Hanuschek über Dwars: Abgrund des Widerspruchs
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Sven Hanuschek


Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts
entlang der Lebensorte Johannes R. Bechers,
mit den Ansichten und Meinungen
von Jens-Fietje Dwars, Esq.


Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher. Berlin: Aufbau-Verlag 1998. 861 S. Pp. DM 98-,

Is mankind evolving
or is it too late?
Monty Python


Johannes R. Becher war ein 1,80 m großer Mann, Schuhgröße 43, der sich gern gut kleidete, gute Weine schätzte, ein reges Triebleben hatte und aussah wie ein Oberstudiendirektor an einem Gymnasium der bayerischen Provinz. - Mag das alles stimmen oder nicht, Informationen dieser Art könnte man in einer Biographie erwarten. In Jens-Fietje Dwars' Buch wird man sie nur ausnahmsweise finden. 1 Der Rezensent des Spiegel hat sorgsam solche Details herausgeklaubt und auf zwei Druckseiten gesammelt. 2 Dwars' Untertitel Das Leben des Johannes R. Becher ist also nicht ganz exakt; sein Werk könnte ebensogut heißen: Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts entlang der Lebensorte Johannes R. Bechers, mit den Ansichten und Meinungen von Jens-Fietje Dwars, Esq., leider ohne Sternes Witz.

Der 'Held' wird selten plastisch und huscht wie hinter einer Milchglasscheibe hin und her; Dwars hat eine strenge Psychologie, und er kann den Lesern kein einziges Urteil offen lassen. Daher kommt es, daß aus einem kleinen Funkessay von Jens Sparschuh über den Menschen Becher mehr zu erfahren ist als auf 861 Seiten Dwars – muntere Anekdoten über den ersten DDR-Kulturminister als Bauchredner, Narziß und Gartenzwergverteidiger, auch seinen erfreulich vorhandenen Humor stellt Sparschuh vor. 3 Dwars interessiert das alles nicht, es ist ihm nicht wichtig genug; und für Bechers 'bayerisches' Poltern und Blödeln hat er kein Organ.

Dabei entbehrt Dwars' obsessives Werk nicht der Größe. Er hat sich durchgebissen durch das erhebliche Becher-Archiv in der Berliner Akademie der Künste, durch zeitgeschichtliche Quellenwerke, er will alles selber wissen, selber machen, selber deuten. Seine Lesarten und Richtigstellungen von geschichtlichen Ereignissen sind oft beeindruckend, obwohl man den Eindruck haben kann, als erkläre er "den an Becher interessierten Bewohnern der früheren DDR die Welt".4

Dwars kann schlüssig die Interessen Stalins und Hitlers an ihrem Pakt analysieren – der im wesentlichen für beide ein erwünschter Zeitgewinn war –; er hält die Berlin-Blockade für eine Maßnahme Stalins, "seine einstigen Verbündeten wieder an den Verhandlungstisch [zu] zwingen" und meint, die Luftbrücke habe der US-Flugzeugindustrie "die seit Ende des Krieges entbehrten Gewinne" gesichert (S. 570); Dwars erläutert Schumachers Politik ebenso wie den Koreakrieg, und gelegentlich werden hier seine Polemiken doch noch witzig, etwa, wenn er Harry S. Truman einen "Herrenausstatter aus Missouri" nennt (S. 539) oder Heiner Müller zitiert, der ein unveröffentlichtes Becher-Gedicht auf den Hitler-Stalin-Pakt kannte. Müller habe es durch eine Indiskretion erfahren: ">An Stalin. Du schützt mit deiner starken Hand den Garten der Sowjetunion. Und jedes Unkraut reißt du aus. Du, Mutter Rußlands größter Sohn, nimm diesen Strauß< – und jetzt kommt einer der größten Reime der deutschen Literatur – >nimm diesen Strauß mit Akelei zum Zeichen für das Friedensband, das fest sich spannt zur Reichskanzlei.<" (S. 471 f.)

