Alles eine Frage der Taktik
In „Skandelexperten – Expertenskandale“ legt Caspar Hirschi eine kritische Expertise über die Expertenkultur vor
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseExperten sind die Janusgestalten der Wissensgesellschaft. Wir benötigen sie und vertrauen ihnen bei komplexen Entscheidungen, handkehrum stehen sie oft als Helfershelfer der politischen Elite unter Verdacht. Der Grat ist schmal zwischen Hochachtung und Ablehnung. Der in St. Gallen lehrende Historiker Caspar Hirschi hat den Experten im Zeichen des Skandals eine erhellende Studie gewidmet. Er analysiert unter dem Titel Skandalexperten – Expertenskandale zwei aktuelle und zwei historische Fallbeispiele, um an ihnen die Problematik des Expertentums auf stichhaltige Weise zu veranschaulichen.
Als unlängst in Genua eine Autobahnbrücke zusammenkrachte, wurde umgehend die Frage nach den Schuldigen aufgeworfen. Wer hat versagt und das Desaster nicht kommen sehen (wollen): die Autobahngesellschaft, die Experten, der Staat? Eine Antwort steht noch aus. Hirschi beleuchtet in seinem Buch einen ähnlich gelagerten Fall: das Erdbeben von Aquila in Mittelitalien, das Anfang April 2009 große Teile der Stadt verwüstete und zahlreiche Todesopfer forderte.
Dass in der Region von Aquila immer wieder die Erde bebt, ist seit Jahrhunderten bekannt. Doch diese Gewissheit nützt wenig angesichts der Tatsache, dass Erdbeben keine sichere Voraussage erlauben. Als Ende März 2009, nach einer Reihe von schwachen Beben, ein Amateurseismologe aufgrund privater Daten ein starkes Beben voraussagte, traten ihm Staat und Wissenschaft mit aller Macht entgegen. Ein Expertenrat ließ sich vom Präsidenten des Amts für Zivilschutz Guido Bertolaso willig einspannen, um die akute Gefahr kleinzureden. Nicht zuletzt deshalb vergaßen die Aquilaner in der Katastropennacht ihr „tradiertes Erdbebenwissen“ und schliefen in ihren Häusern. Das Beben forderte so 308 Tote.
Als in der Folge Anklage gegen ihn erhoben wurde – inzwischen war der Berlusconi-Gefolgsmann Bertolaso auch in eine Korruptionsaffäre verwickelt –, ging durch die Wissenschaftsgemeinde ein Sturm der Entrüstung, der auch medial angefacht wurde. Das ist der zweite Teil einer Geschichte, die bei genauer Beobachtung ein Lehrbeispiel ist für die „politische Instrumentalisierung der Wissenschaft“, gegen die sich die Experten kaum wehren würden, schreibt Hirschi. Ihre Zurückhaltung war 2009 das Ergebnis eines Rollenkonflikts: „Sie mussten gleichzeitig den Geboten der klientelistischen Netzwerk-Ethik und der nationalen Gemeinwohl-Ethik gehorchen“, wobei den Wissenschaftern klar war, dass ihre Arbeit von der Politik bezahlt wird, nicht von den Bürgerinnen und Bürgern. Woraus nur zu gerne folgt: „Jede Regierung sucht sich die Experten aus, die zu ihrer Politik passen.“
Hirschi schildert diesen und drei weitere Fälle akribisch und mit zuweilen die Geduld strapazierender Genauigkeit – wobei letztere gute Gründe hat, denn der Teufel steckt wie meist im Detail. Erst die Zusammenschau von Medienberichten, amtlichen Dokumenten, Gerichtsunterlagen und Mitschriften von (abgehörten) Telefongesprächen fördert im Fall Aquila die verhängnisvolle Kumpanei von Politik und Expertise zu Tage. Die Expertise wird der politischen Taktik unterworfen.
Skandalös war nicht, dass ein Erdbeben nicht vorausgesagt werden konnte, sondern „dass die Wahrheit nicht gesagt werden darf“, wie Bertolaso den Geophysiker Enzo Boschi in einem Telefongespräch anwies. Darin waren sich im Fall des Erdbebens von Aquila alle Beteiligten einig. Schon Jahre zuvor hatte Boschi freimütig in La Stampa kundgetan: „Ich habe Ärsche geküsst, wenn sie geküsst werden mussten, habe gehorcht, mit dem Kopf genickt: Es macht mir nichts aus, es zuzugeben.“ Sein Lehrstuhl rechtfertigt es. So ist es wohl keine Kunst, vorauszusagen, dass sich im Fall der Genueser Autobahnbrücke ähnliche Prozesse abgespielt haben und noch abspielen werden.
