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Die Nato nach dem Gipfel von Madrid

Norderweiterung, neues Strategisches Konzept und militärische Neuaufstellung

SWP-Aktuell 2022/A 49, 28.07.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A49

Forschungsgebiete

Der Nato-Gipfel von Madrid im Juni 2022 hat eine umfassende Neuausrichtung der Allianz auf den Weg gebracht. Das zeigen drei zentrale Beschlüsse: die Verabschiedung des neuen Strategischen Konzepts, die angekündigte Aufnahme Finnlands und Schwedens sowie die militärische Neuaufstellung. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirkte dabei teils als Auslöser (Norderweiterung), teils als Kata­lysator, der Entwicklungen beschleunigt, die sich bereits seit langem abzeichnen (militärische Neuaufstellung). Ausgangspunkt für diese Beschlüsse ist die Fest­stellung, dass Russ­land derzeit die größte Bedrohung darstellt. Folglich priorisiert die Nato jetzt klar kollektive Verteidigung im euroatlantischen Raum, während das zuvor dominierende internationale Krisenmanagement (etwa in Afghanistan) an Bedeu­tung verliert. Dieser Fokus wird das kommende Jahrzehnt prägen. Deutschland hat dafür einen Führungsanspruch formuliert. Um ihn umzusetzen, muss sich die Bundeswehr mit Blick auf Ausstattung, Einsatzbereitschaft und Finanzierung besser aufstellen.

Vor dem Gipfel herrschten große Bedenken, dass interne Differenzen die Beschlüsse ver­hindern und ein Signal der inneren Zer­strit­ten­heit sen­den könnten. Es wurde be­fürch­tet, die Türkei würde gegen den Wunsch aller übrigen Alliierten den Beitritt Finn­lands und Schwedens blockieren. Bis zum Vor­abend gerun­gen wurde auch um ein­zelne Passa­gen im Strategischen Konzept, etwa wie kritisch Russland und China benannt werden; um die von einigen Regie­rungen abgelehnte Aufstockung des Gemein­schafts­haushalts; schließ­lich um Aspekte der mili­tärischen Neuaufstellung. Umso bemerkens­werter war es, dass die Nato-Staa­ten die größ­ten Streitpunkte schon am ersten Vor­mittag aus­räumen konnten.

Die Gipfelagenda

Fünf Themen dominierten die Agenda: die Ver­abschiedung eines neuen Strategischen Kon­zepts; der Beitritt Finnlands und Schwe­dens; die Neu­aufstellung der Abschre­ckungs- und Vertei­di­gungsfähigkeiten; die Erhöhung des Gemeinschaftsbudgets sowie die Ver­stetigung der Unterstützungsleistungen für die Ukraine. Im Schatten dieser großen Themen arbeiteten die Alliierten zahlreiche weitere Fragen ab, die sich aus dem neuen Strate­gischen Konzept ergaben; sie betrafen etwa den Umgang mit den Folgen des Klima­wandels, die EU-Nato-Kooperation, den Um­gang mit che­mischen, biologischen und nuk­learen Waffen sowie mit hybriden Be­dro­hungen, nicht zuletzt Ini­tia­tiven zur Inno­vation in der Verteidigungsindustrie.

Bemerkenswert war auch, dass neben der Ukraine als weitere Gäste erstmals vier Staaten aus dem Indo-Pazi­fik an ausgewählten Agendapunkten teilnahmen, die soge­nannten AP4 (Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland). In den Gesprächen mit ihnen ging es zum Beispiel um den Umgang mit hybriden Bedro­hungen sowie Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Blick auf die wachsenden Herausforderungen durch China. Dies zeigt die steigende Bedeutung dieser Region für die Nato und ihr Bestre­ben, die regionale Kooperation auszubauen.

Das neue Strategische Konzept

Die Nato-Staaten haben 2021 den General­sekretär beauftragt, ein neues Strategisches Konzept zu erarbeiten, da das Vorgängerdokument von 2010 weitgehend obsolet war. Das neue Konzept analysiert die sicher­heitspolitische Lage, identifiziert Bedrohungen und definiert Leitlinien für die Aus­richtung des Bündnisses in den kom­men­den 10 Jahren. Es zeigt Kontinuität, indem es trotz langer Kontroversen an den drei Nato-Kernaufgaben festhält: kollektive Ver­teidigung; Krisenprävention und ‑manage­ment; kooperative Sicher­heit. Sie werden nun jedoch anders gewichtet – kollektive Verteidigung hat Priorität. Unterschiede im Vergleich zu 2010 sind vor allem die kri­ti­schere Behandlung Russ­lands, die erst­malige Erwähnung Chinas und die Auf­nahme neuer The­men (wie Klima­wandel) und neuer Be­dro­hungen (wie disruptive Technologien).

