeutschen Entnaziizierungsdiskurse vor dem Hintergrund der
verschiedenen biographischen Fallstrukturen
beschrieben werden.« (S. 262)
»Fokussieren, Verleugnen, Reformulieren: Der
handelnde Umgang der ehemaligen Funktionäre mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen.« (S. 263)
»Um nicht als Belasteter eingestut zu werden –
die für die unteren Funktionäre formal vorgesehene Einstufungskategorie –, müssen die
ehemaligen Funktionäre nachweisen, dass in
ihrem Fall eine Einstufung als Minderbelasteter, Mitläufer oder Entlasteter gerechtfertigt
sei.« (S.264)
»Die Einstufungen sagen weit mehr über das
politische Klima der Nachkriegszeit in Westdeutschland und den Willen zur Integration
der politisch Belasteten in die Bevölkerung aus,
als dass die Urteile der Spruchkammern Rückschlüsse auf die tatsächliche politische Belastung … zulassen.«
Kathrin Meyer
Neuordnung der Biographie im Verfahren in Entlastungsabsicht:
– Fokus auf diejenigen Aspekte von NS-Ideologie
und NS-Maßnahmen, mit denen sie dann vorgeblich nicht einverstanden waren.
– Situationen werden in den Vordergrund der
Darstellung geschoben
– in denen sie nun Handlungsdruck vermitteln
wollen
– die als Zeichen für Hilfsbereitschat gegenüber
NS-Verfolgten gedeutet werden könnten
Zum Beleg der Behauptungen sowie zur Entlastung
von Anklagepunkten werden zielgerichtet Entlastungsschreiben organisiert, die »Persilscheine«.
In der Selbstdarstellung:
– weglassen
– verschweigen
– dethematisieren
nach: S. 264f.
»Vielfach nutzen sie auch ein begrenztes
Wissen der Spruchkammern aus.« (S. 265)
»Hinter dem Fälschen der eigenen Lebensgeschichte verbarg sich die Idee, dem alten Elitenaut rag
treu zu bleiben. Und auch hier spielt regelmäßig das
Rasse-Diapositiv eine entscheidene Rolle.«
Christian Schneider. In: Wilfried Loth u.a. (Hrsg.).
S. 257.
Dies konnte auch – im konkreten Einzelfall – bürokratisch interessegeleitetes Wollen gewesen sein.
Insbesondere – wie in den vernetzten Fällen Recken
und Herbrandt – wenn es um Mitglieder von Bürokraten-Netzwerken ging. Was im Folgenden konkret belegt werden wird.
Was war im Fokus des öfentlichen Klägers, welche
Aspekte von Parteitätigkeiten und Tätigkeiten im
Kontext öfentlicher Ämter?
Primär die notwendig subjektive, damit mit einem sehr weiten Ermessensspielraum verbundene
Abschätzung des Verhaltens des NS-Belasteten für
die Zukunt.
Lediglich rudimentär die faktischen Aktivitäten. Die i. d. R. so weit, wie sie doch in der Klage eine
Rolle spielten. Insbesondere dann, wenn schrit liche Zeugenaussagen dazu vorlagen, die gewichtet
und gewertet wurden – bis hin zu dethematisiert.
Wie z. B. die von Sabine Gutmann bei Recken. Sowie gerade bei Recken und Herbrandt alle, die nicht
»passten«. Bis hin zu Rechtsbeugung im Amt im
Fall eines Strafantrags wegen Mordversuch, dazu
später die Details.
Müller Botsch nennt als Beispiele nicht beachteter
Aktivitäten, die im Kontext von Recken / Herbrandt
relevant sind:
– NSDAP-Bockleiter stellen ihre Funktion als reine
NSDAP-Beitrags-Kassierung hin.
– Die Aufrechterhaltung der Inneren Front – Lutschutz – wird von NS-Belasten als soziales und
humanitäres Handeln umgedeutet, »ich gehöre
zu den Guten«. Im Kontext mit den Deutschen
als – eigentlichen – Opfern, also auch ihm als
Opfer. nach: S. 264f.
»Die Darstellung von Parteibeitritt, Funktionsübernahme und -ausübung: Produktion und
Reproduktion von Nachkriegsdiskursen im
biographischen Kontext.« (S. 268)
Was NS-Belastete durchgängig in Spruchkammerverfahren nicht zugaben:
– jegliche Beteiligung an NS-Gewaltverbrechen
– Denunziationen
– Beteiligung an der Reichskristallnacht 1938
– antisemitische Einstellungen und Handlungen
– revisionistische und imperialistische
Einstellungen
(S. 266 f. und 271)
»Nicht hematisieren, Verschweigen und Verleugnetes kann … gleichwohl auf der latenten
Ebene zum Ausdruck kommen.« (S. 266)
Man muss also »zwischen den Zeilen lesen«, die
Bedeutung von Formulierungen und sprachlichen
Konstruktionen dekodieren.
»Die Argumentationen und Darstellungen sind
… eng mit jenen biographischen Handlungsmustern und -orientierungen verbunden, die
auch das speziische Verhalten im Nationalsozialismus strukturiert haben. Die Präsentationen
sind verbunden mit den jeweiligen biographischen Erfahrungen und Sinnbezügen. Insofern
konstruieren die Funktionäre mit ihren Argumentationen die Nachkriegsdiskurse in einem
erheblichen Maße mit, beziehungsweise wählen – interaktionistisch verstanden – aus dem
Pool der Nachkriegsdiskurse diejenigen aus,
die für sie ›passen‹ und die mit ihrer Biographie
verbunden sind.« (S. 268f.)
Im Sinne des Modells »Basiserzählung« von homas Herz.
»In der Regel werden mehrere Argumente aufgeführt, die fallspeziisch kombiniert werden.« (S. 269)
Mit berulichen Orientierungen wird insbesondere
von denjenigen argumentiert, die in ihren Biographien generell so argumentieren.
»Ein NSDAP-Beitritt wird hier insbesondere
mit Absicherung von Positionen begründet.«
(S. 269)
»Die Auswahl der Argumente der ehemaligen
Funktionäre zeigt auch, was von ihnen als ›sagbar‹
akzeptiert und mit der Nachkriegsgesellschat kom-
Entnazifizierung
| 149
patibel angesehen wird.« (S. 270) »Im Entnaziizierungsverfahren konstruierte Selbstsichten.« (S. 271)
Müller-Botsch entwickelt ein Modell von vier »Typen biographischer Bedeutung der NSDAP-Parteitätigkeit« (S. 272f.), die im Folgenden auf Recken
und Herbrandt bezogen werden.
Typus 1: NSDAP-Parteitätigkeit als biographische
Chance.
a. Funktionsausübung als legitimiertes Ausleben
einer bislang negativ sanktionierten Handlungsstruktur.
b. NSDAP-Funktion als Gelegenheit zur Realisierung bislang nicht gelebter biographischer Entwürfe.
Typus 2: NSDAP-Parteitätigkeit als eine Modii kation biographischer Handlungsorientierungen angesichts veränderter Herrschatsverhältnisse.
Typus 3: NSDAP-Parteitätigkeit als Instrument zur
Fortsetzung anderer biographischer Handlungsorientierungen.
a. Funktionsausübung als Instrument zur Dokumentation nationalsozialistischer Gesinnung.
b. Parteibeitritt und Funktionsausübung als Instrumente zur Fortsetzung anderer biographischer
Handlungsorientierungen.
Typus 4: Beitritt und Funktionsausübung als erzwungener Bruch mit biographischen Handlungsorientierungen.
nach: S. 272 – 284
Kreisarchiv Viersen: Verordnung der MIlitärregierung zur Entnazifizierung
150
| Entnazifizierung
»Die biographische Bedeutung einer NSDAPParteitätigkeit ist für den Verlauf der NSDAPParteitätigkeit innerhalb der NSDAP-Ortsgruppe erheblich relevanter als andere in der
Literatur fokussierte Aspekte bei der Untersuchung von NSDAP-Mitgliedern und Funktionären.« (S. 272)
Als Relex auf die »Basiserzählung« wird die individuelle Ebene und ihr insbesondere lokal-gesellschat licher Kontext ausgeblendet. So kommt es zu
einer – unangemessenen einseitigen – Betonung der
»Strukturgeschichte«. Die Vernetzung und damit
verbundene Synergie beider sich gegenseitig bedingenden Ebenen führt zu Verstehen.
»Hier stellen sich auch weiterführende Fragen.
Inwieweit gerade durch die Selbstkonstruktion im Kontext der Entnaziizierung bestimmte Nachkriegsdiskurse, die teilweise bis heute
wirksam sind, befördert und mitproduziert
wurden.« (S. 265)
»… die Bearbeitung der NS-Vergangenheit in
der bundesrepublikanischen Gesellschat, auch
in transgenerationeller Perspektive.« (S. 271)
Wie die Recken-Legende in Osterath. Und für das
ehemalige Amt Lank die Gustav-van-Beek-Allee,
benannt nach dem NS-Bürgermeisterkollegen von
Recken in Lank. Sowie das historische Umfeld des
HJ-Heims in Büderich, heute Verwaltungsgebäude.
Die gesammelten Leichen im Keller der speziisch
Meerbuscher »Basiserzählung« im Sinne von homas Herz. Die nicht – wohin auch immer – ausgegraben und umgebettet wurden. Bis heute.
»Es stellt sich … die Frage, inwieweit es genau
diese im Kontext des Entnaziizierungsverfahrens hergestellten Selbstdarstellungen sind –
als jemand, der Dissens mit dem Regime hatte, unter Druck gehandelt hat, gegebenenfalls
Verfolgten geholfen hat und selbst durch das
Regime geschädigt wurde – die von den Belasteten von da ab vertreten und bis heute an die
folgenden Generationen weiter vermittelt werden.« (S. 265)
Im konkreten Dreifach-Fall kommt hinzu:
Das symbiotische Handeln von Recken und Herbrandt – aus dessen Perspektive auch zur eigenen
Absicherung – weit über den Tod von Recken 1953
bis in die 1990er Jahre, in Verbindung mit der vom
Osterather Gemeinderat 1953 geschafenen gesellschat lich-kulturell-politischen Recken-Legende, in
deren Tradition heute der amtierende Meerbuscher
Bürgermeister Spindler agiert. In Meerbusch – wie
anderswo – gab es keine »Stunde Null«. Die müssen
wir uns heute – endlich – erarbeiten. Dem Gedenken eine Chance.
Sehen wir nun einmal auf der Basis des Vorherstehenden ganz genau hin:
1. Literatur, die den juristischen und praktischen
Rahmen der Entnaziizierung konkret deiniert.
2. In die Entnaziizierungsakten insbesondere von
Recken und Herbrandt.
3. Wie ist das Verhältnis von juristischem Anspruch
und der aus den Akten ablesbaren – juristischen –
Realität? Wie ist die Divergenz zu deuten und zu
bewerten?
Das legitime und legale insbesondere Straf-Recht
vor der Außerkratsetzung der Weimarer Verfassung nach dem 30. Januar 1933. Das alliierte Recht
und das daraus abgeleitete deutsche Umsetzungsrecht sind auf dessen Grundlage einordnenbar. Das
bedeutet auch: Dieses Recht war kein nachträgliches Recht, also nach Vollzug der juristisch zu beurteilenden Sachverhalte erlassenes Recht, sondern
speziische Konkretisierung.
Also die Weimarer Verfassung und das daraus
abgeleitete Recht, insbesondere das Strafgesetzbuch
in der vor März 1933 geltenden Fassung. Das alliierte Recht, so wie es in diesem Kapitel bereits aufgeführt ist. Sowie:
Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und
Militarismus vom 5. März 1946 und Anlage zum
Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und
Militarismus. Stuttgart 1946.
Irmgard Lange (Bearb.). Entnaziizierung in Nordrhein-Westfalen. Richtlinien – Anweisungen – Organisation. Siegburg 1976.
Das umfassende sechsbändige Werk von Lange
in seiner vollständigen Version im Landesarchiv
Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.
Clemens Vollnhals (Hrsg.). Entnaziizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier
Besatzungszonen 1945 – 1949. München 1991.
Robert M. W. Kempner war in verantwortlicher
Position im preußischen Innenministerium an der
Abfassung der preußischen Denkschrit von 1930
»Die NSDAP als staats- und republikfeindliche,
hochverräterische Verbindung« beteiligt, die er
unter dem Titel »Der verpasste Nazi-Stop« in Verbindung mit weiteren Dokumenten zur Denkschrit
1983 veröfentlichte.
Dieses formelle Staatsdokument ist eine juristische Basis zur rechtlichen Bewertung mehrerer Aspekte: Der Charakter der NSDAP als terroristische
Vereinigung mit einer Gruppe veriizierter Terroristen als Führer, an der Spitze Adolf Hitler. Die
kriminellen Handlungen des Reichsanwalts, der
Entnazifizierung
| 151
152
sich als aktives NSDAP-Mitglied entpuppte. Sowie
das illegitime, illegale und kriminelle Handeln aller
Menschen in Verantwortungspositionen ab spätestens dem Zeitpunkt, als im März 1933 die Weimarer
Verfassung illegitim und illegal ausgehebelt war. Da
die demokratieverteidigenden Aktivitäten Robert
M. W. Kempners bekannt waren, war es aus der NSPerspektive konsequent, ihn mit als ersten aus dem
Staatsdienst illegal zu entfernen.
Robert M. W. Kempner emigriert in die USA,
wurde dort Jura-Professor und kehrte 1945 als Assistent des US-Chefanklägers bei den Nürnberger
Prozessen zurück. Unter dem Titel »Die preußische
Bürokratie auf der Anklagebank« trug Robert M.
W. Kempner dort seine Anklagerede gegen Wilhelm
Frick vor. Der juristische Stil dieser Rede hat mich
zum folgenden Teilkapitel meines Buchs inspiriert.
Bei genauem Hinsehen sind für konkrete Fragestellungen immer Muster zu identiizieren. So auf
den Fall Recken bezogen konkret:
Peter Gelber. Die Mär von »Fremdbestimmten«
und »Widerstandskämpfern«. Entnaziizierung
von NS-Bürgermeistern am Beispiel von Fällen vor
der Spruchkammer Wiesloch. In: Badische Heimat
1 / 1997, S. 85 – 95.
Der Beitrag des Historikers Peter Gleber beruht auf
dessen Magisterarbeit zum hema.
akte Hugo Recken NW 0007 Nr. 47434. In ihr inden wir den von Recken ausgefüllten »Fragebogen
zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenstandes vom 7. April 1933«.
Zu »5. Welcher politischen Partei haben Sie bisher
angehört? Von wann bis wann?« schrieb Recken:
Dem Kapitel »Quellen« können Sie alle von mir
herangezogene Quellen, Zeitzeugeninterviews etc.
entnehmen. Und »Literatur« die gesamte von mir
herangezogene Literatur. Im Buch inden Sie an
zahlreichen Stellen für diesen Teil relevante Fakten.
Eine weitere Quelle in der Recken-Personalakte:
Mit Datum vom 10. November 1933 schreibt der
Regierungspräsident Düsseldorf an den Herrn
Landrat in Kempen, Eingangsstempel Kreisausschuss Kempen 12. November 1933:
Aus dem NSDAP-Mitgliederbuch (im Besitz des
Autors):
»Schimpfe leissig über die Juden und kaufe ebenso
leissig bei Ihnen ein! Das vernichtet sie am sichersten!« »Spare an Deiner Bewegung jeden Pfenning,
damit Du den Juden und dem Staat dafür etwas
mehr geben kannst!«
»Ich ersuche ergebenst um Bericht bis zum
20. ds. Mts., ob inzwischen der Bürgermeister Recken in Vorst mit der vertretungsweisen
Verwaltung der Bürgermeisterstelle in Osterath und der Bürodirektor aus Viersen mit der
Bürgermeisterstelle in Vorst beaut ragt ist.«
»Im Zentrum im Jahr 1923, Austritt März 1933,
alsdann Übertritt zur N.S.D.A.P.« »Ich bestätige hiermit, alle Angaben nach besten Gewissen
gemacht zu haben. Hugo Recken.«
Nach eigener per Formel und Unterschrit bestätigter Aussage war Hugo Recken einer der »Märzgefallenen«. Aus der Logik von NSDAP-Aufnahmestopp
zum 1. Mai 1933 und der Tatsache, dass der überwiegende Teil der im Amt belassenen in die NSDAP
gewechselten Bürgermeister im Regierungsbezirk
Düsseldorf nach der Aufstellung des Gauamtes für
Kommunalpolitik im Nachlass Ebel im Stadtarchiv
Düsseldorf aus NS-Symbolik zum 1. Mai 1933 in die
NSDAP aufgenommen wurde, bedeutet dies: Die
Behauptung von Recken nach 1945, im Herbst 1933
in die NSDAP genötigt worden zu sein, um seine
Bürgermeisterstelle nicht zu gefährden, ist ein Lüge.
Wie alle seine Behauptungen zu seiner Entlastung
im Entnaziizierungsverfahren.
Richten wir hier den Fokus auf die ersten Jahre
ab 1933.
Hugo Recken ist Bürgermeister in Vorst, Johannes Herbrandt beginnt im Juli 1933 als einfacher
Gemeindeangestellter in Osterath, Joseph Hövelmann ist katholischer Religionslehrer in Krefeld.
Wie ist das Verhältnis von Reckens Darstellung
seines Wechsels nach Osterath und der veriizierbaren Realität insbesondere von ihm selbst stammender Formulierungen in Quellen? Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den daraus gewonnenen
Erkenntnissen ableiten?
Das Revirement ist also schon längst eingestielt –
unter Einbeziehung von Recken. Nicht wie Recken
dann als Beispiel seiner »NS-Verfolgung« behauptet,
ein Vorster Nationalsozialist wurde Bürgermeister
in Vorst, sondern ein als qualiiziert angesehner
Viersener Beamter nach Vorst versetzt. Für beide
war es eine Beförderung, keine Degradierung – und
auch nicht gegen ihren Willen. Die Realität war also
das jeweilige Gegenteil von dem, was Recken nach
1945 behauptete. Jedes Lügengebäude hat so viele tragende Pfeiler, dass die Widerlegung weniger
der tragenden Pfeiler zu dessen gesamten Einsturz
führt.
Im Staatsarchiv Nordrhein-Westfalen inden wir im
Bestand Bezirksregierung Düsseldorf die Personal-
Noch eine Quelle aus der Recken-Personalakte: Das
Amt für Kommunalpolitik der NSDAP-Gauleitung
| Entnazifizierung
Digitalisierung des Original-Dokuments aus dem Staatsarchiv Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf,
Bestand Entnazifizierung. Seite 1.
Entnazifizierung
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Digitalisierung des Original-Dokuments aus dem Staatsarchiv Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf,
Bestand Entnazifizierung. Seite 2.
154
| Entnazifizierung
Düsseldorf teilt mit Datum vom 20. Dezember 1934
dem Herrn Regierungspräsidenten in Düsseldorf
betr.: Berufung der Bürgermeister des Kreises Kempen-Krefeld mit:
»Gegen die beabsichtigte Berufung
1) des stellvertr. Bürgermeisters Recken
in Osterath
2) Schneider in Vorst
3) …
wurden vor mir, nachdem der Kreisleiter
keinerlei Bedenken hatte, Einwendungen
nicht erhoben.«
Hier dokumentiert sich der reale Dienstweg – und
dessen Konsequenzen. Die NSDAP ist die Entscheidungsinstanz, die Bezirksregierung die leere
Hülle, die den NSDAP-Willen zu exekutieren hat.
Mit seinem NS-Gesellenstück der »Umlegung« des
jüdischen Friedhofs hat sich Hugo Recken diese
NSDAP-Zustimmung »erworben«. Diese »Umlegung« war eine extreme antisemitische Maßnahme,
in der Recken juristisch verantwortlich zahlreiche
im Strafgesetzbuch deinierte Strataten begangen
hat. Insbesondere § 253 Erpressung, § 263 Betrug
und § 274 Urkundenunterdrückung. Und weitere
Stratatbestände wie Störung der Totenruhe. Der
Zweck – seine Bestätigung durch die NSDAP –
rechtfertigte für ihn alle Mittel.
Wir können auf der Basis seines erkennbaren
Argumentationsmusters davon ausgehen, dass Recken bei Beweis dieser Fakten nach 1945 eine neue
Argumentation aufgebaut hätte: Er habe so gehandelt, um in der Folgezeit in der Position zu sein,
Schlimmeres zu verhindern. Dafür hätte er wiederum Zeugen gefunden wie Herbrandt und Hövelmann. Und auch diese Argumentation würde heute
von Stadtarchivar Regenbrecht im Aut rag von Bürgermeister Spindler übernommen. Für den guten
Katholiken Recken.
Im Stadtarchiv Düsseldorf inden wir im Nachlass
Ebel den Bestand »Gauamt für Kommunalpolitik
Düsseldorf«.
Der Leiter dieses Gauamtes Ebel hielt zu einem
»Gespräch« mit Regierungsdirektor Hild bei der
Bezirksregierung Düsseldorf dessen Zusage schritlich fest: Dass dieser den Landrat Odenthal in Kempen anweisen werde, A zunächst zum kommissarischen Bürgermeister in W zu bestellen.
Dem gesprächsweise vorgetragenen »Wunsch«
des bei der NSDAP-Gauleitung Düsseldorf zuständigen Parteiamts-Führers entspricht der zuständige
Bezirksregierungsbeamte – selbstverständlich.
So ist die von Hugo Recken selbst geschriebene Eintragung in seinem Personalbogen beim Gauamt zu
verstehen:
Ȇbernahme der Verwaltung in Osterath erfolgte auf besonderen Wunsch der Kreisleitung der
NSDAP und der vorgesetzten Behörde.«
»Partei – Staat« – neu: »Es galt eben generell – Partei
– dann Staat.«
Ebenso in diesem Sinn ist in den Gauamts-Akten
die Abschrit einer Aktennotiz des Kempener Landrats vom 17. Juli 1934 zur Landrätekonferenz am
10. Juli 1934 mit der Anweisung des Regierungspräsidenten an die Landräte zu verstehen, die bisher
vertretungsweise eingesetzten Bürgermeister »sofort in ihr Amt einzuführen bzw. zu bestätigen …
Recken in Osterath sofort
Schneider in Vorst sofort
van Beek in Lank«
In einer weiteren Notiz ist festgehalten, dass dies
von NSDAP-Kreisleiter Krefeld-Kempen Diestelkamp am 1. August 1934 bestätigt wurde. Mit Datum vom 14. Dezember 1934 teilt der Regierungspräsident NSDAP-Gauamtsleiter Ebel Vollzug mit.
Die Einheit von Partei und Staat – genau in dieser
Reihenfolge.
Den Abschluss bildet eine »Beurteilung des Bürgermeister Recken, Osterath« durch den NSDAPOrtsgruppenleiter Panzer vom 10. Mai 1935:
»Bürgermeister Recken hat es durch sein Reden
verstanden, die Bevölkerung zum größten Teil auf
seine Seite zu bringen, aber diejenigen, die mehr
mit ihm zu tun hatten, sind schnell wieder von ihm
abgefallen, da er nicht, wie man es wohl annehmen
sollte, zu seinem Wort steht. Bürgermeister Recken
versucht bei Außenstehenden immer einen guten
Eindruck zu erwecken und die etwa entstehenden
Unannehmlichkeiten, die durch das Gesetz bedingt
sind, den Dienststellen der Partei zu überlassen.«
Das hat der NSDAP-Kreisamtsleiter für Kommunalpolitik Kempen um einen Satz ergänzt:
»Die politische Einstellung des Recken ist stark von
seiner früheren zentrümlichen Einstellung noch
heute durchtränkt, er ist mit Vorsicht zu genießen.«
Da Hugo Recken aus der Perspektive von Kreis- und
Gauleiter die bestverfügbare personelle Möglichkeit
im Sinne der Umsetzung der nationalsozialistischen
Zielsetzungen war, ofenbaren diese Beurteilungen
seine bürokratische Professionalität – im Sinn von
interessengeleiteter bürokratischer Zweck-Lüge und
Durchlavieren unter allen Bedingungen. Mit der
Osterather katholischen Dorfelite im Rücken.
Entnazifizierung
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Vereidigungs-Nachweis Hövelmann, 1934
Mit Datum vom 21. Dezember 1934 wird Hugo Recken vom Regierungspräsidenten auf 12 Jahre als
Bürgermeister in Osterath berufen. Also bis zum
21. Dezember 1946. Ein Datum, auf das wir später
zurückkommen werden.
Johannes Herbrandt lebt in Kempen, der Kreisstadt.
Über seinen Vater, der in einer führenden Position
der Gemeindeverwaltung Kempen ist, hat er Beziehungen zu den Beamten-Netzwerken. Gustav
van Beek ist Kempener Bürgermeister, der spätere
NSDAP-Bürgermeister in Lank. Man(n) kennt sich.
Über das Netzwerk werden Recken und Herbrandt
verknüpt – Saruman und Grima –, Herbrandt
kommt vor Recken im Juli 1933 in die Gemeindeverwaltung Osterath. Der Beginn dieser bis zum
Tod von Recken im August 1953 – und weit darüber
hinaus – dauernden Symbiose.
156
| Entnazifizierung
So wie Herbrandt innerhalb der Gemeindeverwaltung Osterath 1933 gegen Bürgermeister Rudolf
Bartels agiert, die Unterwanderungs-Strategie der
NSDAP, straf-, zivil- und dienstrechtlich zu ahnden, wiederholt er dieses »erfolgreiche« Manöver
1945. Illegitim und illegal mit hoher krimineller
Energie. Die Wirksamkeit 1933 und 1945 setzt die
Mitwirkung weiterer interessierter Personen voraus: die katholische Gemeindeelite in Osterath, vereint mit den Osterather katholischen Nationalsozialisten. Johannes Herbrandt engagiert sich dann in
und für die NSDAP.
Zu Joseph Hövelmann inden wir im Stadtarchiv
Krefeld dessen Personalakte als katholischer Religionslehrer. Es gibt in seinem EntnaziizierungsFragebogen an, Mitglied des Zentrums gewesen zu
sein. Mit Datum vom 5. Oktober 1933 lesen wir in
einem Schreiben von Hövelmann an das Schulamt
der Stadt Krefeld-Uerdingen, in dem er um einen
Zuschuss zur Teilnahme am »Kursus für Religionslehrer an Berufsschulen«
»Die sittliche religiöse Vertiefung der beruflichen und nationalen Lebens durch den Religionsunterricht«
bittet. Mit Datum vom 21. September 1934 unterschreibt Hövelmann seinen Beamten-Diensteid auf
Adolf Hitler. (siehe Faksimile auf Seite 156.)
Hövelmann ist im Kontext seiner gesellschat lichkulturellen Sozialisation an diesen Eid gebunden –
in welchem Umfang und bis wann?
1938 wird er zum Pfarrer in Osterath berufen.
Übernimmt von seinem Vorgänger Pörting die Rolle als katholischer Geistlicher im gesellschat lichen
Mikrokosmos Osterath.
Relektieren wir: Recken, Herbrandt und Hövelmann arrangieren sich aktiv mit der terroristischen
Vereinigung NSDAP, richten ihre Tätigkeiten auf
sie aus, werden ein Teil von ihr. Aktiv, ohne Zwang.
Sie kennen die NS-Ideologie und ihr Kernziel, an
dem sie damit im Rahmen ihrer Positionen aktiv
mitwirken: alle »Gemeinschatsfremden« zu ermorden. Aktive Unterstützung einer terroristischen
Vereinigung, Beihilfe, Mittäterschat, Täterschat.
Zum gesamtem Katalog des Strafgesetzbuchs inkl.
Mord. Als Selbstverständlichkeit in einer gewaltsamen Gesellschat, in der es aus der Perspektive von
Recken, Herbrandt und Hövelmann besser ist, zu
den Tätern zu zählen
Mord verjährt nicht.
»Zu den Mördern gehörten ja nicht nur jene Schergen, die die Menschen direkt verfolgt, denunziert,
im Versteck aufgespürt, abtransportiert und umgebracht haben, sondern auch diejenigen, die das
System der Barbarei propagiert, organisiert und
gerechtfertigt haben.«
Anke Brunn. Ex-NRW-Ministerin für Wissenschaft.
Recken, Herbrandt und Hövelmann sind in der
Zeit des NS-Terror-Mord-Partei-Staates Mitglieder
in NS-Organisationen, die vernetzt und integraler
Bestandteil dieses Schein-Staates sind. Der die Bedingungen für Staat-Sein nicht erfüllt. Das, was als
Fiktion von Staat äußerlich als leere Hülle vegetiert,
ist reines NS-Instrument – ohne Ethik und ohne
Recht, bindungslos. Die Nationalsozialisten führen
aus ihrer Perspektive einen Krieg, dessen Front die
gesamte Gesellschat ist – in Deutschland und der
ganzen Welt. Der in diesen Sinn angestrebte »deut-
sche Friede« bedeutet: Weltweit sind alle Menschen
ermordet, die nicht pathologische »arische« Nationalsozialisten sind. Die Menschheit ist ausgelöscht.
Bis zur Befreiung 1945 und dem Stand der Realisierung des NS-Kernziels wirken daran Recken,
Herbrandt und Hövelmann aktiv mit – im Rahmen
ihrer gesellschat lichen vernetzten Positionen und
ihrer Möglichkeiten. Und unter neuen Bedingungen und verschobenen Prämissen darüber hinaus.
Verdeckt und im blinden Fleck der gesellschat lichen Wahrnehmung, da es in gesellschat lichen Tabubereichen wie Antisemitismus geschah.
Dies ist aus den vorliegenden schrit lichen Aussagen insbesondere in den Entnaziizierungsakten
von Recken und Herbrandt, weiteren Quellen sowie
Zeitzeugenaussagen weitgehend zu dekodieren –
wenn man für diese Perspektive frei ist.
Der Sinn des Prozesses, der dann interessengeleitet
zur »Entnaziizierung« umgedeutet wurde, war die
Säuberung von Nationalsozialisten und deren Einlüsse u. a. in den Bürokratien als Basis einer demokratischen Entwicklung.
Das wurde in alliiertes und deutsches Recht
umgesetzt – und zu Gunsten der Zielgruppe in bewährter sophistischer Weise gezielt massiv in sein
Gegenteil ausgelegt. Die konsequente Fortsetzung
juristischer Perversion. Mit gesellschat lichen Konsequenzen bis heute.
Nach dem Sinn und dem Buchstaben des Säuberungs-Rechts war eindeutig: Recken und Herbrandt
gehören nicht mehr in den öfentlichen Dienst, Hövelmann ist kirchlich zu maßregeln. Für alle drei
geschieht im Kern das exakte Gegenteil. In Verbindung mit ihren vernetzten Netzwerken – auch von
(ex)Nationalsozialisten.
Was inden wir dazu in den Entnazii zierungsakten
von Recken und Herbrandt – die uneingeschränkt
für jeden Interessierten zugänglich sind?
LAV NRW R, NW 1034 Nr. 4803 Hugo Recken
Jeder Mensch kann diese digitalisierte Akte im Lesesaal des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen in
Düsseldorf, Mauerstraße, am PC einsehen – und
kopieren.