Dwars' Biographie will die unbezweifelte These belegen, daß die "Verirrungen des Johannes R. Becher ein Exempel böten für Irrwege des an Hoffnungen und Schrecken so überreichen Jahrhunderts." (S. 18) Das erste Kapitel bietet eine effektvolle Eröffnung: Dwars referiert die Testamente, in denen sich Becher ein Staatsbegräbnis und Grabreden verbat; sein Name sollte nicht für Gaststätten, Klubhäuser und Plätze mißbraucht werden. Sein Werk solle auch nach seinem Tod gedruckt und verbreitet werden, das genüge ihm. Keiner seiner Wünsche wurde erfüllt: "Johannes R. Becher ward zu Grabe gezogen wie kein Autor vor ihm" (S. 13), mit einer Sargparade durch die Friedrichstraße und verlogenen Reden im Saal der Deutschen Staatsoper.


Psychogramm eines zwiespältigen Menschen

Andere Lebensstationen Bechers werden weniger bündig vorgestellt. Bis heute hängt der Rezeption seines Werkes ein Ereignis seiner Jugend an: Als Neunzehnjähriger hat er einen Doppelselbstmord inszenieren wollen, zusammen mit einer sehr viel älteren Zigarettenhändlerin. Er überlebte, Fanny Fuß starb. Dwars nutzt den Fall, Becher gegenüber dem stereotypen und denunziatorischen Bild während des Kalten Krieges zu verteidigen, wie er überhaupt Bechers geistige Gesundheit mehrfach meint verteidigen zu müssen. Seit den 50er Jahren wurde versucht, die Tragödie zu funktionalisieren: Bechers "Werben für Frieden und Einheit" sei nur Teil einer Krankengeschichte, "an deren Anfang ein Hurenmörder und rauschgiftsüchtiger Psychopath erscheint, der nur dank väterlicher Beziehungen und mit Berufung auf den Paragraphen 51 der gerechten Strafe entging." (S. 21) Diese Propaganda sprach einem Menschen das Recht auf Entwicklung, auf Veränderung ab; polemischer Mißbrauch eines Schicksals. Man wüßte trotzdem gern, nun aus der Distanz, was den jungen Becher zu dieser Tat bewogen hat, und was eigentlich genau passiert ist. Dwars konnte trotz aller Recherchen das Dunkel des Falls und Bechers eigene Stilisierungen nicht durchdringen, es wird also ein Geheimnis bleiben um die Ereignisse und um diese Frau, "von der die Nachgeborenen nichts als das Datum ihres Todes kennen" (S. 38). Becher hat einen zweiten Selbstmordversuch unternommen, im Moskauer Exil; er hat sich die Pulsadern durchgeschnitten. Auch über dieses existentielle Ereignis kann Dwars nicht viel berichten. Ruth von Mayenburg hat es überliefert, es gibt eine Briefstelle nach Bechers Überwindung der Krise, wo von Arbeitsproblemen die Rede ist – mehr nicht.

Schon vor dem ersten Selbstmordversuch hatte Becher angefangen, zu schreiben, 500 Dichtungen in eineinhalb Jahren. Die Überproduktion ist ihm zeitlebens geblieben. Er begann als 'getriebener' Lyriker mit viel Pathos und Sentimentalität. Sein erstes gedrucktes Werk erschien 1911. Er soll in Jena studiert haben, Dwars bemerkt aber, Becher stehe nicht in den Matrikeln, die doch jeder im Archiv der Universität habe nachlesen können (aber offensichtlich nur er nachgesehen hat).