Während Russland 2010 noch als strategischer Partner bezeichnet wurde, wird es jetzt als größte und un­mittel­barste Bedrohung für Frieden und Stabilität im euro­atlantischen Raum identifiziert. Ein Angriff auf ein Nato-Mit­glied kann nicht mehr aus­geschlossen werden. Moskaus Bereitschaft, Krieg zu füh­ren, um Interessen- und Ein­flusssphären auszudehnen, sowie seine mili­tärische Auf­rüstung haben potentielle Konflikt­linien zwischen der Nato und Russ­land zur Folge: von der Arktis über den Ostseeraum, das Schwarze Meer und den Balkan bis zum östlichen Mittel­meer und der Sahelzone. Diese Kon­flikte könnten eskalie­ren. Die Nato bleibe aber bereit, die Kom­munikationskanäle offen­zuhalten, um Risi­ken zu mindern, Eskala­tionen zu ver­hin­dern und mehr Transparenz zu schaffen. Das Bünd­nis sucht keine Konfrontation mit Russland und ist keine Bedrohung.

China dagegen wird als Herausforderung defi­niert. Die ursprünglich von einigen Alli­ier­ten, wie den USA, geforderte deutlich kri­ti­schere Betrachtung Chinas wurde letztlich auf Wunsch anderer, vor allem Frank­reichs und Deutschlands, abgeschwächt. Auf­ge­nom­men wurde hingegen die Sorge der USA vor einer zunehmenden Zusammen­arbeit Russ­lands mit China. Die Heraus­for­de­rung durch China ist weniger eine direkte militä­rische Bedrohung, sondern erwächst aus dem Ver­such des Landes, die internatio­nale Ord­nung nach eigenen Vorstellungen um­zu­for­men und zu dominieren. Dazu gehö­ren etwa »böswillige hybride und Cyber­opera­tionen«, konfrontative Rhetorik und Des­information. Daher bestätigt das Kon­zept, dass hybride Bedrohungen und solche im Cyber- und Weltraum die Bei­standsklausel (Artikel 5) auslösen können. Umso wich­ti­ger ist für die Nato, vorsorglich regionale Kooperation mit gleichgesinnten Partnern aufzubauen, wie den AP4. Koope­ra­tive Sicher­heit bedeutet deshalb nicht nur, dass die Nato offen für neue Mitglieder bleibt, wie Finnland und Schweden, sondern auch, dass sie die Kooperation mit Partnern welt­weit intensiviert.

Beitritt Finnlands und Schwedens

In Madrid haben die Alliierten die Beitrittsanträge Finn­lands und Schwedens ange­nom­men. Dank intensiver diplomatischer Bemü­hungen fanden am Vorabend des Gip­fels Schweden, Finnland und die Türkei eine Übereinkunft, die den Weg für den Beitritt frei macht. Darin werden unter anderem Konsultationsmechanismen ver­einbart und die gegenseitigen Bedrohungsperzeptionen anerkannt, aber auch

Grafik 1

Quellen: Nato, New NATO Force Model, Juni 2022; dies., »Press Conference by NATO Secretary General Jens Stoltenberg«, Madrid, 29.6.2022;
dies., »
Madrid Summit Declaration«, Pressemitteilung (2022) 095, 29.6.2022; dies., NATO 2022 Strategic Concept, Juni 2022.

demokratische Werte bestätigt. Nun müssen alle Alliierten die Beitrittsanträge ratifizieren, Finnland und Schweden müssen nach­weisen, dass sie die Beitrittskriterien erfül­len. Ohne weitere Blockaden könnten sie in 6 bis 12 Monaten aufgenommen werden.