Blatt 066 Wilhelm Bürvernich. 1. August 1946
»… dass der frühere Bürgermeister von Osterath
Herr Recken … das Parteiabzeichen ofen trug
und ich den Eindruck hatte, dass Herr Recken
als Nationalsozialist und in meinem als Miterbe eigenen Hauses, wo Nationalsozialisten als
Mieter untergebracht sind, mir den Zuzug verweigerte.«
Entnazifizierung
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Blatt 068 Albrecht Neviger 17. Februar 1946
»Seit November 1939 wurde ich durch den Bürgermeister der Gemeinde Osterath, Parteigenosse Hugo Recken, aus rassischen Gründen
verfolgt. Sein Hauptziel war, wie aus beiliegender Fotokopie zu ersehen ist, den Juden oder
Halbjuden in der Gemeinde das Leben auf alle
Fälle unmöglich zu machen. In meinem Fall intrigierte er in Gemeinschat mit einer Familie
Schmidthuisen und erzwang auf die brutalste Art und Weise, im Verein mit der Gestapo,
meine Trennung von meiner damaligen Haushälterin, meiner jetzigen Frau, und meinem
Kind. Er war stets eifrig bemüht, auf allen Gebieten – besonders auf dem Gebiet der Judenverfolgung – die erste Geige zu spielen.«
Blatt 065 Michael Schumacher. 1. April 1945
»Schadenersatzklage. Betrit: Bürgermeister
Hugo Recken … Mieterschutzverein (Vorsitzender August Legermann) … Zwangsräumung am 6. September 1936 … 3 kleine Kinder … weil ich Kommunist war und aus der
Kirche ausgetreten bin.«
Blatt 064 Sabine Gutmann. 22. Januar 1946 an den
britischen Kreiskommandanten
»Als im Dez. 41 die 10 Juden ins KZ gekommen
sind, wir diese nach Krefeld begleitet haben,
fanden wir bei der Rückkehr um 2 Uhr bereits
die Vorkehrung für den Umzug nach Krefeld
vor. Bei der Rücksprache mit Recken äußerte
sich dieser, wenn die Revolte losging, wäre es
doch besser, wenn wir an einem Platz wohnten,
wo mehrere Juden wären als hier ganz allein.«
Das Ehepaar Gutmann habe sich geweigert, Osterath zu verlassen, sei dann später deportiert worden.
(Dass Recken den Umzug des Ehepaars Gutmann
von langer Hand vorbereitet hatte, dokumentiert
die Quelle im Stadtarchiv Meerbusch mit der von
ihm organisierten Juden-Wohnung in Krefeld.)
»Wir sind z. Zt. persönlich bei Herrn Oberregierungsrat Dr. Auerbach gewesen und haben
Schritstücke überreicht, die der Regierung
Auk lärung über das Verhalten des Bürgermeisters Recken den Juden gegenüber Auskunt geben.«
(Diese Schritstücke sind dann auf dem Dienstweg
»verloren gegangen«. Wie die Strafanzeigen gegen
Hövelmann, Recken und Herbrandt.)
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Blatt 057 Josef Hüsges. 10. Juli 1947
»Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass der damalige Bürgermeister Hugo Recken, heute Gemeindedirektor in Osterath, beim Abtransport
der Juden Julius Gutmann und Frau gesagt hat:
Gut, dass die letzten dreckigen Juden aus Osterath fort sind.«
Blatt 056 und Blatt 058 Peter Cammanns. 5. Februar
1946
»… in Osterath der Erz-Nazi-Bürgermeister
Parteigenosse Hugo Recken als Gemeindedirektor … sein mehr als schändliches und gemeines Verhalten während der Hitlerherrschat
… Über den schmutzigen Charakter des alten
Nazi-Parteigenossen Recken herrscht in der
Öfentlichkeit schon einige Klarheit … Pfarrer
Hövelmann … sich als katholischer Priester so
nachhaltig und mit allen seinen Kräten für die
Widereinstellung des Recken eingesetzt hatte.
Ich sehe noch die Plakatanschläge der Nazis
in Osterath! ›Achtung! Achtung! Am Sonntag
den … spricht Pg. Recken!‹ Damals: Recken als
Propagandaredner der NSDAP. Heute: Recken
als ›braver Katholik‹ … ist stramm hinter der
Nazifahne hermaschiert … Seine ständigen
Redensarten waren ja auch entsprechend. Recken war es auch, der sich während des ganzen
Krieges für die totalitären Kriegsmaßnahmen
Hitlers fanatisch einsetzte. Auch Reckens eigene Worte, als notgelandete alliierte Flieger auf
das Bürgermeisteramt geführt wurden, klingen
mir noch unvergessen in den Ohren. Recken
sagte. ›Herein mit den Schweinen!‹ Ich frage:
Ist das nationalsozialistisch oder etwa katholisch?«
(Für Osterath sind lediglich Gräber von alliierten
Piloten überliefert. Recken hat im Entnaziizierungsverfahren angegeben, für würdige Beerdigungen gesorgt zu haben. Im Kontext ist diese Aussage
interpretationsfähig.)
Blatt 088 und Blatt 089
Pfarrer Hövelmann. 1. September 1947
Pfarramtliche Bescheinigung
Persilschein für Hugo Recken – pfarramtlich.
Blatt 029
Handschrit liche Notizen aus dem Kreis-Entnaziizierungsausschuss, damit amtlich:
»Johannes Herbrandt weigert sich zu reden.«
»Recken hat sich geweigert zu reden.«
Blatt 055
Ausschussbeschluss vom 3. Juli 1947
Entnazifizierung
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Blatt 057 Handschrit liche Notiz aus dem KreisEntnaziizierungsauschuss
Abstimmung zur Kategorisierung von Hugo Recken
IV 7, III 5 u. a. Hermann Dortans
Blatt 052 Hermann Dortans, SPD, führender Kreispolitiker, 1. März 1948 an den Kreis-Entnaziizieungsausschuss
»Bei Recken muss ich Kat. 4 ablehnen, wenn
damit gleichzeitig die Zulassung als Gemeindedirektor verbunden ist. Ich habe in Osterath
ebenfalls mit mir objektiv erscheinenden Leuten Rücksprache genommen und halte meine
damalige Einschränkung aufrecht, d. h. ich
muss mich bei Recken für Kat.3 entscheiden.«
LAV NRW R, NW 1023 Nr. 05278 Johannes Herbrandt
Wie bei der Recken Akte: Ist frei für jeden Menschen verfügbar.
Blatt 007 Aufstellung von Herbrandt in seinem Entnaziizierungs-Fragebogen zu seinem Einkommen
1931 – 1945 25. November 1946
1934 – 1937 Gemeindeangestellter von 1640 RM auf
2722 RM
1937 – 1945 Gemeindebeamter von 2722 RM auf
4560 RM
Blatt 037 Einreihungsbescheid Kategorie II und IV.
26. Januar 1946
»Ist für die Stellung als Gemeindedirektor nicht
zugelassen. Es ist ihm jedoch zu erlauben, eine
Stellung nicht über eines Obersekretärs in der
gleichen Berufsgruppe oder eine entsprechende
Stelle im öfentlichen, halböfentlichen Dienst
oder Privatunternehmen anzunehmen.«
(Einen Monat später hatte der Gemeinderat Osterath Herbrandt zum stellvertretenden Gemeindedirektor gemacht, als Stellvertreter von Recken. Bürgermeister Lensing war auch NSDAP-Mitglied, im
Gegensatz zur Annahme der Briten.)
Blatt 046 Bürgermeister Rudolf Lensing.
8. August 1949
Persilschein für Johannes Herbrandt.
Blatt 019 und Blatt 020 Gemeindedirektor Hugo
Recken. 6. August 1949
Persilschein für Johnnes Herbrandt.
Blatt 022 Pfarrer Hövelmann. 6. August 1949
Persilschein für Johannes Herbrandt.
160
| Entnazifizierung
Blatt 029 »Abschrit«. 25. Mai 1949
SA Krefeld 26. November 1935
Ausschluss von Johannes Herbrandt aus der SA
1935.
(Das Original existiert in keinem Archiv, wurde von
einem Osterather Gemeindebeamten als Abschrit
amtlich bestätigt. Frage: Wo sind die gesamten
NSDAP-Unterlagen aus dem Bereich des NSDAPKreises Krefeld-Kempen heute versteckt?)
Blatt 036 Gemeinderäte Osterath am 25. Mai 1949
Gemeinsamer Persilschein für
Johannes Herbrandt, NSDAP-Mitglied
Rudolf Lensing, NSDAP-Mitglied 09. 11. 1940
Nr. 8578768 (s. Seite 163)
Erich Bacher
NSDAP-Mitglied, Ehefrau
Hilde: NSDAP-Ortsfrauenschats-Führerin
Paul Bommers
Karl Bommers: NSDAP
Strümp
Wilhelm Merzenich NSDAP-Mitglied – Lank/
Ilverich
Josef Oellers
NSDAP-Mitglied
Karl Röllges
W. Gillessen
NSDAP-Mitglied
Hermann Stahl
NSDAP-Mitglied
J. Schündelen
Peter Pescher
NSDAP-Mitglied – Krefeld
Aug. Bommers
H. Wiebusch
NSDAP-Mitglied
Ferd. Splissenbach
sein Bruder Josef war
NSDAP-Mitglied
Blätter 046 bis 049 Michael Schumacher. 2. Juni
1946
»Strafantrag wegen versuchten Mord« gegen
Johannes Herbrandt
Schumacher beschreibt ausführlich und im Detail
eine Stratat am 4. Oktober 1933 in Osterath, bei deren Verübung ihn eine Gruppe SA-Leute, darunter
Johannes Herbrandt, schwer misshandelt habe, verbunden mit schwerer Körperverletzung.
(Die Personenbeschreibung von Johannes Herbrandt ist konkret – und aus meinem eigenen Erleben von ihm zutrefend. Mit der Schein-Legitimation, Herbrandt habe zu diesem Zeitpunkt (noch)
nicht in Osterath gewohnt und Schumacher habe
ihn wohl mit einem anderen SA-Mann verwechselt,
haben die verantwortlichen Bürokraten die Stratat
Rechtsbeugung im Amt begangen. Hätten sie ihrer
gesetzlichen Plicht genüge getan, dann wären Julius Gutmann, Dr. Langenbach und Rudolf Bartels
1948 unter Einwirkung von Johannes Herbrandt
wohl nicht zu Tode gekommen.)
Welches Resümee können wir an dieser Stelle
ziehen?
Strukturierte Gedanken zur Osterather – und
Meerbuscher – Gesellschaft und Kultur
Wir haben es hier mit Rechts-Terrorismus im doppelten Wortsinn zu tun – vor und nach der Befreiung 1945.
Die Perspektive:
Osterath als gesellschat lich-kulturell-politischer
Raum – vernetzt mit den umliegenden und den
hierachisch übergeordneten Räumen
»Das Dritte Reich ist verschwunden, aber nicht
der Antisemitismus.«
Julius Dreifuss am 28. Oktober 1946.
Nach der Befreiung 1945 fanden äußerliche Anpassungsprozesse statt. Anpassungsprozesse, die in die
katholische Kultur von Äußerlichkeit passten. Unter den gegebenen Bedingungen der Herrschat der
Alliierten ging es in der Säuberung darum, durch
äußere Anpassung und Nutzung der bürokratischen Machtinstrumente kollektiv die Positionen
zu behalten ggf. darin zurückzukommen. Alles andere empfanden diese Menschen kollektiv als Unrecht. Umgekehrt weigerten sie sich, den Gedanken
zu relektieren, was ihr persönliches und kollektives
Unrecht sein könnte. Sie wollten sich unter allen
Umständen immer als die eigentlichen Opfer verstehen. Wie sie dann in der Restribution ihre Opfer
als Täter verstanden und insbesondere die als Juden
verfolgten Menschen aus ihrer Perspektive diejenigen waren, die ihnen – wieder – zu Unrecht an ihr
Eigentum wollten. »So ist der Jude eben.«
Nach der deutschen Gemeindeordnung 1935 § 3(1)
»Der Bürgermeister führt die Verwaltung in voller
und ausschließlicher Verantwortung.« hatte Hugo
Recken »die volle und ausschließliche Verantwortung in zivil-, straf- und arbeitsrechtlicher Hinsicht«, so der amtliche Kommentar.
Hugo Recken hat – in Verbindung insbesondere
mit seinem Symbionten Johannes Herbrandt – vor
und nach 1945 – zahlreiche dokumentierte Strataten begangen. Für die er sich vor irdischen Richtern
nicht verantworten musste – wie Johannes Herbrandt und Joseph Hövelmann sowie viele andere
Menschen aus Osterath.
Da juristisch als Morde qualiizierbar, die auch
in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen,
der Afekt ausschließt, ist die staatsanwaltschat liche Auseinandersetzung mit den Todesfällen Julius
Gutmann, Dr. Langenbach und Rudolf Bartels ein
ofenes Kapitel deutscher Rechts-Geschichte.
Eine ganz persönliche zentrale Erkenntnis von mir:
Alles ist möglich,
auch wahrscheinlich.
Das lässt sich konkret veriizieren –
im wissenschat lichen sowie im juristischen Sinn.
Wenn ich dafür frei bin.
Daraus kann ich lernen.
Im Osterather Raum besteht eine Abstufung von
individueller Macht sowie im Verhältnis zur Position in Staats-Macht bzw. Staats-Gewalt gesellschat liche – zum Teil erzwungene – Akzeptanz von
Verhalten – inklusive struktureller und direkter
Gewalt – von Einzelnen sowie in Verbindung von
Menschen.
Unter speziischen Bedingungen kann sich das Gesamtgefüge verschieben, so in Staatsformwechseln,
die zu einer Neujustierung gesellschat licher und
staatlicher Zielsetzungen führen, auch die, die mit
Ausübung von Staats-Gewalt verbunden sind.
Dabei sind formelle und informelle Ebenen vernetzt. So die formelle Ebene bürokratischer schritlicher Kommunikation und die informelle Ebene
des – im Kontext ihrer persönlichen Dispositionen – persönlichen Handelns von Bürokraten.
Auf den beiden vernetzten Ebenen kann der
individuelle Bürokrat im Rahmen dessen, was in
der Bürokratie-Kultur akzeptables Verhalten ist,
vernetzt mit dessen Entsprechung im Raum agieren. Dies dann vernetzt mit anderen Handelnden – auch außerhalb der eigenen Bürokratie –,
jeweils kombiniert nach den speziischen augenblicklichen und langfristigen individuellen und
kollektiven Interessen.
Im nationalsozialistischen Terror- und Mord-Partei-Staat wurde das bereits vorher angelegte Gewalt-Potenzial staatliche Zielsetzung. Nach außen
legitimiert mit der Volksgemeinschats- und Führerideologie. Im Sinne von gewaltsamer Exklusion
willkürlich deinierter Menschen als Schein-Gruppen bis hin zu deren Ermordung – in Verbindung
mit der Selbstverständlichkeit der gewaltsamen
Umsetzung bis zum Mord.
Die Position im NS-Terror-Mord-Gefüge bestimmte dabei, in welchem Umfang Einzelne ihre
Perversion ausleben durten, ja sollten – genau danach ausgewählt wurden. Dem steht gegenüber, in
welchem Maße die ausgeschlossenen Menschen davon betrofen waren.
Unter dem Mantel der ideologischen Legitimation
waren Bürokraten frei zu handeln.
Im Kontext der Bürokratie-Kultur immer im
Gedanken an ihre bürokratische und gesellschat-
Entnazifizierung
| 161
liche Absicherung – auch nach einem erneuten
Staatsformwechsel.
Die als Juden deinierten Menschen in Osterath
wurden unter bürokratischer Täterschat und MitTäterschat der dafür verantwortlichen Osterather
Bürokraten auch persönlich Auge in Auge terrorisiert, entrechtet, enteignet und dann aktiv und
bewusst in Kenntnis der Todes-Konsequenz in den
Tod geschickt. Allen voran Bürgermeister Hugo
Recken.
Bis auf den – aus Perspektive dieser Bürokraten – bürokratischen Betriebsunfall, dass im Herbst
1945 Sabine und Julius Gutmann aus heresienstadt
lebend zurückkehrten.
Durch die Besetzung Osteraths am 1. März 1945
durch US-amerikanische Einheiten hatte formell
ein Staatsformwechsel stattgefunden, der weder
direkt, noch kurz- und langfristig Einluss auf die
Osterather Gesellschat und ihre vernetzten Kulturen hatte.
Die Osterather katholische Gemeindeelite in Union mit der katholischen Geistlichkeit begrif diesen
Staatsformwechsel als Chance, ihren vernetzen gesellschat lichen, kulturellen und politischen Einluss auszubauen. Osterath war zu 98 % katholisch,
die überhaupt aus der katholischen Kirche ausgetretenen Nationalsozialisten kehrten von »Heim ins
Reich« »heim ins himmlische Reich«. Indem sie ein
Reuebekenntnis unterzeichneten, dass sie dem Irrglauben – des Nationalsozialismus – abschworen,
dann drei mal die Woche über drei Monate pfarramtliche Unterweisung in »den kirchlichen Wahrheiten« erhielten, also katholisch-ideologisch umerzogen wurden. Eine Reeducation der – so von den
Alliierten sicher nicht vorgesehenen – besonderen
Art. Nationalsozialismus und Nationalsozialisten
waren von der Macht ausgeschlossen, die katholische Dorf-Macht konnte sich nicht nur reorganisieren, sondern eine neue Qualität erreichen.
162
Die Osterather katholische Gemeinde-Elite – vernetzt mit den wiederum vernetzen – umliegenden
und übergeordneten Eliten agierte in diesem Sinn:
Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist – so weit wir es
müssen und wollen.
Und gebt Gott – damit seinen Stellvertretern vor
Ort auf Erden, also uns – was Gottes ist.
Der katholische totalitäre Allmachts-Anspruch,
realisiert weitest möglich unter den speziisch gesellschat lich-kulturell-politischen Bedingungen.
Die gesellschat lich-kulturell-politische MachtWirksamkeit dieses eliten-kollektiven Handelns
ergab sich wesentlich aus der intakten staatsformunabhängigen speziisch deutschen Bürokratie mit
ihrer Bürokratie-Kultur, die in der Folgezeit wieder vollständig hergestellt wurde. Der antidemokratische Gründungs-Fehler der Bundesrepublik
Deutschland.
Aus der Perspektive der in der Bürokratie-Kultur
Agierenden wurden die bürokratie-fremden Strukturelemente eliminiert, die von den Nationalsozialisten implantiert worden waren.
Das bedeutet:
Die Macht der Bürokratie-Eliten und ihrer informellen Netzwerke wurde wieder vollständig hergestellt. Nach außen auch gegenüber der Besatzungsmacht legitimiert mit Entnaziizierung und
Demokratisierung.
Für – deutsche – Bürokraten ist Ideologie und
Recht lediglich Mittel zum Zweck der eigenen Legitimation im Sinne bürokratischer Absicherung und
Unverantwortlichkeit.
Das Gegenteil dessen, was Robert M. W. Kempner für die USA konstatiert: Achtung der Republik
und Mut zur Republik.
Dies war auch deswegen möglich, weil die katholische Dorf-Elite verstand: Ein zentraler Aspekt des
Deutschland-Bildes der US-Amerikaner – dann ab
Ende April 1945 der Briten – war, dass katholische
Kirche und katholische Gläubige von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren, unter den Generalverdacht der Widerstandes gegen das NS-Regime
ielen.
Die Osterather Gesellschat fand nach dem 1. März
1945 eine bruchlose Fortsetzung, es gab keine
»Stunde Null«. So war es aus der Perspektive der katholischen Gemeinde-Elite ein großes Unrecht, dass
Bürgermeister Hugo Recken, seit Januar 1934 im
Amt, vom US-Ortskommandanten Mondell Ende
März 1945 entlassen wurde. So wie alle Bürgermeister entlassen wurden. Dieses – vermeintliche – Unrecht war im Januar 1946 geheilt: Hugo Recken war
Gemeindedirektor und blieb dies bis zu seinem Tod
im August 1953.
Das nutzten sie für ihr Macht-Agieren gegenüber
der neuen Staatsgewalt und stellten ihre kollektive
Darstellung der Dorf-Realität zuvor darauf ab. Das
auch in den Folgejahren in der Entnaziizierung –
und bis heute in den Folgegenerationen.
In diesem gesellschat lich-kulturell-politischen
speziisch Osterather Biotop war es möglich, dass
zur Entlastung der seit Januar 1934 bruchlos bestehenden Symbiose in der Gemeindeverwaltung Recken / Herbrandt nicht nur Persilscheine produziert
| Entnazifizierung
wurden. Ihr Kontext war Nötigung, Erpressung,
Bestechung sowie Fälschung von Unterschriten –
von Verfolgten. Die maßgeblich Agierenden: Hugo
Recken, Johannes Herbrandt – der vom US-Ortskommandanten Mondell in der Verwaltung belassen worden war, also justiziable Obstruktion von
innen betrieb – und Pastor Hövelmann. Der Zweck
heiligt alle Mittel.
Aus der Perspektive der katholischen GemeindeElite in Osterath machten die geduldeten DorfParias, das überlebende Ehepaar Gutmann, einen
unverzeihlichen Tabu-Bruch: Sie hielten sich nicht
an die selbstverständliche gesellschat liche Regel,
wie vor 1945 sag- und klaglos die Opferrolle einzunehmen.
Nicht nur, dass Sabine Gutmann für die KPD
in den Gemeinderat und dessen Entnaziizierungsausschuss ging, gemeinsam mit dem parteilosen
verfolgten Halbjuden Paul Cervelli. Wo sie vom von
der CDU entsandten Pastor Hövelmann neutralisiert wurden.
Als das Ehepaar Gutmann im Dezember 1945
durch öfentliche Äußerungen von Hugo Recken
selbst erfuhr, dass ihr persönlicher Peiniger in der
NS-Zeit wieder in Amt und Würden kommen soll,
indem er – wie 1933 – den vom US-Ortskommandanten Mondell eingesetzten evangelischen Bürgermeister Rudolf Bartels, nun im Verein mit dem
kommunistischen besoldeten Beigeordneten Anton
Wienands, wurden sie gegen Recken aktiv. Was sie
schrit lich unternahmen, das indet sich zum guten
Teil heute nicht nur in den Archivalien der Adressaten, sondern auch im Stadtarchiv Meerbusch. Wurde also von den – mit Recken solidarischen – Bürokraten und ihren informellen Netzwerken z. B. der
Bezirksregierung Düsseldorf unter Verletzung ihrer
Amtsplichten an diese in Kopie weitergegeben. Wie
die Inhalte von Terminen z. B. in Amtsräumen der
Bezirksregierung Düsseldorf. Wobei diese Informationen dann gezielt instrumentalisiert wurden,
um Recken scheinzulegitimieren sowie gleichzeitig
und parallel Rudolf Bartels, Anton Wienands, Juli-
us Gutmann und Sabine Gutmann gesellschat lich
und politisch zu eliminieren. Selbstverständlich
erhielt das Ehepaar Gutmann keinerlei mündliche
Informationen oder Kopien von Recken-Schreiben,
Persilscheinen etc.
Die bürokratischen und informellen Aktionen von
Hugo Recken vernetzt mit seinem Symbionten Johannes Herbrandt – der dann zum stellvertretenden Gemeindedirektor befördert wurde – auf den
empfundenen Tabubruch des Ehepaars Gutmann –
waren dann – ausweislich eines Gerichtsurteils aus
dem Jahr 1953 – ursächlich für den vorzeitigen dramatischen Tod von Julius Gutmann 1948, der Panik
hatte, wieder deportiert zu werden, weil sein persönlicher Peiniger Hugo Recken dies schon einmal
sechs Jahre zuvor erreicht hatte. Julius Gutmann
starb an dem durch die bürokratische Perversion
von Hugo Recken ausgelösten posttraumatischen
Stress. Ein Recken-Todesopfer. Das die Hälte seines
Betriebsunfalls heilte.
Opfer wie die Osterather und anderen jungen Menschen, die vom Recken-Sohn sexuell missbraucht
wurden. Der Recken-Sohn, weil er über seinen
Vater keine Hilfe bekam. Und die Menschen, die
Recken im Verbund mit Pastor Hövelmann und
Johannes Herbrandt nötigte und erpresste. Um die
heile katholische Dorf-Welt der katholischen DorfElite abzusichern.
Im Kontext gab es 1948 – also demselben Jahr wie
Julius Gutmann – zwei weitere Todesfälle:
Dr. Wilhelm Langenbach und Rudolf Bartels. Zu
einem Toten ein zweiter Toter begrenzt den Zufall. Ein dritter Toter im unmittelbaren Kontext
begrenzt den Zufall mathematisch auf fast null.
Und das, bevor es für Recken und Herbrandt in ihrem Entnaziizierungsverfahren 1949 Ernst wurde.
So werden katholische christliche Werte praktisch
gelebt.
Bis heute.
NSDAP-Karteikarte
Rudolf Lensing
Entnazifizierung
| 163
Heute zum Beispiel im Aut rag des katholischen
Meerbuscher Bürgermeisters Dieter Spindler vom
Meerbuscher Archivleiter Regenbrecht. Indem er
zum Beispiel in einer Presseerklärung der Stadt
Meerbusch im Aut rag von Bürgermeister Spindler behauptet, die sich im Staatsarchiv NordrheinWestfalen in Düsseldorf beindende Recken-Entnaziizierungsakte sei in der Entsäuerung, also
Konservierung, daher zeitlich nicht abschätzbar
nicht einsehbar. Sie ist in digitalisierter Form von
jedem Interessierten im Lesesaal des Landesarchiv
einsehbar – und kopierbar. Und enthält alle Quellen, die ich angesprochen habe. Ist deswegen »Git«,
das über eine interessengeleitete bürokratische
Zweck-Lüge neutralisiert werden soll.
Wie groß die Macht der heutigen Meerbuscher überwiegend katholischen Gemeinde-Elite ist, doku-
NSDAP-Parteibuch
164
| Entnazifizierung
mentiert sich daran, dass die Meerbuscher Lokalredaktionen von Rheinischer Post und Westdeutscher
Zeitung meine beiden Pressemitteilungen ignorieren, in denen ich das manipulierende Agieren von
Regenbrecht im Autrag seines Vorgesetzten Spindler ofen lege. Die Redakteure könnten sich im Landesarchiv selbst überzeugen. Warum sie dies nicht
tun, das liegt auf der Hand.
Es geht um Macht und Gewalt, um die Deinitionsmacht über Realität. Die passend gemacht wird –
mit allen Mitteln. Was außerhalb des Fokus dieser
armseligen Menschen ist: Ich bin nicht von ihnen
abhängig, sie haben keinen Einluss auf mich – und
mein Buch über das Gesamtthema, das kommt.
Und dann werden sie mit allen Mitteln versuchen,
dessen Verkauf zu torpedieren. Ihr Agieren ist kalkulierbar. Friede ihren Seelen.
1953: Der Tod von Hugo Recken und die Straßenbenennung
nach ihm – Apologie der Kontinuität seit 1934
Traueranzeige Hugo Recken (STA Meerbusch Nachlass Herbrandt)
Am 3. August 1953 erschien diese Traueranzeige.
Der Text impliziert eine seit 1934 ununterbrochene
Tätigkeit für die Gemeinde Osterath. Tatsächlich
war sie von März 1945 bis Februar 1946 für fast ein
Jahr unterbrochen. Der Sinn der Falsch-Aussage ist
die Symbolik – für die Union von Gemeindebürokratie und Allianz katholischer Geistlichkeit und
katholischer Dorfelite, für die Hugo Recken als Person stand. In Symbiose mit dem im Hintergrund
agierenden Johannes Herbrandt.
Im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 3. August heißt es (STA Meerbusch Bestand Osterath Gemeindeprotokolle 1952 – 1956):
»Die Sitzung fand statt zum Gedächtnis des verstorbenen Gemeindedirektors Hugo Recken.
Der am 2. 8. 53 verstorbene Gemeindedirektor Recken war im Sitzungssaal des Rathauses aufgebahrt.
An seinem ofenen Sarge versammelten sich die
Ratsmitglieder, die Beamten, Angestellten und Arbeiter der Gemeindeverwaltung sowie die Angehörigen des Verstorbenen.
Der Tod von Hugo Recken
| 165
Bürgermeister Lensing würdigte in seiner Ansprache das Lebenswerk des zu früh verstorbenen Gemeindedirektors, der fast 20 Jahre die Geschicke
der Gemeinde Osterath leitete. Er war in den langen
Jahren seiner Tätigkeit den Bürgern immer Freund
und Helfer. Klugheit, Gerechtigkeit und Güte kennzeichneten seinen Lebensweg. Mit all seiner Krat
diente er der Gemeinde und förderte durch zielbewusste Arbeit und tatkrät ig ihr Wohl. Das saubere
geplegte Ortsbild, die zahlreichen Verbesserungen
und Verschönerungen legen dafür ein beredtes
Zeugnis ab. Jetzt hinterlässt er ein geordnetes und
inanziell gesichertes Gemeinwesen. Auch in schwerer Zeit war er sich und seiner Gemeinde treu und
hat sich für sie geopfert. Nach einem Gebet für die
Seelenruhe des Verstorbenen nahmen Gemeinderäte und Mitarbeiter Abschied vom Gemeindedirektor Recken.«
Welche Stichworte stehen im Zentrum?
Das saubere Ortbild und die zahlreichen Verbesserungen und Verschönerungen.
Wesentlich ist also der äußere Schein –
inkl. der geordneten Finanzen.
Und:
Wer zählte zu den Bürgern – und wer nicht?
Zur »Volksgemeinschat« – und wer nicht?
Scheinheiligkeit. In Bürokratie-Deutsch verpackte
Lüge.
Protokollant: Johannes Herbrandt.
Dem Artikel in der Rheinischen Post am 7. August
1953 »Hugo Reckens letzter Weg« können wir entnehmen, dass die katholische Geistlichkeit anwesend war, die seine Zeit in Osterath seit Januar 1934
begleitet hatte. Und die katholische Gemeindeelite.
»Die Grut … liegt gegenüber dem Grabmal eines
seiner Vorgänger, des Bürgermeisters Rudolf Bartels, der, von ganz anderer Art, ebenfalls als markante Persönlichkeit in die Geschichte Osteraths
eingegangen ist.«
In der Westdeutschen Zeitung am 7. August 1953
lesen wir:
»Ein würdiges Geleit«
»Im politischen Ränkespiel einer schweren Zeit sei
er mutig und entschlossen als tief religiöser Mann
in seinem Glauben und sich selbst treu geblieben.«
Dieses Zitat hat Herr Regenbrecht ofensichtlich als
Vorlage für seine bewertende Formulierung in der
Pressemitteilung der Stadt Meerbusch nach der Ältestenratssitzung am 15. März 2012 genutzt.
Stellen Sie sich vor:
Sie kennen die vorhergehenden Darstellungen
dieser Arbeit nicht. Wie verstünden Sie die Zitate?
Es war nur konsequent, die Recken-Legende quasi
zu institutionalisieren: eine Straße »Hugo-ReckenStraße« zu benennen. Und darauf zu achten, dass
die Recken-Legende der Kontinuität äußerlich
aufrecht erhalten wird. Unabhängig von der Tatsache, dass sie eine interessengeleitete bürokratische
Zweck-Lüge ist.
»Wenn wir Hitler loswerden wollen, muss er
dreifach ausgetilgt werden –
als Institution, als Mensch, als Legende.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S. 37.
»Ein Land, dass seine politische Säuberung versäumt, versäumt es, sich selbst zu erneuern.«
Albert Camus
Im Kontext der vorhergehenden Darstellungen dieser Arbeit können die Zitate aus diesem Artikel verstanden werden:
»Johannes Herbrandt … am Grab des väterlichen
Freundes und gerechten Vorgesetzten.«
»Dem Ränkespiel politischer Gegner vor allem in
der Zeit des politischen Terrors habe er stets mannhat Widerstand entgegengesetzt.«
166
| Der Tod von Hugo Recken
»Wenn die Tatsache, auf die man stößt, in Widerspruch zur herrschenden heorie steht,
muss man die Tatsache akzeptieren und die
heorie aufgeben, selbst wenn letztere, von bedeutenden Größen unterstützt, allgemein vertreten wird.«
Claude Bernard
Die Debatte um die Straßenumbenennung seit Dezember 2011 –
und die Rolle des Meerbuscher Stadtarchivleiters Michael
Regenbrecht im Auftrag des Meerbuscher Bürgermeisters Dieter
Spindler (CDU): Wo beginnt apologetische interessengeleitete
bürokratische Zweck-Lüge?
»Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes
gibt es nicht.
Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv,
sondern persönlich.
Wer sich der Unmenschlichkeit
nicht erinnern will,
der wird wieder anfällig für neue
Ansteckungsgefahren.«
Richard von Weizsäcker
»Die Ermordeten sollen noch um das Einzige
getrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen
schenken kann, das Gedächtnis«.