Bechers Politisierung erfolgte sprunghaft; Dwars suggeriert mit einem Zeugnis des Schriftstellers und Psychiaters Karl Theodor Bluth, diese Konversion zum Kommunismus sei weniger aus politischer Überzeugung erfolgt "denn vielmehr aus einer ästhetischen Haltung, einer ästhetizistischen Haltlosigkeit" (S. 157). Der endlich eingetretene Massenerfolg hat Becher zusätzlich beflügelt. Er war stolz darauf, gebraucht zu werden: "Ich habe zu funktionieren, so ist z. B. das Lenin-Gedicht im Auftrag innerhalb einer knappen halben Stunde geschrieben", teilte er Eva Herrmann 1924 mit. 5 Der Folgebrief fehlt in der gedruckten Korrespondenz und ist nur bei Dwars zu lesen: Das Gedicht wurde "an fünf Orten zugleich in Berlin vor insgesamt 20 000 Menschen gesprochen" und "in einer Auflage von 10 000 Exemplaren gedruckt, verteilt und in der Stadt angeklebt" (S. 219) – für einen solchen Erfolg ist Becher nach Dwars' Einschätzung bereit gewesen, zu sterben.

Immer wieder erscheint das Psychogramm eines zwiespältigen Menschen, der weich, ja haltlos ist, aber Brutalität in Kauf nimmt, wenn er sie intellektuell gerechtfertigt sieht. Er sei schon ein "unbändig rohes, zu Gewalt neigendes Kind" gewesen, "mit merkwürdigem Sanftmut in der Stimme. Ein Fahnenjunker, der Gedichte liebt." (S. 39) Als Dichter und Politiker wird er Humanismus verkünden und das Schicksal von ermordeten Freunden gegenüber deren Angehörigen verschweigen, selbst wenn er es besser weiß.


Bechers Haltung zum Stalinismus

Als erklärter Parteidichter und als einer der Moskau-Emigranten der ersten Stunde, 1933, mußte Becher eine Haltung zum Stalinismus entwickeln. Dwars kann deutlich machen, wie sehr sich der Dichter immer wieder distanzieren, den klaren Blick behalten konnte, über Jahrzehnte. Einige der Stalin-Huldigungsgedichte seien unübersehbar schwachsinnig, deutliche Pflichtübungen; Hans Mayer hat bereits darauf hingewiesen, daß auch Bechers Text für die -Hymne etliche Absurditäten enthält, die "insgeheim den Unglauben" verrieten. 6 Es geht bei dem Thema Stalinismus nicht nur um den Emigranten während der Moskauer Prozesse, sondern auch um den Funktionär in Ulbrichts DDR, um den "Glücksfall" von einem Minister. 7 Schon die Moskauer Prozesse habe Becher nicht "in linker Verblendung gerechtfertigt" (S. 429), wie so viele andere, meint Dwars. Daß der Dichter mit Fadejew, Pasternak und anderen einen Zeitungsaufruf unterschrieben hat, kommt in diesem Buch nicht vor: "Die Feinde der Sowjetunion nicht ruhig leben lassen! Wir fordern die Erschießung der Spione!" 8 Feuchtwanger, der die Sowjetunion nur bereiste, nicht wie Becher dort leben mußte, schätzte vor der laufenden Kamera an Stalin, daß er Humor habe und empfänglich für Humor sei; Martin Andersen-Nexö meinte, nachdem er Zeuge des zweiten Prozesses gewesen war: "Das Leben entfaltet sich hier sehr schön und sehr gesund. Alle Fäden – der Freiheit, des Kampfes, der Zukunft, laufen hier zusammen, und von hier strahlen sie aus." 9 Das sind nur zwei Beispiele; inwiefern verhielt sich Becher hier so sehr verschieden?

Das Rätsel, warum Becher die Prozesse überlebt hat, nicht einmal angeklagt wurde, mag Dwars nicht beantworten. Möglicherweise hatte er Helfer, vielleicht hat er sich durch Denunziationen gerettet, vielleicht hat Pieck ihn zu einer Denunziation gedrängt, um ihn draußen halten zu können – wieder bleibt einiges im Unklaren. (S. 437 ff.) Jedenfalls muß Becher mit dem reinen Überleben so beschäftigt gewesen sein, daß die Qualität seiner Verse nachließ; sie seien "immer hohler" geworden: "Hilflose Beschwörungen eines Volkes, das sie nicht erhören kann, weil die Bände ihm so wenig erreichbar sind wie ihrem Verfasser der Alltag derer, an die er sich zu wenden meint." (S. 495)

