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Das inoffizielle StGB

In Simon Urbans drittem Roman „Wie alles begann und wer dabei umkam“ entwickelt ein angehender Jurastudent seine ganz eigene Rechtsprechung

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lässt sich Leid mit Lebensjahren aufwiegen? Und ist es nur das Leid des Opfers einer kriminellen Tat, das vor Gericht verhandelt werden sollte? Oder gibt es da nicht auch noch Mitbetroffene? Männer und Frauen, denen eine gewaltsam zu Tode gebrachte Person beispielsweise fast genauso fehlt wie deren unmittelbarem Umfeld aus Eltern, Partnern und Kindern? Und sollte man nicht, wenn schon durch ein gerichtliches Urteil Leid aufgewogen werden soll, auch jene „Mitopferschaft“ der nicht in erster verwandtschaflicher Reihe Stehenden bei der Strafzuerkennung ins Kalkül ziehen?

Simon Urbans Held aus seinem dritten Roman Wie alles begann und wer dabei umkam macht sich diese Gedanken, lange bevor der Mann, von dem man nur den sprechenden Nachnamen Hartmann erfährt, zum ersten Mal einen Vorlesungssaal an der juristischen Fakultät der Universität Freiburg betritt. Schlimmer noch: Hartmann hat schon als Kind seine unausstehliche Großmutter in einem nach Wochen der „Beweisaufnahme“ in seinem „Jugendzimmer“ stattfindenden imaginären Strafprozess zum Tode verurteilt: Berufung nicht möglich, Urteilsvollzug denkbar grausam. Und auch als der neue Star der Freiburger Juristen, die taffe und mediengewandte Professorin Meta Formella, in ihrer Antrittsvorlesung radikal mit den Rechtsauffassungen ihrer Vorgänger ins Gericht geht und schließlich den Beginn einer Epoche der „positiven Spezialprävention“ als herrschender Lehrauffassung verkündet, sieht er sich sofort als Widersacher der forschen Fürsprecherin eines sowohl humaneren als auch sozialeren Umgangs mit den Tätern vor Gericht.

Denn Urbans Held ist längst dabei, dem deutschen Strafgesetzbuch (StGB) ein „Inoffizielles Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland“ (IStGB) an die Seite zu stellen, einen kanonischen Text, dem später ein reformiertes „Weltgesetzbuch“ folgen soll. Solange die neue Gesetzgebung aber noch auf sich warten lässt, übt der übereifrige Freiburger Student schon einmal als Tutor mit einer Kleingruppe juristischer Anfänger – er nennt sie „die Aufrechten Acht“ – sowie seiner Kommilitonin Sandra den theoretischen Aufstand gegen alles Hergebrachte. Dass beispielsweise Sandras Großonkel Willi auch Jahrzehnte nach dem Krieg noch mit seiner Zugehörigkeit zum SS-Wachpersonal des KZ Mauthausen vor versammelter Familie prahlen kann, ohne dafür wenigstens von den eigenen Verwandten zur Verantwortung gezogen zu werden, darf nicht sein. Also erstickt man den inzwischen in einem Altenheim Untergebrachten, nachdem er die Chance zu bereuen nicht ergriffen hat, kurzerhand mit einem Kissen.

Simon Urban, geboren 1975 in Hagen und zunächst als Werbetexter erfolgreich, hat mit seinem Debütroman Plan D (2011), in dem er der DDR ein fröhliches Fortleben bescherte, und dem Folgebuch, Gondwana (2014), über eine religiöse Diktatur bereits bewiesen, dass er zu den Autor*innen deutscher Sprache zählt, die gern aufs Ganze gehen. Auch Wie alles begann und wer dabei umkam ist wieder so eine fantasievoll-verrückte Geschichte, in Deutschland beginnend und anschließend in die Welt ausschweifend, die sich den Fragen widmet, was Recht von Unrecht unterscheidet, ob immer Gerechtigkeit im Spiel ist, wenn Recht waltet, und warum Selbstjustiz nicht die gerechtere Justiz sein kann, obwohl sie dem, der sie übt, doch eine gewisse Befriedigung verschafft.

Exemplifiziert wird das mithilfe eines Außenseiters – in einem den Roman einleitenden Brief an den Verleger seiner Lebensgeschichte, als die das vorliegende Buch daherkommt, nennt Hartmann sich „einen unzuverlässigen Erzähler […], aber keinen Lügner“ –, der sich auf eine Reise um die Welt begibt, nachdem er sich in Freiburg ein letztes Duell mit seiner internen Widersacherin Meta Formella geliefert hat, die auf  „Fürsorge“, „Betreuung“ und „Besserung“ von Menschen, welche man lediglich im „Jura-Mittelalter“ mit dem Begriff  „Täter“ bezeichnen würde, setzt. Kein Wunder, dass sich Urbans Held daraufhin die E-Mail-Adresse juramittelalter@gmx.de zulegt.