Poli­ti­sch und strate­gisch ist ihr Beitritt ein Gewinn: Politisch zeigt die Nato, dass sie trotz russischer Drohungen am Prin­zip der freien Bündniswahl festhält. Geostrategisch wird Nordeuropa nun ein kohärenter Raum, der mit Aus­nahme von Kaliningrad und Sankt Peters­burg unter dem Schutz der Nato steht. Das ver­einfacht die Verteidigungs­planung, ins­besondere für das Balti­kum, und erhöht die Glaubwürdig­keit der Ab­schreckung im Nor­den. Finnland wie Schwe­den werden substantiell zur Nato beitragen, denn sie haben modern ausge­stattete, schlag­kräftige und gut aus­gebildete Streit­kräfte, innovative Rüstungsindustrien, außer­ge­wöhn­liche regionale operative Kennt­nisse über Russland, einzig­artige Fähig­keiten zur Kriegsführung in klimatisch schwierigen Re­gionen wie der Arktis sowie umfassende nationale Gesamtverteidigungskonzepte. Als Enhanced Oppor­tunity Partners (EOP) arbei­ten sie schon lange eng mit der Nato zu­sam­men, was ihre Integration erleichtern wird.

Allerdings vergrößert sich mit ihrem Bei­tritt auch das Nato-Gebiet, was allein die mehr als 1.300 Kilometer lange finnische Grenze zu Russland zeigt, die die Nato künf­tig in ihre Verteidigungs­planung ein­bezie­hen muss. Wenig über­raschend kriti­siert Russ­land die beiden Beitritte, da sie eine Nato-Übermacht im Nordosten Europas be­deu­teten und seine Handlungsfähigkeit dort be­schrän­ken würden, vor allem die seiner Nordmeer- und Ost­see­flotte. Zwar haben sich Finn­land und Schweden bislang nicht dafür ausgesprochen, auf ihrem Terri­tori­um Nato-Trup­pen zu stationieren oder ein Haupt­quartier (HQ) zu errichten; aber zu­min­dest die tem­poräre Präsenz der Nato in den bei­den Län­dern wird zunehmen, etwa im Rah­men ge­mein­samer Übungen. Um die Ver­­teidigung des nördlichen Bündnisgebiets zu sichern, muss die Nato die seit Jah­ren dis­ku­tierte regio­nale Koordination im Ost­see­raum ver­bessern und sie enger in die über­geord­nete Abschre­ckungs­politik einbinden.

Stärkung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit

Aus der Bedro­hungsanalyse leitet das Stra­te­gische Konzept die Notwendigkeit ab, die Ab­schreckung und Verteidigungs­fähig­keit der Nato zu stärken und neu aufzustellen. Um auf die russische Bedro­hung zu reagie­ren, will die Allianz ihre Präsenz in den be­son­ders ex­po­nier­ten Gebieten aus­bauen, vor allem an ihrer Nordost- und Süd­ostflanke die Luft- und Flugkörperverteidigung stär­ken, sowie die Cyberabwehr und die Übungstätigkeit inten­sivieren. Damit alle Staaten kohärent vor­gehen, sollen natio­nale und Nato-eigene Ver­tei­di­gungspläne überarbeitet bzw. er­stellt sowie syn­chroni­siert werden. Drei Ideen leiten diese Neu­aufstellung (vgl. Grafik 1, Seite 3):

Erstens wurde ein neues Streit­kräfte­modell beschlossen, das New Force Model (NFM), das die bisherigen Nato-Formate ablöst, namentlich die Nato Response Force (NRF) und die Speerspitze VJTF. Der An­spruch des NFM ist, etwa 800.000 Soldaten zu organisieren. Es teilt die Streitkräfte und Fähigkeiten der Alliier­ten verschiedenen potentiellen Kon­flikt­regionen innerhalb des euro­atlanti­schen Raums zu, etwa dem Ost­see­raum, und orga­nisiert sie in drei Stufen, sogenannten Tiers, mit wachsender Bereit­schaftszeit. Tier 1 und Tier 2 bilden mit 100.000 bzw. 200.000 Sol­daten den Kern und weisen mit 10 bzw. 30 Tagen eine hohe Reak­tions­bereit­schaft auf. Tier-3-Trup­pen, weitere 500.000 Sol­da­ten, sollen graduell in bis zu 180 Tagen ein­satz­bereit sein.

Innerhalb der drei NFM-Tiers sind weitere Differenzierungen vorge­sehen: So werden innerhalb von Tier 1 die bisher exis­tieren­den NRF und VJTF in einer neuen schnel­len Ein­greiftruppe aufgehen, der Allied Reac­tion Force (ARF), die 40.000 Soldaten um­fasst. Diese werden dem obersten Nato-Befehls­haber SACEUR ständig – also bereits vor Aus­bruch einer Krise – unter­stellt sein, um eine schnelle Reaktion zu ermög­lichen. Das ist eine beachtliche Neue­rung: Bislang haben einige Staaten, darun­ter Frank­reich und Deutschland, dies abgelehnt.