Er kehrte 1945 als erster der emigrierten Schriftsteller nach Deutschland zurück und sicherte sich von Anfang an eine herausragende Stellung in der sowjetischen Zone, zunächst aber gar nicht nur dort. Durch die Gründung des Kulturbundes konnte er auch in den anderen Zonen reüssieren, jedenfalls bis 1948. Dwars stellt die historische Rolle des Bundes richtig; für eine kommunistische Tarnorganisation sei er einfach zu erfolgreich gewesen, 1947 hatte er über 100 000 Mitglieder. Seine Botschaft, so von Becher stets propagiert, sei gewesen, das deutsche Volk und seine Tugenden seien

"von einer Nazi-Clique zur Unterjochung anderer Völker mißbraucht worden. Nach der Niederlage der Verführer bliebe also nur, ihre Geldgeber und Nutznießer zu enteignen, um in friedlicher Zusammenarbeit sich wieder auf das wahre Volksvermögen zu besinnen." (S. 523)

Der Kulturminister

1954 wurde Becher der erste Kulturminister der DDR, als solcher war er nach Hans Mayer ein Glücksfall: er sabotierte den Formalismus-Beschluß des ZKs der SED, kritisierte die laue Entstalinisierung, hatte sich vom politischen Dilettanten zum souveränen Organisator entwickelt, schützte Brechts Berliner Ensemble und Felsensteins Komische Oper, unterstützte die Akademie der Künste und den Wiederaufbau der Staatsoper und ermöglichte die erste Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann, um nur einige seiner Taten zu nennen – "Exempel bürgerlicher Hochkultur" (S. 714). Er galt als schwankender Genosse und mußte sich die MfS-Überwachung ebenso gefallen lassen wie etwa Arnold Zweig. Im Prozeß gegen Janka und Harich ist er dann eingeknickt, in den letzten Monaten vor seinem Tod 1958, de facto von Alexander Abusch entmachtet, mußte er erleben, "daß sein schwächstes Machwerk in 50 000 Exemplaren erscheint" (S. 769) – seine Biographie Walter Ulbricht. Ein deutscher Arbeitersohn.

Dwars erzählt nebenher viele Parallel-Viten von bekannten und unbekannten Becher-Freunden und Förderern, geschickt eingebaut und schwungvoll vorgetragen, wie bei Harry Graf Kessler, Mechtilde Fürstin Lichnowsky, seinem ersten Verleger Heinrich F. Bachmair, seinem Schulfreund Julius Gumbel oder dem Vagabunden-Organisator und Schriftsteller Gregor Gog, den Becher von seinen frühen Aufenthalten in Urach kannte. Hier ist der Zug zur Breite am ehesten geglückt, hier setzen sich Bechers sehr divergente Milieus wie in einem Mosaik zusammen. Mit recht unterschiedlichem Erfolg dagegen versucht Dwars eine Ehrenrettung der Frauen und Freundinnen in Bechers Leben, die von Lilly Becher unterschlagen worden sind, von Emmy Hennings, Eva Herrmann, Lotte Rotter und Josefine Boss. Auch hier zeigt sich der durchgehende sadomasochistische Zug bei Becher, ein pathetischer Liebhaber, der sich erst völlig aufgibt, Ruhe- und Haltepunkte sucht und nach kurzer Zeit oder post coitum Frauen "sehr gemein und geradezu brutal" (S. 240) von sich stößt.


... aus dem Ruder gelaufen

Andere Komplexe sind Dwars vollständig aus dem Ruder gelaufen, oft ganz jenseits von Becher: Wie nötig ist eine Rekapitulation der Stalin-Note, deren Interpretation ja nicht mehr umstritten ist? – Daß Becher von Nietzsche beeinflußt war, ist bekannt, und daß er sich den Philosophen passend und leicht gemacht hat, war zu erwarten; Dwars wirft ihm seine permanente Selbstbespiegelung und seinen "Mangel an strenger Reflexion" (S. 170) immer wieder vor. Der Biograph pointiert: "[...] wo Nietzsche mit strenger Logik die Paradoxien der Vernunft bis zur Selbstzerstörung hervortreibt – läßt sich Becher auf den Gefühlswellen der Erlösung von jeglicher Rationalität davontragen." (S. 135) Für den ganzen Nietzsche-Exkurs braucht er aber über 20 Seiten, die sich streckenweise vollständig von Becher lösen.