Theodor W. Adorno. Was bedeutet: Aufarbeitung der
Vergangenheit? 1959.
Die Debatte hat eine Vorgeschichte.
1983 stellte ich meine Erste Staatsarbeit fertig: »Verfolgung und Widerstand in Meerbusch 1933 – 1945«.
Entstanden insbesondere, weil es bis dahin keine
geschichtswissenschat liche Aufarbeitung der Zeit
der NS-Terrorherrschat in Meerbusch gab. In den
Folgejahren erschienen eine Reihe von Beiträgen
von mir u. a. in den Meerbuscher Geschichtsheten,
die auf meiner Ersten Staatsarbeit beruhten und
weitere Forschungsergebnisse von mir berücksichtigten. Und eine Reihe von Veröfentlichungen, die
sich auf meine Erste Staatsarbeit und meine Veröffentlichungen beziehen.
1988 führte meine Erwähnung des Schreibens
von Bürgermeister Hugo Recken vom 4. Juni 1942
»Es wird um Abschiebung des Juden gebeten« im
Rahmen meines VHS-Vortrags und der damit verbundenen Veröfentlichung zum 50. Jahrestag der
Reichskristallnacht in Meerbusch zu einer Reaktion
der Tochter von Hugo Recken: »So etwas hat mein
Vater nicht getan.« Ausdruck der Recken-Legende.
Als Dr. Dohms beautragt wurde, »Meerbusch.
Die Geschichte der Stadt und der Altgemeinden«
herauszugeben, gehörte zu seinen ersten Auträgen,
mich darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich nicht
den Teil »Das Dritte Reich (1933 – 1945)« schreiben
solle. Eine geschichts-politische Entscheidung mit
einem – aus meiner Perspektive – fatalem Ergebnis.
Lesen Sie, was Sophie Wego geschrieben hat. Zum
guten Teil aus meiner Ersten Staatsarbeit übernommen – ohne Quellenangaben, also Plagiat –; aber
nur das, was geschichtspolitisch unverfänglich ist.
Auf geistiges Eigentum gibt es keinen Rechtsschutz.
1994 bat mich die SPD-Ratsfraktion Meerbusch,
der ich bis 1989 fast zehn Jahre angehört habe, um
eine Liste mit Straßennamen, die insbesondere wegen ihrer Benennung mit Belasteten der NS-Zeit zu
bedenken seien. Und nach welchen NS-Verfolgten
ich Straßenbenennungen empfehlen würde. Auf
dieser Liste stehen u. a. die Hugo-Recken-Straße
sowie das Ehepaar Gutmann. Darauf gab es dann
keinerlei Feedback von Seiten Meerbuscher Sozialdemokraten. Wie Anfang 2012, nachdem der SPDOrtsverein Osterath von mir auf seine Bitte Hinterrundinformationen zu Hugo Recken erhalten hatte.
2011 trat der Bürgerverein Pro Osterath an mich
heran, wie im Vorwort bereits dargestellt. Mein
Vortrag am 14. Dezember 2011 beruhte auf meinen
geschichtswissenschat lichen Arbeiten.
»Unerbetene Erinnerung.«
Buchtitel von Raul Hilberg
Die geschichts-politische Reaktion des Meerbuscher Bürgermeisters Dieter Spindler (CDU) auf
die Anregung des UWG-Fraktionsvorsitzenden
Christian Staudinger-Napp war, den Leiter des
Stadtarchivs Meerbusch Michael Regenbrecht mit
einer kurzfristigen Recherche zu Hugo Recken zu
beaut ragen. Der Titel des auf den 25. Januar 2012
datierten Papiers: »Recherchebericht des Stadtarchivs Meerbusch zur Person Hugo Recken, Osterather Bürgermeister in den Jahren 1934 bis 1945
und Osterather Gemeindedirektor 1946 bis 1953.«
Mit Datum vom 9. Februar 2012 leitete Bürgermeister Spindler den »Recherchebericht« in Kopie den
Fraktionsvorsitzenden im Stadtrat zu. Die Headline
des Anschreibens: »Berichterstattung in der Presse
über den Vortrag von Herrn Lothar Klouten hinsichtlich des Schicksals von Juden in Osterath zur
NS-Zeit.« Herr Spindler fokussiert also auf meine
Person, klammert die Initiative aus der Mitte der
Veranstaltungsteilnehmer und dann von Herrn
Staudinger-Napp – bewusst – aus. Und insbesondere Kopien von Dokumenten waren zum Teil unleserlich. Lediglich Herr Staudinger-Napp hat auf
meine Anregung hin Herrn Regenbrecht um die
Datei als Attachement gebeten und erhalten. Das
Die Debatte
| 167
reale Interesse der anderen Fraktionsvorsitzenden
am vordergründigen Sachverhalt kann daraus geschlossen werden. Hintergründig ist für Bürgermeister und Fraktionsvorsitzende – bis auf den »unangepassten« Herrn Staudinger-Napp – wesentlich,
die Leichen im Keller zu belassen, wo sie sind.
»Und ist so gut,
als wär’ es nicht gewesen.«
Johann Wolfgang von Goethe
In diesem Sinn ist dann auch der »Recherchebericht« von Herrn Regenbrecht im Autrag seines
Dienstvorgesetzten Bürgermeister Spindler zu lesen. Auf den Kern fokussiert:
Eine recht oberlächliche Recherche – begründet mit Zeitdruck –, die alle genannten Informationen und Dokumente in keinerlei Kontext bringt.
Insbesondere die Dokumente aus der NS-Zeit unrelektiert widergibt, bis hin zur Übernahme von
NS-Sprachregelungen wie »Abschiebung« – des
Ehepaares Gutmann. Nach Herrn Regenbrecht erfolgte die Verlegung des jüdischen Friedhofs Osterath nach Uerdingen; tatsächlich wurde er je zu
Hälte auf die jüdischen Friedhöfe an der Gladbacher Straße in Krefeld und in Uerdingen verlegt, wo
heute viele der Grabsteine sind. Das im Gegensatz
zur Schutz-Darstellung von Johannes Herbrandt
nach 1945, dass die »Umlegung« ausschließlich auf
den jüdischen Friedhof an der Gladbacher Straße
erfolgt sei; eine der unzähligen vernetzten bürokratischen Zweck-Lügen im Fall. Was auch ein Hinweis
auf die geschichtswissenschat liche Qualität der
»Recherche« von Herrn Regenbrecht ist. Dass dies
so ist, können Sie in diesem Buch dezidiert nachvollziehen.
»Kein Archiv ohne Draußen.«
Jacques Derrida
Die von Herrn Regenbrecht angegebenen – und
nicht angegebenen – Akten im Stadtarchiv Meerbusch und im Kreisarchiv Viersen in Kempen der
Gemeinde Osterath habe ich durchgearbeitet. Kurzes Resümee: Herr Regenbrecht hat – bewusst – auftragsgemäß selektiv gearbeitet.
»Heute besteht Geschichte darin,
Quellen zu Überresten zu machen.«
Michael Focault
Im Artikel zur Präsentation des »Rechercheberichts« in der Westdeutschen Zeitung am 15. Februar 2012 »Bürgermeister Hugo Recken im Zwielicht«
heißt es: »… stöberte durchs Kreisarchiv Viersen
und das Landesarchiv NRW«. Das Wort »stöberte«
ist trefend gewählt. Weiter:
168
| Die Debatte
»Auch nach der Sichtung des Materials enthält
sich Regenbrecht jeder Bewertung Reckens. Die
Belege reichen nicht aus. Zwei wesentliche Akten aus dem Hauptstaatsarchiv seien angefordert, aber noch im Entsäuerungsprozess. Wann
sie zugänglich werden, sei völlig ofen.«
Was bedeutet: Aut ragsgemäße Enthaltung und
bürokratische Zeit-Politik.
Am 8. März 2012 erschien auf www.buergerstimme.
com mein Artikel »Bürgermeister 1933 – 1945: auch
›Hitlers willige Vollstrecker‹«.
Am 9. März 2012 führte die UWG-Ratsfraktion
Meerbusch ein Pressegespräch zum »Recherchebericht« »zusammen mit dem Historiker Lothar
Klouten« durch, um eine »Hintergrundbetrachtung
abzugeben«. Dazu hatte ich eine umfangreiche Stellungnahme vorbereitet und trug meine Informationen den Journalisten vor, um dann auf deren
Fragen zu antworten. Herr Staudinger-Napp erhielt
von mir weitere Exemplare zur Weitergabe an die
Fraktionsvorsitzenden.
Das Pressegespräch war im Vorfeld der Ältestenratssitzung am 15. März 2012, wo in nichtöfentlicher Sitzung das hema Benennung der HugoRecken-Straße einziger Tagesordnungspunkt war.
Das dokumentiert: Der Wunsch nach Gedenken
war von Bürgermeister Spindler zum Gegenstand
von Geschichtspolitik gemacht worden. Die Westdeutsche Zeitung berichtete noch am 9. März 2012
online über das Pressegespräch, die Rheinische Post
am 12. März 2012.
In der WZ lesen wir: »Klouten zu den Aussagen
über Hugo Recken: ›Man muss sie im historischen
Kontext betrachten.‹« Die UWG-Ratsfraktion wolle: »Ein externer Historiker soll den ›Fall Recken
bearbeiten, das hema zudem öfentlich diskutiert
werden. Die Stadt solle ofen mit ihrer Geschichte
umgehen‹, sagte Fraktionsvorsitzender Christian
Staudinger-Napp. Eine Umbenennung der HugoRecken-Straße könnte ein weiterer Schritt sein,
›aber nur in Abstimmung mit den Anwohnern‹,
betonte seine Stellvertreterin Daniela Glasmacher.«
»Kloutens Befürchtung, dass Bürgermeister
Dieter Spindler das hema mit Regenbrechts Recherche abwürgen wolle, weil er sich möglicherweise mit seinem konservativen Amtsvorgänger verplichtet fühle, weist Stadtsprecher Gorgs energisch
zurück;
›Es ging darum ergebnisofen erste Daten zusammenzutragen.‹ Das Ergebnis werde gemeinsam diskutiert.«
Die Keywords: »ergebnisofen« und »erste Daten«.
Ersten Daten müssen – mindestens – zweite Daten
folgen.
Die Rheinische Post druckte am 17. März 2012
einen Leserbrief von mir ab:
»Wer weiß etwas über Hugo Recken?
In der RP lesen wir: »Die Diskussion über Recken
erinnert an die Umbenennung des Carl-Diem-Wegs
in Bösinghoven.« Und zu einem sachverständigen
Gutachter: »Dafür komme zum Beispiel der frühere
Leiter des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf, Dr. Anselm Faust, in Frage, der Verfasser der Publikation
›Reichskristallnacht im Rheinland‹.« Dr. Faust war
Archivdirektor. In seiner genannten Publikation
hat er den Schrit wechsel von Bürgermeister Hugo
Recken mit der Gestapo-Außendienststelle Krefeld
im Juli 1942 publiziert:
»Es wird um Abschiebung des Juden gebeten.«
Das Ergebnis der Ältestenratssitzung am 15. März
2012:
Herr Regenbrecht solle weiter recherchieren. Bis
wann?
Am 16. März 2012 erschien in der Rheinischen Post
der Artikel »Dr. Anselm Faust urteilt über Hugo Recken.« Dr. Faust hatte auf meine Bitte hin eine kurze
Beurteilung formuliert.
»Wer seit 1933 NSDAP-Mitglied und von 1934
bis 1945 Bürgermeister einer Gemeinde war,
muss als aktiver Nationalsozialist angesehen
werden; hätte er Vorbehalte gehabt und gezeigt,
hätte er sein Amt sehr schnell verloren. Auch
wenn Recken nur ein ›kleiner Täter‹ gewesen
sein sollte, hat er doch das nationalsozialistische Unrechtsregime aus freien Stücken gestützt.«
Der Enkel von Hugo Recken, Heiko Hensell, wird
zitiert: »Er wisse von Osterathern, dass sein Opa
Hugo Recken bei der Fronleichnamsprozession
der katholischen Gemeinde an prominenter Stelle mitgezogen sei. ›Für einen überzeugten Nazi
eher unwahrscheinlich‹, kommentierte Hensell.
Kaum ins Bild passe auch, dass Hugo Recken seine Tochter (›meine Mutter‹) auf ein bischöliches
Gymnasium geschickt habe. Die Nähe zur Kirche
sei den Nazis doch ein Dorn im Auge gewesen. ›Das
muss man doch nicht groß erklären, das weiß doch
jeder, der im Geschichtsunterricht aufgepasst hat‹,
so Hensell.«
»Mein Opa war kein Nazi«, so ein Buchtitel.
»Tatsächlich fördert historische Forschung ot
Genaueres und Zutrefenderes zu Tage als noch
so ernsthates Erinnern.«
Karl Otto Conrady
Der Historiker Lothar Klouten meldet sich
zur Diskussion um Hugo Recken (Osterather
Bürgermeister während des Dritten Reichs) zu
Wort:
Im Kontext meiner Ersten Staatsarbeit ›Verfolgung und Widerstand in Meerbusch
1933 – 1945‹ habe ich zahlreiche Zeitzeugen
befragt und Zeitdokumente gefunden. Wie im
Keller des Rathauses Osterath die Einwohnermeldedatei Osterath inklusive der jüdischen
Einwohner und die Osterather Zeitung in der
Druckerei Hamacher. Bei der Veranstaltung im
Dezember in Osterath meldeten sich Zeitzeugen, berichteten – und aus ihrer Mitte kam der
Vorschlag, die Hugo-Recken-Straße umzubenennen. Meine Bitte an Zeitzeugen: Schreiben
Sie Herrn Staudinger-Napp, Fraktionschef der
UWG, Ihre Erinnerungen zu Hugo Recken,
speziell seinem Handeln gegenüber den Deutschen, die als ›Juden‹ diskriminiert, verfolgt,
enteignet, ihrer Gesundheit und ihres Lebens
beraubt wurden. Mail: christian.staudingernapp@arcor.de. ›Jeder hätte Helfer Hitlers werden können. (…) Die menschliche Natur allein
ist zu schwach.‹ (Zitat aus Guido Knoop. Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker. München
1999, S. 23)«
Nach der Ältestenratssitzung am 15. März 2012 gab
der Pressesprecher der Stadt Meerbusch im Aut rag
von Bürgermeister Spindler eine Pressemitteilung
heraus, auf der Webseite der Stadt Meerbusch verfügbar. Lesen Sie den Text der Pressemitteilung und
lassen Sie ihn kurz auf sich wirken. Dann lesen Sie
meine Analyse dieses Textes. Und dann relektieren
Sie bitte selbst den Kontext.
»Der Glaube an das Gedruckte
ist seit Gutenberg einer der
mächtigsten Aberglauben dieser Welt.«
Ludwig Marcuse
»Du sollst nicht falsches Zeugnis
über deinen Nächsten ablegen.«
Exodus 20,16
»Lügen scheint zum Handwerk nicht
nur des Demagogen, sondern
auch des Politikers … zu gehören.
Ein bemerkenswerter und
beunruhigender Tatbestand.«
Hannah Arendt
Die Debatte
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»Nach dem Sturm schlägt man
auf die Barometer ein.«
Dirk van Laak
»Diskussion um NS-Vergangenheit Hugo Reckens
soll versachlicht werden
Ältestenrat beautragt das Stadtarchiv mit weiteren Nachforschungen
– Ein Foto von Herrn Regenbrecht, mit einer aufgeschlagenen Akte in den Händen –
Die Diskussion über die Rolle des ehemaligen
Osterather Bürgermeisters Hugo Recken während
der NS-Zeit soll versachlicht werden. Das ist der
Wille des Ältestenrats. ›Alles, was an Quellen und
Zeitzeugenaussagen zur Person Hugo Recken noch
verfügbar ist, muss gründlich gesichtet werden‹, so
Bürgermeister Dieter Spindler. Erst danach sei es
möglich, ein qualiiziertes und diferenziertes Urteil abzugeben.
Gründliche Prüfung
Auch die derzeit eingehenden Zeitzeugenaussagen
müssten überprüt werden. Auslöser der Beratung
im Ältestenrat waren Aussagen des Osterathers Lothar Klouten, welche die Meerbuscher UWG dazu
bewegt hatten, eine unverzügliche Umbenennung
der Hugo-Recken-Straße zu fordern. Klouten hatte
zuletzt Anfang der 80er Jahre in den Meerbuscher
Geschichtsheten zwei Aufsätze über das Schicksal
jüdischer Familien in Meerbusch veröfentlicht.
Stadtarchivar Michael Regenbrecht, so der
Wunsch des Ältestenrats, soll nun wissenschat lich
belegte Erkenntnisse über die Person Hugo Recken
zusammentragen. Unter anderem soll Reckens Entnaziizierungsakte nochmals eingesehen werden.
Ein Teil der alten Papierdokumente wird nach Angaben des Landesarchivs konserviert und ist deshalb derzeit nicht greibar – aber bereits vorbestellt.
Ausgewiesener Fachmann
Regenbrecht, der sich nach seinem Studium der Geschichte im Rahmen seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Universität Wuppertal und später in
eigenen Arbeiten, Vorträgen und Ausstellungen intensiv mit lokalgeschichtlichen hemen befasst hat,
prüt die Vorwürfe gegen Recken eingehend. Dabei
hat er unter anderem die NS-Dokumentationsstelle
Krefeld und die NS-Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf zu Rate gezogen. ›Recken war weder örtlicher Chef der Gestapo, noch ihr Mitarbeiter‹, so Dr.
Ingrid Schupetta, die im Aut rag der Dokumentationsstelle Krefeld umfangreiche Untersuchungen
über die Gestapo in der Region geführt hat. Die
örtliche Polizeibehörde in Osterath sei lediglich
Hilfsorgan und Weisungsempfänger der Staatspolizeistelle Düsseldorf gewesen. Demzufolge habe Recken auch persönlich niemanden deportieren lassen
können.
170
| Die Debatte
Zeitzeugen mit interessanten Aussagen
Inzwischen haben sich bei Regenbrecht mehrere
Zeitzeugen gemeldet. Sie erinnern sich vor allem
an das örtliche Engagement Reckens als Katholik in
der Gemeinde St. Nikolaus. So habe Recken Probleme mit der Düsseldorfer Gauleitung bekommen,
weil seine Tochter die katholische Marienschule
in Krefeld besuchte. Recken beharrte darauf. Über
Wochen, so ein Zeuge, habe Recken am schwarzen
Brett des Rathauses einen wütenden Artikel des
›Stürmers‹ aushängen müssen, der ihn als Teilnehmer der Fronleichnamsprozession in Frack und
Zylinder zeigte. Berichtet wurde zudem von der
deutsch-jüdischen Familie Dr. Langenbach aus
Osterath, die Hugo Recken vor dem Zugrif der
NS-Schergen warnte und in ihrem Versteck in der
Eifel heimlich mit Lebensmittelkarten versorgen
ließ.
Viele Vorwürfe wohl wissenschat lich nicht
haltbar
Weitere Vorwürfe Lothar Kloutens halten laut Regenbrecht einer wissenschat lichen Prüfung nicht
stand. Beispiele stellt er derzeit auf Wunsch des Ältestenrats zusammen. Regenbrechts Eindruck bis
jetzt: ›Die bisher vorliegenden Erkenntnisse weisen
Recken natürlich nicht als Widerstandskämpfer
aus. Es war als Bürgermeister durchaus konform, er
war aber auch ein Mensch mit christlichen Prinzipien, nach denen er handelte.‹«
»Wir sollten niemals aus den Augen verlieren,
dass der Weg zur Tyrannei
mit der Zerstörung der Wahrheit beginnt.«
Bill Clinton
»Du musst bedenken,
dass eine Lüge dich nicht bloß die Wahrheit kostet,
sondern die Wahrheit überhaupt.«
Friedrich Hebbel
Eine Presseerklärung eines Stadt-Pressesprechers
im Namen seines Bürgermeisters ist eine politische
Erklärung mit politischen Zielsetzungen, für die
rhetorische Mittel eingesetzt werden. Sehen wir uns
den Text dieser Presseerklärung aus dieser Perspektive näher an.
»Die Diskussion über die Rolle des ehemaligen Bürgermeisters Hugo Recken während der NS-Zeit soll
versachlicht werden.« Das impliziert: Was vorher
kam – und seien es Dokumente –, war unsachlich –
und damit unqualiiziert.
»Das ist der Wille des Ältestenrats.« Ein vermeintlich monolithischer nichtöfentlicher Block
spricht ein Machtwort. Welche Macht hat er? Die
Vorgeschichte impliziert: Der UWG-Fraktionsvorsitzende Staudinger-Napp ist der Outlaw im
Gremium, das also nicht monolithisch ist. Das
bedeutet: Es geht in der Summe der rhetorischen
Formulierungen um Wirkung nach außen in die
Gesellschat.
Dann wird Bürgermeister Spindler zitiert, was
die Bedeutung des Satzes hervorheben soll: »Alles,
was an Quellen und Zeitzeugenaussagen zur Person
Hugo Recken noch verfügbar ist, muss gründlich
gesichtet werden.« »Erst dann sei es möglich, ein
qualiiziertes und diferenziertes Urteil abzugeben.«
Womit die veröfentlichte Formulierung vom in seiner Qualii kation unstrittigen Dr. Anselm Faust
rhetorisch ausgeklammert und ignoriert wird.
grenzen: Ich gehörte nicht zur (Volks-)Gemeinschat der Historiker.
»Auch die derzeit eingehenden Zeugenaussagen
müssen überprüt werden.« Überprüt ist ein politischer, ggf. juristischer Begrif. Geschichtswissenschat lich müsste die Formulierung etwa lauten:
»Auch die derzeit eingehenden Zeitzeugenaussagen
müssen in den historischen Kontext gebracht und
dann bewertet werden.«
»Auslöser der Beratung im Ältestenrat waren
Aussagen des Osterathers Lothar Klouten, welche
die Meerbuscher UWG dazu bewegt hatten, eine
unverzügliche Umbenennung der Hugo-ReckenStraße in Osterath zu fordern.« Richtig hieße es:
Ex-Osterather. Namensnennung ohne Zusatz –
Schein-Neutral. Meine »Aussage« war das Zitat des
Recken-Briefes an die Gestapo-Außendienstelle
Krefeld: »Es wird um Abschiebung des Juden gebeten.« Und die Position der UWG hat – wie oben
dokumentiert – nichts mit dieser Darstellung zu
tun. Die Formulierung »dazu bewegt« impliziert im
Kontext: Da hat sich die naive UWG vor den Karren
von diesem Klouten spannen lassen.
Da der Name Klouten gefallen ist, kommt
konsequenter Weise im Folgesatz der – vermeintlich – inale rhetorische Todesstoß: »Klouten hatte
zuletzt Anfang der 80er Jahre in der Meerbuscher
Geschichtsheten zwei Aufsätze über das Schicksal
jüdischer Familien in Meerbusch veröfentlicht.«
Zwei Aufsätze in einer nicht-geschichtswissenschat lichen Publikation und das auch vor so langer Zeit: Dieser Mensch ist nicht qualiiziert. Hier
wird die Grenze zwischen politischer Rhetorik und
manipulativer, bewusst selektiver Rhetorik deutlich
überschritten. Ein Blick auf meine Veröfentlichungen genügt zur Erkenntnis. Mit einem Mittel struktureller Gewalt wird eine Legitimation kultureller
Hegemonie im Sinne Gramscis formuliert, einem
Stil, der ansonsten Diktaturen aller Couleur vorbehalten ist.
»Stadtarchivar Michael Regenbrecht, so der Wunsch
des Ältestenrats, soll nun wissenschat lich belegte
Erkenntnisse über die Person Reckens zusammentragen.« Wie ist hier die Begrilichkeit »wissenschat liche Erkenntnis« deiniert? Im Kontext ist
dies ein ideologischer rhetorischer Begrif, mit dem
nur von vornherein gewünschte Ergebnisse – von
Bürgermeister und Ältestenrats-Mehrheit – zugelassen werden sollen. Wo – und wann – leben wir?
»Unter anderen soll Reckens Entnaziizierungsakte nochmals eingesehen werden. Ein Teil der alten Papierdokumente wird nach Angaben des Landesarchivs konserviert und ist deshalb derzeit nicht
greibar – aber bereits vorbestellt.« Die rhetorische
Begründung für das Spiel auf Zeit – und Vergessen.
Mit einer groben Lüge: Die Akte ist digitalisiert,
kann im Lesesaal des Landesarchivs in Düsseldorf
von jedem Bürger frei eingesehen werden – und
auch kopiert. Und: Herr Regenbrecht kann mit der
geschichtswissenschat lichen Analyse der Akten in
dem Archiv beginnen, dessen Chef er ist. Und die
Akten des Kreisarchives Viersen, die er in seinem
»Recherchebericht« nennt, vollständig und nicht
selektiv zur Kenntnis nehmen – sowie geschichtswissenschat lich analysieren. Was auch für die Akten des Staatsarchivs NRW und andere Archive gilt.
Entspricht es dem Kriterium von »wissenschat lich
belegte Erkenntnisse« bewusst selektiv ergebnisorientiert politisch zu agieren?
Wie wissenschat lich ist es, im Kontext – Zitat
des Recken-Briefs – zu formulieren »Vorwürfe gegen Recken«?
Herr Regenbrecht zitiert dann Frau Dr. Schupetta: »Recken war weder örtlicher Chef der Gestapo, noch ihr Mitarbeiter.« »Die örtliche Polizeibehörde in Osterath sei lediglich Hilfsorgan und
Befehlsempfänger der Staatspolizeistelle Düsseldorf
gewesen. Demzufolge habe Recken auch persönlich
niemanden deportieren lassen können.« Nach Lektüre dieser Sätze und in Anbetracht dessen, was sie
gefragt wurde und darauf diferenziert geantwortet
hatte, formulierte Frau Dr. Schupetta die Begriflichkeit »interessengeleitete Geschichtspolitik«.
Und wo habe ich veröfentlicht oder vorgetragen,
dass Recken persönlich hat deportieren lassen?
Ein schlechter manipulativer rhetorischer Trick im
Kontext, mich abzuqualiizieren. Aus der Perspektive von Frau Dr. Schupetta wird umgekehrt ein
Schuh daraus.
Der Sinn dieser bewussten Manipulation ist es,
die dann folgende Lobhudelei zur Qualii kation von
Herrn Regenbrecht – »ausgewiesener Fachmann« –
noch zu überhöhen bzw. mich rhetorisch auszu-
Die Zeitzeugen, die sich bei Herrn Regenbrecht gemeldet haben sollen, sind interessant. Ihre Darstellungen müssen im historischen Kontext gewertet
werden, nicht nur einfach aufgelistet.
Die Debatte
| 171
»Weitere Vorwürfe Lothar Kloutens halten laut Regenbrecht einer wissenschat lichen Prüfung nicht
stand. Beispiele stellt er derzeit auf Wunsch des
Ältestenrats zusammen.« Ich harre der konkreten
Beispiele – und ihrer geschichts-wissenschat lichen
Begründung. Diese Buch ist die Dokumentation
dessen, was im Sinne von »wissenschat licher Prüfung« möglich ist.
Abschließend formuliert Regenbrecht die von
seinem Vorgesetzten Bürgermeister Spindler erwartete Absolution für Hugo Recken: »Die bisher
vorliegenden Erkenntnisse weisen Recken natürlich nicht als Widerstandskämpfer aus. Er war als
Bürgermeister durchaus konform, er war aber ein
Mensch mit christlichen Prinzipien, nach denen er
handelte.« Um es pointiert auszudrücken: Wer nach
seinen christlichen Prinzipien handelte, konnte in
seiner amtlichen Funktion als Bürgermeister in der
NS-Zeit konform handeln, sich also aktiv daran beteiligen, Menschen zu diskriminieren, auszugrenzen, zu entrechten, zu enteignen und in der Tod zu
schicken. Als Katholik erhielt Hugo Recken dafür
die Absolution – bis heute. Damit wäre nicht nur
die Frage nach der Benennung der Hugo-ReckenStraße erledigt: Wäre.
In Formulierungen von Wolf Schneider
in »Wörter machen Leute«:
»Das Wort als Aggressor«
»Fahnenträger der Gewalt«
»Wörter wie Arsen«
»Umwertung der Wörter«
»Das Verhältnis zwischen Sprache
und Realität«
»Kobolde deuten die Welt«
Ich lass von ihr, sie sich von mir betrügen,
umlügend unsere Fehler zum Vergnügen.
William Shakespeare
Die WZ berichtete am 21. März 2012 über diese
Pressemitteilung, die RP am 22. März. Der ExtraTip am Sonntag Meerbusch hat die Pressemitteilung
am 1. April (sic!) 2012 kommentarlos abgedruckt.
Einen Leserbrief von mir zu dieser Pressemitteilung
druckten die RP und die WZ am 17. März 2012 ab.
»›Versachlichen‹: Gemeinsam
Aus dem Artikel ergeben sich zwei grundsätzliche
Fragen: Welches Verständnis von Versachlichung
ist gemeint? Wie wird hier ›wissenschat lich belegte Erkenntnisse‹ deiniert? Denn: Das Zitat von Dr.
Faust wird nicht erwähnt. Dessen Buch über die
Reichskristallnacht im Rheinland und die dort wie-
172
| Die Debatte
dergegebenen Schreiben von Bürgermeister Hugo
Recken an die Gestapo-Außendienstelle Krefeld,
wo er um ›Abschiebung des Juden‹ nachsucht, quasi
der Stein des Anstoßes war.
Woraus der nächste Aspekt folgt: Es ist ein
schlechter rhetorischer Trick, sich von etwas zu distanzieren, was ein Autor nie schrit lich oder mündlich dargestellt hat. Recken konnte niemanden deportieren lassen. Er war als Bürgermeister örtlicher
Polizeichef, damit auch die örtliche Gestapo. Und
wie ›wissenschat lich‹ ist es, meine auf Dokumenten und historisch dokumentierten Fakten beruhende Darstellung als ›Vorwurf‹ zu qualiizieren?
Und dann noch nebulös zu formulieren, dies stelle
er dem Ältestenrat auf Wunsch zusammen? Ist das
eine Retourkutsche von Herrn Regenbrecht darauf, dass ich ihn z. B. damit korrigiert habe, dass
die Umlegung des jüdischen Friedhofs in Osterath nicht nach Uerdingen, sondern auf den neuen
Friedhof an der Gladbacher Straße erfolgt ist?
Und was soll im konkreten historischen Kontext
›ein Mensch mit christlichen Prinzipien, nach denen er handelte‹ bedeuten? In Osterath war 1933 der
Nazi-Kaplan Hilmer, der das sicher auch für sich in
Anspruch genommen hat. Quellen, Zeitzeugenaussagen und historische Geschehen müssen immer im
historischen Kontext eingeordnet und dann bewertet werden. Das bedeutet auch: Politisch gewollte
Ergebnisse sind nicht vorgegeben; ansonsten ist es
nicht geschichts-wissenschat lich. Ich biete Herrn
Regenbrecht an, ihm Dokumente und Fundstellen
zu benennen sowie meine entsprechenden Kontakte
zu vermitteln.«
Am 2. April 2012 sandte ich Herrn Regenbrecht eine
E-Mail:
»Guten Tag Herr Regenbrecht!
Ausschließlich zum Stadtarchiv Meerbusch:
Im Bestand Osterath beindet sich die Akte P 15,
in der sich einige Dokumente zu Maßnahmen der
Gemeindeverwaltung gegen als Juden deinierte
Osterather deutscher Nationalität beinden.
In der Einwohermeldekartei Osterath bis 1945 sind
die Karteikarten der als Juden diskriminierten
Menschen. Mit Einträgen wie z. B. bei Dan Lucas:
›9. 12. 41 Osten Riga‹.
