Die Stiftsbibliothek St. Gallen (Schweiz) verwahrt eine einzigartige Architekturzeichnung, die in der kulturhistorischen Forschung unter der Bezeichnung St. Galler Klosterplan bekannt ist (Codex Sangallensis 1092). Konkret ist auf eine 112 x 77 cm große, aus fünf Teilen zusammengesetzte Pergamentfläche in roten Linien der Grundriss von ca. 52 Klostergebäuden gemalt und mit zahlreichen Inschriften versehen.
Das Interesse an diesem Manuskript ist nicht nur in Fachkreisen enorm, viele Wissbegierige – Touristen ebenso wie Schüler und Studierende – sind von diesem einzigartigen, wenn auch rätselhaften Zeugnis frühmittelalterlicher Vorstellungen seit Jahrhunderten, als der Klosterplan durch seine bildliche Veröffentlichung Einzug in die wissenschaftliche Forschung erfuhr, fasziniert. Im Jahr 1704 publizierte man den Klosterplan in Form eines Kupferstiches, allerdings in verkleinertem Format (30 x 43,5 cm). 1844 legte Ferdinand Keller eine verbesserte Wiedergabe in Form einer Lithographie vor – aus technischen Gründen allerdings noch nicht ganz in Originalgröße. Diese Reproduktion blieb für die nächsten hundert Jahre Grundlage aller weiteren wissenschaftlichen Erörterungen. Erst 1952 gelang es, das erste Faksimile, also einen originalgroßen achtfarbigen Offsetdruck, des Klosterplanes herzustellen. Diesem folgte 1998 eine Neuauflage. Der Fortschritt in den digitalen und webbasierenden Technologien ermöglichte es zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das großformatige Manuskript zu digitalisieren und die hochauflösenden Aufnahmen in das Internet zu stellen. Damit wurde der großen Weltöffentlichkeit ein noch bequemerer Zugang zu der frühmittelalterlichen Zeichnung ermöglicht.
Schon allein in diesem Kontext ist es sehr mutig, aber letztendlich von einem unschätzbaren Wert, dass der ehemalige Stiftsbibliothekar von St. Gallen, Ernst Tremp, im Zeitalter der digitalen Welten den Versuch wagte, ein klassisches Faksimile des Klosterplanes zu produzieren und mit einem Begleittext zu kommentieren. Es sei gleich vorweggenommen, dass dieses Vorhaben überzeugt und voll und ganz gelungen ist. Nicht nur aufgrund der Vorteile, die ein physikalisches Dokument gegenüber seinem digitalen Pendant bringt, wie zum Beispiel seine realen Größenverhältnisse zu dokumentieren, ist auch die photographische und drucktechnische Qualität von hohem Standard. Das Faksimile kommt mit seiner farblichen Wiedergabe, aber auch durch das verwendete matte Papier dem Original näher als bisherige Faksimileanfertigungen des Klosterplans. Die Materialität des Pergaments, seine Benutzungs- und Gebrauchsspuren wie Knicke, Kratzer, Schmutz sowie die Überlappungen der Pergamentstreifen und Faltlinien sind überdeutlich wahrnehmbar. Man erkennt Reste der Pergamentbearbeitung mit Bimsstein und Schabeisen (z.B. im Kreuzgang), aber auch die feinlinigen Inschriften der sehr verblassten grauen Tinte (z.B. im Pferdestall).
In dem Begleitheft fasst Ernst Tremp kompetent und mit aller gebotenen Vorsicht die bisherigen Erkenntnisse zum Klosterplan zusammen. Der erste Teil gliedert sich nach der Geschichte des Plans – also von seiner vermeintlichen Konzeption und Anfertigung im Kloster Reichenau, seiner Übergabe an die St. Galler Klostergemeinschaft, seiner Aufbewahrung und Benutzung in der Bibliothek und schließlich dem Einsetzen der wissenschaftlichen Forschung im 17. Jahrhundert bis zu den jüngsten Unternehmungen, wie der Errichtung eines 1:1-Modells im schwäbischen Messkirch.
So ist bekannt, dass die Reichenauer Mönchsgemeinschaft für die Konzeption des Klosterplanes verantwortlich war. Der Gelehrte und Bibliothekar des Reichenauer Klosters, Reginbert, dürfte einen Teil der Beschriftungen durchgeführt haben, wenn er nicht sogar der führende Kopf des Unternehmens war. Daneben findet sich noch die Schrift eines zweiten Schreibers, der in karolingischen Minuskeln seine Texte verfasste. Die Widmung am oberen Rand verrät, dass ein gewisser Gozbert der Planempfänger sei. Damit ist wohl jener bauwillige Abt von St. Gallen gemeint, der um 830 das Kloster erweitern bzw. erneuern ließ. Schwierig verhält es sich, die Entstehungszeit des Klosterplanes – also den Zeitraum von Beginn des ersten Entwurfs bis zu der Fertigstellung – festzustellen, zumal es sich ja bei dem Herstellungsprozess um permanente Konzeptänderungen handelt. Dies betrifft nicht nur die Veränderung des Formats, das zweimal durch seitliche Anstückelungen erweitert wurde; Ausbesserungen lassen sich auch an der Zeichnung selbst festmachen, die im Streiflicht zu sehen sind. Der Herstellungsprozess lässt sich minutiös darstellen und zeigt, dass man darauf bedacht war, den in der Regula Benedicti genannten Personengruppen – Mönche, Abt, Novizen, Klosterfremde – die entsprechenden Unterkünfte zuzuweisen. Das für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Format wurde, wohl auch zum Schutz der Zeichnung, je dreimal in der Länge und in der Breite gefaltet, wodurch sich ein 32-seitiges Heft ergab. Die nicht beschriebene Rückseite nützte ein unbekannter Schreiber im ausgehenden 12. Jahrhundert für die Niederschrift der Martinsvita.