Sein weiterer, in Teil 2 des umfangreichen Romans geschilderter Weg führt ihn zunächst auf die zu Papua-Neuguinea gehörende Insel New Britain, wo er sich der Besatzung eines Thunfisch-Trawlers anschließt, um „gravierende Ungerechtigkeiten am Ort ihres Geschehens zu beobachten“. In Singapur schließlich kümmert er sich um den Fall eines Schwindlers, der wissentlich 57 junge Frauen mit dem HIV-Virus angesteckt hatte. Vor Gericht freigesprochen, weil seine Anwälte erfolgreich mit dem Argument aufgetreten waren, ihr Klient habe von seiner Erkrankung nichts wissen können, hatte dieser Mann – wieder auf freiem Fuß –nichts Eiligeres zu tun, als in einem Buch seinen Frauenhass zu bekennen und die Infizierung seiner Opfer als von langer Hand geplante Racheaktion gegenüber dem ganzen weiblichen Geschlecht zu enthüllen.

Natürlich rollt Hartmann den Fall noch einmal auf, zitiert den Täter wie ehemals die Großmutter vor seinen imaginären Gerichtshof – seine Rechtsauffassung lässt es entgegen den Üblichkeiten im Strafrecht durchaus zu, dass ein Fall bei Vorliegen neuer Beweise ein zweites Mal verhandelt werden kann und kein Freispruch mehr vor einer zukünftigen Bestrafung schützt –, das ihn schließlich zum Tode verurteilt, ein Urteil, welches der inzwischen in fernöstlichen Kampftechniken geübte Held des Romans am Ende auch noch eigenhändig vollzieht.

Wie alles begann und wer dabei umkam konfrontiert seine Leser*innen mit einem Helden, der von sich behauptet: „Ich bin ein schlechter Mensch, der aufgrund dieser Eigenschaft viel Gutes tun konnte […].“ Dem mag man zustimmen oder nicht. Auf jeden Fall ist dieser Propagandist einer neuen, die Rache rehabilitierenden Rechtsprechung, die sich mehr um das Leid der Opfer als um die Besserung und gesellschaftliche Wiedereingliederung der Täter kümmert, ein monomanischer Rechthaber, der nichts außer der eigenen Meinung gelten lässt, und kaum in der Lage scheint, mit anderen mitzufühlen. Als Kind in einer Familienhölle aufgewachsen, in der die Großmutter die Rolle der Oberteufelin spielte, nutzt der Freiburger Beststudent seine Machtstellung als Tutor später aus, den ihm anvertrauten Studenten unter dem Vorwand der praktischen Einübung ins Vertragsrecht intimste Geheimnisse zu entlocken. Hat er beim Mord seiner Kommilitonin Sandra an ihrem Großonkel Willi nur so staunend wie fasziniert danebengestanden, wird er auf der letzten Station seiner Weltreise schließlich selbst zum Mörder und muss seine von Egomanie geprägten Lebenserinnerungen in einer Todeszelle, auf seine Hinrichtung wartend, verfassen.

Simon Urban hat seinen dritten Roman (vielleicht ein wenig zu) vollgepackt mit skurrilen Einfällen, Exkursen in die Welt von Recht und Rechtsprechung, Geschichten, die den Handlungsverlauf für kurze Zeit unterbrechen – darunter ein skurriler Heino-Konzert-Besuch des jungen Hartmann mit seiner Großmutter – und merkwürdigen Rechtsfällen aus aller Welt.

Natürlich dürfen in einem Roman, dessen Held sich in der Sphäre von Recht und Gerechtigkeit einen Namen zu machen versucht, Anspielungen auf das Werk von Friedrich Dürrenmatt nicht fehlen. Aber auch dem Mörder John Lennons, Mark David Chapman, begegnet man als Leser*in und erfährt, dass es mit dem berühmten Musiker auch ganz anders hätte ausgehen können, wenn Hartmann nicht ein paar Wochen vor der Wahnsinnstat mit dem Boot eines Freundes vor Hawaiis Küste unterwegs gewesen wäre.

Alles in allem erweckt Urban den Eindruck, dass es ihm wohl keine große Mühe gemacht hätte, den erzählerisch ausschweifendsten seiner bisher vorliegenden drei Romane noch mit ein paar weiteren Episoden auszustatten. Dafür, dass er das nicht getan hat, ist man am Ende fast dankbar. Denn so darf man sich auf weitere fantasievolle Bücher eines Autors freuen, der längst aus dem Talentstatus herausgewachsen ist. Und auch Hartmanns Freiburger Widersacherin Meta Formella bekundet in der E-Mail, mit welcher das Buch schließt, ihre Dankbarkeit. Denn der Mann, dem sie „Weitblick, Rationalität und Verantwortungsbewusstsein“ abspricht, habe mit seiner Rückwärtsgewandtheit einen Denkprozess bei ihr angestoßen und sie dazu gebracht, mit aller Kraft aktiv dabei zu helfen, „Gesetze zu gestalten und Reformen auf den Weg zu bringen, die Sie, wie ich weiß, entschieden ablehnen“.           

Titelbild

Simon Urban: Wie alles begann und wer dabei umkam.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
544 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783462055009

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