In der Sammlung / dem Nachlass Herbrandt beinden sich u. a. zwei Dokumente:
- Schreiben von Herrn Herbrandt vom 15. 07. 1947
›Zu der gegen Herrn Gemeindedirektor Recken
aus Osterath erstattete Anzeige wegen pietätloser
Beseitigung des jüdischen Friedhofs in Osterath‹
- Todesanzeige der Gemeinde Osterath für Hugo
Recken 1953
In Ihrem Recherchebericht geben Sie Artikel in den
Meerbuscher Geschichtsheten an. Insbesondere
den Artikel von Günter Janß ›Der Osterather Judenfriedhof und die Geschichte der jüdischen Gemeinde‹ empfehle ich Ihnen zur intensiven Analyse.
Und die Anmerkung 12 im Artikel ›Die Polizei in
Osterath‹ von Egon hiel empfehle ich Ihnen zu relektieren.
Auch in diesem Kontext:
Im Bestand Osterath dürte sich die Akte zum Entnaziizierungsausschuss der Gemeinde Osterath
1945 f. beinden. Die ich bei Gelegenheit einsehen
möchte.
Mit freundlichen Grüßen.
Lothar Klouten«
Der Text der genannten »Anmerkung 12« lautet:
»Was das Auinden von Akten aus der Zeit des
Nationalsozialismus angeht, so ist dies immer mit
großen Schwierigkeiten verbunden. In den meisten
Fällen wurden die Akten der Polizei- und Kommunalverwaltungen noch schnell vor dem Einrücken
der Alliierten vernichtet. Vielfach gingen damit
nicht nur belastendes Material, sondern auch alle
weiteren historisch interessanten Akten unwiederbringlich verloren. Somit bleibt als einzige Quelle
die Befragung von noch vorhandenen Zeitzeugen
übrig und die beleuchteten Sachverhalte zeigen sich
mitunter recht dürt ig.«
Was denken Sie: Habe ich ein Feedback von Herrn
Regenbrecht erhalten?
»Die meisten Menschen haben vor der Wahrheit
mehr Angst als vor der Lüge.«
Ernst Ferstl
Am 2. Mai besuchte ich gemeinsam mit Frau mit
Frau Fingerhut von der UWG-Fraktion Meerbusch
das Stadtarchiv Meerbusch. Herr Regenbrecht verhielt sich bürokratisch freundlich. Er meinte dann
einen rhetorischen Trefer landen zu können, indem
er mir gegenüber erklärte, dass die von mir erstellten 26 Kopien – deren Anzahl er für gering hielt –
kostenfrei seien, wenn sie im Rahmen einer wissenschat lichen Arbeit seien und das Stadtarchiv ein
Belegexemplar dieser Arbeit erhielte. Ich bedankte
mich für die kostenfreien Kopien und sagte ihm ein
Belegexemplar zu.
Ähnlich der Vorsitzende des Geschichtsvereins
Meerbusch Herr Rameil, der ins Stadtarchiv kam.
Der glaubte einen rhetorischen Trefer gelandet
zu haben, indem er mich süisant als den großen
Historiker ansprach und dann mit bedeutungsschwangerer Stimme auf lediglich acht Veröfentlichungen von mir in den Meerbuscher Geschichtsheten in gut 30 Jahren verwies. Diese Zahl ist
zumindest um 400 % höher als die vom Stadt-Pres-
sesprecher in der Pressemitteilung für Bürgermeister Spindler genannte. Und hat genauso wenig mit
der Realität zu tun – insbesondere der außerhalb
von Meerbusch. Herr Rameil sah sich genötigt, sich
so als Teil der Meerbuscher Gemeinde-Elite positionieren zu müssen.
Als er mich am 9. Mai 2012 im Landesarchiv
NRW in Düsseldorf traf, war er erkennbar erstaunt.
Das passte nicht in sein Bild vom Nicht-Historiker
Lothar Klouten. Danach trafen wir uns noch mehrfach dort.
Am 2. Mai 2012 schrieb ich Herrn Regenbrecht eine
E-Mail:
»Nochmals danke für Ihre freundliche Unterstützung heute.
Sie erhalten wie zugesagt ein Exemplar meines
neuen Buches, das in Arbeit ist.
Als ich an meiner Ersten Staatsarbeit »Verfolgung und Widerstand in Meerbusch
1933 – 1945« arbeitete – die erste geschichtswissenschat liche Aufarbeitung dieses hemas –,
war Herr Herbrandt – ehrenamtlicher – Leiter
des Stadtarchivs Meerbusch, also einer Ihrer
Vorgänger. Herr Herbrandt gewährte mir umfassende Akteneinsicht, nachdem er verstand,
dass es mir um Geschichtswissenschat geht.
In diesem Kontext: Damals P 15 ist heute III
1997. Und Frau Dr. Aust gewährte mir Zugang
insbesondere zu ihrem Fotoarchiv sowie ihren
Zeitzeugenkenntnissen. Meine gesammelten
Dokumente und Aufzeichnungen habe ich mit
den 26 heute erstellten Kopien ergänzt, die meine aktuelle erweiterte Perspektive betrefen.
Grüßen Sie bitte Herrn Rameil von mir.«
Am 25. Mai 2012 mailte ich den Meerbuscher Lokalredaktionen von Rheinischer Post und Westdeutscher Zeitung eine Pressemitteilung:
Wer einmal lügt
In der Pressemitteilung der Stadt Meerbusch im
Aut rag von Bürgermeister Spindler zur Ältestenratssitzung im März 2012, in der ich persönlich
angegrifen und difamiert wurde, wird vom Leiter
des Stadtarchivs Meerbusch Herrn Regenbrecht –
im Aut rag seines Vorgesetzten Bürgermeister
Spindler – u. a. behauptet: Eine der Recken-Entnaziizierungsakten befände sich in der Entsäuerung, sei daher nicht einsehbar, sei vorbestellt, es
sei ofen, wann sie einsehbar sei. Dies als Legitimations-Argument für eine unbegrenzte zeitliche
Verzögerung weiterer Recherche-Ergebnisse des
Stadtarchivs Meerbusch bzw. seines Leiters Herrn
Regenbrecht zur Rolle von Hugo Recken in der
NS-Zeit als Bürgermeister in Osterath Januar 1934
bis März 1945 sowie dann Januar 1946 bis zu sei-
Die Debatte
| 173
nem Tod 1953 als Gemeindedirektor in Osterath.
Die im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf zuständige Frau Dr. Hönerlage teilte mir
heute auf meine Anfrage per E-Mail mit:
»Die Entnaziizierungsakten NW 1023 Nr. 4803
liegen seit April im Lesesaal digital vor und können
von Ihnen am Benutzer-PC eingesehen werden.
Wie das zuständige Dezernat auf meine Anfrage
mitteilte, hat die zweite Entnaziizierungsakte zu
Hugo Recken folgende Signatur: NW 1037-BI Nr.
15313. Die Akte liegt noch analog vor und ist ohne
Sondergenehmigung im Lesesaal einsehbar.«
Auch eine weitere Pressemitteilung von mir wenige Tage später hatte keinerlei Reaktion der Meerbuscher Lokalredaktionen.
Warum wohl?
Welche politischen Konsequenzen in Meerbusch
folgen aus der Aufdeckung dieser gezielten Desinformation von Herrn Regenbrecht im Autrag seines Vorgesetzten Bürgermeister Spindler, mit der
Stadtrat und Bürgerschat bewusst getäuscht wurden?
Am 25. Mai 2005 schrieb mir Kurt Gutmann, Überlebender aus der Familie von Sabine und Julius Gutmann und Vorsitzender von DRAFD e. V.:
»Unterstützung Ihres Buchprojekts zur Geschichte von Meerbusch-Osterath
Mit regem Interesse habe ich in den letzten
Wochen Ihr Buchprojekt zum Umgang mit der
Verfolgung ›rassisch Minderwertiger‹ in meiner Heimat verfolgt.
Als Kind vor meiner Emigration nach Schottland und als junger Soldat der britischen Armee nach 1945 habe ich im Rheinland selber
antisemitische und faschistische Angrife erleben müssen und deshalb blicke ich mit Hochachtung auf Ihre Bemühungen, diese Geschichte für eine Gemeinde auch gegen Widerstände
zu dokumentieren.
Als Herr Bürgermeister Hugo Recken am 4.
Juni 1942 an die Gestapo-Außendienststelle
Krefeld zu Sabine und Julius Gutmann schrieb:
›Es wird um Abschiebung des Juden gebeten‹,
waren meine Mutter Jeanette Gutmann, geb.
Kann, und mein Bruder Hans-Josef schon abtransportiert. Ihr Transport war am 2. April
über Düsseldorf in Richtung Izbica gegangen.
Von diesem Transport gab es keine Überlebenden.
Vielen Dank für Ihre Bemühungen.
Ich und auch meine Kinder würden es begrüßen, wenn Sie tatkrät ige Unterstützung
bekommen, um diese Geschichte lebendig zu
halten.«
174
| Die Debatte
Am 26. Mai 2012 erhielt ich ein Schreiben des Bundespräsidialamtes:
»Bundespräsident Joachim Gauck dankt Ihnen
für Ihre E-mail vom 23. April 2012 und für Ihre
Glückwünsche zu seinem Amtsantritt. Die
vielen Beweise der Zustimmung und der Verbundenheit sind ihm Ermutigung für die kommenden Aufgaben. Mit all seiner Krat und mit
seinem Herzen wird er dafür arbeiten, dem in
ihn gesetzten Vertrauen gerecht zu werden.
Die aktive Auseinandersetzung mit unserer
Vergangenheit ist dem Bundespräsidenten ein
wichtiges Anliegen. Zu einer tief empfundenen
Erinnerung tragen Aktivitäten, wie sie in den
von Ihnen beigefügten Anlagen – von Dokumenten, Zeitzeugenaussagen und Literaturzitaten über Mahnmale bis hin zu Stolpersteinen – beispielhat erwähnt sind, in erheblichem
Maße bei.
Daran zu erinnern, wird dem Bundespräsidenten ein Anliegen sein.«
Am 26. Juni 2012 schrieb der Fraktionsvorsitzende
der UWG Herr Staudinger-Napp an Bürgermeister
Spindler:
»Entnaziizierungsakte Hugo Recken
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Spindler,
bezüglich des o. g. hema möchte ich um einen
kurzen Sachstandsbericht Ihrerseits bitten. Seinerzeit hatten Sie mitgeteilt, dass die Entnaziizierungsakte Hugo Recken NR 1034 Nr. 4803
nicht einsehbar wäre, weil sie sich in der Entsäuerung beindet. Nach meinen Informationen kann die Akte anscheinend aber doch
jederzeit digital im Landesarchiv NRW Mauerstraße in Düsseldorf eingesehen werden.«
Die Zeit läut.
Von Seiten der Stadt Meerbusch bzw. Bürgermeister
Spindler beredte Funkstille.
Schweigende Lüge.
Heute ist der 2. August 2012.
Ich bin dabei, das Manuskript zu diesem Buch abzuschließen.
Dieses Buch zu schreiben ist die richtige Entscheidung von mir.
Wir werden erleben, was es bewirkt.
Auch im Sinne des zentralen Satzes der Riga-Überlebenden Prof. Dr. Gertrude Schneider in »Reise in
den Tod. Deutsche Juden in Riga 1941 – 1944« S. 12:
»Ein Weiterleben mit diesen Verletzungen ist ot
nur mittels Umdeutungen des Erlebten und der
eigenen Handlungen möglich.«
Das gilt gleichermaßen für die Opfer wie die Täter –
und deren Nachkommen. Also auch für die Herren
Spindler und Regenbrecht.
Unsere gesellschat liche Aufgabe ist es, das bewusst
zu machen. Als Basis zu einer realen Entnaziizierung von Gesellschat und allen ihren Menschen –
über Deutschland hinaus. Für eine gemeinsame
Zukunt in Würde aller Menschen. Die Würde des
Menschen ist unteilbar.
»Gedenken macht Leben menschlich. Vergessen
macht es unmenschlich. Wir wissen natürlich von
einer Gnade des Vergessens. Aber auch wenn Erinnerung Trauer und Scham transportiert, füllt es
die Zukunt mit Perspektiven. Und Leugnen der
Vergangenheit forciert das Geschäts des Todes;
gerade wenn und weil er nur Heute will. Das Maß
der Rechenschat über das Gestern bestimmt das
Maß an Stabilität für das Morgen.«
Hans-Jochen Vogel (Hrsg.). Gegen Vergessen –
Für Demokratie. München 1994.
Der erste Absatz des Beitrages (S. 13) von Eberhard
Bethge »Forschen – Vermitteln – Gedenken. Schritte
gegen das Vergessen«. Der heutige Vorsitzende
von »Gegen Vergessen – Für Demokratie« ist Bundespräsident Joachim Gauck.
Titelseite des Buches
Die Debatte
| 175
((XI_71b))
Newsletter aus New York, Sommer 2012
176
| Die Debatte
Eine geschichtswissenschaftliche Gesamtbewertung:
Der Erinnerung eine Chance
»Verwaltung umzingelt den Menschen – auf seinen
Wunsch. Das Individuum wird in der westlichen
Welt zunehmend von einer Bedingung begleitet, die
ihm verhältnismäßig neu ist: das Verwaltet-Sein.«
Fritz Morstein Marx
»Eine« impliziert: Es kann durchaus verschiedene
geschichtswissenschat lichen Gesamtbewertungen
geben. Denn es gibt nicht die historische Wahrheit.
Der Anspruch auf diese Wahrheit ist der ideologische Machtanspruch auf kulturelle Hegemonie im
Sinne Gramscis, auf Deutungs-Macht. In welchem
ideologischen Gewand dieser Anspruch auch immer daherkommt: Er ist ein totalitärer Anspruch.
Dessen Umkehrung in den Worten von Joseph
Vogt: Besinnung auf »die Heterogenität von Entstehungsgeschichten, Herkünten und tatsächlichen
Praktiken«.
Was ist der Kern geschichtswissenschat licher Methodik?
– Quellensuche
– Quellenanalyse
– geschichtswissenschat liche Kontextualisierung,
Einordnung und Erklärung
– aus transparent deinierten Perspektiven, womit
annähernd intersubjektive Überprübarkeit möglich ist
Das bedeutet:
– Quellensuche ist nie erschöpfend.
– Quellenanalyse kann sehr unterschiedlich sein –
auch nach der Einordnung in den historischen
Kontext. Ebenso können geschichtswissenschatliche Bewertungen sehr unterschiedlich sein.
»Geschichte muss immer wieder neu geschrieben
werden, nicht, weil neue historische Tatsachen bekannt werden, sondern weil sich der Standpunkt
des Betrachters ändert.«
Arnold Toynbee
Zusammenhangs von Vergangenem und Gegenwärtigem.
»Man weiß, dass die Verarbeitung der Vergangenheit zur Geschichte, also das Geschäts des
Historikers, nur unter leitenden Gesichtspunkten der Gegenwart möglich ist, also subjektiv,
als Rekostruktion: zwar in Ansehung der Befunde, aber immer auch als Konstrukt, und
das heißt immer auch abhängig von den sich
mit der Zeit wandelnden Erfahrungen und Erwartungen derer, die die Geschichte für ihre
Gegenwart schreiben. Denn Geschichte hat
ja nie nur mit Vergangenheit zu tun, sondern
auch immer mit der Gegenwart und Zukunt.
Die Geschichte ist nicht das Vergangene, sondern, so der niederländische Historiker Johan
Huizinga, die geistige Form, in der sich eine
Kultur über die Vergangenheit Rechenschat
gibt. Geschichte ist, so der Diplomat Carl Jakob
Burckhardt, was ein Zeitalter an einem anderen
interessiert.«
Jürgen Kocka
»Ein allgemeiner Prozess der Abstraktion und
Entsinnlichung der NS-Vergangenheit, der die Geschichte gewissermaßen ihres Personals und ihrer
Orte beraubte, so dass man sich in der Öfentlichkeit sogar mit einigem Pathos gegen die vergangene
Gewaltherrschat aussprechen konnte, ohne sich
mit konkreten Orten und wirklichen Menschen –
weder den Tätern noch den Opfern – zu befassen«.
Ulrich Herbert, S. 110.
»Die gemeinsame Aufgabenstellung der Zeithistoriker besteht nun darin, nach den Inhalten der öffentlichen Diskurse über die NS-Vergangenheit zu
fragen, also nach dem Vergessenen und Beschwiegenem in der Erinnerung nach den subjektiven und
objektiven Dimensionen zeitgenössisch verzerrter
Bilder ›des Dritten Reichs‹ in der Öfentlichkeit.«
Axel Schild, in: Wilfried Loth u.a. Hrsg., S. 21.
»Die Quellen sprechen nicht selbst.«
Jürgen Kocka
Historische Erkenntnis ist standortgebunden.
»Wer in der Zukunt lesen will,
der muss in der Vergangenheit buchstabieren.«
Wahrnehmung ist bereits Interpretation. Indem
Informationen in die eigene – subjektive – Kognition eingepasst werden. Wobei es wesentliche Differenzierungen gibt: Erstens, ob der wahrnehmende
Mensch »nur« subjektiv wahrnimmt oder sich seiner Subjektivität bewusst ist – und so die Chance
Andre Malraux
Nach der Geschichtstheorie von Johann Gustav
Doysen ist Geschichtswissenschat ein Modell des
Der Erinnerung eine Chance
| 177
zu einer Annäherung an Objektivität hat. Zweitens,
ob bewusst interessengeleitet selektiv ausgewählt
wird – und das dann Ausgewählte auch aus der interessengeleiteten Perspektive nochmals um-interpretiert wird. Dies auch im Sinne von: Informationen – bewusst – nicht wahrnehmen (wollen).
Was ist der gesellschat liche Aut rag von Geschichtswissenschat als Gesellschatswissenschat,
als historische Sozialwissenschat? Eine grundsätzliche Antwort auf diese Kernfrage ist mit den drei
Grundfragen aller Religionen und Philosophien
vernetzt:
Wer bin ich?
Woher komme ich?
Wohin gehe ich?
Der gesellschat liche Aut rag von Geschichtswissenschat ist es, ihren speziischen Beitrag zum offenen gesellschat lichen Diskurs dieser Fragen zu
leisten.
Was sind Bedingungen zur Wahrnehmung dieses
gesellschat lichen Aut rags?
Meine Antwort:
Lebens-Geschichte
Die Ebene verlassen,
auf der Geschichtswissenschat ganz überwiegend betrieben wird,
und in die – menschliche – Tiefe gehen:
Die Ebene des kollektiven Verdrängens und
Vergessens durchstoßen
Und zur realen Geschichte des Lebens gelangen.
Geschichte beschreibt menschliches Leben.
Wenn Geschichte als Wissenschat ihren gesellschat lichen Aut rag wahrnehmen will,
muss sie den Zusammenhang von Geschichte
und Menschen dokumentieren,
mit allen denkbaren Facetten.
Die nationalsozialistische von Adolf Hitler geprägte
Ideologie ist nicht aus dem Nichts entstanden und
nicht im Nichts verschwunden. Adolf Hitler und die
ihn umgebenden Menschen haben ihre speziische
Sozialisation erlebt, geprägt von den gesellschat lichen, kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen. Zu denen in Deutschland und Österreich
seit gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein eliminatorischer Antisemitismus zählte.
Nach dem 1. Weltkrieg wurden Hitler und das von
ihm geprägte NSDAP-Programm der Fokus dieser
gesellschat lichen Entwicklung. In einem Umfeld,
das von Hitler und seiner Umgebung instrumentalisiert und gestaltet wurde. Von Beginn an lankiert
von der ganz überwiegend bruchlos in die Weimarer Republik übernommenen monarchistischen Eli-
178
| Der Erinnerung eine Chance
te in den Bürokratien und den anderen gesellschatlichen Subsystemen.
So hat das Reichsgericht nicht, wie es verplichtet gewesen wäre, deutsche Kriegsverbrechen und
Kriegsverbrecher verfolgt und dann rechtsstaatlich
verurteilt. Eine wesentliche Basis für die in der Hitler-Propaganda zentrale »Kriegsschuldlüge«.
Das Reichsgericht hat dann 1932 eine zweite analoge Rechtsverweigerung begangen. Indem der
Oberreichsanwalt die Annahme der Denkschrit
der preußischen Landesregierung »Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei als staats- und
republikfeindliche, hochverräterische Verbindung«
verweigerte. Der Sinn dieser Denkschrit: Die Einleitung eines Verbotsverfahrens gegen die NSDAP.
Die Analogie zum ofenen Verbotsverfahren gegen
die NPD liegt auf der Hand. Wie der Sinn der kriminellen Handlung des Oberreichsanwalts: einen
weiteren Sargnagel in die Weimarer Republik zu
schlagen.
Die sich mit Hitler verbündenden Nationalkonservativen und Reaktionäre auch in den beiden Kirchen – so sind sie dann auch in den SD-Berichten
tituliert worden – hatten die Vorstellung, sie könnten Hitler und die NSDAP instrumentalisieren, zur
Vernichtung der verhassten Demokratie und der
verhassten Arbeiterbewegung. Dass Hitlers Interessen mit diesen beiden Zielen erst begannen, das
lag außerhalb der Kognition dieser Menschen. Und
sie gaben Hitler und seinen Vasallen die Macht.
In Verbindung mit den ebenso irreal taktierenden
»Führern« der demokratischen Parteien und der
KPD. Dies war aus heutiger Perspektive eine gut
gelungene Gemeinschatsaktion mit millionenfach
tödlichem Ausgang.
Hitlers im NSDAP-Programm niederlegte Idee war
auch seinen Zeitgenossen klar: Den deutschen Staat
als Partei übernehmen und die Kernziele realisieren. Da »der Jude« für alles Negative verantwortlich
sei, würde er dafür verantwortlich gemacht, von der
Erde getilgt. Jude sein ist nach diesem Verständnis
ein Verbrechen per Geburt, das mit dem Tod zu sühnen sei. Dieses Ziel korrespondiert mit dem zweiten
Kernziel: Will man das erste erreichen, muss man
die Macht, die Verfügung über die Menschen bekommen, die ermordet werden sollen. Was nur Eroberungskrieg bedeuten kann. Legitimiert mit der
Ideologie von »arischer« Überlegenheit und »fehlendem Lebensraum«. Gekoppelt mit dem, was im
»Generalplan Ost« Gestalt bekam: Auch »slawische
Untermenschen« sollten und wurden zu Millionen
ermordet. Wie alle von Hitler und seinen Helfershelfern ideologisch begründeten »Reichsfeinde«:
»Zigeuner«, »Asoziale«, politische Gegner inkl. der
Nationalkonservativen und Reaktionäre – siehe
»Röhm-Putsch –, Zeugen Jehovas, Freimaurer …
Das Führerprinzip ist die Negation von Rechtstaatlichkeit und Rechtssicherheit, es ist grenzenlose
Rechtlosigkeit und Willkür. »Recht« ist ausschließlich Legitimation gesetzlichen Unrechts. Die Exklusion von willkürlich nationalsozialistisch-ideologisch deinierten Menschen-Gruppen durch die
Volksgemeinschatsideologie und ihre schein-legale
und illegitime Recht-Werdung bedingte für die betrofenen Menschen prinzipiell Rechtlosigkeit und
Ausgeliefert-Sein – bis zum grausamen gewaltsamen biologischen Tod.
schein-legitimiert, auch schein-juristisch und zum
Teil sprachlich verbrämt und getarnt. So hatte die
vermeintlich angestrebte »jüdische Auswanderung«
nur ein Ziel: Ökonomische Ausplünderung zur Mitinanzierung des geplanten Krieges, nach gewaltsamer Einverleibung der Auswanderungs-Staaten Ermordung. Das nationalsozialistische bürokratische
Organisations-Fraktal: Die Opfer zu nötigen – weitestmöglich als bürokratische Efektivität und Eizienz –, ihre Ermordung selbst zu inanzieren und
zu organisieren. Für dieses Ziel wurde die deutsche
Gesellschat umfassend mobilisiert; wer sich nicht
mobilisieren ließ, der wurde durch bürokratischen
Terror gelähmt, damit zumindest neutralisiert,
wenn nicht ermordet.
Dass diese Menschen-Vernichtung grenzenlos war,
wird durch das »Gesetz zur Behandlung Gemeinschatsfremder« deutlich, das zum 1. Januar 1945
in Krat treten sollte. Danach hätten Polizeibehörden die Legitimation erhalten, alles abweichende
Verhalten umgehend und ohne Staatsanwaltschaften und Gerichte sofort durch Ermordung dieser
Menschen zu ahnden. Maßloses ideologisches
»Recht«. Nur absolute Nationalsozialisten sollten
leben. Legitimiert mit der »Dolchstoßlegende« hätte es dann – nach erfolgreichem »Einsatz im Osten«
– den Mord-Einsatz von Polizeieinheiten an der
»Heimatfront« gegeben. Die Nemesis der Selbstvernichtung. Wie es sie – bezogen insbesondere
auf vermeintliche Fahnenlüchtlinge – im Chaos
kurz vor dem Einmarsch alliierter Einheiten in vielen Bereichen Deutschlands gab, als pathologische
Nationalsozialisten ihrem Mordtrieb schein-legal
freien Lauf ließen.
Die deutsche staatsformunabhängige Bürokratie
dokumentierte mit ihrer im Sinne des Führerprinzips Adaption des »Gesetzes zur Wiederherstellung
des Berufsbeamtentums« – ein klassischer Euphemismus – im April 1933: Wir sind dabei – dann
mit kommunalen antisemitischen Maßnahmen im
Sinne der eliminatorischen Volksgemeinschatsideologie, z. T. in diesem Sinne vom Deutschen
Gemeindebund koordiniert, vorauseilend, also im
Sinne des Führerprinzips. Das der speziisch deutschen Bürokratie-Kultur wie auf den Leib geschneidert war: Bürokratisch »perfekte«, durch nichts
limitierte Exekution – vernetzte Koordination und
Zeitaspekt – als Selbst-Zweck für das gemeinsame
Ziel: Alle als Juden – im Sinne von nicht-pathologischen Nationalsozialisten – deinierten Menschen
global – in allen Ländern der Erde – in die – bürokratische – Gewalt zu bekommen, um sie dann zu
ermorden, ggf. mit »Vernichtung durch Arbeit«.
Dieses »Gesetz« weist auf einen zentralen Aspekt
hin: Die »Einheit von Partei und Staat«, wie es in einem 1934 von Hitler erlassenen Gesetz hieß und für
alle bis zur kommunalen Ebene galt. Führerprinzip
und Volksgemeinschat im Parteistaat. In dem die
NSDAP immer umfassendere Staatsfunktionen annektierte, mit dem Ziel, eine Identität von NSDAP
und Staat zu erreichen. Einem Staat, in dem ausschließlich pathologische Nationalsozialisten leben,
alle anderen Menschen ermordet werden. Auch
die eigenen Abweichler: »Der Weg aus der Gestapo
führt in das KZ«, so Heydrich. Eine vergleichbare
Ideologie vertreten heute Al Kaida und Scientology.
Das – im doppelten Wortsinn – globale Ziel des
nationalsozialistisch-ideologischen, antisemitischeliminatorischen Parteien-Staates war dessen konsequente Umsetzung – in dem jeweils von Hitler
und seinen Vasallen als realisierbar angesehenen
Rahmen und Umfang und koste es, was es wolle.
Alles wurde darauf fokussiert, nach außen insbesondere mit der Volksgemeinschats-Ideologie
Diese Konsequenz ist die Konsequenz aller terroristischen Bewegungen, für deren Anhänger nur
sie selbst ein Recht auf Leben haben. Allen anderen Menschen der Tod! Es ist die globale Kultur
des Todes, unter welchen ideologischen Vorzeichen
auch immer. Diese Ideologie beinhaltet die Selbstvernichtung in sich. Wobei im Einzelfall die Frage
ist: Wie hoch ist der Preis an Menschenleben für
diese Selbstvernichtung? Welche Instrumente und
Mechanismen kann die Menschheit entwickeln,
solchen Prozessen vorzubeugen, wenn sie in Gang
kommen, um sie weitest möglich einzugrenzen?
Auch mit Gewalt der dazu legitimierten Weltinstitution, den Vereinten Nationen. Im Sinne von WeltInnenpolitik. Deren nächste Stufe Regionalpolitik
ist, wie die der Europäischen Union.
Was insbesondere Historiker – aus ihrer speziischen Perspektive – als Widersprüche des NS-Systems beschrieben, war Ausdruck der inneren Logik
dieses Partei-Staats-Terrorismus.
Der Erinnerung eine Chance
| 179
Die Konsequenz, die die Weltgemeinschat aus der
Nazi-Barbarei gezogen hat, waren die Gründung
der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Beides ein Anfang.
Auch auf der lokalen Ebene hat dieser Prozess Konsequenzen. Auch für das notwendige Gedenken als
eine Basis für eine gemeinsame menschenwürdige
Zukunt. Gegen den Bürokratie-Parteien-Staat.
Zwei zentrale in dieser Arbeit herausgearbeitete
Aspekte sind: Was unter speziischen gesellschat lichen und kulturellen Bedingungen selbstverständlich ist und welche Rolle dabei Bürokratie und ihre
Bürokraten mit ihrer speziischen Bürokratie-Kultur haben. Dazu eine philosophische Relexion:
Selbstverständlichkeit
Was ist selbstverständlich?
Wodurch bzw. wie wird festgelegt, was
selbstverständlich ist?
Durch wen, welche gesellschat lichen und
kulturellen Bedingungen und Interessen?
Also wie legitimiert?
Wie, in welchen Prozessen, verändert sich
das, was selbstverständlich ist?
Basierend auf dem NSDAP-Programm wurde
es selbstverständlich, dass Menschen andere
Menschen töten. Willkürlich und unbegrenzt.
Weil sie als Menschen geboren waren, die die
Nationalsozialisten als Juden bezeichneten.
Weil sie Behinderungen hatten, Slawen waren,
Kommunisten, Andersdenkende.
Weil sie Nationalsozialisten störten, im Weg
waren.
»Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.«
Paul Celan
Die nationalsozialistische Ideologie als Legitimation zum selbstverständlichen grenzenlosen
bürokratischen Mord. Und als Negation von
christlicher Kultur und Auk lärung. Auch im
Sinne der Selbstzerstörung der Kirchen-Bürokratien in ihrem antisemitischen und anti-aufklärerischen Wahn.
Die Haut der menschlichen Zivilisation ist
dünn – und sehr verletzlich.
Als Mahnung zum Gedenken – für alle gesellschat lichen Subsysteme, global.
Was ist heute selbstverständlich?
Welche Selbstverständlichkeit und Normalität
von Lüge gibt es?
Welches bürokratische Handeln wird heute
von Bürokraten als selbstverständlich vorausgesetzt – und von der bürokratisch-politischen
180
| Der Erinnerung eine Chance
Klasse für die Gesellschat als selbstverständlich gesellschat lich deiniert, also legitimiert?
Dieses Selbstverständliche hinterfragt und am
allgemeingültigen Maßstab der Menschenwürde als Kern zivilisierter humaner Welt-Kultur
gemessen:
Was wird dann als doch nicht selbstverständlich dekodiert?
Und wie können wir einen welt-gesellschat lichen Prozess zur Evolution dieses doch nicht
Selbstverständlichen in Richtung Menschenwürde initiieren?
Und uns dabei nicht beirren lassen?
In der vorliegenden Arbeit geht es um das katholische Dorf Osterath in der Zeit von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik Deutschland
im historischen Kontext – stellvertretend für alle
deutschen – und österreichischen – Kommunen.
Die gesellschat lichen, kulturellen, sozialen und
politischen Strukturen und ihre Vernetzung vor
Ort sowie mit der Region und darüber hinaus. Also
eine holistische Perspektive, in der es zentral um
Menschen geht, die über gesellschat liche Funktionen gesellschat liche Macht erhielten und ausübten.
Wovon andere Menschen – und sie selbst – betroffen waren. Und es geht um die – überwiegend – geschichtswissenschat liche Analyse und Bewertung
dieses Handelns – aus heutiger Perspektive. Auf
der Basis meiner oben ausgeführten geschichtswissenschat lichen und philosophischen Prämissen.