Allerdings sind in allen drei Stufen Kräfte verplant, die jeder Alliierte zur Ver­tei­di­gung seines eigenen Territoriums oder unter natio­naler Führung als freiwilligen zusätz­lichen Beitrag vorhält. Die Staa­ten behalten also die Hoheit über die meisten ihrer Trup­pen. Das NFM bedeutet auch nicht, dass die Nato nun tatsächlich über 800.000 Soldaten ver­fügen würde – es han­delt sich lediglich um eine neue Zuord­nung. Viele Truppen bleiben unter natio­naler Füh­rung, und bei einigen ist die tat­säch­liche Einsatzbereitschaft fraglich.

Neu ist zweitens ein stärkerer regionaler Fokus. Streitkräfte und Fähigkeiten der Alli­ierten werden teilweise potentiellen Kon­flikt­regionen (Fokusgebieten) im euroatlanti­schen Raum zugeordnet, etwa dem Balti­kum. Zusammen mit geplanten Voraus­stationie­rungen von Munition und Material soll dies die Ein­satzbereitschaft erhöhen. Praktisch heißt das zum Beispiel, dass Muni­tion und Material der Bundeswehr dort gelagert wer­den, wo im Ernstfall deutsche Kontingente eingesetzt würden. Ferner werden die Füh­rungsstrukturen für regio­nale Aufgaben gestärkt; die drei existierenden Joint Force Commands (Brunssum, Neapel und Norfolk) erhalten eigene Verant­wortungsbereiche. Ähnliches gilt für die Führungs­elemente inner­halb einer Region: Beispielsweise er­wei­tert sich die Rolle des Multinationalen Korps Nordost (MNC NE) in Stettin, sodass es regio­nal und domänenübergreifend Nato-Heeres­kräfte im Ostseeraum koordi­nieren kann.

Kritik kommt vornehmlich von Alli­ierten aus Süd­europa, die ihre Kräfte nicht fest regional zuordnen wollen. Sie befürchten, dass eine solche Festlegung die Flexi­bilität für den SACEUR reduziert und auf Kosten der Aufmerksamkeit für die Süd­flanke mit ihren spezifischen Problemen geht, etwa Instabi­lität und Terrorismus.

Drittens passt die Nato ihr Abschreckungs­modell an und verschiebt den Schwer­punkt von Abschreckung hin zu Verteidigung. Die bisherigen Planungen in Ost- und Mitteleuropa waren als deterrence by reinforce­ment konzipiert: Die Abschreckungs­wirkung baute auf eine geringe, rotie­rende multi­natio­nale Truppenpräsenz in den baltischen

Grafik 2

Quelle: Nato, NATO’s Eastern Flank: Stronger Defence and Deterrence, Juni 2022.

Staaten und Polen (jeweils ca. 1.000 Mann), die sogenannte enhanced Forward Presence (eFP), die im Krisen­fall ver­stärkt werden sollte. Ins­besondere die genannten Staaten be­zwei­felten, dass dieser »Stol­perdraht«-An­satz funktionieren würde, und for­der­ten die permanente Sta­tionie­rung grö­ßerer und schwerer ausgerüsteter Verbände sowie glaubhafte Verstärkungstruppen.

Die neuen Planungen folgen nun dem Ansatz deterrence by denial, dem gemäß dem Gegner durch größere Truppenpräsenz und die Vorausstationierung von schwerem Gerät und Munition verdeutlicht wird, dass ein Angriff scheitern würde. Sichtbar wird der neue Ansatz in der Ent­scheidung, die existierenden eFP zu multidomänfähigen Verbänden auf Brigadeebene aufzustocken und ent­sprechende Fähig­keiten sowie schwe­res Gerät, etwa Artillerie, vor Ort zu sta­tio­nieren. »Multidomänfähig« bedeu­tet, dass die Einhei­ten in den ver­schiedenen Einsatz­feldern, den Domänen (Land, Luft, See, Welt­raum, Cyberraum), handlungs­fähig sein werden. Zudem wer­den die Nato-Ver­bände verstetigt, die als Reaktion auf den russi­schen Krieg gegen die Ukraine in der Slo­wa­kei, in Bulgarien und Rumänien zusätzlich aufge­stell­t wurden (vgl. Grafik 2).