Im zweiten Teil seines Begleittextes widmet sich Ernst Tremp inhaltlichen Aspekten der Architekturzeichnung und diskutiert die wichtigsten Lebensbereiche des dargestellten benediktinischen Klosterareals wie die Klosterkirche, die Klausurtrakte der Mönche, die Orte des Wissens und der Bildung, die Komplexe, in denen sich Laien, also Klosterfremde, aufhalten durften, sowie die medizinischen Bereiche und die botanischen Nutzflächen im zeitgenössischen Kontext. Für das Verständnis des Dargestellten werden Normtexte wie die Regula Benedicti, die Beschlüsse der Aachener Synoden von 816 bis 819 oder die Landgüterverordnung Karls des Großen, das Capitulare de villis, ebenso herangezogen wie Abhandlungen und Kommentare von Zeitgenossen (z.B. Hildemar von Civitate, Walafrid Strabo oder Ekkehard IV.).
Der interessierte Leser bekommt hier einen schönen Einblick in die vielschichtigen Vorstellungen und Denkmuster frühmittelalterlicher Klostergemeinschaften – zwischen gelebtem Klosteralltag, Reformwillen und den Idealen benediktinischen Mönchtums. So dürfte der Klosterplan im Zuge des Reformstrebens Kaiser Ludwigs des Frommen entstanden sein. Die Architekturzeichnung ist auf die bildhafte Auslegung der Regula Benedicti ausgerichtet, beachtet der Plan doch alle notwendigen Einrichtungen, welche „Voraussetzungen für ein regelgerechtes Klosterleben sind“ (S. 18). Zudem berücksichtigt die Architekturzeichnung die Präsenz des Gründungsheiligen, des heiligen Gallus, der ja in der Klosterkirche begraben war. Damit hält der Klosterplan den Zustand der „Sakraltopographie und der Galluswallfahrt im 9. Jahrhundert“ (S. 23) detailliert fest. Die Planverfasser im Kloster Reichenau dürften demnach genaue Kenntnis über den Wallfahrtsbetrieb in St. Gallen gehabt haben. Für diese Pilger und Besucher des Klosters sind große Wohnstätten vorgesehen, das Pilgerhaus und das Haus für vornehme Gäste. Den Bereich der Mönche, also die Konventgebäude, die um den Kreuzgang angeordnet sind, dürfen Klosterfremde nicht betreten. Zu den Laien zählt auch das Klosterpersonal, also Stallknechte, Handwerker, Arbeiter, Gärtner, Gehilfen. Die Dienerschaft lebt außerhalb der Klausur neben deren unmittelbaren Wirkungsstätten in eigenen Unterkünften. Ernst Tremp merkt hierzu an, dass die Formulierungen für Bedienstete und Gäste geschlechtsneutral vorgenommen wurden – sowohl in Normtexten als auch in den Inschriften des Klosterplans (S. 26). Es waren nämlich nicht nur männliche Bedienstete oder Gäste im Klosterverband zugelassen; auch Frauen und Kinder konnten das Großkloster betreten. Von besonderer Bedeutung für das benediktinische Großkloster sind die Orte der Bildung und des Wissens, also die Bibliothek, das Skriptorium, die Schule und der medizinische Bereich mit Arzthaus, Apotheke und Aderlasshaus. Sehr detailliert geben die Planverfasser Auskunft über die Gestalt und Einrichtung dieser Orte. Hingegen sind die Gärten mit Bäumen und Beeten sehr schematisch dargestellt. Die zur Aussaat empfohlenen Kräuter, Gemüse- und Obstsorten sind zeitgenössischen Verordnungen entnommen oder entsprechen Walafrids Vorstellungen über die Gartenbaukunst.
Ein Katalog mit den lateinischen Beischriften und Übersetzungen, ein Verzeichnis zu den wichtigsten Forschungsarbeiten über den Klosterplan sowie eine schematische Darstellung der Architekturzeichnung ergänzen den Textband.
Der Begleitband von Ernst Tremp richtet sich in seiner verständlichen Form an den interessierten Laien und eignet sich sehr gut als Eingangslektüre, will man sich mit der Komplexität des Klosterplans befassen. Schön wäre es gewesen, hätte man etwas mehr Aufmerksamkeit der Rückseite des Manuskripts, also dem Text der Martinsvita, gewidmet. Denn nur dieser Niederschrift aus dem 12. Jahrhundert, die in der Liturgie des Klosters eine Rolle spielte, sowie dem wertschätzenden Umgang ihres Schreibers mit der alten Architekturzeichnung auf der Vorderseite ist es zu verdanken, dass der Klosterplan in der Stiftsbibliothek erhalten geblieben ist.