Womit Sie als Leser die Chance haben, mich »beim
Wort« zu nehmen. Durchaus auch im Sinne Martin
Bubers:
»Geist ist Wort.«
An dieser Stell erlaube ich mir aus meiner dokumentierten Perspektive eine Bewertung dessen, was
der Meerbuscher Stadtarchivleiter Regenbrecht im
Aut rag des Meerbuscher Bürgermeisters Spindler
(CDU) vorgelegt hat.
Dieses »Recherche-Ergebnis« hat mit Geschichtswissenschat nichts zu tun. Es ist ein politisches, interessengeleitetes Elaborat. Basierend auf
bewusst selektiv ausgewählten Quellen, die auch
aut ragsgemäß interessengeleitet bewertet – nicht
interpretiert – werden; auch ein kommentarloser
Abdruck ist eine Bewertung. Ohne sie in den historischen Kontext zu stellen oder ihren Inhalt überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Was ist der ofensichtliche bürokratisch-politische Aut rag von Bürgermeister Spindler an Archivleiter Regenbrecht? Über Geschichts-Politik
die Recken-Legende unrelektiert stehen zu lassen.
Deswegen auch die »Beratung« im nichtöfentlichen
Ältestenrat, der also berät und im Sinne von Bür-
germeister Spindler verbindlich entscheidet, was in
Meerbusch als geschichtswissenschat lich und historisch richtig zu gelten hat. Die Elite der Meerbuscher Kultur in ihrem »Biotop für Bekloppte«. Dem
Gedenken keine Chance geben.
Der Kern ist die speziisch Meerbuscher »Basiserzählung« im Sinne von homas Herz (S. 140 f.), eingebettet in die der Bundesrepublik.
»Die Basiserzählung der Bundesrepublik ist die
NS-Vergangenheit und ihre ›Aufarbeitung‹
nach 1945. Die Basiserzählung lautet etwa wie
folgt:
Das deutsche Volk sah sich eines Tages mit
den Nationalsozialisten konfrontiert. Die Nationalsozialisten errichteten ein totalitäres und
despotisches Regime. Es war ein Willkür- und
Unrechtsstaat. Es gab Widerstand gegen dieses
Regime, denn das deutsche Volk war verleitet
worden. Die Deutschen waren in Wirklichkeit
eine ›Gemeinschat‹ der Leidenden. Dies gilt
vor allem für die Soldaten. Sie kämpten für
ihr Vaterland und nicht für die Nazis. Ein Mittel, um das Herrschatssystem zu stabilisieren,
war der wirtschat liche Erfolg, zumindest bis
Anfang des Krieges. Nach dem Krieg hat man
sich erfolgreich mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt. Die Deutschen haben aus der
Vergangenheit gelernt. Das Wirtschatswunder
und der Wohlfahrtstaat haben dazu beigetragen, eine stabile Gesellschat zu errichten. Die
Bundesrepublik ist pluralistisch und ofen.
Die Vernichtung der europäischen Juden war
ein Verbrechen, aber auch die Vertreibung der
Deutschen war ein Verbrechen. Andere Länder haben auch Kriegsverbrecher. Es gibt keine
Kollektivschuld, nur Kollektivverantwortlichkeit. Die deutschen haben Wiedergutmachung
an das jüdische Volk geleistet und haben die
Verbrechen verurteilt. Das Leiden an der NSVergangenheit ist Teil des jüdischen, nicht aber
des deutschen Schicksals.«
Die gesellschat lich-kulturelle Funktion der Basiserzählung: Nach ihr muss es einen klaren Schnitt
geben: Die Stunde Null 1945. Auch in Osterath,
Lank und Büderich. Klarer Schnitt bedeutet: Keinerlei Kontinuität. War der Hugo Recken nach der
Befreiung durch US-amerikanische Einheiten am
1. März 1945 ein anderer als noch einen Tag zuvor? Und Johannes Herbrandt? Und die katholische
Geistlichkeit und die katholische Gemeindeelite?
Und die Nationalsozialisten – die zum Teil der
katholischen Gemeindeelite angehörten –, die
dann heim ins himmlische Reich ihrer – anderen –
Kirche kehrten? Diese Frage hat sich aktuell auf
die Benennung der Hugo-Recken-Straße fokussiert.
Die Geschichtspolitik mit allen Mitteln durch Bürgermeister Spindler erklärt sich als Relex zur Erhaltung des Status quo. Flankiert durch alle Fraktionen
im Rat der Stadt Meerbusch – bis auf die UWG. Die
Analogie zu Anfang 1946 in Osterath: Gemeindedirektor Hugo Recken mit den Dorf-Parteien – bis auf
die KPD, die damaligen »Outlaws«.
Die deutsche Elite in allen gesellschat lichen Subsystemen in der NS Zeit – die bei weitem nicht mit
den führenden Nationalsozialisten identisch war
geschweige denn Pg. waren –, hat sich individuell
an der Umsetzung der hitlerschen Kernziele »selbstverständlich« beteiligt: Der Ermordung möglichst aller »gemeinschatsfremden« Menschen,
zuvorderst die willkürlich als Juden deinierten
Menschen. Denn für sehr viele der Elite-Arier galt:
Sie dokumentierten Systemkonformheit in diversen anderen – nach 1945 als »Neben« verklärten –
Organisationen. Da die vernetzte Elite in Partei
und Staat alles auf die Realisierung der Kernziele
fokussierte, bedeutet dies: Was nach der Befreiung
1945 apologetisch als »Neben« verklärt wurde, war
mit-Haupt. Weil integraler Teil des vertikalen und
horizontalen Macht-Netzwerks.
Organisationen bestanden ausschließlich so
weit und so lange, wie sie sich im Sinne der Übernahme der Kernziele gleichschalteten, oder sie
wurden aufgelöst. Die Konsequenz: Individuell ist
zu veriizieren, welche Mitgliedschaten von wann
bis wann in Verbindung mit welchen Funktionen
bestanden. Und wie diese Mitgliedschaten und
Funktionen mit Partei- und Staatsfunktionen vernetzt waren. Alles im NS-System war zweckrational
auf das Hauptziel ausgerichtet und die horizontale
und vertikale Vernetzung hatte den Sinn von Synergien und Eigendynamik zu Efektivität und Eizienz – des Massenmordens. Modernes ethikloses
Management in Verbindung mit der preußischmilitaristisch geprägten Bürokratie: Eine tödliche
Mischung für über 50 000 000 Opfer der hitlerschen
Aggression gegen die Menschlichkeit.
Hugo Recken und Johanne Herbrandt waren deutsche Bürokraten.
Was ist der gesellschat liche Sinn von Bürokratie als gesellschat lichem Subsystem?
Ihren Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben aller Menschen zu leisten.
Was geschieht, wenn Bürokratie zu ihrem eigenen
Zweck wird?
Sie pervertiert gegen ihren gesellschat lichen
Aut rag.
Und mit ihr pervertieren die Menschen in ihr.
Bis hin zum Mord.
Der Erinnerung eine Chance
| 181
Was sagt insbesondere die Geschichtswissenschaft zu Teilaspekten der in dieser Arbeit geschichtswissenschaftlich analysierten Fragestellungen?
»Dokumente sind nicht ein Brunnen, aus dem
lauter Wahrheiten ließen, schon gar nicht in
Diktaturen.«
Manfred Rommel
»Die Wirklichkeit des Massenmordes war schier
unvorstellbar grausam und niemals anonym.«
»Die nationalsozialistischen Bestrebungen, sogenannte Gemeinschatsfremde mit terroristischen
Mitteln aus der ›Volksgemeinschat‹ auszugrenzen,
wurden im Rheinland und Westfalen wie andernorts von der Bevölkerung weitgehend geduldet,
wenn nicht gar begrüßt.«
Robert Gellatey
Dieter Pohl
»Der Raubmord an den Juden.«
»Aulösung bzw. Pervertierung von Ethik.«
Götz Aly
Hans-Jürgen Wirth
»In ihrer moralischen Indiferenz sind die Deutschen damals fast alle schuldig geworden.«
Norbert Frei
»Der Täter passt nicht zu dem Untertan. Das Ungeheuerliche wird von sehr durchschnittlichen,
schwachen, unbedeutenden Männern begangen …
Nicht anders sind die bürokratischen Kollegen, die
in den Büros sitzen und ihre Opfer mit Methoden
quälen, die nur geringe körperliche Schmerzen hervorrufen, aber nicht weniger wirksam sind. Dieser
Sadismus ist überall pedantisch und roh und die
Qualen der Opfer werden damit ins Unerträgliche
gesteigert.«
Sebastian Haffner. Jekyll & Hyde. 1939. S. 83.
»Der deutsche Täter war kein besonderer Deutscher.
Stets stellte die Vernichtungsmaschinerie einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung dar.«
Raul Hilberg
»Der Holocaust war kein Verbrechen, das in den
kranken Hirnen Hitlers und Himmlers ausgebrütet
und hinter dem Rücken der Bevölkerung ins Werk
gesetzt wurde; er entstand aus der Mitte der deutschen Gesellschat heraus und wurde von einem
großen Teil der Bevölkerung stillschweigend gebilligt bis tatkrät ig gefördert.«
Volker Ulrich
»Wenn Deutsche sich für oder gegen die Befolgung
eines Befehls entschieden oder ihn auf diese oder
jene Weise ausführten, dann muss nicht nur das
bloße Befolgen von Befehlen, sondern auch die Art
ihrer Durchführung untersucht und erklärt werden.«
Daniel Jonah Goldhagen
»Eine Kombination ideologischer und situationsbedingter Faktoren, die es einem populären, diktatorischen Regime und dem harten Kern der Gefolgschat ermöglichten, den Rest der Gesellschat für
ihre Zwecke zu mobilisieren und einzuspannen.«
Christopher R. Browning
»Täter ist jeder, der wissentlich zum Massenmord an
den Juden beitrug. Diese Deinition des ›Täters‹ entspricht ungefähr der, die die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland anwandten, um festzustellen,
ob sich jemand der ›Mittäterschat‹ beim Massenmord an den Juden schuldig gemacht hat.«
Daniel Jonah Goldhagen
»Die Täter, die sich an ihren eigenen Überzeugungen
und moralischen Vorstellungen orientierten, haben
die Massenvernichtung der Juden für gerechtfertigt
gehalten, sie wollten nicht nein dazu sagen.«
Daniel Jonah Goldhagen
»Zunehmend koordinierte der Deutsche Gemeindetag die Judenpolitik in allen Kommunen des
Reiches.«
Rüdiger Flieter
»Die Initiative, gesellschat liche Kontakte zwischen
Juden und Deutschen zu unterbinden, ging auf Gemeinde- und Stadtverwaltungen zurück, auf Deutsche aus allen Schichten, und zwar bevor der Staat
dies vorschrieb.«
Daniel Jonah Goldhagen
»Auf dem Gebiet der Verfolgungspolitik lassen sich
keine nennenswerten Gegensätze zwischen den
Kommunen und den örtlichen Parteistellen ausmachen.«
Rüdiger Flieter
»Wenn wir Nationalsozialisten das Wort
›gottgläubig‹ gebrauchen,
meinen wir nicht denselben Gott
wie die Christen.«
Martin Bormann. Chef der NSDAP-Kanzlei
182
| Der Erinnerung eine Chance
»Kommunen waren ein eigenständiges aktives Glied
innerhalb eines regional austarierten Herrschatssystems. Sie nutzen ihre erheblichen Gestaltungsmöglichkeiten stets im Sinne des ›Führers‹. Zudem
stabilisierten sie das ›polyzentrische‹ NS-Herrschatssystem durch beständige Koordinationsleistungen. Sie waren eine tragende Säule des NSSystems.«
Bernhard Gotto
»Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die
Staatsformwechsel von den meisten städtischen Beamten lebensgeschichtlich als Einheit, politisch als
Bruch und berufsständisch als Kontinuität erfahren
wurden.«
Susanne Mellig
»Eine Stunde Null der Bürokratie durte es nicht
geben.«
Karin Werum
»Es wird der Eindruck vermittelt, ›Terror‹ sei der
Bevölkerung von außen zugefügt worden. Es gibt
aber den Terror des NS-Regimes als Gefüge dynamischer und ofener gesellschat licher Abläufe zu
verstehen, das nicht nur von Politikern und Oi ziellen oder oiziösen Einrichtungen, sondern auch
von der Bevölkerung getragen wurde.«
Robert Gellatey
»Es handelte sich vielerorts bei den oiziell als ›Gestapo-Mitglied‹ geführten Männern nicht immer
um hauptamtlich tätige Beamte, sondern vielfach
um Verwaltungsbedienstete, die neben zahlreichen
anderen Aufgaben auch die lokale Funktion der politischen Polizei versahen.«
Robert Gellatey
»Die Institutionen, die mit Juden zu tun hatten, ihnen unablässig Leid zufügten und sie, sobald die
Zeit gekommen war, in den Tod schicken würden.«
Daniel Jonah Goldhagen
»›Administrative Normalität‹ im Dienst
der ›Volksgemeinschat‹«.
Bernhard Gotto
»Nach dem Zusammenbruch des ›Dritten Reiches‹
bestimmten Abwehrhaltungen gegen die Wahrnehmung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen,
die Betonung der reinen Plichterfüllung und die
Ablehnung der vermeintlichen Kollektivschuldbehauptungen der Siegermächte das Bewusstsein
des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung. Mitverantwortung und Mitschuld wurden
geleugnet.«
Stefan Groh
»Das entscheidende Charakteristikum des Handelns
lag darin, dass der Abtransport ›nach dem Osten‹
nicht anders abgewickelt wurde als andere Verwaltungsakte auch. Hier wie dort bildeten Termingenauigkeit, äußere Korrektheit und Reibungslosigkeit des Vorgehens bei gleichzeitiger Flexibilität
sowie präziser Kostenberechnung die Richtpunkte
für die Beteiligten. Eine Deportation stellte sich also
weder als zynische Aktion noch primär als ein von
Unrechtsbewusstsein oder Verdrängung geprägtes
Tun dar, sondern hauptsächlich als Ergebnis einer
Routine, die als regelgeleitetes Handeln gewohnt
war, von konkreten Inhalten abzusehen. Die Korrektheit des äußeren Ablaufs wurde zum entscheidenden Erfolgskriterium. Durch die Erhebung des
Formalen zum eigentlichen Inhalt, durch die zum
institutionenspeziischen Ethos geronnene Morallosigkeit erwiesen sich Verwaltung und Polizei
aufgrund ihrer Strukturprinzipien als geeignete
Erfüllungsgehilfen bei der Vernichtung von Minderheiten. Insofern machten diese rationalen Strukturen des modernen Alltagslebens, die Nutzung
etablierter bürokratischer und technischer Verhaltensstile den Genozid erst möglich.«
Robert Gellatey
»Zwölf Jahre der Lüge und des Terrors, der widerlichsten Heuchelei, der entsetzlichen Grausamkeiten hat die deutsche Bevölkerung über sich ergehen
lassen müssen. Zwölf Jahre wurden wir von größenwahnsinnigen Psychopathen, Päderasten, erblich
und kriminell Belasteten regiert.«
Jeanette Wolf. Sadismus oder Wahnsinn. Erlebnisse in
den deutschen Konzentrationslagern im Osten. Greiz
1947.
»Es muss alles neu gemacht werden.«
Konrad Adenauer vor dem CDU-Bundesvorstand am
26. Januar 1953.
»Verwandlungspolitik.
NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschat.«
Buchtitel von Wilfried Loth
»Die Deutschen werden ihre Zukunt nur bestehen,
wenn sie die Vergangenheit nicht verdrängen.«
Peter Glotz
»Die Nazi-Vergangenheit so vieler wurde kommunikativ beschwiegen: 1. weil die überwältigende
Mehrheit der Deutschen Nazis oder doch zumindest Nazi-Sympatiesanten waren und 2. weil schnell
deutlich wurde, wie viele der alten Nazi-Ziele man
auch mit nicht-terroristischen Mitteln erreichen
konnte ... Bolschwistenvertreibung.«
Jochen Härisch. In: Wilfried Loth u. a. (Hrsg.). S. 191.
Der Erinnerung eine Chance
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»Ir-Realisierung ist ein Rückzug des Realitätsgefühls
von bestimmten Faktenzusammenhängen und bezieht sich vor allem auf den Zusammenhang von
Vergangenheit und Gegenwart.«
Christian Schneider. In: Wilfried Loth u. a. (Hrsg.).
S. 253.
»Es kommt wohl wesentlich darauf an, in welcher
Weise das Vergangene vergegenwärtigt wird; ob
man beim bloßen Vorwurf stehen bleibt oder dem
Entsetzen standhält durch die Krat, selbst das Unbegreiliche noch zu begreifen.«
Theodor W. Adorno. Was bedeutet: Aufarbeitung der
Vergangenheit? 1959.
Michael Stürmer
»Mut ist, Verbrechen zu beweisen,
die angeblich nie passiert sind.«
MISEREOR
»Reizklima des Rechthabenmüssens.«
Martin Walser
»Wahn ist der Ersatz für den Traum, dass die
Menschheit die Welt menschlich einrichtet, den die
Welt der Menschheit hartnäckig austreibt.«
»Eine rassistische Mischung aus Paranoia, Wut, Politik und Pseudophilosophie. Man muss … notfalls
mehr reden, faseln, quatschen lassen, als eigentlich
erträglich, gerade um ihn zu widerlegen.«
Theodor W. Adorno. Was bedeutet: Aufarbeitung der
Vergangenheit? 1959.
Heinrich Wefing am 12. 04. 2012 in »Die Zeit« zu Anders
Breivik
»Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur
Identii kation mit Bestehendem, Gegebenem, mit
Macht als solcher, schat das totalitäre Potential.«
»Die Vergangenheit bleibt Gegenwart.«
Josef Joffe
Theodor W. Adorno. Was bedeutet: Aufarbeitung der
Vergangenheit? 1959.
»Die deutsche Verwaltung hat sich ›als Ganzes‹
vom NS-Regime widerstandslos in den Dienst der
Unrechtspolitik nehmen lassen.«
»Das lässt nur eine Folgerung ofen: dass insgeheim, unbewusst schwelend und darum besonders
mächtig, jene Identii kationen und der kollektive
Narzissmus gar nicht zerstört wurden, sondern
fortbestehen ... Dass der beschädigte kollektive
Narzissmus darauf lauert, repariert zu werden, und
nach allem greife, was zunächst im Bewusstsein die
Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzisstischen Wünschen bringt, dann aber womöglich
die Realität so modelt, dass jenen Schädigung ungeschehen gemacht wird.«
Michael Reck
Theodor W. Adorno. Was bedeutet: Aufarbeitung der
Vergangenheit? 1959.
»Schuld kann nur dem Einzelnen zugemessen werden, nicht also in corporare. Schuld richtet sich
nach Kenntnis, Möglichkeiten, Handeln und Nichthandeln.«
Ewald Heinrich von Kleist. Eine Frage des Gewissens
und der Moral. Vortrag in der Henning-von-TreskowKaserne Potsdam am 19. Juli 1998. Web-Ressource.
»Einmal wird niemand erwarten können, dass jemand, der gegenüber Juden feindlich empfunden
hat oder gar handelte, heute darüber Auskunt gibt.«
Hans Kaiser
»Die Deutschen werden ihre Zukunt nur bestehen,
wenn sie die Vergangenheit nicht verdrängen.«
Peter Glotz
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»Wer aber meint, dass all dies auf Politik und Zukunt keine Wirkung habe, der ignoriert, dass im
geschichtslosen Land die Zukunt gewinnen wird,
wer die Erinnerung füllt, die Begrife prägt und die
Vergangenheit deutet.«
| Der Erinnerung eine Chance
»Wer heute danach fragt, was unsere Gesellschat
ausmacht, was sie prägt und ihre Gestalt verleiht,
wird auf drei Wesensmerkmale stoßen: Freiheit,
Verantwortung und Toleranz …
Wir sind das Volk! Dieser Satz hat uns gelehrt,
dass wir, wenn wir unserer Sehsucht glauben und ihr
vertrauen, die Angst verlieren können. Eine Angst,
die willfährige Dienerin jeder Art von nicht legitimierter Herrschat ist, die uns ohnmächtig macht,
die uns bindet. In dem Augenblick aber, in dem wir
unsere Angst als Angst benennen und Anpassung
und Angst als Geschwisterkinder erkennen, sind
wir möglicherweise bereit zu erproben: Können wir
auch ohne sie leben? In genau diesem Augenblick
wachsen uns jene Kräte zu, die eine ganze Gesellschat verändern können … Entscheidend ist die
Teilhabe an der Macht oder die Unterwerfung unter
die Macht, die uns zu Bürgern oder zu Nichtbürgern macht … Nur, wenn wir an die Potenzen glauben, die in uns verborgen sind, wenn wir sie nutzen
und anwenden, werden wir mit uns selbst zufrieden
und anderen ein Segen sein … Ich wünschte mir,
dass sich unsere Gesellschat tolerant, wertebewusst
und vor allem in Liebe zur Freiheit entwickelt und
nicht vergisst, dass die Freiheit der Erwachsenen
Verantwortung heißt.«
Bundespräsident Joachim Gauck. Freiheit. München
2012. 5.
Was in Osterath in der NS-Zeit insbesondere gegen
als Juden bezeichnete Menschen in Verantwortung
von Bürgermeister Hugo Recken als GemeindeFührer »legal« exekutiert wurde, war organisierter
vorsätzlicher Verwaltungs-Terror und Verwaltungs-Mord. Dies insbesondere unter Mitwirkung
seines Symbionten Johannes Herbrandt. Sie waren
Hitlers willige Bürokratie-Vollstrecker in Osterath.
Was die Alliierten vor und ab 1945 in Erfahrung
brachten, was dann in der Entnaziizierungszeit bis
1952 bekannt wurde, wie dieses Wissen ge- und benutzt wurde, ist eine Perspektive. Eine andere Perspektive ist es, dies aus der heutigen Perspektive wissenschat lich zu analysieren. Unter Einbeziehung
der Forschungsergebnisse bis heute.
Uns liegt zeitgenössische Literatur vor. Aus den Jahren vor 1933, aus den Jahren von 1933 bis 1945 – aus
NS-Perspektive sowie im Exil verfasst – und aus
den Jahren bis 1949 sowie danach bis heute. Was für
mich auf ällig ist: Die Literatur bis 1949 wird ganz
überwiegend ignoriert. Die heutige MainstreamPerspektive ist restaurativ geprägt – bis hin zu
NS-Apologie, auch durch Verschweigen, Fälschen,
Unterdrücken, bewusste Missinterpretation.
»Die Lüge hat sich als Wahrheit verkleidet.«
Papst Benedikt. 2012.
Analog wie »furchtbare Juristen« existieren,
so existieren »furchtbare Bürokraten«. Die
glauben, sich hinter dem Vorhang der von ihnen geschafenen Bürokratie-Anonymität verstecken zu können, um für ihre individuelle
Verantwortungslosigkeit nicht verantwortlich
gemacht werden zu können. Und aus ihrer
Bürokratie-Perspektive mit dem bürokratischen Habitus glauben, mit Aktenvernichtung,
Dokumentenunterdrückung und Manipulation sei dies wesentlich zu gewährleisten. Doch:
Es sind immer Menschen wie Bürgermeister
Hugo Recken und sein Symbiont Johannes
Herbrandt, die handeln und deren Handeln
individuell zugeordnet werden kann. Diese
konkrete individuelle Zuordnung von Handeln
kann von ihrem Legitimations-, Rechtfertigungs- und Uminterpretations-Handeln nach
der Befreiung 1945 exakt unterschieden werden. Wenn es denn gewollt ist. Was ethisch und
geschichtswissenschat lich redlich ist.
Ein – auch im aktuellen Kontext wirksames – Prinzip von Bürokratie ist, als vermeintlich monolithischer Block, nach innen zum Machterhalt nach
außen »Solidarität« zu fordern, dies unter freiwilliger Gefolgschat der Lokalpolitiker – in Meerbusch
außer der UWG. Sinn dieser »Solidarität« ist die
Atomisierung der Menschen, um die vermeintlich
anonyme Bürokratie-Macht zu stabilisieren und
auszubauen. Bürokraten gehen aus dieser Perspektive davon aus, dass ihre Maßnahmen auch bewirken, dass Menschen nicht über eben diese Maßnahmen kommunizieren – und sich real solidarisieren.
Geschieht dies doch, so wird dies von Bürokraten
als Angrif auf ihre Bürokraten-Integrität deiniert,
also persönlich genommen, und entsprechend massiv bürokratisch reagiert.
»Ich habe doch nur als Mensch gehandelt.«
Anton Schmid
Er hat als Mensch gehandelt und nicht blind –
bürokratisch – gehorcht – als Soldat.
Genau das ist es, was die Menschen unermesslich stört, die eine dem entgegenstehende Kognition
haben – wie Bürokraten. Die der Gesellschat ihre
Kognition aufnötigen wollen, gegen die Gesellschat, gegen uns alle. Führen wir die bürokratische
Macht auf ihr funktionelles Maß zurück. Und erziehen wir mündige Bürger in Demokratie.
Die Würde des Menschen ist unteilbar
Im ehrenden Gedenken der ungezählten Menschen, die von Angehörigen des NS-Terrorregimes verfolgt wurden und denen durch deren
Unrechtshandlungen Eigentum, Gesundheit,
Freiheit und Leben genommen wurde.
Diese Menschen stehen für die demokratischen
Werte: FREIHEIT, GLEICHHEIT UND SOLIDARITÄT.
Welche insbesondere neuen Ansätze können
unser Verstehen fördern?
»Weit über die Psychoanalyse im engeren Sinne
hinaus hat Freuds Arbeit ›Massenpsychologie und
Ich-Analyse« (1921) einen tief reichenden Einluss
auf Philosophen, Sozialwissenschat ler und Intellektuelle ausgeübt, beispielsweise die Frankfurter
Schule, Alexander Mitscherlich, David Riesman
und sein Buch ›Die einsame Masse‹ (1950) sowie
auf Elias Canetti und sein Buch ›Masse und Macht‹
(1960), für das jener 1980 den Literaturnobelpreis
erhielt … Freud (1921) erwähnt zwar den Begrif der
Macht nur ganz am Rande, doch implizit spielt er in
seinen Ausführungen eine zentrale Rolle. Auch zur
Persönlichkeit des Führers, als dem Repräsentanten
der Macht, äußert sich Freud nur in einigen kurzen
Bemerkungen.
Die Grundgedanken der Arbeit lassen sich wie
folgt zusammenfassen: In einer psychologischen
Masse indet eine gemeinsame Identiizierung aller ihrer Mitglieder untereinander und mit ihrem
Der Erinnerung eine Chance
| 185
Anführer statt, auf den sie kollektiv ihr eigenes
Über-Ich und ihr Ich-Ideal projezieren. Sie sind
deshalb bereit, dem Anführer zu folgen – wohin
auch immer er sie führen mag. Die Projektion ihres
Ich-Ideals und ihres Über-Ichs auf den Anführer
befreit die Mitglieder der Masse von einschränkenden Normen, Werten und Schuldgefühlen, so dass
sie unbelastet von Selbstvorwürfen ihre triebhaten
Impulse, ihre aus unterbewussten Konlikten stammenden Ressentiments und ihre aggressiven Bedürfnisse ausleben können. Im Namen des Führers
lassen sich die Masse und auch die einzelnen Individuen, insofern sie Bestandteil der Massenbewegung
geworden sind und damit ihren psychischen Status
als autonome Individuen aufgegeben haben, bereitwillig zu impulsgesteuerten Handlungen, beispielsweise zu Übergrifen, Zerstörungen und Gewalttaten hinreißen, die sie unter normalen Umständen
verweigert hätten.«
Hans Jürgen Wirth. S.53.
»Jeder hätte Helfer Hitlers werden können. Die
menschliche Natur allein ist zu schwach.«
Guido Knoop. Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker. München 1999. S. 23.
Benoit Mandelbrot hat den Begrif »fraktal« im Sinn
von selbstähnlich geprägt. Wie in dieser Arbeit dargestellt, sind alle Ebenen nicht nur in der NS-Zeit
fraktal: Die individuelle und alle kollektiven sowie
ihre Vernetzungen.
»Im Größten das Kleinste,
im Kleinsten das Größte –
unendlich abgewandelt.«
Joachim Bauer weist in »Schmerzgrenze« darauf
hin, das der Verlust von »Fairness, Vertrauen, sozialer Akzeptanz« schwerwiegende Auswirkungen
auf das gesamte geistige-emotionale-psychischehormonelle System von Menschen hat. Das insbesondere im Kontext eines dadurch bedingten
Ungleichgewichts von Motivationssystem und Aggressionsapparat. Mit der möglichen Folge bis hin
zu Psychopathie. Analogien zur NS-Zeit, ihrer Vorgeschichte und ihrer Folgezeit liegen auf der Hand.
»›Weltbilder‹ besitzen eine mentalitätsprägende
und verhaltenssteuernde Prägung.«
Hans-Ulrich Wehler
In diesem Kontext und bezogen auf die NS-Zeit beschreibt Ulrich Herbert »ideologische ›Auladung‹«.
Aus psychologischer Perspektive hat Luc Ciompi
sein Modell »Afektlogik« in »Gefühle machen Geschichte. Die Wirkungen kollektiver Emotionen –
von Hitler bis Obama« (Göttingen 2011) im Kapitel
»Hitler und der Nationalsozialismus« historisch
übertragen. Ein aus meiner Perspektive sehr fruchtbarer Ansatz.
Fokussiert auf die Inhalte meines Buches hat
Ciompi dort ausgeführt:
»Die Interaktion zwischen Fühlen, Denken und
Handeln weisen auf der mikro-, meso- und
makrosozialen Ebene grundlegende Ähnlichkeiten auf.« (S. 8)
Die Analogien zu den Ansätzen von Mandelbrot,
Taleb und Bauer liegen auf der Hand.
Luc Ciompi
Nassim Nicholas Taleb hat die Metapher »Schwarzer
Schwan« geprägt. Aus der Perspektive europäischer
Menschen konnte es nur weiße Schwäne geben –
bis sie in Australien schwarze Schwäne entdeckten.
Taleb meint sinngemäß sehr seltene Ereignisse, die
wegen ihrer Seltenheit und damit in der individuellen und kollektiven Kognition nicht kulturellen
Einpassbarkeit außerhalb der unbewussten Kognition liegen, aber intellektuell schließbar und damit
individuell und auch kollektiv händelbar sind. Das
erklärt er am Beispiel seiner libanesischen Heimat:
Die libanesische »Basiserzählung« lautete im Kern
etwa, dass der Libanon seit vielen Jahrhunderten,
ja Jahrtausenden stabil und friedlich trotz der Vielzahl von Ethnien und Religionen sei und dass sich
dies nicht ändern könne; Stabilität per Deinition.
Wie wir heute wissen, eine fatale Fehleinschätzung.
Als Analogie auf die Demokratie in Deutschland
sollte uns das zu denken geben. Auch im Kontext
der Recken-Legende.
186
| Der Erinnerung eine Chance
»Gebündelte emotionale Energien vermögen enorme Wirkungen auf das kollektive Denken und Verhalten zu entfalten.« (S. 9) Bezogen auf die NS-Zeit
deiniert Ciompi eine »nationalsozialistisch-afektiv-kognitive Eigenwelt«. (S. 46) »Hitlers verzehrender Judenhass hatte Schaltwirkungen auf Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und kombinatorisches
Denken.« (S. 61) »Wut und Hass, die in aggressive
Schuldzuweisungen gegen andere mündeten.«
(S. 69)
»Auf diese Weise angelegte Fühl-Denk-Bahnen vertiefen sich aufgrund der Schaltwirkungen der Affekte selbstständig fortwährend, bis sie die gesamte
Wahrnehmung lenken und alles weitere Denken in
den Sog dieser emotionalen Eigendynamik geriet.«
(S. 75f.) Eigendynamik mit sich auladenden Vernetzungen.
