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Henning Herrmann-Trentepohl

Innovation und Beharrung - Die Entdeckung der Zeit im Medium des Romans




  • Dirk Göttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert. (Corvey-Studien. Zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts 7) München: Wilhelm Fink 2001. 848 S. Kartoniert. EUR 83,20.
    ISBN: 3-7705-3560-X.


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Die vorliegende Studie, die Münsteraner Habilitationsschrift des Autors, verfolgt die Entwicklung des modernen Zeitbewußtseins, also ein kulturhistorisches Interesse, »im Medium der Literaturgeschichte« (S. 40). Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich dabei von den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts (den Staatsromanen Wielands) bis etwa um 1900 (den Romanen Kellers, Fontanes und vor allem Wilhelm Raabes, in dessen Werken auf exemplarische Weise wichtige Entwicklungslinien literarischer Zeitreflexion zusammenlaufen und denen Göttsche bereits mehrere Studien gewidmet hat). Ein knapper Ausblick führt über die Epochenschwelle 1900 hinaus und verweist auf die sich dann immer wieder machtvoll manifestierende diskontinuierlich-ekstatische Zeiterfahrung, etwa in Form der Joyceschen ›Epiphanie‹ (S. 753 ff.). Das neue Zeitbewußtsein manifestiert sich zwar nicht ausschließlich, aber doch besonders prägnant im Medium des Romans, dem im Vergleich zu anderen literarischen Formen gattungshistorisch noch nicht so festgelegten »Bruder der Geschichte« (S. 14). Eine ergänzende Studie zum Thema, die die kleinen Prosaformen umfassen wird, kündigt Göttsche an.

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Im folgenden kann der Gang der sehr umfangreichen Untersuchung nur in groben Stationen angedeutet werden.

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Die Verzeitlichung
des Denkens

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Die von Reinhart Koselleck konstatierte »Verzeitlichung des Denkens« setzt bereits in der Spätaufklärung ein, erfasst nach und nach alle Lebensbereiche und führt im 19. Jahrhundert schließlich zur »Erkenntnis der Geschichtlichkeit der Natur« (S. 11). Im Rahmen einer sich neu entwickelnden Wissenschaft vom Menschen, der sich, mit einem Ausdruck Paul Ricœurs, in einem Zustand der »Zerspannung« zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft befindet, erfährt auch das Nachdenken über Zeit neue Dimensionen: genannt seien hier nur Kants Vorstellung von der Zeit als einer »reinen Form der sinnlichen Anschauung« und der frühromantischen »Verzeitlichung des Selbstbewusstseins« einerseits, die geschichtsphilosophischen Entwürfe Herders und Hegels andererseits. Ohne den Historismus sei der Zeitroman mit seiner Dialektik von »Besonderem und Allgemeinen, dargestellter Lebens- und Zeitgeschichte« (S. 61) vor dem Hintergrund einer je besonderen Epoche nicht denkbar.

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Die Erfahrung der Französischen Revolution leitet schließlich um 1800 einen enormen Beschleunigungsschub ein. Während sie zunächst als »Triumph der Aufklärung« empfunden wird, führen die folgenden politischen Exzesse zu einer zunehmend ideologisch verhärteten Auseinandersetzung über die politische Entwicklung zwischen Liberalismus und Restauration. Formen wie der Staatsroman Wielandscher Prägung, Satiren oder auch Utopien werden obsolet, es entwickelt sich der Zeitroman mit seiner »Darstellung zeitgeschichtlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Realitäten im Horizont einer kritischen Reflexion der Gegenwart in ihrer Geschichtlichkeit« (S. 21) Am Subjekt wie auch in seiner Stellung in Familie und Gesellschaft werden diese Problemstellungen nun bevorzugt entfaltet. Bestimmte Themen der spätaufklärerischen Romane, etwa der Geheimbundtopos, überdauern allerdings noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der populären Literatur.

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Der romantische Roman von Arnims und Eichendorffs führt dann zu Gutzkows Rittern vom Geiste als einem »Roman des Nebeneinander«, der allerdings nur eingeschränkt rezipiert wird. Daraus entwickelt sich einerseits der Gesellschaftsroman Fontanescher Prägung, andererseits die Zeitromane Wilhelm Raabes, die in ihrer »Verknüpfung der drei leitenden Problemstellungen ›Zeit und Identität‹, ›Zeit und Sozialität‹ und ›Zeitgeschichte‹« (S. 25) die literarische Moderne vor.