Gleiches gilt für einen Exkurs zur Geschichte der Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert; auf mehr als 20 Seiten gibt es einen Satz über Becher, ein verlorenes Alibi-Körnchen (S. 212) zwischen taubem Gestein. Es mag ja sein, daß es sich "lohnt", das Protokoll einer "außerordentlichen Tagung nachzulesen, die einberufen worden war, weil die damalige Balkankrise in einen Krieg von europäischem Ausmaß umzuschlagen drohte" (S. 201) – aber doch nicht so sehr in einer Becher-Biographie. Dwars hätte das Buch stark entlasten und aus diesen Themen noch ein paar Aufsätze basteln können.


Wertungsfragen

Die ästhetische Ebene würdigt der Biograph oft stereotyp knapp: referierende Inhaltsangaben der Werke; positive Wertung; Zerlegung durch Kritik. Manchmal scheint es, als interpretiere er an einem Werk herum im Versuch, es zu retten, um es dann doch immer wieder zu verwerfen. Die Langzitate und Werkreferate sind nötig – niemand kennt diese Titel mehr, einige wenige waren in der DDR Schullektüre, freiwillige Leser hatte Becher bis vor kurzem kaum. Die Antworten auf grundsätzliche Fragen bleibt Dwars aber schuldig: Ist Bechers expressionistische Lyrik hysterischer Krampf, oder soll man das heute noch lesen? Und warum? Gleiches für die späteren Arbeiten – lassen die sich noch in die heutige Zeit hinüberreißen, oder befriedigen sie nur ein gewisses historisches Interesse?

Einzelne Arbeiten werden schon auch mal mit einem Satz abgetan: In Der Leichnam auf dem Thron (1925) lasse der "in Sprache übersetzte Massenheroismus [...] nur ein additives Ganzes entstehen, das in einen faserigen Sprachbrei zerfällt." (S. 244) Dagegen werden für den Exilband Der Glücksucher und die sieben Lasten die Lobestiraden von Klaus Mann, Thomas Mann, Döblin ausführlich abgedruckt. Thomas Mann vermutete, es sei "das repräsentative Gedichtbuch unserer Zeit und unseres schweren Erlebens" 10 - Dwars zitiert diesen Werbespruch gleich mehrmals. Auch den Roman Abschied möchte er aufgewertet wissen; schließlich lasse sich Bechers Stalin-Kritik in einer Figur erkennen, die sich gern über den Bart streicht und Mühe hat, den linken Arm zu beugen. Der Roman spielt um die Jahrhundertwende, im deutschen Kaiserreich, und die Figur könnte ebensogut Wilhelm II. bezeichnen.

Die klassizistische Nachkriegslyrik wird kaum beachtet. Der Band Heimkehr (1946) wird kurz mit einem Hermlin-Zitat überwältigt, der Becher "neoklassizistische Glätte" vorwarf. Nun läßt sich auch neoklassizistisch einigermaßen ehrlich über sich selbst nachdenken, und Becher hat in diesem Band neben unfreiwillig Komischem (Rühme die Erde!) und Auftrumpfendem (Mein Leben kann als Beispiel dienen oder der Schlußvers in Rechenschaft: "In uns kommt eine neue Zeit") auch Aussagen zu seiner Überlebenstechnik im Exil gemacht, zum Gesichter-Wandel:

"Ist dieses sein Gesicht? Ist jenes seins?
Vielleicht ist seines – jedes von den beiden.
Vielleicht ist seines von den beiden – keins.
Und wie sie wieder ihr Gesicht verlieren!
Wie klug sie wieder ihr Gesicht verkleiden!
Und welches tragen sie jetzt von den ihren?" 11