»Je stärker die nationalsozialistischen Glaubensüberzeugungen mit extremen Gefühlen belegt wur-
den, um so tiefer gruben sich ihre Fühl- und Denkbahnen ein und legten alles Denken fest, bis selbst
grobe Verstöße gegen das normalerweise existierende Rechtsempinden nicht mehr wahrgenommen
werden oder als selbstverständlich erscheinen.«
(S. 76) Hier spiegelt sich der dargestellte Gedankengang Freuds.
»Dass die Aulösung der Ich-Grenzen mit intensiven positiven Gefühlen einhergeht, beschreibt
Freud mit dem Begrif des ›ozeanischen Gefühls‹:
Ein Gefühl der unlösbaren Verbundenheit, der
Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen in der
Außenwelt.« (S. 89) Eine »religiöse Intensität der
Zusammengehörigkeitsgefühle.« (S. 89)
»Die Radikalisierung begann jedoch nicht – so
unsere hese – mit dem Scheitern der Kriegsziele,
sondern mit der Errichtung der nationalsozialistischen Eigenwelt, der diese zerstörerische Dynamik
von Anfang an innewohnte. Das Massentöten in
Konzentrationslagern und die Erschießungen von
wehrlosen Menschen, Männer, Frauen und Kinder, waren nur durch die Entstehung einer Alltagslogik möglich geworden, in der die Missachtung
von Menschenleben als Selbstverständlichkeit galt.
Diese prozessuale Sichtweise vertritt auch der Sozialpsychologe Harald Welzer. Er beschreibt das Eindringen der nationalsozialistischen Moral in den
Alltag als einen gesellschat lichen Umbauvorgang,
der eine neue soziale Normalität etablierte. ›In
dieser Normalität mag es zwar ein Durchschnittsvolksgenosse noch 1941 für undenkbar halten, das
Juden umstandslos getötet werden, aber nichts Bemerkenswertes darin inden, das Ortsschilder verkünden, dass der entsprechende Ort judenfrei sei,
dass Parkbänke nicht von Juden benutzt werden
dürfen, dass die jüdischen Bürger völlig entrechtet
und beraubt werden.« (S. 92)
»Im Zentrum dieses gesellschat lichen Umbauprozesses sieht Welzer die ›unhintergehbare und absolute Unterscheidung von Zugehörigen und NichtZugehörigen‹, ein Merkmal, das auch in anderen
›ansonsten höchst verschiedenen mörderischen
Gesellschaten‹ zu beobachten sei. Im Nationalsozialismus war es die Ideologie der Volksgemeinschat,
welche die Menschen in zwei Gruppen spaltete, die
nichts miteinander gemein hatten und die ›nur zwei
Existenzmöglichkeiten‹ erlaubte: ›Entweder man
stand drinnen oder man war draußen.‹« (S.92)
So konnte »eine Dynamik entstehen, in der sich Inklusion und Exklusion immer stärker gegenseitig
bedingten: ›Zur Volksgemeinschat gehören hieß,
die Ausschließungen anzuerkennen, die sie verfügte‹. Die Volksgemeinschatsideologie ließ zwischen
Juden und Nichtjuden eine Klut entstehen, die sich
nur noch als Abgrund bezeichnen lässt.« (S. 92f.)
»Die Gewalttätigsten und Grausamsten des NSRegimes bildeten den inneren Kern der Volksgemeinschat. Ihre Leitafekte und Leitideen
bestimmten das Fühlen und Denken der Menschen, die sich in verschiedenen Abständen um
dieses Zentrum gruppierten.« (S. 94)
Dazu zählten »Denunziationen und aktive Beteiligung an Gewalt. Die emotionale Stimmung dieser
›aktiven Gleichgültigkeit‹ wurde gespeist von den
gewaltigen Hass- und Aggressionsgefühlen des
nationalsozialistischen Zentrums und wenn auch
ihre Energie nicht ausreichte, diese Gefühle in
ihrer Extremität bis an den äußersten Rand der
Gesellschat zu tragen, so war ihr Nachhall doch
auch hier in Form widerstandsloser Akzeptanz
präsent.« (S. 94)
»Die bereitwillige Akzeptanz und Teilnahmslosigkeit wurden erst durch die Entstehung der
nationalsozialistischen Eigenwelt möglich, in
deren Alltagslogik das Wegsehen, Dulden, Akzeptieren, Mitwirken und Aktivwerden sukzessive zur Selbstverständlichkeit wurden. In
dieser Eigenlogik wurde die menschenverachtende Grausamkeit des NS-Regimes von den
Deutschen nicht mehr wahrgenommen, das
Leid ihrer Mitmenschen fand keinen emotionalen Widerhall.« (S.94)
Anhand eines Zitats von Sebastian Hafner aus dem
Jahr 1940 analysiert Ciompi konkret (S. 84):
»Die Anhänger und die Gegner des Regimes sind
sich fremder als verschiedene Rassen oder verschiedene Arten von Tieren. Sie sprechen eine unterschiedliche Sprache. Was für den einen schwarz, ist
für den anderen weiß. Gegenseitiges Verständnis
und eine Diskussion zwischen ihnen ist undenkbar.
Wenn sie sich zufällig begegnen, besteht Lebensgefahr – natürlich in der Hauptsache für den Gegner
des Regimes, der damit rechnen muss, ohne Vorwarnung denunziert, verhatet und zu Tode gequält
zu werden.«
»Diese Klut ist ein typisches Merkmal extremistischer afektiv-kognitiver Eigenwelten. Die eigenen
Überzeugungen besitzen für die Menschen, die
sich innerhalb dieser Eigenwelt beinden, ein so
hohes Maß an Selbstverständlichkeit, dass sie sich
im alleinigen Besitz der einzig gültigen Wahrheit
sehen. Schon allein die Möglichkeit einer anderen
Sichtweise ist unvorstellbar. Diese unhinterfragbare
Logik der Eigenwelt macht die Kommunikation mit
Andersdenkenden unmöglich. Der fehlende Aus-
Der Erinnerung eine Chance
| 187
Gustav Radbruch
Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht.
III
Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung »Gesetz ist Gesetz« den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts. Dabei ist
der Positivismus gar nicht in der Lage, aus eigener
Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen.
Er glaubt, die Geltung eines Gesetzes schon damit erwiesen zu haben, daß es die Macht besessen hat, sich durchzusetzen. Aber auf Macht läßt
sich vielleicht ein Müssen, aber niemals ein Sollen
und Gelten gründen. Dieses läßt sich vielmehr nur
gründen auf einen Wert, der dem Gesetz innewohnt. Freilich: einen Wert führt schon jedes positive Gesetz ohne Rücksicht auf seinen Inhalt mit
sich: es ist immer noch besser als kein Gesetz, weil
es zum mindesten Rechtssicherheit schafft.
Aber Rechtssicherheit ist nicht der einzige und
nicht der entscheidende Wert, den das Recht zu
verwirklichen hat. Neben die Rechtssicherheit
treten vielmehr zwei andere Werte: Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit. In der Rangordnung dieser
Werte haben wir die Zweckmäßigkeit des Rechts
für das Gemeinwohl an die letzte Stelle zu setzen.
Keineswegs ist Recht alles das, »was dem Volke
nützt«, sondern dem Volke nützt letzten Endes
nur, was Recht ist, was Rechtssicherheit schafft
und Gerechtigkeit erstrebt. Die Rechtssicherheit,
die jedem positiven Gesetz schon wegen seiner
Positivität eignet, nimmt eine merkwürdige Mittelstellung zwischen Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit ein: sie ist einerseits vom Gemeinwohl
gefordert, andererseits aber auch von der Gerechtigkeit, daß das Recht sicher sei, daß es nicht
heute und hier so, morgen und dort anders ausgelegt und angewandt werde, ist zugleich eine
Forderung der Gerechtigkeit. Wo ein Widerstreit
zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, zwischen einem inhaltlich anfechtbaren, aber positiven Gesetz und zwischen einem gerechten, aber
nicht in Gesetzesform gegossenen Recht entsteht,
liegt in Wahrheit ein Konflikt der Gerechtigkeit mit
sich selbst, ein Konflikt zwischen scheinbarer und
wirklicher Gerechtigkeit vor. Diesen Konflikt bringt
großartig das Evangelium zum Ausdruck, indem es
einerseits befiehlt: »Seid untertan der Obrigkeit,
die Gewalt über euch hat«, und doch andererseits
gebietet, »Gott mehr zu gehorchen als den Menschen«.
188
| Der Erinnerung eine Chance
Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der
Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß
das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei
denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß
erreicht, daß das Gesetz als »unrichtiges Recht«
der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den
Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz
unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit
aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei
der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet
wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur unrichtiges Recht«, vielmehr entbehrt es überhaupt der
Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als
eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach
bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.
An diesem Maßstab gemessen sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur
Würde geltenden Rechts gelangt. Die hervorstechendste Eigenschaft in Hitlers Persönlichkeit,
die von ihm aus auch zum Wesenszuge des ganzen nationalsozialistischen »Rechts« geworden
ist, war sein völliger Mangel an Wahrheitssinn
und Rechtssinn: weil ihm jeder Wahrheitssinn
fehlte, konnte er dem jeweils rednerisch Wirksamen ohne Scham und Skrupel den Akzent
der Wahrheit geben; weil ihm jeder Rechtssinn
fehlte, konnte er ohne Bedenken die krasseste
Willkür zum Gesetz erheben. Am Anfang seiner
Herrschaft stand jenes Sympathie-Telegramm an
die Potempa-Mörder, am Ende die grauenhafte
Entehrung der Märtyrer des 20. Juli 1944. Schon
anläßlich des Potempa Urteils hatte Alfred Rosenberg im »Völkischen Beobachter« die Theorie
dazu geliefert: Mensch sei nicht gleich Mensch,
und Mord sei nicht gleich Mord; die Ermordung
des Pazifisten Jaures sei in Frankreich mit Recht
anders bewertet worden als der Mordversuch an
dem Nationalisten Clemenceau; ein Täter, der aus
vaterländischen Motiven gefehlt hat, könne unmöglich derselben Strafe unterworfen werden,
tausch lässt den Graben immer tiefer werden und
setzt einen Kurs der gegenseitigen Konfrontation in
Gang, dessen Dynamik kaum aufzuhalten ist.«
wie ein anderer, dessen Beweggründe sich (nach
nationalsozialistischer Auffassung) gegen das
Volk richten.
Damit war von vornherein ausgesprochen, daß
nationalsozialistisches »Recht« sich der wesensbestimmenden Anforderung der Gerechtigkeit,
der gleichen Behandlung des Gleichen, zu entziehen gewillt war. Infolgedessen entbehrt es
insoweit überhaupt der Rechtsnatur, ist nicht
etwa unrichtiges Recht, sondern überhaupt kein
Recht. Das gilt insbesondere von den Bestimmungen, durch welche die nationalsozialistische
Partei entgegen dem Teilcharakter jeder Partei
die Totalität des Staates für sich beanspruchte.
Der Rechtscharakter fehlt weiter allen jenen Gesetzen, die Menschen als Untermenschen behandelten und ihnen die Menschenrechte versagten.
Ohne Rechtscharakter sind auch alle jene Strafdrohungen, die ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Schwere der Verbrechen, nur geleitet
von momentanen Abschreckungsbedürfnissen,
Straftaten verschiedenster Schwere mit der gleichen Strafe, häufig mit der Todesstrafe, bedrohten. Alles das sind nur Beispiele gesetzlichen Unrechts.
Es darf nicht verkannt werden – gerade nach den
Erlebnissen jener zwölf Jahre –, welche furchtbaren Gefahren für die Rechtssicherheit der Begriff
des »gesetzlichen Unrechts«, die Leugnung der
Rechtsnatur positiver Gesetze mit sich bringen
kann. Wir müssen hoffen, daß ein solches Unrecht eine einmalige Verirrung und Verwirrung
des deutschen Volkes bleiben werde, aber für alle
möglichen Fälle haben wir uns durch die grundsätzliche Überwindung des Positivismus, der
jegliche Abwehrfähigkeit gegen den Mißbrauch
nationalsozialistischer Gesetzgebung entkräftete, gegen die Wiederkehr eines solchen Unrechtsstaates zu wappnen.
Zwischen Gegnern und Anhängern des NS-Regimes stand die große Mehrheit der »Zuschauer«,
die überwiegend Führer-Kultur und Führer-Kult
teilten. »Das weiß der Führer nicht.« – als typische
Rationalisierung. Und Konstrukt zur Aufrechterhaltung der Eigenwelt. Mit ihren extremen Resonanz- und Verstärkerefekten, die den Holocaust
möglich machten. Zu dem die Partei-Staats-Terroristen genügend Mit-Terroristen hatten, auch in der
Osterather Bürokratie.
Sein Modell »Afektlogik« hat Ciompi in »sieben
Kurzthesen« zusammengefasst (S. 44):
1. Fühlen und Denken (oder afektive und kognitive
Funktionen) wirken ständig obligat zusammen.
2. Emotionen sind gerichtete Energien oder genauer: evolutionäre verankerte, ganzheitliche körperlich-seelische Zustände, die durch speziische
Weisen des Energieverbrauchs charakterisiert
sind. Gleichgerichtete kollektive emotionale Energien führen zu mächtigen Massenwirkungen.
3. Vergangene und aktuelle Emotionen üben über
vielfältige Schalt- und Filterwirkungen auf die
kollektive Aufmerksamkeit, das kollektive Gedächtnis und das kollektive Denken aus.
4. Je nach Leitgefühl kann aufgrund dieser Schaltund Filterwirkungen eine kollektive Angst-, Wut-,
Freude-, Trauerlogik usw. entstehen. Auch die
scheinbar neutrale Alltagslogik ist untergründig
in hohem Maß von Afekten geleitet.
5. Über afektspeziische ›Schienen‹ oder ›Leitplanken‹ bilden sich mit der Zeit umfassende
gruppen- und kulturspeziische afekt-kognitive
Eigenwelten (oder ›Mentalitäten‹, ›Denkstile‹,
›Ideologien‹) aus, die sich laufend selbst-organisatorisch bestätigen und konsolidieren.
6. Bei kritisch steigenden systeminternen emotionalen Spannungen können sich die vorherrschenden kollektiven Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster plötzlich sprunghat verändern.
7. Die beschriebenen afektiv-kognitiven Wechselwirkungen verlaufen auf beliebigen individuellen,
mikrosozialen und makrosozialen Ebenen prinzipiell gleichartig.
Süddeutsche Juristenzeitung 1946. S. 105 – 108.
Die Würde des Menschen ist unteilbar.
Als ethischer Kern-Grundsatz in Recht auf allen
Ebenen bis zur UN implantiert und durchgesetzt
ist dies die »Brandschutzmauer« gegen die Barbarei. Mit welcher ideologischen Legitimation die
Kultur des Todes auch immer autritt.
Sapere aude!
Der Erinnerung eine Chance
| 189
Abschrift des Kaufvertrages der Judensteine Friedhof Krefeld
190
| Der Erinnerung eine Chance
Einführung in die Dokumente
Paul Salitter und der Salitter-Bericht – vor und
nach 1945 sowie die Deportationsliste und
Fotos aus Riga
Paul Salitter war ein durchaus typischer NS-Täter –
vor und nach 1945. Er personiiziert »die Banalität
des Bösen«. Als Leutnant der Schutzpolizei war es
im Dezember 1941 seine Aufgabe, eine Deportation
mit 1007 Menschen ab dem Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf verantwortlich zu begleiten. Das
Besondere: Der Dienstbericht, den er im Anschluss
an die Deportation schrieb, ist als einer der wenigen solchen Berichte überliefert. Und dieser Bericht
hatte beim Eichmann-Prozess in Jerusalem zentrale
Bedeutung.
Sein Dienstbericht wurde von seiner vorgesetzten Behörde, dem Polizeipräsidenten Düsseldorf, an
die Gestapo sowie weitere interessierte Dienststellen weitergeleitet. Verbunden mit dem ausdrücklichen Hinweis, aus den im Bericht ofengelegten
Missständen insbesondere bei der Reichsbahn
aufzuräumen. Dass der vollständige Bericht wie
vorliegend Anfang 1942 vom Polizeipräsidenten
Düsseldorf weitergeleitet wird, ist darüber hinaus ein Beweis: Dafür, dass Salitter 1962 bei seiner
staatsanwaltschat lichen Vernehmung in Düsseldorf bewusst log, als er nach Vorlage seines Berichts
behauptete, der Bericht stamme nicht von ihm, sei
gefälscht worden. Dafür dann auch ehemalige Polizisten-Kollegen als Zeugen benennen konnte. Die
staatsformunabhängige Polizei-Kumpanei – Lügen
als Teil der Kultur.
Dr. Ingrid Schupetta schrieb zum SalitterBericht: »Bis heute ist er ein Dokument, in dem
in beispielhater Weise eine doppelte Botschat zu
lesen ist: Unter der scheinbar nüchternen Amtssprache scheint purer Antisemitismus hervor. Die
Sprache steht für den Bezug auf die Vernunt, der
Gehalt ist höchst emotional: voller Verachtung, voller Hass, voller Mordlust.« Als Web-Ressorce unter:
Der Salitter-Bericht und sein Verfasser Paul Salitter.
Ingrid Schupetta 2004.
Und die in dieser Arbeit in zahlreichen Beispielen wiedergegebene Diktion von Bürgermeister
Hugo Recken?
Arthur Winter. Über das Schicksal der Kempener
Juden, die im Dezember 1941 deportiert wurden.
Arthur Winter hat seinen Bericht nach Kriegsende 1945 nach Aussagen von Hans Samuel – und
Weiteren – verfasst. Dieser Bericht ist eine ganz
außergewöhnliche Zeit-Quelle. Denn ein Mensch
hat als Mensch umgehend nach dem Ende der NaziBarbarei versucht zu verstehen – und exemplarisch
zu dokumentieren, was geschehen war. Dieser Bericht in Relation zum aktuellen Forschungsstand:
Er enthält alles Wesentliche – bis ins Detail. Eine –
positive – Abweichung gibt es: Es haben mehr
als 170 der nach Riga verschleppen Menschen den
organisierten Mord überlebt.
Dieter Hangebruch zitiert kurz aus dem Bericht
von Arthur Winter; so stieß ich auf ihn. Arthur
Winter schrieb am Anfang seines Berichts 1945,
er solle nicht veröfentlicht werden. Insbesondere,
weil er auf wenigen Zeugenaussagen beruhe und die
historische Forschung umfassendere und genauere
Ergebnisse zu dem von ihm Beschriebenen erbringen würde. Nachdem der Bericht fast 70 Jahre alt
ist: Arthur Winter hat die Geschehnisse exakt wiedergegeben. Und nach 70 Jahren ist es unter dieser
Prämisse legitim, diesen ganz besonderen Bericht
vollständig zu veröfentlichen. Weil wir aus ihm
lernen können – auch für heute und die Zukunt.
Geschichte am Jürgensplatz, Düsseldorf:
Foto Paul Salitter
Dokumente
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Der Polizeipräsident Düsseldorf, Anschreiben zum Bericht »Durchführung eines Judentransportes«,
6. Januar 1942
192
| Dokumente
Wiener Library London: Der Salitter-Bericht
Dokumente
| 193
Wiener Library London: Der Salitter-Bericht
194
| Dokumente
Wiener Library London: Der Salitter-Bericht
Dokumente
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Berichte von Paul Salitter und Hilde Sherman
Paul Salitters Bericht
Hilde Shermans Zeugenaussage
1. Vorbereitung des Transports
1. Vorbereitung des Transports
Der für den 11. 12. 1941 vorgesehene Judentransport
umfasste 1.007 Juden aus den Städten Duisburg,
Krefeld, mehreren kleinen Städten und Landgemeinden ... Düsseldorf war nur mit 19 Juden vertreten. Der Transport setzte sich aus Juden beiderlei
Geschlechts und verschiedenen Alters vom Säugling bis zum Alter von 65 Jahren zusammen.
... Der nächste Winter, das war mein Winter. Und
zwar haben die Deportationen angefangen, als er
tes meine Tante Sophie aus Köln mit ihrem Mann,
Onkel Benno Wolf, die sind nach Lodz gekommen
... Das war 1941, Oktober/November ... und dann
bekamen meine andere Tante mit ihrem Mann ...
die Auforderung zur Deportation und die Familie
Winter auch, wo mein Freund herstammte, Kurt
Winter. Und dann haben wir beschlossen zu heiraten, trotz allem wollten wir zusammen sein. Und so
haben wir geheiratet, am 6. Dezember 1941 in dem
winzigen Dorf, wo er mit seinen Eltern wohnte ...
Am 10. Dezember sind wir zu meinen Eltern gegangen, um uns zu verabschieden. Inzwischen hatten
meine Eltern versucht, in diese Transportliste eingereiht zu werden, aber sie wurden nicht aufgenommen. Sie wollten mit uns zusammen gehen. Sie haben sich freiwillig gemeldet ...
Auf dem Wege vom Schlachthof [dem Sammelpunkt] zur Verladerrampe hatte ein männlicher
Jude versucht, Selbstmord durch Überfahren mittels der Straßenbahn zu verüben. Er wurde jedoch
von der Aufangeinrichtung der Straßenbahn erfasst und nur leicht verletzt. Er stellte sich anfänglich sterbend. Wurde aber während der Fahrt bald
sehr munter, als er merkte, dass er dem Schicksal
der Evakuierung nicht entgehen konnte. Ebenfalls
hatte sich eine ältere Jüdin unbemerkt von der Verladerampe, es regnete und war sehr dunkel, entfernt, sich in ein nahe Iiegendes Haus gelüchtet,
entkleidet und auf ein Klosett gesetzt. Eine Putzfrau hatte sie jedoch bemerkt, so dass auch sie dem
Transport wieder zugeführt werden konnte.
... und wir mussten mitnehmen – von der Gestapo befohlen – Gepäck und zwar jeder einen Kofer
bis zu 50 kg. Und eine Bettrolle, die hatte 30 cm
Durchmesser und war 70 cm lang mit Decken und
so weiter. Und natürlich hat jeder versucht, die besten Sachen in diese Kofer zu pressen. Denn man
wusste ja nicht, wie lange die halten mussten für
die »Umsiedlung« in Anführungsstrichen. Jede Familie musste mitnehmen einen kleinen Ofen und
Erbsen und Graupen und Reis und so weiter. Und
wir konnten doch gar nichts kaufen. Wir konnten
überhaupt nichts kaufen! So hat man angefangen zu
tauschen. ...
Und so sind wir am 10. [Dezember 1941] in den Zug
gestiegen. Ich hab mich von meinen Eltern verabschiedet, das war das zweite Mal in meinem Leben,
dass ich meinen Vater hab weinen sehen. ... Er und
mein Bruder haben uns zum Bahnhof begleitet, in
Mönchengladbach. Und da stand schon der Zug mit
Leuten aus Krefeld und der ganzen Umgebung.
... Mein Mann hieß Kurt Winter. Mit seiner Familie bin ich deportiert worden. Wir kamen an in
Düsseldorf: Es war schon Dämmerung, wir mussten aussteigen und zu Fuß zum Schlachthof gehen.
Und da wurden wir gesammelt. Ich erinnere mich
noch, die älteren Menschen konnten schon damals
nicht ihre Taschen tragen und haben sie einfach
weggeschmissen, auf die Straße. Und damals habe
196
| Dokumente
Paul Salitters Bericht
Hilde Shermans Zeugenaussage
ich gesehen, wie die Leute zugeschaut haben. Sie
sind nicht auf die Straße gekommen. Sie haben hinter den Fenstern [zu]gesehen. Ich habe die Vorhänge
gesehen, wie sie sich bewegt haben. So kann keiner
sagen, dass er nicht gewusst hat, was passiert ist.
Natürlich haben sie uns gesehen. Wir waren über
tausend Menschen!
Und dann sind wir in den Schlachthof gekommen. Und da haben wir die ganze Nacht gestanden. Das stand so hoch unter Wasser. Das war eine
fürchterliche Nacht. Das war der Anfang, da habe
ich zum ersten Mal Schläge bekommen und zwar
von einem hohen SS-Oizier, der beim Eingang
stand. Und da ging eine steile Treppe hinunter in
den Schlachthof und das ging nicht schnell genug.
Und dann hat er mich gestoßen. Und dann hat er
geschrien: »Auf was wartest du noch! Auf die Straßenbahn! Die wird für dich nie wieder fahren.«
Das war das erste Mal in meinem Leben, dass
ich geschlagen worden bin. Und dass ich von einem
fremden Menschen überhaupt berührt worden bin.
Aber damit ging es los. Kurz darauf mussten wir
uns nackt ausziehen und man hat uns die Sachen
weggenommen ... Wir haben die Kofer nie wieder
gesehen.
2. Abfertigung des Zuges
2. Abfertigung des Zuges
Die Ablassung des Transportes war für 9:30 Uhr
vorgesehen, weshalb die Juden bereits ab 4 Uhr an
der Verladerampe zur Verladung bereitgestellt waren. Die Reichsbahn konnte jedoch den Sonderzug
angeblich wegen Personalmangels nicht so früh zusammenstellen, so dass mit der Einladung der Juden erst gegen 9 Uhr begonnen werden konnte. Das
Einladen wurde, da die Reichsbahn auf eine möglichst fahrplanmäßige Ablassung des Zuges drängte, mit der größten Hast vorgenommen. Es war
daher nicht verwunderlich, dass einzelne Wagen
überladen waren (60 – 65 Personen), während andere nur mit 35 – 40 Personen besetzt waren. Dieser
Umstand hat sich während des ganzen Transportes
nach Riga nachteilig ausgewirkt, da einzelne Juden
immer wieder versuchten in weniger stark besetzte Wagen zu gelangen. Soweit Zeit zur Verfügung
stand, habe ich dann auch in einigen Fällen, weil
auch Mütter von ihren Kindern getrennt worden
waren, Umbelegungen vorgenommen.
Am nächsten Morgen beim Morgengrauen dann
ging es los, da sind wir rausgetrieben worden auf
eine Rampe und der Zug ist nicht gekommen, es
war bitter kalt. Und wir haben gestanden und gestanden, von 4 Uhr morgens bis ungefähr 9 Uhr.
Dann sind wir eingeladen worden und die Reise
ging los, am 11. Dezember.
Und ich erinnere mich, man hat [uns] die Handschuhe abgenommen. Und ich hatte eine Taschenlampe in der Hand. Alles das hat man uns weggenommen. Und einer hat gefragt die Bewachung,
die SS-Leute:
»Wann kommt der Zug!« Und sie haben einen
Knüppel rausgenommen und haben solange auf ihn
geschlagen, bis er da liegengeblieben ist. Er ist gar
nicht erst mitgekommen. Das war unser erster Toter. Damit ing es an. ...
Dokumente
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Paul Salitters Bericht
Hilde Shermans Zeugenaussage
Die Verladung der Juden war gegen 10:15 Uhr beendet. Nach mehrmaligem Rangieren verließ der Zug
dann gegen 10:30 Uhr den Güterbahnhof Düsseldorf-Derendorf in Richtung Wuppertal, also schon
mit einer Verspätung von einer Stunde.
198
3. Unterwegs
3. Unterwegs
Nach dem letzten Rangieren in Düsseldorf stellte
ich fest, dass der Wagen des Begleitkommandos
(2. Klasse), anstatt in die Mitte des Zuges am Ende
der Personenwagen, also als 21. Wagen einrangiert
worden war. Hinter unserem Wagen befanden sich
dann die 7 mit Gepäck beladenen Güterwagen. Die
falsche Einrangierung des Begleitwagens hatte folgende Nachteile:
a) Der Dampfdruck erreichte infolge fehlerhater
Heizungsanlagen die hinteren Wagen nicht. Infolge der Kälte konnte die Kleidung der Posten
nicht trocknen (fast während des ganzen Transportes regnete es), so dass ich mit Ausfällen durch
Erkrankung zu rechnen hatte.
b) Dem Transportführer ging die Übersicht über
den Zug verloren ... Außerdem versuchten die
Juden immer wieder, sofort nach dem Halten in
Bahnhofshallen mit dem reisenden Publikum in
Verbindung zu treten, Post abzugeben oder sich
Wasser holen zu lassen. Ich musste mich daher
entschließen, 2 Posten in einem Abteil des vorderen Personenwagens unterzubringen.
...
So wurde ich von Bahnhof zu Bahnhof vertröstet ...
Der Zug hatte bereits 155 Minuten Verspätung.
Wir waren in einem Personenzug, damals haben
sie noch keine Viehwaggons gebraucht. Wir waren
derart eng gepresst, dass eine fürchterliche Hitze
herrschte. Außerdem war Heizung, was gar nicht
nötig gewesen wäre. Aber in einem anderen Waggon, wo nur Kinder waren, war überhaupt keine
Heizung. Die sind fast erfroren ... Wir haben immer
zum Fenster rausgeguckt. Die Waggons waren von
außen verschlossen. Aber wir konnten durch das
Fenster sehen, ob die letzten Waggons noch dran
waren – zwei, wo unser Gepäck drin war.
4. Die Fahrt
4. Die Fahrt
... Um 10 Uhr [am 12. Dezember 1941] habe ich den
Bahnhof Konitz verständigen lassen, dass der Zug
dort etwa 1 Stunde Aufenthalt auf ein Nebengleis
nehmen muss, um
a) den leeren Wagen mit Juden zu beladen,
b) die Versorgung der Juden mit Wasser vorzunehmen,
c) die Umrangierung des Begleitwagens zu veranlassen,
d) eine Erfrischung vom Roten Kreuz für die Begleitmannschat in Empfang zu nehmen
...
Um 11:10 Uhr wurde Konitz erreicht. Ich konnte
mein Vorhaben bis auf die Umrangierung des eigenen Wagens durchführen. Anfänglich wurde mir
... Ich erinnere mich, uns hat ein fürchterlicher
Durst gequält, weil Brot hatten wir mitgenommen,
aber der Durst war entsetzlich. Und alle bekamen
Fieber und diese Hitze in diesen Waggons. Und
wir sind gekommen bis nach Insterburg, das ist vor
der Grenze nach Polen gewesen, damaligen Polen.
Und der Zug hat gehalten und wurde aufgeschlossen. Wir durten rausgehen und Schnee auheben,
so dass wir trinken konnten. [Der Schnee] ist geschmolzen, dann konnten wir trinken. Alle hatten
hohes Fieber. Ich hab erst gar nicht meine Stiefel
ausgezogen, weil die hätte ich nachher nicht mehr
anbekommen mit den geschwollenen Beinen. Ich
war die Einzige, die kein Fieber hatte, die aussteigen konnte und hab so viel Schnee auheben können
| Dokumente
Paul Salitters Bericht
dies zugesagt, dann erklärte mir der Stationsvorsteher, dass die Einrangierung des Wagens in die Mitte
des Zuges ... nicht durchführbar sei ... dass er den
Zug sofort wieder abfahren lassen müsse und ein
Rangieren jetzt, es waren inzwischen 50 Minuten
vergangen, nicht mehr möglich sei. Das Verhalten
des Stationsvorstehers erschien mir unverständlich,
weshalb ich ihn in energischer Weise zur Rede stellte und mich beschwerdeführend an die zuständige
Aufsichtsstelle wenden wollte. Er erklärte mir darauf, dass diese Stelle für mich nicht zu erreichen
sei, er seine Anweisungen habe und den Zug sofort
abfahren lassen müsse, weil 2 Gegenzüge zu erwarten seien. Er stellte sogar das Ansinnen an mich,
einen Wagen in der Mitte des Zuges von Juden zu
räumen, ihn mit meinem Kdo. [Kommando] zu
belegen und die Juden im Begleitwagen 2. Klasse
unterzubringen. Es erscheint angebracht, diesem
Bahnbediensteten von maßgeblicher Stelle einmal
klar zu machen, dass er Angehörige der Deutschen
Polizei anders zu behandeln hat als Juden. Ich hatte
den Eindruck, als ob es sich bei ihm um einen von
denjenigen Volksgenossen handelt, die immer noch
von den »armen Juden« zu sprechen plegen und denen der Begrif »Jude« völlig fremd ist ...