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Zum theoretischen Unterbau
der Arbeit

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Was den theoretischen Unterbau der Arbeit angeht, diskutiert Göttsche besonders drei Autoren. Paul Ricœur habe mit »Zeit und Erfahrung« die bisher umfassendste Synthese aller denkbaren Formen der Zeitreflexion in den Humanwissenschaften vorgelegt: Die Erzählung betrachtet Ricœur als privilegierten »Ort der Artikulation menschlicher Zeiterfahrung« (S. 36). Neben Gerard Genettes Discours du récit sei noch auf Michail Bachtins Theorie des »chronotopos« verwiesen. Im »chronotopos« verdichten sich Beziehungen zwischen Zeit und Raum im narrativen Diskurs bestimmter topoi (Abenteuer, Lebensweg, Schwellensituationen aller Art etc.). Mit Bezug auf Emmanuel Lévinas’ »Sozialer Theorie der Zeit« (S. 33) verweist Göttsche schließlich darauf, dass Zeit nicht »das Faktum eines isolierten und einsamen Subjekts, sondern das Verhältnis des Subjektes zum anderen ist«, eine These, die sich für die Romane der Empfindsamkeit, etwa die Jean Pauls, als besonders fruchtbar erweist. Dieses Konzept der »sozialen Zeit« erweist dich darüber hinaus aber auch für den ganzen Untersuchungszeitraum als hilfreich. Sie bildet ein »weitgespanntes Beziehungsgeflecht«, in dem »Abläufe auf den individuellen, den sozialen und den nicht menschlich-naturalen Ebenen miteinander verbunden sind.« 1

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Bereits in David Christian Seybolds Roman Reizenstein. Die Geschichte eines deutschen Offiziers von 1789 / 79 wird der Roman als »Bruder der Geschichte« aufgewertet und legitimiert. Wielands Agathon und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre haben, als Individual- und als historische Romane, sehr früh stilbildend gewirkt, wohingegen der Zeitroman trotz der seit Ende des 18. Jahrhunderts deutlich veränderten Zeitwahrnehmung noch mehr als 50 Jahre gebraucht habe, um zuerst in Immermanns Epigonen und schließlich in Gutzkows Rittern vom Geiste paradigmatische Texte herauszubilden (wenn auch von Arnim bereits 1809 seine Gräfin Dolores einen Zeitroman nennt). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich eine zunehmende Politisierung des Zeitromans beobachten. Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre nehmen insofern eine Sonderstellung ein, als zwar, im Unterschied zu den Lehrjahren, die Schilderung des Romanpersonals auch um Aspekte ihres Zusammenlebens bereichert wird, die Gesellschaft aber insgesamt doch noch weitgehend »im Horizont modellhafter Sozialutopie und privater Geselligkeit« (S. 432) verbleibt. Hier, wie auch sonst, bleiben allerdings formale Aspekte in der Analyse unterbelichtet: so ließe sich die Auflösung der Romanform in den Wanderjahren gerade auch als Ausdruck der Unmöglichkeit einer harmonischen Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft sehen – und damit als Ausdruck von Modernität über das auf der thematischen Ebene Verhandelte hinaus.

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Johann Weitzel versteht seinen Roman Der heilige Bund von 1820 als Beitrag »zur Aufklärung der Gegenwart über sich selbst« (S. 44), was schon auf die Programmatik des Jungen Deutschland hinweist. Mit der Revolution von 1848 wird dann der historische Roman, wie er sich in der Nachfolge Walter Scotts herausgebildet hatte, endgültig verabschiedet. Der bürgerliche Realismus wird, gegen Gutzkows »Roman des Nebeneinander«, also der panoramischen Darstellung einer Vielzahl ›gleichberechtigter‹ Charaktere wieder zum Modell des »Individualromans« (Hartmut Steinecke) zurückkehren – der Schilderung eines Individuums also, das sich, in den Worten Gustav Freytags, »durch eine ausdauernde und männliche Thätigkeit in die große Kette der kräftigen Menschen als ein nützliches Glied« in die Gesellschaft »einfügt« (S. 51). Beide Ebenen, die gesellschaftliche und die individualistische, im Zeitroman miteinander zu verschränken, versucht schließlich Friedrich Spielhagen.

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Insgesamt werden etwa 200 Werke analysiert, von denen der größte Teil heute selbst Experten allenfalls noch dem Namen nach bekannt ist. Register zu Autoren, Werken und Sachbegriffen erschließen das Werk mustergültig. So erfreulich die breite Materialbasis der Studie ist, so sehr verhindert sie doch immer wieder eine Auseinandersetzung mit wichtigen Positionen der Sekundärliteratur. Verwiesen sei etwa auf die von Göttsche selbst angemerkte »Fülle des neuen Materials« (S. 46) zur Verbindung von Zeitroman und historischem Roman, die unerörtert bleibt. Auch tritt die Diskussion ästhetischer Phänomene ziemlich in den Hintergrund: die Literatur wird wesentlich auf ihre Widerspiegelungsfunktion für die außerliterarische Realität reduziert. Hier erweist sich der vom Verfasser gewählte Fokus doch immer wieder als zu unscharf.