Ästhetische Hohlheiten, Leerräume werden im allgemeinen von Dwars klar erkannt und kritisiert: Bechers "sentimentaler Überschwang", seine "Ersetzung gegenständlichen Erzählens durch beschwörende Formeln" (S. 54), von der "bedenkenlosen, geradezu lustvollen Ästhetisierung des Todes" ist beim frühen Werk die Rede, von einer "ungeheuren geistigen Gewaltbereitschaft des Ästheten" (S. 55). Sie zeigt sich auch in einer Gegenüberstellung von Brechts Maßnahme mit Bechers Der Große Plan. Brecht wird insgesamt als Gegenfigur betrachtet, der "sich nichts beweisen" müsse, "er ringt nicht mit einem inneren Feind, will nicht, sich selbst verbrennend, in ein unsterbliches Werk hinübergehen. Er ruht in sich [...]" (S. 329). Dwars setzt seine Vergleiche immer ziemlich hoch an, deshalb fehlen die positiven Kategorien ein bißchen – daß Becher nicht ganz so gut ist wie Büchner (S. 221), hatten wir uns fast gedacht.


Der vergrübelte Autor, oder:
"Am Ende ist doch alles anders gewesen."

Abgrund des Widerspruchs ist aus einem bestimmten lebensgeschichtlichen Zusammenhang heraus geschrieben, der zu einer deutlichen Ostentation führt. Dwars scheint etwas zugestoßen zu sein, in der Danksagung schreibt er, er sei "aus akademischen Bahnen" geworfen worden und habe sich drei Jahre mit kürzeren Stipendien und einer ABM-Stelle durchgebracht. Diese fatale Erfahrung mag zur Haltung der Einfühlung geführt haben, aus der heraus das Buch auch immer wieder geschrieben ist; aus einer Innensicht, einer Identifizierung mit Becher, die ihn dann nicht mehr von außen wahrnehmen kann und folglich biographische Selbstverständlichkeiten schuldig bleibt.

Die Klappe zeigt einen vergrübelten Autor, der entsprechend sich und sein Buch komplett in Frage stellt: "Daß die Arbeit mich drei Jahre fesseln, ein so monströser Text entstehen würde, erscheint mir selbst nicht normal." Und, nach dem Hinweis auf begrenzte Zeit und Mittel: "Am Ende ist doch alles anders gewesen." (S. 861) Das mag sein; zu dieser sympathischen Entspanntheit & Vorsicht hat Dwars leider erst in der Nachbemerkung gefunden, im Text ist er sich stets allzu sicher. Da kommt der beleidigte Germanist, zu richten die Lebenden und die Toten. 12 Besonders richtet er die "Gazetten der ehemaligen BRD" (S. 15), die westlichen Kollegen, David "Pike & Co." (S. 450, 461), die gegen ihn schlechterdings nicht recht haben können; und wenn sie einmal ein Korn gefunden haben, kann es nur versehentlich gewesen sein. 13 Nicht daß alle Polemiken unberechtigt wären; aber gelegentlich rutschen seine Bemerkungen ganz ins Weltfremde, 14 vor allem ist der Gestus über mehrere hundert Seiten kaum erträglich.

Das Problem des Buches sind garnicht Dwars' Positionen, oder daß er seinen Helden salvieren wollte. Das will er sicher nicht, er will nur Gerechtigkeit; daher auch immer wieder Angriffe auf den hysterischen oder "gemeinen" Becher, den schwankenden, den seine Gesichter wandelnden. Dwars' Stoff ist ihm aus den Fugen geraten; die ersten Kapitel sind noch wohlproportioniert und -strukturiert, was sich zunehmend ändert: Die ersten sechs Kapitel haben 156 Seiten, das 12. und letzte hat allein 200. Sein Problem ist, daß er sich kaum je in den Dienst seines Gegenstands stellt, er will immer selbst Herr sein.