Dennoch wäre es weit gefehlt, darin ein italienisches Problem zu sehen, wie Hirschi betont. Der „Neo-Klientelismus“ grassiert in allen Ländern, und sein Mechanismus von Inklusion und Exklusion beginnt bereits da, wo Eltern sich ein passendes Wohnviertel suchen, „um ihren Kindern die bestmögliche Schulbildung in bester Gesellschaft zu ermöglichen“.
Der Autor definiert den Experten durch drei Kernkompetenzen: „der Demonstration von Spezialwissen, der Vermittlung dieses Wissens an Laien und der Behauptung von Unabhängigkeit“. Experten erteilen sachgemäßen Rat, wo sie danach gefragt werden. Wenn Experten aber Entscheidungsgewalt übernehmen, werden sie zu Technokraten; und wenn sie die Unabhängigkeit aufgeben, erscheinen sie als Lobbyisten.
Unter diesem Blickwinkel untersucht Hirschi auch den Fall des britischen Drogen-Experten David Nutt, der vor gut zehn Jahren demonstrierte, wie Experten oft weniger für Beratungszwecke als zur „legitimatorischen Absicherung von Entscheidungen“ angeheuert werden. Die Affäre Calas – ein mysteriöser (Selbst-)Mordfall von 1761 – gilt als der erste große Expertenstreit, in welchem Voltaire mit seinem Traité sur la tolérance medial dazu beitrug, dass es nicht beim Fehlurteil und einer fahrlässig vollzogenen Hinrichtung blieb. Auch in der legendären Dreyfus-Affäre spielte ein Intellektueller eine zentrale Rolle. Mit seinem J’accuse! sorgte Émile Zola für „ein substanzielles Gegengewicht zum wissenschaftlichen Alleinvertretungsanspruch von Experten“ und ihrem epistemischen Scheitern, eine Handschrift mit Sicherheit einem Täter zuzuordnen.
Alle Fälle zeigen in der feinnervigen Aufarbeitung durch Hirschi das Expertentum von einer höchst problematischen Seite, indem Experten sich untereinander in Meinungsstreit verstricken oder von außen politisch instrumentalisiert werden. Es gibt somit gute Gründe, der Expertenkultur zu misstrauen. Doch Skepsis allein hilft nicht weiter, wenn selbst die populistischen Kritiker nicht ohne den Rat von Sachverständigen auskommen.
Im letzten Kapitel geht Hirschi auf ein zentrales Moment des Versagens ein, indem er in der Universitäts- und Bildungspolitik eine grundlegendes Malaise ortet. Das System der Peer Review fördere eine „Disziplinierung der wissenschaftlichen Praxis durch die Politik“, schreibt er. Die Anonymität der Peer-Expertise zeitigt drastische Folgen: Eine offene, namentlich unterzeichnete Kritik ist nicht mehr möglich, mit dem Effekt, dass stattdessen Vorsicht und Affirmation herrschen, weil es sich keiner mit niemandem verderben will. So werden bestehende Ungleichheiten verstetigt, Machtausübung anonymisiert, qualitative Selektion durch die Fachzeitschriften an die Universitäten ausgelagert und ein quantitatives Punktesammeln befördert. „Auf der Strecke bleibt die kritische Diskussion ohne herbeiorchestrierten Ausgang, die allein das Potenzial hätte, wissenschaftliche Forschung als das erkenntlich zu machen, was sie ist: eine ergebnisoffene, von Unsicherheit und Streit geprägte Arbeit am Wissen.“
In diesem zentralen Punkt ist Hirschi wohltuend pointiert. Er plädiert dafür, die Peer Review abzuschaffen und die universitäre Organisation umzubauen. Die Demokratie, betont er nochmals, benötige eine „pluralistische Streitkultur“, die das Expertentum unter der Fuchtel der Politik gar nicht leisten könne. Hier gälte es weiter zu denken und weiter zu diskutieren, um Fake Science und Fake News respektive der „konträren Illusion einer Welt der reinen Tatsachen“ nachhaltig entgegenzuwirken. Der Experte muss zwingend auch ein Kritiker sein.
Nur indirekt weist Hirschi auf eine womöglich weitere Quelle der Expertenkrise hin. Seine Untersuchung bedient sich durchgehend der männlichen Form, mit Recht, wie die dargebotenen Beispiele demonstrieren. Jedenfalls findet in diesem Buch kaum eine Expertin Erwähnung. Das mag auch dem Zufall geschuldet sein, doch eher ist anzunehmen, dass ein System dahinter steckt, wie die Wissenschaftssoziologin Michèle Lamont in ihrem Buch How Professors Think untersuchte. Expertisen sind wohl noch immer eine männliche Domäne. Mehr als ein Peer-Punkt ist mit dieser wichtigen Erkenntnis aber wohl nicht zu holen.
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