Mehrere Staaten haben bereits zugesagt, ihre Beiträge zu erhöhen, darunter Deutsch­land, das das eFP-Kontingent in Litauen führt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Zu­sagen im Rahmen der Nato, wie sie Deutsch­land gegeben hat, und bilateralen Zusagen. Letzteres trifft auf die USA zu, die ihre Prä­senz in Europa ausbauen wollen, unter anderem durch ein neues HQ in Polen und die Stationierung von zwei F‑35-Kampf­jet-Geschwadern in Groß­britannien.

Insgesamt geht es also nicht nur um eine quantitative Aufstockung der Nato-Streit­kräfte, sondern auch darum, Einsatzbereitschaft und Ausrüstung zu verbessern bzw. neu zu strukturieren. Das NFM wird damit zum Maßstab für die gesamten Nato-Streit­kräfte und den Nato-Planungsprozess NDPP. Es soll Mitte 2023 umgesetzt werden. Die Nato hat aber keine eigenen Streitkräfte und betreibt nur wenige Fähigkeiten selbst, etwa die Aufklärungsflugzeuge AWACS – alle Beiträge kommen von den Staaten. Das heißt: Um diese umfassenden Neuerungen umzusetzen, müssen alle Alli­ierten größere Beiträge in höherer Qualität leisten (Truppen, Aus­rüs­tung), was beträchtliche Anstrengun­gen erfor­dert und teils lange dauern wird.

Überdies muss die Nato die begonnene Neu­konzeption von Verteidigung und Abschreckung den sich wandelnden Rah­menbedingungen stetig anpassen. Da Kon­flikte in der kon­ven­tionellen und der nuk­learen Dimension, aber auch im Cyber- und Welt­raum und in nichtmilitärischen Berei­chen wie dem Informationsraum ausge­tra­gen werden können, müssen die Nato-Kon­zepte laufend weiterentwickelt und neu gedacht werden.

Schlüsselrolle Deutschlands

Die Bundesregierung hat bereits vor dem Gip­fel die Beschlüsse geprägt. Unter ande­rem musste ein Kompromiss gefunden wer­den zwischen den Wünschen namentlich der baltischen Staaten und Polens, die zusätz­liche Kräfte forderten, etwa jeweils eine Bri­gade von 3.000 bis 5.000 Sol­da­ten, und dem, was die Truppenstellerstaaten bereit und in der Lage sind zu lie­fern. Die dauer­hafte Sta­tio­nierung von Ver­bänden dieser Größenordnung ist nicht nur teuer, sondern derzeit faktisch kaum mach­bar: Die Füh­rungsnatio­nen der eFP im Balti­kum, also Deutschland (in Litauen), Groß­britannien (Estland) und Kanada (Lettland), verfügen kurzfristig nicht über solche einsatz­bereiten und voll ausgerüsteten Heeresbrigaden.

Daher schlug Deutschland vor, dass nur ein Teil der neuen Bri­gaden vor Ort statio­niert wird, vor allem Stabselemente, Muni­tions- und Betriebsstoff­lager. Der Großteil bleibt in den Heimatländern, wird aber ver­pflichtend für die Nato eingeplant und in Abruf­bereitschaft ver­setzt. Für Deutsch­land und Litauen bedeutet das zum Beispiel, dass Elemente der Brigade sich in Litauen befin­den, der Großteil in Deutschland in Bereit­schaft steht, Litauen fest zuge­ordnet ist und dort Übungen ab­sol­viert werden. Großbritan­nien und Kanada wollen sich an diesem Modell orien­tieren. Auf diese Weise soll die bis­herige eFP-Struktur bis 2025 mit multi­domänfähigen Elementen zur Brigadeebene aufgebaut werden. Deutschland be­tei­ligt sich zudem an der neuen Battle­group in der Slowakei, unter anderem mit Flugabwehr.