Seine Zitierweise, das Fehlen einer Zeittafel und einer brauchbaren Primärbibliographie trägt zur Orientierung des Lesers nicht eben bei; geradezu unleserlich wird das Werk bei aller angenehmen Jargonfreiheit besonders aus stilistischen Gründen. Die clarté liegt Dwars nicht: Immer wieder gibt es Abschnitte, halbe Seiten, auf denen von einem "er" oder "sie" die Rede ist, das sich auf 15 (ich übertreibe) verschiedene Abstrakta oder Personen beziehen könnte, grammatikalisch allemal, zum Teil auch inhaltlich. Mit ein bißchen Nachdenken kommt man schon darauf, daß sich das Pronomen wohl auf eine Person beziehen muß, von der eine Seite vorher die Rede war, man sitzt und blättert zurück, nach einem Kongreß, einem Werk, einer Person, von der offenbar gerade die Rede ist. Dadurch entstehen nebulose (um nicht zu sagen numinose) Bedeutungsfelder, zu deren Überwindung viel Kaffee nötig ist; und auf die Dwars es geradezu angelegt zu haben scheint, ich fürchte, er findet das gut so.

Man soll sein Buch nicht flott lesen können, sondern soviel Zeit damit verbringen müssen wie mit der Negativen Dialektik. Die Mühe wird sich für Becher niemand machen. Ein bündiges Fazit hat Konrad Franke gezogen: "Kürzen. Da steht Kluges über Becher drin, aber es ist schwer zu finden." 15


Dr. Sven Hanuschek
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für deutsche Philologie
Schellingstraße 3
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 21.12.1999.

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Anmerkungen

1 z. B. sei der junge Becher auf seine Schwimmpreise stolzer als auf seine Gedichte gewesen (S. 44); und der alte sei aufgedunsen, "beinahe feist, wie das Klischee eines Bonzen." (S. 699)   zurück

2 Peter Stolle: Linker Schlemihl. In: Der Spiegel (1999) H. 2, S. 182 f.  zurück

3 Jens Sparschuh: Ein seltener Knabe. Johannes R. Becher in Bad Saarow. In: J. S.: Ich dachte, sie finden uns nicht. Zerstreute Prosa. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997 (kiWi 456), S. 118-138  zurück

4 Konrad Franke: Und wer war nun dieser Becher? Eine monströse Biographie des Dichters und ersten DDR-Kulturministers. In: Süddeutsche Zeitung, 11.3.1999, Nr. 58, S. 16  zurück

5 Johannes R. Becher: Briefe. 1909-1958. Hg. von Rolf Harder unter Mitarbeit von Sabine Wolf und Brigitte Zessin. Berlin und Weimar 1993, S. 122  zurück

6 Hans Mayer: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. Frankfurt am Main 1991, S. 13  zurück

7 Ders., S. 111  zurück

8 zit. n. Heinrich Billstein: "Erschießt sie wie die Hunde..." Die Moskauer Schauprozesse 1936-1938. Dokumentarfilm, WDR 1998  zurück

9 Ebd.  zurück

10 Briefe an Johannes R. Becher. 1910-1958. Hg. von Rolf Harder unter Mitarbeit von Sabine Wolf und Brigitte Zessin. Berlin und Weimar 1993, S. 126  zurück

11 Johannes R. Becher: Heimkehr. Neue Gedichte. Berlin 1946, S. 77  zurück

12 Das lutherische "ward" paßt gut in diese Tonlage, und Dwars verwendet es gern "Am Ende ist doch alles anders gewesen." der Dichter "ward" zum Bombenleger (S. 445), usf.  zurück

13 Ein Beispiel: Rohrwassers Wort von der Partei als "strenger 'Mutter'" reiche "tiefer, als er selbst bemerkt" (S. 448).  zurück

14 Etwa wenn Dwars bemerkt, der Preis der Becher-Briefbände sprenge "das Budget der meisten Bibliotheken" (S. 18).  zurück

15 Franke, s. FN 4zurück