Hilde Shermans Zeugenaussage
mit Geschirr, dass ich in den Nachbarwaggon auch
noch [Schnee] reichen konnte, zum Fenster rein.
Und [ich] bin ausgestiegen und bin auf den Bahnsteig gelaufen. Am Ende habe ich einen Briek asten
gesehen. Ich hatte vorbereitet eine Karte für meine
Eltern. Und hab geschrieben, wenn sie soweit sind,
dass sie nur warme Sachen mitnehmen, warme Sachen, warme Sachen. Diese Karte ist tatsächlich angekommen, hat mir nachher eine Bekannte erzählt.
So sind wir gefahren drei Tage und vier Nächte
durch Litauen. Da hab ich gesehen – das hat mich so
beeindruckt – winzige Bauernhütten mit Schilfdächern, [die] man gar nicht kannte von Deutschland
her. Und Ziehbrunnen! Und das war das erste Mal
in meinem Leben, dass ich einen Ziehbrunnen gesehen habe. In Deutschland gab es das nicht, da waren
Wasserleitungen. Und daneben standen die Menschen mit Filzstiefeln bis zum Knie und Schafspelzen an, sehr miserabel. Da habe ich gedacht: »Mein
Gott, diese Litauer! Das sind alles so gute Katholiken, wenn das das Leben von denen ist unter der
deutschen Besatzung, was wird erst mit uns sein, als
Juden, als Deportierte?« ...
Um 1:50 Uhr ging es weiter nach Tilsit. Auf dieser
Station nahe der ostpreußisch - litauischen Grenze
wurde auf meine erneute Bitte in Insterburg hin der
Wagen des Begleitkdos. nach vorn rangiert und erhielt endlich Heizung. Die Wärme wurde von der
Begleitmannschat sehr wohltuend empfunden, da
die Uniformen der Posten infolge des auf der ganzen Fahrt fast ununterbrochen anhaltenden Regens
völlig durchnässt [waren] und nunmehr getrocknet
werden konnten ...
Von hier [der litauischen Stadt Tauroggen] aus
sollte die Fahrt bis Riga normal nur noch 14 Stunden betragen. Infolge des eingleisigen Bahngeländes
und der Zweitrangigkeit des Zuges in der Abfertigung gab es auf den Bahnhöfen ot lange Verzögerungen in der Weiterfahrt.
... Auf dem Bahnhof Schaulen (1:12 Uhr) wurde
die Begleitmannschat von Schwestern des Roten
Kreuzes ausreichend und gut verplegt ... In Schaulen wurde in allen Judenwagen durch litauisches Eisenbahnpersonal die Lichtzufuhr abgestellt.
5. Das Ende der Fahrt
5. Das Ende der Fahrt
... Die Ankunt in Riga erfolgte um 21:50 Uhr, wo
der Zug auf dem Bahnhof 1 ½ Stunden festgehal-
Plötzlich blieb nachts der Zug stehen und wir wussten überhaupt nicht, wo wir waren. Im Morgen-
Dokumente
| 199
Paul Salitters Bericht
ten wurde ... Am 13. 12., um 23:35 Uhr, erreichte
der Zug nach vielem Hin- und Herrangieren die
Militärrampe auf dem Bahnhof Skirotawa. Der
Zug blieb ungeheizt stehen. Die Außentemperatur
betrug bereits 12° unter Null ... Die Übergabe des
Zuges erfolgte alsdann um 1: 45 Uhr. Gleichzeitig
wurde die Bewachung von 6 lettischen Polizeimännern übernommen. Da es bereits nach Mitternacht
war, Dunkelheit herrschte und die Verladerampe stark vereist war, sollte die Ausladung und die
Überführung der Juden in das noch 2 km entfernt
liegende Sammelghetto erst am Sonntag früh beim
Hellwerden erfolgen ... Ich selbst erhielt Unterkunt
im Gästehaus des höheren SS-und Polizeiführers,
Petersburger Hof, am Schloßplatz 4 ...
Riga umfasst etwa 360.000 Einwohner, darunter
befanden sich etwa 35.000 Juden. Die Juden waren
in der Geschätswelt wie überall führend. Ihre Geschäte sind jedoch sogleich nach dem Einmarsch
der deutschen Truppen geschlossen und beschlagnahmt worden. Die Juden selbst wurden in einem
durch Stacheldraht abgeschlossenen Ghetto an der
Düna untergebracht. Z. Zt. sollen sich in diesem
Ghetto nur 2.500 männliche Juden, die als Arbeitskräte verwendet werden, beinden. Die übrigen Juden sind einer anderen zweckentsprechenden Verwendung zugeführt bzw. von den Letten erschossen
worden.
... Das lettische Volk ist, soweit ich ... beobachten
konnte, deutschfreundlich und spricht auch zum
großen Teil deutsch. ... Ihr Hass gilt insbesondere den Juden. Sie haben sich daher vom Zeitpunkt
der Befreiung bis jetzt auch sehr ausgiebig an der
Ausrottung dieser Parasiten beteiligt. Es erscheint
ihnen aber, was ich insbesondere beim lettischen
Eisenbahnpersonal feststellen konnte, unverständlich, weshalb Deutschland die Juden nach Lettland
bringt und sie nicht im eigenen Lande ausrottete.
Erfahrungen:
a) Die mitgegebene Verplegung war gut und ausreichend ...
b) Die Mitnahme von ... warmer Kleidung, Postenpelzen und Filzstiefeln kam den Männern sehr
zu statten und ist auch für künt ige Transporte
wünschenswert ...
c) ...
d) Die beiden Handscheinwerfer haben sich gut bewährt ...
e) Die Unterstützung durch das Rote Kreuz muss
ich lobend erwähnen ...
200
| Dokumente
Hilde Shermans Zeugenaussage
grauen hat man ein Schild gesehen, Schirotawa.
»Wo ist Schirotawa, was ist Schirotawa?«
Es war eine bittere Kälte. So gegen halb zehn
hörte man Hundgekläf und es sind SS-Leute vorgefahren und haben den Zug von beiden Seiten umzingelt. Die Türen wurden aufgerissen, und dann
ging das Gebell los:
»Raus, raus! Schnell, schnell !« Und wir mussten raus und die letzten mussten mit den Händen
die Waggons sauber machen, weil was anderes war
nicht da.
Und wir mussten uns aufstellen auf der Bahnrampe. Und dann kam ein Auto vorgefahren mit
zwei hohen SS-Oizieren. Die stiegen aus, und ich
erinnere mich, dass [einer] angefangen hat zu brüllen: »Fünferreihen! Und Marsch ins Ghetto!«
...
[Herr] Meier aus Gort – das war auch ein kleines
Dorf in der Nähe von Düsseldorf – der hatte zwei
Kinder auf dem Arm, zwei kleine Jungen. Der hat
... gefragt: »Herr Kommandant, ist es sehr weit bis
zum Ghetto!« Statt ihm zu antworten, hat er seinen
Stock hochgehoben – den habe ich im Leben nicht
vergessen, den Stock, ein schwarzer Stock mit einem silbernen Knauf und hat ihm ins Gesicht geschlagen. Und [er] hat den Hund losgelassen, einen
Schäferhund, und der hat sich auf ihn gestürzt und
der Mann iel zu Boden und die beiden Kinder natürlich auch. Und wie er aufgestanden ist, war sein
ganzer Mund ein blutiges Gerinnsel und die Zähne
haben [ihm] gefehlt. Das war der erste Eindruck von
Lettland, von Riga, von Schirotawa ...
Es war ein fürchterliches Glatteis ... Das sind ungefähr ... 20, 25 Kilometer von Schirotawa ins Ghetto.
Und dann haben die Leute ihre Taschen von sich geworfen. Und die Letten haben nicht nur zugeguckt,
sie haben direkt gestohlen. Sobald der [Menschen-]
Zug vorbei war, haben sie alles aufgeklaubt, was auf
dem Boden lag. Dann ging es durch einen Vorort, ...
sehr miserabel. Und dann rechter Hand einen kleinen Hügel aufwärts. Und dann war [da] ein riesengroßes Tor, ein Eisentor, und das ging auf und wir
waren im Ghetto ...
Quelle:
Yad Vashem Archive 0.3/7337 (Das aufgezeichnete
und transkribierte Interview wurde für diese Materialsammlung gekürzt.)
Paul Salitters Bericht
Hilde Shermans Zeugenaussage
f) Zur Verabfolgung von Trinkwasser für die Juden
ist es unbedingt erforderlich, dass die Gestapo
mit der Reichsbahn für je einen Tag des Transportes 1 Stunde Aufenthalt auf einem geeigneten Bahnhof des Reichsgebiets vereinbart. Es hat
sich herausgestellt, dass die Reichsbahn wegen
des festgelegten Fahrplanes nur mit Widerwillen auf entsprechende Wünsche des Transportführers eingeht. Die Juden sind gewöhnlich vor
Abgang des Transportes 14 Stunden und länger
unterwegs und haben die mitgenommenen Getränke vor der Abfahrt bereits aufgebraucht. Bei
einer Nichtversorgung mit Wasser während des
Transportes versuchen sie dann, trotz Verbot, bei
jeder sich bietenden Gelegenheit aus dem Zuge zu
gelangen, um sich Wasser zu holen oder holen zu
lassen.
g) Es ist ferner dringend erforderlich, dass die
Reichsbahn die Züge rechtzeitig, mindestens
3 – 4 Stunden vor der festgesetzten Abfahrtszeit
bereitstellt, damit die Einladung der Juden und
ihres Gepäcks geordnet erfolgen kann.
Vor allem ist von der Gestapo mit der Reichsbahn
zu vereinbaren, dass der gestellte Wagen für das Begleitkdo. (2. Kl.) gleich bei der Zusammenstellung
in die Mitte des Zuges einrangiert wird. Diese Einrangierung ist aus Gründen der sicheren Überwachung des Transportes dringend notwendig ... Die
gestellten Männer des Begleitkommandos haben
zu nennenswerten Klagen keinen Anlass gegeben.
Abgesehen davon, dass ich einzelne von ihnen zu
schärferem Vorgehen gegen Juden, die meine erlassenen Verbote zu übertreten glaubten, anhalten
musste, haben sich alle sehr gut geführt und ihren
Dienst einwandfrei versehen.
Gez.: Salitter
Hauptmann der Schutzpolizei
Quelle:
Yad Vashem Archive 0.2 / 1145
Methodischer Hinweis: Rechtschreibfehler wurden in
beiden Texten korrigiert.
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ITS Arolsen: Die Deportationsliste Blatt 1 – 7
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ITS Arolsen: Die Deportationsliste Blatt 8 – 15
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ITS Arolsen: Die Deportationsliste Blatt 16 – 23
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| 207
ITS Arolsen: Die Deportationsliste Blatt 24 – 31
208
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| 209
ITS Arolsen: Die Deportationsliste Blatt 32 – 39
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| 211
ITS Arolsen: Die Deportationsliste Blatt 40 – 47
212
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| 213
ITS Arolsen: Die Deportationsliste Blatt 48 – 51
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Kreisarchiv Viersen: Arthur Winter. Über das Schicksal der Kempener Juden
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Kreisarchiv Viersen: Arthur Winter. Über das Schicksal der Kempener Juden
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Kreisarchiv Viersen: Arthur Winter. Über das Schicksal der Kempener Juden
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Kreisarchiv Viersen: Arthur Winter. Über das Schicksal der Kempener Juden
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Nachkriegsbiografie eines Täters
Nachkriegsbiografie von Paul Salitter
Im Jahre 1941, zur Zeit der Deportation der Juden
aus Düsseldorf und Umgebung, besaß Paul Salitter
den Rang eines Polizeihauptmanns. Ein Jahr vor
Kriegsende wurde er »wegen Tapferkeit« im Kampf
gegen die Resistance im Elsass zum Polizeimajor
befördert. Nach dem Sieg der Alliierten geriet er für
kurze Zeit in Kriegsgefangenschat. Bereits im Juni
1945 meldete er sich bei der Polizei in Düsseldorf
zurück und wurde dort im 2. Polizeirevier wieder
eingesetzt.
Kurze Zeit darauf leitete die alliierte Militärregierung im Rahmen der Entnaziizierung ein
Untersuchungsverfahren gegen Salitter ein, infolgedessen er vom Dienst suspendiert wurde. Im Juli
begann sein Aufenthalt in den alliierten Internierungslagern Recklinghausen, Hemer und Eselsheide. Im Oktober erhielt er dort die Nachricht, dass
er auf Anordnung der Militärregierung aus dem
Polizeidienst entlassen worden war (siehe Modul
C; Dokument 2). Im Dezember 1946 durte Salitter
wegen guter Führung das Lager verlassen. Er war
von der Entnaziizierungskommission in die Kategorie III eingeordnet worden. (Die fünf Kategorien
der Entnaziizierung: I Hauptschuldige, II Belastete,
III Minderbelastete, IV Mitläufer und V Entlastete) Mit einer Pension von monatlich 150 DM wurde
er in Frührente geschickt, doch Salitter wollte sich
diesem Beschluss nicht beugen. Mehrmals reichte
er Widerspruch bei Polizeiverwaltung und Oberbürgermeisteramt ein. Aus dem Jahre 1947 stammt
ein Brief, in dem er sich bei der Polizeiverwaltung
Düsseldorf um eine Wiederverwendung im Dienst
der Schutzpolizei bewirbt: »Ich verspreche, auch in
der neuen Demokratie meine ganze Persönlichkeit
in den Dienst der Sache zu stellen, genauso, wie ich
es unter den Regierungen Wilhelms II., Ebert, Hindenburg und im Dritten Reich getan habe, ... « (siehe Modul C; Dokument 3).
Im Oktober 1951 wurde das Urteil gegen ihn
abgeändert. Die Personalstelle des Polizeipräsidiums in Düsseldorf teilte ihm mit, dass er nach
der Wiederaufnahme des Verfahrens in Kategorie
IV eingestut worden war. Mit dieser Einstufung
als »Mitläufer« hatte Salitter nicht nur Anspruch
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| Dokumente
auf die volle Pension, auch die Degradierung vom
Major zum Polizeimeister wurde rückgängig gemacht. Die Beförderung des Betrofenen während
der Nazizeit, so hieß es, sei »nicht politisch bedingt
gewesen« (siehe Modul C; Dokument 4). Aus Altersgründen wurde der zu diesem Zeitpunkt 52-jährige
Paul Salitter nicht mehr als Polizist eingestellt.
Das letzte Schreiben Salitters stammt aus dem
Jahr 1966 und ist an das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen gerichtet. Das LKA ermittelte damals strafrechtlich gegen ehemalige Düsseldorfer
Gestapo-Beamte, die an Deportationen beteiligt
waren. Salitter behauptete in seiner Stellungnahme,
er habe erst von lettischen Polizeioizieren erfahren, dass in Riga massenhat Juden erschossen wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt habe er gedacht, dass
es sich bei dem Transport um eine »Umsiedlungsaktion« handeln würde. [Vgl. dazu die Passage im
Bericht Salitters über die Juden in Lettland.]
Paul Salitter starb am 8. Januar 1972.
Quellen:
• BArch R 19 / 600, Reichsminister des Innern/Chef
der Ordnungspolizei, Ernennung zu Hauptleuten
der Polizei, 28. 11. 1941.
• GO Villa ten Hompel (Münster) / Polizeipräsidium Düsseldorf, Ergänzungsdokumentation, ED
0011, Personalakte Paul Salitters.
• Klaus Dönecke (2003): Düsseldorfer Polizeigeschichte. Deportation von jüdischen Menschen
aus Düsseldorf im Jahre 1941. Bericht des damaligen Hauptmanns d. Sch. Paul Salitter, download:
http://www.geschichte-am-jürgensplatz.de
• Geschichte am Jürgensplatz e. V. (Verein zur Aufarbeitung der Düsseldorfer Polizeigeschichte),
Biograie Paul Salitters, download: http://www.
geschichte-am-jürgensplatz.de
• Ingrid Schupetta (2004): Der Salitter-Bericht und
sein Verfasser Paul Salitter, download: http://
www.ns-gedenkstaetten.de
Methodischer Hinweis: Rechtschreibfehler wurden korrigiert.
Quelle: GO Villa ten Hompel (Münster) / Polizeipräsidium Düsseldorf, Ergänzungsdokumentation, ED 0011,
Personalakte Paul Salitters
Dokumente
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Oben: GO Villa ten Hompel (Münster) / Polizeipräsidium Düsseldorf, Ergänzungsdokumentation, ED 0011, Personalakte Paul Salitters
Rechte Seite: GO Villa ten Hompel (Münster) / Polizeipräsidium Düsseldorf, Ergänzungsdokumentation, ED 0011,
Personalakte Paul Salitters
Methodischer Hinweis: Rechtschreibfehler wurden korrigiert.
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| Dokumente
Abschrift
Der Oberbürgermeister
– Polizeiverwaltung –
S II a/b - 32,60 -
Düsseldorf, den 18. 10. 1946
I.) Betrit: Entlassungen.
Auf Anordnung der Militärregierung vom 11. 10. 1945 sind folgende Angehörige der Schutzpolizei mit sofortiger
Wirkung aus dem Dienst zu entlassen.
1.)
2.)
3.)
4.)
5.)
6.)
7.)
8.)
9.)
10.)
11.)
12.)
13.)
14.)
15.)
16.)
17.)
18.)
19.)
20.)
21.)
22.)
23.)
24.)
Major
Hauptm.
R. «
«
Oberleutn.
«
Leutnant
«
«
Meister
«
«
«
«
«
«
«
«
«
Hauptw.
«
R. Oberleutn.
Oberwachtm.
LS-Pol.-Angeh.
d.Sch.
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Salitter
Schmalfuß
Klaue
Neuhaus
Freitmeier
Sturm
Kamm
Bischof
Hölzer
Schmitz
Maurer
Marczynski
Laschet
Beyer
Emschermann
Friedrich
Rook
Kemmer
Ottermann
Wollscheid
von Wirth
Stöcker
Schmitz
Schrüllkamp
Paul
Robert
Arthur
August
Willi
Karl
Konrad
Peter
Arthur
Mathias
Hubert
Franz
Franz
Otto
Josef
Wilhclm
Max
Jakob
Michael
Johann
Josef
Hubert
Franz
Franz
2. Rev.
S.Ak.Nor
13. R.
11. «
S.Ak.Mit
15.R.
Ent. 30.
S.Ak. Nord
9. R.
1. R.
17. R.
2. R.
1. R.
6. R.
4. R.
I. R.
6. R.
SK.
5. R.
15. R.
19. R.
7 R.
18 R.
Pol.- Gef.
2.) Schreibe:
An die vorstehend aufgeführten Beamten.
Auf Anordnung der Militärregierung werden Sie mit Wirkung vom 19. 10. 1945 aus Ihrem Amte entlassen.
Sie haben nach unverzüglicher Rückgabe der in Ihrer Verwahrung beindlichen Dienstsachen Ihre Dienststelle zu
räumen. Die Sie von da an nicht mehr betreten dürfen.
3.) Fertige Mitteilungen an 1 (W) bezügl. der Sperrung der Dienstbezüge, Mitteilung an P.,
4.) Fertige je eine Abschrit von I.) an SK., S.Ak.Nord, S.Ak.Mitte, S-Ak.Süd und setze darunter:
Vorstehende Abschrit übersende ich zur Kenntnis und weiteren Veranlassungen. Die beigefügten Schreiben sind
sofort an die betrefenden Beamten gegen Empfangsbescheinigung auszuhändigen.
Die Ausweise, Bekleidungs- und Ausrüstungsstücke von den entlassenen Beamten sind von den Dienststellen
einzuziehen. Die Abgabe der Bekleidungs- und Ausrüstungsstücke hat gegen Empfangsbescheinigung auf der
Bekleidungskammer zur erfolgen. Über das Geschehene legen mir SK, und die Abschnittskommandos bis zum
25. 10. 1945 einen Sammelbericht vor.
5.) Vermerk zur Stärke.
6.)Wv. Bei Eingang der Berichte
In Vertretung:
gez. R o s t
Polizei-Oberst
Für die Richtigkeit:
Polizei-Meister
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Oben: GO Villa ten Hompel (Münster) / Polizeipräsidium Düsseldorf, Ergänzungsdokumentation, ED 0011,
Personalakte Paul Salitters
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Begl. Abschrit
Abwicklungsstelle [schwer lesbar)
Düsseldorf. den 16. 10. 1951
Mü. He.
So.E.B.1/14357.
Beschluss.
In der Entnaziizierungssache des Majors d.Sch.s.D. Paul S a l i t t er, geboren am 15. 12. 1895, wohnhat in Düsseldorf-Unterrath, Kalkumerstr. 140, wird die Entscheidung des Berufungsausschusses für den Reg. Bes. Düsseldorf
vom 31. 5. 1949, unter Aufrechterhaltung im übrigen, gemäss § 28 der Verfahrensordnung, im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens wie folgt abgeändert:
Der Betrofene wird in Kat. IV ohne Beschränkungen eingestut.
Gründe:
Der Betroffene ist durch die obengenannte Entscheidung, die der Sonderbeauftragte am 27. 6. 1949 bestätigt hat, in
Kat. IV mit der Massgabe eingestuft worden, dass [er auf ] den Rang eines Polizeimeisters zurückgestuft werde.
Gegen diese Beschränkung richtet sich seine Eingabe vom 10. und 12. 7. 1951. Dem Antrag war, soweit geschehen, stattzugeben. Die Einstufung des Betroffenen nach Kat. IV entspricht nach den vorliegenden Unterlagen der
Sach- und Rechtslage. Insoweit war die Entscheidung aufrecht zu erhalten. Nach den vorliegenden Unterlagen kann
die Zurückstufung zum Polizeimeister dagegen nicht als gerechtfertigt angesehen werden. Nach der Eingabe des
Betroffenen vom 10. 7. 1951, den vorliegenden Unterlagen und der Stellungnahme des Berufungsausschusses Düsseldorf vom 20. 8. 1951 ist nicht festzustellen, dass die Beförderungen des Betroffenen über den Polizeimeister hinaus
vorwiegend politisch bedingt gewesen sind.
Jedenfalls konnte aber die Prüfung dieser Frage in entsprechender Anwendung der Ziffer I 3 a der Durchführungsbestimmungen zu § 7 der Ersten Sparverordnung, in Verbindung mit § 5 Abs. 2 der Ersten Sparverordnung der
zuständigen Anstellungsbehörde überlassen bleiben. Die Entscheidung konnte deshalb, wie geschehen, abgeändert
werden, ohne dass es einer erneuten mündlichen Verhandlung bedurfte.
Gez: Dr. Frh. V. Münchausen
Beglaubigt:
An das
Angestellte.
Polizeipräsidium
– Personalstelle –
Düsseldorf
mit der Bitte um gefl. Kenntnisnahme.
Quelle: GO Villa ten Hompel (Münster) / Polizeipräsidium Düsseldorf, Ergänzungsdokumentation, ED 0011,
Personalakte Paul Salitters (Methodischer Hinweis: Rechtschreibfehler wurden korrigiert.)
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fotografierte Bildtafeln mit historischen Fotos zum Ghetto Riga 1941 – 1944
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Fotos auf beiden Seiten: Dr. Ingrid Schupetta
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Die Züge aus Deutschland mit den nach Riga Verschleppten kamen am Bahnhof Skirotawa an. Ein paar Kilometer
zu Fuss zum Ghetto in Riga oder zum Tod im Bickernicker Wald – in Massengräbern nach Erschiessungen durch
deutsche Polizeieinheiten: Polizeiliche Massenexekutionen von »Staatsfeinden« – vom Säugling bis zur Greisin.
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Fotos auf beiden Seiten: Dr. Ingrid Schupetta
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Häuser und Strassen in der »Moskauer Vorstadt« von Riga. In der Zeit der deutschen Okkupation 1941 – 1944 das
von den Nazis befohlene Ghetto. Fotos von Dr. Ingrid Schupetta, Leiterin der Villa Merländer in Krefeld.
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Anhang
Verzeichnis der abgebildeten Quellen
Über den Autor
Foto Lothar Klouten
11
Der Entstehungs-Prozess dieses Buchs und seine Implikationen
»Was Du für Dein Volk tust, ist immer recht getan!«
12
Die Gemeinden Osterath – sowie Büderich und Lank – bis 1945:
Katholische Dörfer mit Minderheiten
Landeshauptmann der Rheinprovinz: Karte des NSDAP-Gaus Düsseldorf 1937
Lothar Klouten: Bevölkerungsstatistik 1871 – 1939
Lothar Klouten: Die Reichstagswahlen in Meerbusch während der Weimarer Republik
Kreisarchiv Viersen: Kreis Viersen-Kempen der NSDAP
Organisationshandbuch der NSDAP: Der Ortsguppenleiter der NSDAP
Osterather Zeitung 26. September 1931: An meine Leser
Osterather Zeitung 31. Mai 1933: Kaplan Hilmer auf der Schlageter-Feier in Düsseldorf
Organisationshandbuch der NSDAP 1937: Der Ortsgrupenleiter der NSDAP
Kreisarchiv Kempen: Listen der NSDAP und der SA Osterath
Fotos von Dr. Marie-Sophie Aust:
Stahlhelm Osterath beim Exerzieren auf dem alten Sportplatz neben dem aufgehobenen und bereits »umgelegten« jüdischen Friedhof
Erntedankfest 1934 Osterath
Die Gemeindeführung Osterath
Schützenkönig Osterath mit Anhang – im Hintergrund Ortsgruppenleiter und SA-Führer
Mai 1934 Firma Stein Osterath
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23
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26 – 27
17
17
18
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1933. Die erste Intrige gegen den evangelischen Bürgermeister Rudolf Bartels:
Wie der Katholik Hugo Recken durch die dazu instrumentalisierten Nationalsozialisten
Bürgermeister in Osterath wurde und sein Sieg über die örtlichen NSDAP-Funktionäre
sowie die geschichtswissenschaftliche Bewertung
Stadtarchiv Düsseldorf: Mitgliederliste der N.S.D.A.P.-Fraktion der Landgemeinde Osterath
Ortsgruppenleiter Panzer 24. 05. 1933 an Schweiger
Bundesarchiv Berlin: NSDAP-Gaukartei. Hugo Recken
Osterather Zeitung 24. Februar 1934: Aufruf von Bürgermeister Recken
aus Anlass des Jahrestages der Gründungsfeier der NSDAP
Kreisarchiv Viersen: Schreiben von Bürgermeister Recken an den Landrat in Kempen
13. November 1934
Die Um- und Durchsetzung antisemitischer Maßnahmen zur Diskriminierung,
Terrorisierung, Absonderung, Enteignung und Ermordung der betroffenen Deutschen
in Verantwortung des Bürgermeisters in Osterath Hugo Recken
Karte Osterath 1940
Lothar Klouten: Die Hierarchie des NS-Partei-Staates: Das Führerprinzip
Terror
Modell der NS-Zeit
Raul Hilberg: Der Regionalapparat
Osterather Zeitung: Anzeigen Dr. Goldberg Osterath 5. April 1933 und 13. April 1935
H. G. Adler: Der verwaltete Mensch
Lothar Klouten: Das 25-Punkte-Programm der NSDAP
Foto: Charlie Chaplin. Der große Diktator
Stadtarchiv Düsseldorf: Führer-Globus
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34
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43
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58 – 64
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1935: Die Umlegung des jüdischen Friedhofs Osterath nach Krefeld als antisemitische Maßnahme
und die Kontroverse über die Rolle von Bürgermeister Hugo Recken bis heute
Schreiben von Bürgermeister Hugo Recken an den stellv. Ortsgruppenleiter Osterath
Osterather Zeitung 9. Februar 1935: Bekanntmachung von Bürgermeister Hugo Recken
vom 4. Februar 1935: »Errichtung von Eigenheimen«
65
65
Anhang
| 231
Kreisarchiv Neuss: Katasterkarte Osterath Hoterheide
Fotos: Am Gutort
Manfred Klaes: Lagepläne der Grabsteine auf zwei jüdischen Friedhöfen in Krefeld
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70
70
Die Deportation nach Riga im Dezember 1941:
Der organisierte Mord an der Mehrheit der von den Maßnahmen gegen Juden
betroffenen Menschen und die Rolle von Bürgermeister Hugo Recken
Landesarchiv Berlin:
Reichsleiter Deutscher Gemeindebund an Reichsinnenministerium, 28. Oktober 1941
71
Antwort des Reichsinnenministerium
72
Fotos:
Deportationen
75
Vermögensverfall
75
Zeitungsanzeige Arisierungsversteigerung
76
Arisierungsversteigerung
76
Schlachthof Düsseldorf-Derendorf
77
Lothar Klouten: Menschen jüdischen Glaubens in Osterath
80
Standesamt Meerbusch: Geburtsurkunde Dan Lucas
80
Stadtarchiv Meerbusch: Einwohnermeldekarte von Dan Lucas – »9. 12. 41 Osten Riga«
81
Bundesarchiv: Eintrag »Dan Lucas« im Gedenkbuch
86
Yad Vashem: Gedenkblätter für die von Nationalsozialisten ermordeten Menschen aus Osterath
82
Lothar Klouten: Karte des Deportationsweges
85
Lothar Klouten: Liste der Gemeinden, aus denen die am 11. Dezember 1941 nach Riga
verschleppten Menschen stammten
81
Rheinische Post 29. Oktober 2003: »Die Reise in den Tod begann im Schlachthof.
Auch die Polizei war am Holocaust beteiligt. Wie, das beleuchtet das Buch ›Himmlers grüne Helfer‹ «
79
Karten: Ghetto Riga sowie Orte in und um Riga
85 – 86
Sabine und Julius Gutmann:
Die beiden einzigen Überlebenden, der aus Osterath deportierten Menschen –
Bürgermeister Hugo Recken: »Es wird um Abschiebung des Juden gebeten.«
Stadtarchiv Meerbusch – Sabine und Julius Gutmann:
Führungszeugnis Julius Gutmann 26. November 1935
Einwohnermeldekarte Julius Gutmann
Ergänzungsbogen Julius Gutmann
Sippentafel Julius Gutmann
Schreiben von Julius Gutmann an das Reichs- und Preußische Ministerium des Innern,
dort eingegangen am 6. Januar 1936
Stellungnahmen zum Schreiben von Julius Gutmann:
NSDAP Kreisleitung Viersen Amt für Volksgesundheit und N.S.D. Ärztebund 8. Juni 1936
dito Gauamtsleiter Schulze 17. Juni 1936
dito Gauleiter-Stellvertreter 22. Juni 1936 – mit Eingangsstempel
der Bezirksregierung Düsseldorf, 25. Juni 1936
Landesarchiv NRW:
Gestapo-Außendienststelle Krefeld 1942
Hugo Recken an Gestapo-Leitstelle Düsseldorf, 23. Juli 1942
ITS Arolsen:
Blatt aus der Deportationsliste – Sabine und Julius Gutmann
Karteikarte Theresienstadt Sabine Gutmann und Julius Gutmann
Zimmerliste Ghetto Theresienstadt 29. April 1945 – Sabine und Julius Gutmann
Familie Cervelli:
»Halbjuden« und ihre »arischen« Familien trifft das »Recht« und Bürgermeister Hugo Recken
– fast – gleichermaßen wie »Volljuden«
Landesarchiv NRW: (gefälschte) eidesstattliche Erklärung, 12. Juli 1949
Helmut Cervelli: Zeugnis mit Unterschrift von Paul Cervelli
Schreiben von Helmut Cervelli, 20. Juni 2012, und Abschrift
232
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110
Familie Dr. Langenbach:
Die von Hugo Recken in seinem Entnazifizierungsverfahren
missbrauchten »Entschuldigungsjuden«
Osterather Zeitung 27. Juni 1936: Anzeige Dr. Langenbach
ITS Arolsen: Verkartung einer Anfrage – Lucie Langenbach
Christoph Behlen: Gedenktafel auf dem Osterather Friedhof
für die Opfer des Nationalsozialismus
Manfred Klaes: Langenbach/Heilbronn
Geschichtswissenschaftliche Bewertung
Kölnischer Kurier, 2. April 1945, 12. Mai 1945 und 3. Juli 1945
1945. Die zweite Intrige gegen den vom US-amerikanischen Ortskommandanten
eingesetzten Bürgermeister Rudolf Bartels, diesmal über die dazu instrumentalisierte
britische Militärregierung – wie Hugo Recken abermals Rudolf Bartels ablöste und
das kurze Intermezzo des kommissarischen Bürgermeisters Anton Wienands, KPD
Kölnischer Kurier, 3. Juli 1945, 12. Juli 1945, 2. April 1945 und 12. Juli 1945
Lothar Klouten: ABC des Deutschen Beamtengesetzes
Bundesarchiv Berlin:
NSDAP-Aufnahmeantrag Paul Salitter
NSDAP-Zentralkartei. Johannes Herbrandt
NSDAP-Gaukartei. Johannes Herbrandt
Organisationshandbuch der NSDAP 1937: Block und Zellensystem der NSDAP
Lothar Klouten: Foto Blockleiter und Foto SA-Sturmhauptführer
Linzer Tagesblatt, 28. Oktober 1939: Aus dem Tagewerk des Blockwalters.