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Trotzdem könnte die Studie auch andere germanistische Forschungen befruchten. Genannt sei hier nur die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Literatur und Ökonomie, wie sie sich im anglo-amerikanischen »new economic criticism« 2 herausgebildet hat und auch von der Germanistik aufgegriffen wurde 3 . Immerhin vollziehen sich ökonomische Vorgänge auf eminente Weise ›in der Zeit‹ und im Rahmen eines »weitgespannten Beziehungsgeflechts«, um noch einmal Norbert Elias zu bemühen. Und auch für diesen Bereich ergibt sich ein vergleichbar stimmiger Zeitrahmen, nämlich von der Publikation des auch in Deutschland stark, wenngleich eigenwillig rezipierten epochalen Wealth of Nations von Adam Smith (1776) bis etwa zu Georg Simmels Philosophie des Geldes von 1900.

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Aufwertung des deutschen Romans
im 19. Jahrhundert

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Es sei noch kurz auf ein bemerkenswertes Ziel der vorliegenden Studie eingegangen, nämlich den Versuch einer Aufwertung des deutschen Romans im 19. Jahrhundert, gerichtet gegen das bekannte Diktum Erich Auerbachs, dass es dem deutschen Roman im Unterschied zum englischen und französischen an der »ernste[n] Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung« 4 gemangelt habe. Vielmehr habe, laut Verfasser, der deutsche Roman genau das geleistet. Göttsche stellt allerdings leider keine Überlegungen dazu an, wie Auerbach denn zu dieser, tatsächlich wohl immer noch virulenten Auffassung gelangen konnte. Dazu dürften neben der eher undeutlichen Realismus-Definition in Auerbachs Werk wohl auch dessen Beschränkung auf die Höhenkamm-Literatur beigetragen haben.

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Dass viele der besprochenen Werke literarisch weniger bedeutsam sind, muss auch Göttsche immer wieder einmal eingestehen: vgl. etwa die Bemerkungen zum »socialen Roman« (S. 557 ff.), zu Auerbachs Roman Neues Leben (S. 664 ff.) oder auch zu Spielhagens Problematischen Naturen und seiner Fortsetzung Durch Nacht zum Licht (S. 678 ff.). Zur Marginalisierung vieler der hier behandelten Texte dürfte sicherlich auch ihre schiere Unzugänglichkeit beitragen. Immerhin liegen seit Jahren viele Reprints vor, etwa von Laubes Jungem Europa, für Göttsche der »zentrale Zeitroman des Jungen Deutschland« (S. 525), von Werken Therese Hubers, Caroline de la Motte Fouqués oder auch Heinrich Julius Oppermanns. Ein spektakuläres Beispiel für die Renaissance eines Autors bildet der Fall Karl Gutzkow, dem sicherlich maßgeblich Arno Schmidts Diktum zu seinem Widereintritt nicht nur in die akademische Sphäre verholfen hat. Verwiesen sei hier auf das ungeheuer verdienstvolle Gutzkow-Projekt unter www.gutzkow.de, das auf innovative Weise Möglichkeiten der Innovation nutzt, die das neue Medium Internet bereitstellt. 5


Dr. Henning Herrmann-Trentepohl
Kennedyallee 146
DE - 53175 Bonn

Ins Netz gestellt am 30.05.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Henning Herrmann-Trentepohl: Innovation und Beharrung - Die Entdeckung der Zeit im Medium des Romans. (Rezension über: Dirk Göttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink 2001.)
In: IASLonline [30.05.2004]
URL: <http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/HerrmannTrentepohl377053560X_26.html>
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Anmerkungen

So Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. XXIII.   zurück
Vgl. dazu den Reader von Martha Woodmansee und Mark Osteen: The new economic criticism. Studies at the intersection of literature and economics. London / New York: Routledge 1999.   zurück
Genannt sei hier neben den Arbeiten Jochen Hörischs besonders Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. München: sequenzia 2002.   zurück
Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern und Stuttgart: Francke 81988, S. 480.   zurück
Seit kurzem liegen auch die ersten Texte in Buchform vor. Vgl. Karl Gutzkow: Die neuen Serapionsbrüder. Münster: Oktober Verlag 2003.   zurück