Kreisarchiv Viersen: Protokoll der Hilfspolizei Osterath
über die Vernehmung der Maria Hoters, 30. November 1945
Kreisarchiv Viersen: Schreiben des kommissarischen Bürgermeisters Osterath Anton Wienands
an den britischen Kommandanten des Kreise Kempen-Krefeld, 21. Januar 1946
»Kameraden der Frontbetreuung.«
1945 – 1949: Die Entnazifizierung von Hugo Recken und Johannes Herbrandt –
als seien 1945 nach der Befreiung zwei neue Menschen geboren worden
sowie deren geschichtswissenschaftliche Bewertung
Kreisarchiv Viersen: Verordnung der Militärregierung zur Entnazifizierung
Landesarchiv NRW: Hugo Recken. Angaben zur politischen Überprüfung, 16. April 1949
Stadtarchiv Krefeld: Vereidigungs-Nachweis auf Adolf Hitler von Joseph Hövelmann, 1934
Landesarchiv NRW: Entnazifizierungsausschuss Kempen-Krefeld, 3. Juli 1947
Lothar Klouten: Strukturierte Gedanken zur Osterather-Meerbuscher-Gesellschaft und -Kultur
Bundesarchiv: NSDAP-Karteikarte Rudolf Lensing
NSDAP-Parteibuch
111
112
113
114
116
117 – 120
123 – 125
122
126
126
127
129
130
134
136
140
150
153 – 154
156
159
161 – 163
163
164
1953: Der Tod von Hugo Recken und die Straßenbenennung nach ihm. Apologie der Kontinuität seit 1934
Stadtarchiv Meerbusch: Todesanzeige Hugo Recken, 3. August 1953
165
Titelseite: »Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus«
175
Titelseite: »Newsletter Society of Survivors of the Riga Ghetto«, Sommer 2012
176
Eine geschichtswissenschaftliche Gesamtbewertung: Dem Gedenken eine Chance
Süddeutsche Juristenzeitung 1946: Gustav Raderbruch.
Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht
Landesarchiv NRW: Kaufvertrag Grabsteine jüdischer Friedhöfe Krefeld, 5. Juni 1944
Einführung in die Dokumente
Geschichte am Jürgensplatz: Foto Paul Salitter
188 – 189
190
191
Anhang
Schreiben von Adolf Hitler, 29. November 1921
260 – 262
Umschlagseite 3
Titelseite der Osterather Zeitung 28. März 1936
266
Anhang
| 233
Erklärung von Abkürzungen und Begriffen
BA
Bundesarchiv
DAF
Die Deutsche Arbeitsfront war die NS-Arbeitnehmerorganisation für alle Beschäftigten.
DBG
Deutsches Beamtengesetz
DGO
Deutsche Gemeindeordnung
Gestapo
Die Geheime Staatspolizei war das von den Nationalsozialisten als Partei okkupierte staatliche
Organ, dass die Aufgabe hatte, mit Überwachung,
Repression, Terror und Mord die NS-Herrschaft
zu stabilisieren und auszubauen. Schein-legal
legitimiert.
HStA
Hauptstaatsarchiv
ITS
International Tracing Service des Roten Kreuzes
in Bad Arolsen
JVA
Der Begriff Justizvollzugsanstalt ist ein relativ
moderner Begriff. Bevor er eingeführt wurde, gab
es die Differenzierung Gefängnis und Zuchthaus.
KA
Kreisausschuss Kempen-Krefeld
KK
Kempen-Krefeld. Osterath und Lank gehörten bis
1970 zum Kreis Kempen-Krefeld. Kreisstadt war
Kempen.
234
| Anhang
KPD
Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde
1918 von ehemaligen Sozialdemokraten gegründet.
KZ
Konzentrationslager
NRW
Das Land Nordrhein-Westfalen wurde 1945 / 46
auf Bestreben der britischen Besatzungsmacht
gegründet.
NS / NSDAP
Die 1919 / 20 vom Österreicher Adolf Hitler in
München gegründete Nationalsozialistische
deutsche Arbeiterpartei vertrat die Ideologie des
Nationalsozialismus.
RDB
Reichsbund Deutsche Beamte
RM
Die Reichsmark war die deutsche Währung bis
nach1945.
SA / SS
Die Stabsabteilung und die Schutzstaffel waren
Organisationen der NSDAP, die bis zur Machtübertragung 1933 die Rolle als terroristische
Bürgerkriegstruppen der NSDAP hatten. Dann –
insbesondere die SS – staatliche polizei- und militärische Aufgaben okkupierten. Terroristen an der
Macht im Verein mit Bürokratien und Bürokraten
aller Ebenen.
StA
Stadtarchiv
YVA
Yad Vashem Archives
Quellen
A. Zeitungen
Osterather Zeitung
Original in der ehemaligen Druckerei Hamacher in Osterath, Ingerweg 2.
Mikrofilm im Stadtarchiv Meerbusch
Eine Reihe von Ausgaben als Mikrofilme: Institut für Zeitungsforschung, Dortmund
Im Buch
26. 09. 1929
04. 03. 1933
04. 03. 1933
15. 03. 1933
18. 03. 1933
25. 03. 1933
27. 03. 1933
05. 04. 1933
15. 04. 1933
03. 05. 1933
05. 05. 1933
31. 05. 1933
01. 07. 1933
21. 10. 1933
31. 10. 1933
18. 11. 1933
24. 11. 1933
24. 02. 1934
09. 07. 1934
29. 09. 1934
04. 02. 1935
23. 03. 1935
23. 04. 1935
18. 05. 1935
18. 05. 1935
28. 03. 1936
26. 06. 1936
Erstausgabe: Programmatische Erklärung des Herausgebers Karl Hubert Meyer
Wahlvorschläge für die Gemeinderatswahl am 14. März 1933
Anstelle des Schlossers Anton Wienands …
Feststellung der Ergebnisse der Gemeinderatswahl in Osterath
Evangl. Gemeinde
Kirchliche Gründungsfeierlichkeiten der kath. Jungschar und Sturmschar
Kirchliche Gründung einer Jungschar und Sturmschar
Anzeige Dr. Goldberg I
Untersuchungsausschuss
Fest der nationalen Arbeit
Das Fest der nationalen Arbeit
Schlageter-Feier in Düsseldorf
Bericht über die Gemeinderatssitzung
Gemeinderatssitzung
Amtliche Bekanntmachung
Volkstrauertag
Kaplan Hilmer jetzt zum Kaplan an St. Fronleichnam …
Amtlicher Aufruf von Bürgermeister Hugo Recken zum Flaggen
Zum kommissarischen Ortsgruppenleiter der NSDAP …
Ortsgruppenleiter Panzer wieder in sein Amt eingeführt
Amtliche Bekanntmachung von Bürgermeister Hugo Recken: Errichtung von Eigenheimen
Zur Amtsbestätigung von Bürgermeister Hugo Recken
Anzeige Dr. Goldberg II
Gemeinderatssitzung
Ausgrabungen auf dem jüdischen Friedhof
Titelseite: großes Propaganda-Foto Adolf Hitler und quasi-religiöser Text
Anzeige Dr. Langenbach
weitere Artikel
29. 03. 1933 Die Hetzkampagne in Ausland. Eine Unterredung mit dem Reichaußenminister –
Abwehrmaßnahmen aus dem Volk
01. 04. 1933 Anordnungen des Zentralkommandos. Die Durchführung des Boykotts gegen
die jüdischen Geschäfte
01. 04. 1933 Sonnabend Schlag 10 Uhr. Der nationale Abwehrkampf beginnt
22. 04. 1933 Die Ehrung für Reichskanzler Hitler in Osterath
17. 05. 1933 Schilder zur Bezeichnung deutscher Geschäfte
25. 05. 1933 Versammlung der NSBO
29. 05. 1933 Wehrsport im O. T. V. 93
23. 08. 1933 Fahnenweihe der NSBO Ortsgruppe Osterath
14. 10. 1933 Zweiter Sturm der SA in Osterath
28. 10. 1933 Die erste Wahlversammlung
04. 11. 1933 Wahlversammlung
18. 11. 1933 Hitlerjugend Winterhilfswerk
20. 01. 1934 Reichsluftschutz
27. 01. 1934 Warum Luftschutz
10. 03. 1934 Werde Mitglied des Reichsluftschutzes Ortsgruppe Osterath.
Zelleneinteilung des Reichsluftschutzbundes Ortgruppe Osterath
Anhang
| 235
30. 04. 1934
03. 11. 1934
03. 11. 1934
20. 03. 1935
07. 11. 1935
10. 05. 1936
Zehn Gebote für die Ehefrau
Gemeinschaftsübung der freiw. Feuerwehr und Sanitätskolonne vom Roten Kreuz Osterath
Nörgler und Miesmacher
Osteraths Jugend marschiert
Luftschutzschule
Ein Appell der Landesgruppe Rheinland an die Bevölkerung
Rheinische Post
07. 08. 1953 Hugo Reckens letzes Geleit
25. 11. 1978 Renate Wikles-Valkaiser. Sabine Gutmann überlebte drei Jahre KZ.
»Viele von uns starben in der ersten Nacht.«
05. 02. 1988 Katholische Volkswacht in Osterath gedruckt
29. 10. 2003 »Die Reise in den Tod …«
12. 03. 2012 Zum UWG-Pressegespräch am 09. 03. 2012
16. 03. 2012 Dr. Anselm Faust urteilt über Hugo Recken
17. 03. 2012 Wer weiß etwas über Hugo Recken?
21. 03. 2012 Zur Pressemitteilung der Stadt Meerbusch: Ältestenrat
24. 03. 2012 »Versachlichen«: Gemeinsam
Westdeutsche Zeitung
07. 08. 1953 Ein würdiges Geleit
09. 09. 2012 Zum UWG-Pressegespräch am 09. 09. 2012
21. 03. 2012 Zur Presseerklärung der Stadt Meerbusch; Ältestenratssitzung
24. 03. 2012 »Versachlichen«: Gemeinsam
Extra-Tip am Sonntag Meerbusch
01. 04. 2012 Zur Presseerklärung der Stadt Meerbusch: Ältestenratssitzung
Osterather Local-Blatt
23. 09. 1933 Der Koks-Prozess
Niederrheinische Volkszeitung
07. 03. 1933 Arbeitslose in Lank und Osterath
Generalanzeiger Dortmund
11. 06. 1933 Nur Schulden machte er
Rheinische Landeszeitung Volksparole
13. 11. 1938 Großkundgebung der NSDAP-Ortsgruppe Osterath
B. Zeitzeugeninterviews
Frau Cervelli, 8. Mai 1984
Frau Brassel, 30. März 2012
Herr Cervelli, 29. Mai 2012
C. Web-Ressourcen
Yad Vashem database
www.nizkor.org Umfassende Dokumentation des Eichmann-Prozesses, u. a. Verhandlungsteil zum
Salitter-Bericht
www.riga-kommitee.de
www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
http://steinheim.institut.de jüdischer Friedhof Krefeld
www1.jur.uav.nl Justiz und NS-Verbrechen: Urteilssammlung
Ingrid Schupetta. Der Salitter-Bericht und sein Verfasser Paul Salitter
Ingrid Schupetta. Die Geheime Staatspolizei in Krefeld. Von Polizisten und Schreibtischtätern
Ingrid Schupetta. Riga: Massenmord und Arbeitseinsatz
236
| Anhang
Detlef Schmiechen-Ackermann. Der ›Blockwart‹. Die unteren Parteifunktionäre im nationalsozialistischen
Terror- und Überwachungsapparat.
Christina Strick. Jenseits der Routine? Die Bezirksregierung Düsseldorf 1935 – 1955
Ludwig Mises. Die Bürokratie.
www.geschichte-am-juergensplatz.de u. a. Informationen zu Paul Salitter
»Denkmalgalerie in Meerbusch« des Ortskuratoriums Meerbusch der Deutschen Stiftung Denkmalschutz
Kirche-Kultur in Meerbusch
www.tobien.de Osterath: Die jüdische Vergangenheit wachrufen
Google-Fotosuche: »Am Gutort«
www.verfassungen.de
www.buergerstimme.com Eine Reihe von Artikeln von Lothar Klouten, siehe Literatur.
D. Archive
Pfarrarchiv Osterath
Chronik der Pfarrei (unveröffentlicht)
Pfarrer Hövelmann. Chronik der Pfarrgemeinde St. Nikolaus Osterath 1938 – 1954. Meerbusch o. J. (unveröffentlicht)
K 16/157 Reueprotokoll des Johann Mathias Münks vom 17. November 1945
Standesamt Meerbusch
Geburtsurkunde Dan Lucas
Stadtarchiv Meerbusch, Bestand Osterath
1500 Entnazifizierung
1501 Entnazifizierung
717 Prokokollbuch Gemeinderat 1929 – 1934
1622 Protokollbuch Gemeinderat 1934 – 1936
1623 Protokollbuch Gemeinderat 1936 – 1952
1624 Protokollbuch Gemeinderat 1952 – 1956
1684 Hauptamtliche Bürgermeister, Hauptgemeinde- und Wahlbeamte und ihre Besoldung 1931 – 1969
1693 Personalakten der Beamten, Dauerangestellten und Hinterbliebenen, Buchstabe R. 1934 – 1973
1696 Personalakten der Beamten, Dauerangestellten und Hinterbliebenen, Buchstabe B. 1933 – 1977
III1997 Judenangelegenheiten, Aufhebung des jüdischen Friedhofes, Wiedergutmachung 1913 – 1964: Polizeiakte, u. a. bürokratische Diskriminierungsakte von Bürgermeister Recken gegen »Juden« und »Mischehen« – P15 der Signatur von Johannes Herbrandt
Einwohnermeldekartei Osterath bis 1945:
Dan Lucas
Schiefelberg
Sammlung / Nachlass Herbrandt
Anmerkung:
Die staatsformunabhängige bürokratische Kontinuität dokumentiert sich in den Aktenführungszeiten, z. B.
»1913 – 1964« – über den Zeitraum von fünf wechselnden Staatsformen.
Verzeichnis der zitierten Primärquellen aus dem Stadtarchiv Meerbusch
III 1997
Bürgermeister Hugo Recken am 23. 08. 1936 an Dr. Goldberg
Aufstellung der Gemeinde Osterath vom September 1935 zur »Rassezugehörigkeit der die öffentlichen und
privaten Volksschulen besuchenden reichsdeutschen Kinder«
Bürgermeister Hugo Recken 10. 12. 1934 an den stellv. Ortsgruppenleiter Schwengers
Handschriftliche Notiz: 18 Namen mit Daten zu Beerdigungen auf dem jüdischen Friedhof
»Der Bürgermeister als Ortspolizeibehörde« 26. 11. 1935 Führungszeugnis für Julius Gutmann
Einwohnermeldekarteikarte Julius Gutmann
Ergänzungsbögen Julius Gutmann
Schreiben Julius Gutmann 06. 01. 1936 (Eingang) an das Reichs- und preußische Ministerium des Innern
NSDAP-Kreisleitung Kempen-Krefeld 08. 06. 1936 Stellungnahme
Anhang
| 237
NSDAP-Gauleitung Düsseldorf 22. 06. 1936 mit Eingangsstempel der Bezirksregierung Düsseldorf
25. 06. 1936
Bürgermeister Hugo Recken 23. 12. 1936 an Dr. Langenbach
Handschriftliches Schreiben Lucie Langenbach 23. 01. 1939 an die Gemeindeverwaltung Osterath
Regierungspräsident Düsseldorf 24. 08. 1945 »Jüdische Friedhöfe«
Oberpräsident der Rheinprovinz 29. 06. 1946 »Instandhaltung jüdischer Friedhöfe« – Recken: »Fehlanzeige«
Gemeindedirektor Hugo Recken 22. 07. 1952 an Kreisverwaltung Kempen-Krefeld zu Paul Cervelli,
Stadtarchiv Meerbusch Bestand Osterath 1500:
Bürgermeister Rudolf Bartels 24. 08. 1945 Auflistung »Personen nach Gesetz No. 52«
sowie Nachweisung vom 01. 11. 1945 – Hugo Recken
Protokollbuch der Gemeinde Osterath 19. 02. 1946
Protokollbuch der Gemeinde Osterath 03. 08. 1953
Nachlass Herbrandt:
Traueranzeige für Hugo Recken 03. 08. 1953
Johannes Herbrandt. Orts- und Kriegschronik der Gemeinde Osterath
Stadtarchiv Krefeld
Personalakte Joseph Hövelmann
Sammlung Billstein
Zeitungsarchiv
Stadtarchiv Viersen
Protokollbuch der Stadt Viersen 3. Januar 1946. Rede von Ortskommandant Sewell
Stadtarchiv Düsseldorf
Nachlass Ebel: Gauamt für Kommunalpolitik
Institut für Stadtgeschichte Frankfurt
Vereine 11 Nr. 11, 16, 17, 18, 24, 27
Kreisarchiv Viersen
KK
875 und 1021 Personalakten Rudolf Bartels
1022 Gemeindefinanzen Osterath, Besoldung Bürgermeister etc.
1023 Personalunterlagen Hugo Recken
16420 Personalunterlagen Johannes Herbrandt
1795 Anordnungen der Militärregierung (Januar bis August 1946)
1960 Entnazifizierungskartei
8075 Entschädigungsakte Paul Cervelli
12066 Entschädigungsakte Lucie Langenbach
7854, 7855, 11934, 11935, 12844 Entschädigungsakten Sabine und Julius Gutmann
Bestand Gemeinde Kempen
61 Ernst Herbrandt
90 Gustav van Beek
KA – Bestand Kreisausschuss
Schreiben Bürgermeister Hugo Recken
Arthur Winter. Über das Schicksal der Kempener Juden, die im Dezember 1941 deportiert wurden.
Schweden 1945. Erstellt nach Aussagen von Heinz Samuel, Hüls.
Verzeichnis der zitierten Primärquellen aus dem Kreisarchiv Viersen
KK 875
Bl. 79, 80, 107, 127, 128, 129, 130, 135, 136, 137, 148, 149, 152, 154
238
| Anhang
KK 1021
Bl. 154, mehrer Zitate aus Schreiben
KK 1022
Bl. 142, 164, 190, 191, 201, 310
KK 1023
Bl. 163, 182, 185, 188, mehrere Zitate aus Schreiben
KK 1034, 7055, 16420
KA mehrere Zitate aus Schreiben
Kreisarchiv Neuss
Kölnischer Kurier 1945
Katasterkarten Osterath
Landesarchiv Berlin
RR. 142 / 7, 1-2-6 / Nr. 1
Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen Berlin
Vermögensakten von aus Osterath deportierten Menschen jüdischen Glaubens
Yad Vashem Jerusalem
File O.3/7337 Testemony of Hilde Sherman
File TR.10/1414 German Trial: Gerhard Maiwald and others
Wiener Library London
Salitter-Bericht
International Tracing Services Arolsen
Deportationsliste 11. Dezember 1941 ab Düsseldorf-Derendorf nach Riga
Anfragenverkartung Lucie Langenbach
Transportlisten evakuierter Juden: Sabine und Julius Gutmann
Karteikarten Ghetto Theresienstadt Sabine und Julius Gutmann
Zimmerliste Ghetto Theresienstadt: Sabine und Julius Gutmann
Landesarchiv NRW in Düsseldorf. LAV NRW R,
Rep. 8 Nr. 161 und 162 Prozessverfahrensakten zu Rudolf Bartels
Findbücher 223.19.1-6 Rückerstattungsverfahren Landgericht Krefeld: Diverse Berechtige und Verpflichtete
Osterath
Rep. 198 Nr. 683 Prozessverfahrensakte Julius Gutmann Wiedergutmachung
Rep. 198 Nr. 68, 276, 456, 485, 488, 623, 624, 659, 682, 695, 696, 697, 698, 699, 1007, 1137, 1143, 1173, 1210,
1211, 1451, 1452, 1490, 1573, 1726, 1878, 2114, 2125, 2906, 2945
Rep. 200 Landgericht Düsseldorf
Nr. 3688 Berta Gutmann
Nr. 3786 Bernhard Abrahams
Nr. 3788 Selma Königsthal
Nr. 3844 Selma und Gustav Kiefer
Rep. 298 Nr. 195 Prozessverfahrensakte Rudolf Bartels
BR 0007 Nr. 32365 Personalakte Rudolf Bartels
Nr. 47425 Personalakte Hugo Recken
Br 0325 Nr. 1-23 Finanzamt Krefeld 1933 – 1945
BR 1411 Akten zu jüdischen Friedhöfen in der unmittelbaren Nachkriegszeit
BR 2080 Nr. 675 Wiedergutmachungsakte Sabine Gutmann
BR 2182 Nr. 14581 Wiedergutmachungsakte Lucie Langenbach
NW 1008 Entnazifizierungsbestände mit Bezügen zu Osterath
1012
1034
1037
1129
Anhang
| 239
NW 1008-KPG-01196 Entnazifizierungsakte Pfarrer Joseph Hövelmann
NW 1023 Nr. 05278 Entnazifizierungsakte Johannes Herbrandt
NW 1034 Nr. 4803 Entnazifizierung Hugo Recken
NW 1037 BI-15313 Entnazifizierung Hugo Recken
NW 1037 BI-16645 Entnazifizierung Johannes Herbrandt
RW 58
9277 und 34996 Julius Gutmann
42306 Sabine Gutmann
4069 Eberhard Langenbach
7153 und 19113 Josef Karl Lenssen
25749 und D.33054 Karl Hubert Meyer
11776 Anton Wienands
43618 12 Bürger Osteraths: 1938 Hissen schwarz-weiße Kirchenfahne
31328 Kaplan Josef Conrads
RW 0114 Nr. 494 Gesetz 1938: zusätzlicher Vornamen. Liste aller Betroffener im Rheinland
Bundesarchiv Berlin
Bundesarchiv-Verfolgten-Kartei von Gestapo-Verfolgten
NSDAP-Mitgliederkarteikarten
Hugo Recken. Gaukartei
Johannes Herbrandt. Zentralkartei und Gaukartei
Rudolf Lensing
Walter Panzer
Hans Neuges
Maria Eikers
Josef Wienands
Heinz Legermann
Max Legermann
sowie diverse weitere Osterather
Paul Salitter. Zentralkartei NSDAP
Antrag auf Aufnahme in die NSDAP Paul Salitter
SS-Führerkarteikarte Paul Salitter
Hauptamt Ordnungspolizei R 19/1147 Paul Salitter
NS 1 Reichsschatzmeister der NSDAP
NS 22 Reichsorganisationsleiter der NSDAP
NS 25 Hauptamt für Kommunalpolitik / Deutscher Gemeindetag
NS 40 Hauptamt für Beamte / Reichsbund der Deutschen Beamten
NSDP-Parteiarchiv
Bundesarchiv Ludwigsburg
Sowjetische Riga-Ermittlungen
Israelische Riga-Ermittlungen
240
| Anhang
Literatur
Uwe Adam. Judenpolitik im Dritten Reich. Düsseldorf 1972.
H. G. Adler. Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland. Tübingen 1974.
H. G. Adler. Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Göttingen 2005.
Theodor W. Adorno. Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? (1959). In: ders. Gesammelte Schriften.
Bd.10.2. Frankfurt a. M. 1977, S. 55 – 572. Web-Ressource.
Theodor W. Adorno. Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 1971. darin: Erziehung nach Auschwitz.
Robert Alexy. Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M. 1995.
Götz Aly. »Endlösung«. Frankfurt a. M. 1995.
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Anhang
| 257
Danke!
Frau Dr. Aust. Osterath
Frau Dr. Künzel. Staatsarchiv NRW Düsseldorf
Frau Bach. Bundesamt für zentrale Dienste und
offene Vermögensfragen Berlin
Frau Küsters. PrePressPro Krefeld
Herr Lilla. Stadtarchiv Krefeld
Frau Brassel. Zeitzeugin aus Osterath,
die sich bei mir meldete
Frau Lücke. Institut für Zeitungsforschung
Dortmund
Herr Braisz. ITS Arolsen
Frau Dr. Brockhoff. Institut für Stadtgeschichte
Frankfurt
Herr Mohammed. Seine irakische Freundlichkeit
in seinem Internetcafe war wichtig.
Frau Dr. Mykayton. Yad Vashem Jerusalem
Herr Cervelli. Danke für die Informationen.
Frau Meyer-Rogmann. Kreisarchiv Viersen
Herr Claes. Büdericher, der mir seine im Eigenverlag erschienenen Veröffentlichungen gab.
Frau Mörtl. Institut für Zeitgeschichte München
und Berlin
Herr Derrick. National Archives UK London
Frau Nemcova. Theresienstadt-Gedenkstätte
Herr Dönecke. Polizeihauptkommissar Düsseldorf,
Geschichte am Jürgensplatz
Dr. Augusta Niederauer. Meine Frau, die mich
mit allen ihren Möglichkeiten unterstützt.
Frau Dr. Dumschat. Bundesarchiv Berlin
Herr Oermann. Vorsteher Finanzamt Krefeld
Herr Dr. Faust. Ehemaliger Archivdirektor
Landesarchiv NRW Düsseldorf
Herr Perkuhn. Stadtarchiv Düsseldorf
Herr Ferrero. Yad Vashem Jerusalem
Herr Pinkert. Standesamt Meerbusch
Frau Gerats. Direktorin Amtsgericht Neuss
Herr Querl. Villa ten Hompel Münster
Frau Gerke. Stasi-Unterlagenbehörde Berlin
Herr Dr. Rehm. Kreisarchiv Viersen
Herr Grohe. Bundesarchiv Ludwigsburg
Frau Schischke. Ehemalige Druckerei Hamacher
Osterath
Herr Gutmann. Sohn von Kurt Gutmann Berlin
Herr Dr. Schröder. Kreisarchiv Neuss
Frau Häusler. Zentralbibliothek Zürich
Frau Haubold. Deutsche Nationalbibliothek
Frankfurt a. M.
Frau Heidschmidt. Archivinform Berlin
Frau Schulte. trio-design+ Krefeld
Frau Dr. Schupetta. Villa Merländer Krefeld
Herr Staudinger-Napp. Fraktionsvorsitzender
der UWG Meerbusch
Herr Klemt. Pfarrarchiv Osterath
Frau Waldmann. Memminger MedienCentrum
Anhang
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Schreiben von Adolf Hitler, 29. November 1921 , Seite 1
260
| Anhang
Schreiben von Adolf Hitler, 29. November 1921 , Seite 2
Anhang
| 261
Schreiben von Adolf Hitler, 29. November 1921 , Seite 3
262
| Anhang
Paranoia, die
Geistesstörung, die durch ein System von Wahnideen und die Projektion persönlicher Konlikte
gekennzeichnet ist, die der angeblichen Feindseligkeit anderer angelastet werden; chronische
funktionale Psychose mit schleichendem Verlauf,
charakterisiert durch beharrliche, unerschütterliche, logische konsistente Selbsttäuschungen, die
für gewöhnlich Größen- und Verfolgungswahn
betrefen
Paranoiker, der
Eine durch Paranoia leidende Person
Paranoid, adj.
Durch übertriebenes Misstrauen, Größen- und
Verfolgungswahn charakterisiert.
Übersetzt aus:
Webster New Universal Unabridge Dictionary
Erich Fromm beschreibt in »Authentisch leben«
(Freiburg 2009. 6, S. 89 – 98) ein reales GedankenExperiment zu »ich fühle« – »ich denke« – »ich
will«, das als Analogie auf die i ktive Stunde Null in
Deutschland 1945 verstehbar ist:
Eine Versuchsperson wird von einem Hypnotiseur in Hypnose internalisiert, nach dem Erwachen aus einem selbst mitgebrachten Manuskript
vorlesen zu wollen, das nicht existiert. Weiter soll
die Versuchsperson dann annehmen, eine ihr
vorher unbekannte Person habe das Manuskript
gestohlen und in Folge dessen auf diese Person
wütend werden.
Nach dem Erwachen der Versuchsperson ist der
Ablauf wie programmiert. Dabei bringt die Versuchsperson Gründe vor, die dem Diebstahl durch
die weitere Person plausibel machen sollen. Die
Versuchsperson formuliert also Rationalisierungen,
von denen sie subjektiv überzeugt ist.
Nun kommt eine unbeteiligte über den Ablauf
nicht informierte Person in das Zimmer. Diese Person wird nicht anzweifeln, dass die Versuchsperson
das sagt, was sie denkt und fühlt. Und diese Person
wird sich fragen: Sind die Anschuldigungen richtig
oder nicht? Stimmen die Gedanken der Versuchs-
person mit der Realität überein oder nicht? Diese
Person wird sich Gedanken machen, dabei eventuell zum Ergebnis kommen, nicht entscheiden zu
können, was richtig oder falsch ist.
»Was beweist die hypnotische und vor allem
das posthypnotische Experiment? Es beweist, dass
wir Gedanken, Gefühle, Wünsche ja sogar Sinnesempindungen haben können, die wir subjektiv als
die unseren empinden, obwohl sie uns von außen
suggeriert wurden und uns daher im Grunde fremd
sind, und nicht das, was wir wirklich denken, fühlen und so weiter.« (S. 91)
»Das Pseudo-Denken kann auch völlig logisch
und rational sein.« (S. 96)
»Ihre Irrationalität liegt dann darin, dass sie
nicht das wirkliche Motiv für die Handlung darstellt, deren Ursache sie angeblich war.« (S. 97)
»Es lässt sich daher nicht feststellen, ob wir es
mit einer Rationalisierung zu tun haben, wenn wir
lediglich untersuchen, ob eine Behauptung logisch
ist; wir müssen auch die psychologischen Motivationen mit berücksichtigen, die in einem Menschen
am Werk sind. Das Entscheidende ist nicht, was der
Betrefende denkt, sondern wie er denkt.« (S. 97)
»Den Rationalisierungen fehlt ihrem ganzen
Wesen nach dieses Entdecken und Enthüllen; sie
bestätigen lediglich unsere emotionalen Vorurteile.
Die Rationalisierungen sind kein geeignetes Mittel,
zur Wirklichkeit vorzustoßen, sondern nur post
factum der Versuch, die eigenen Wünsche mit der
vorhandenen Wirklichkeit in Einklang zu bringen.«
(S. 98)
Dies ist als Analogie auf den gelebten hitlerschen nationalsozialistischen eliminatorischen Antisemitismus und seine Verdrängung nach 1945 zu
verstehen.
»Jede Woche ist eine Versammlung ... Jedes mal
sagt Hitler so ziemlich dasselbe ... Jedes mal hat er
aber neue Bilder, neue Witze und neue Schimpfworte gegen Berlin und gegen die Juden. Und doch
setzten sich die einfachen Gedanken binnen drei
Versammlungen so tief in den Köpfen fest, dass
der Hörer schon beim vierten Mal schon meint,
der Redner sage nur dasselbe, was er selbst seit
jeher gedacht hat.«
Konrad Heiden. Hitler. Band 1. Zürich 1936. S. 141.
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