Zusätzlich hat Deutschland in Madrid an­geboten, ein stehendes regionales, maritimes HQ für den Ost­seeraum bereit­zustellen (vgl. SWP-Aktuell 100/2020). Dieses stän­dige, multinational besetzte HQ würde Nato-Kräfte regional und domänen­übergreifend im kom­pletten Spektrum von Frieden bis Krieg ko­or­dinieren. Polen hat allerdings ein ähn­liches Angebot unterbreitet, da es ebenfalls eine regionale Führungs­rolle beansprucht. Die Nato hat in dieser Sache bis­lang nicht entschieden, um deutsch-pol­ni­sche Konflikte zu vermeiden. In diese Lücke stößt nun Lon­don und reklamiert seinerseits eine Füh­rungsrolle ent­lang der Nord­flanke und in der Ostsee. Alle drei Länder stehen vor der­selben Herausforderung, diese Ansprüche auch materiell zu unter­mauern. Absehbar ist hier nicht nur der Konflikt der Füh­rungs­ansprüche, sondern ebenso eine gegen­seitige praktische Behinderung, wenn die Kräfte zugewiesen werden sollen.

In der maritimen Domäne will Deutschland seine Führungsrolle im Ostseeraum unterstreichen, indem es etwa 20 Kriegsschiffe für Tier 1 und 2 bereitstellt. Für den Landbereich ist eine Division vor­gesehen, die vor­rangig in Litauen, aber auch im ge­sam­ten Baltikum und ent­lang der Nato-Ost­grenze zur Verfügung stehen soll. Die Um­set­zung dieser Zusagen ist allerdings frag­lich – seit Jahren sagt Deutschland der Nato eine Division zu, hält dies aber nicht ein.

Im Luftbereich hat die Nato auf den Krieg in der Ukraine mit einem Ausbau des Air Policing und Air Patrolling reagiert. Dar­über hinaus soll die Luftraumverteidigung verbessert werden. Dazu bedarf es mehr Flugzeuge in den besonders exponierten Regionen sowie des Ausbaus der boden­gebundenen Flugabwehr. Der deutsche Beitrag hierzu wurde noch nicht präzisiert.

Für Deutschland gilt es deshalb, dass es ers­tens seine Zusagen an die Nato inner­halb der vereinbarten Fristen erfüllt – das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Zweitens muss Berlin eigene Ver­tei­digungs­pläne erarbeiten und diese mit denen der Nato abstimmen, um die eigenen Kräfte und Fähigkeiten planbar und flexibel ein­setzen zu können.

Mit den Beschlüssen von Madrid kommen gerade auf Deutschland große Anfor­de­run­gen zu. Seine Bedeutung für Europas Ver­tei­digung resul­tiert teils aus seiner Wirt­schaftskraft: Wenn Berlin wie angekündigt 2 Prozent seiner Wirtschaftskraft für Ver­teidigung ausgibt, hat es 2022 mit circa 55,6 Milliarden Euro sowie dem diesjähri­gen Anteil am Sondervermögen von ver­anschlagt etwa 25 Milliarden Euro den mit Abstand größten Verteidigungshaushalt in Europa (Großbritannien ca. 53,8 Mrd. Euro, Frankreich ca. 49,6 Mrd. Euro). Investiert Deutschland klug, kann es damit zum kon­ventionellen Rückgrat für die Nato werden. Aufgrund seiner Lage ist es außerdem das logistische Drehkreuz, über das potentielle Einsätze im Osten des Bündnisgebiets ver­laufen würden. Politisch steht Berlin wegen seiner Russlandpolitik in der Kritik; viele Alliierte haben sie als zu lange zu unkritisch empfunden. Dass Deutschland sein Bekenntnis zur Nato praktisch untermauert, ist also eine Frage der Glaub­würdigkeit.

Praktisch erfordert die Neuaufstellung der Nato von Deutschland mehr Truppen in höherer Bereitschaftszeit, die Stärkung von Fähigkeiten der Landes- und Bündnisverteidigung (wie weitreichende Artillerie und Luft­raumverteidigung) sowie strukturelle An­passungen. In ihrem aktuellen Zu­stand kann die Bundeswehr dies nur unter größ­ten Anstrengungen leisten und muss dafür andere Verpflichtungen reduzieren, etwa die Beiträge, die sie im Rahmen des inter­nationalen Krisenmanagements erbringt, zum Beispiel in den Operationen UNIFIL und IRINI. Um die angestrebte Führungsrolle aus­füllen zu können, muss die Bundes­wehr drei Dinge dauer­haft sicherstellen:

  • Ausstattung: Um die Bereitschaftszeiten des NFM einzuhalten und die notwendige Flexibilität in der Umsetzung der Nato-Verteidigungsplanung zu gewährleisten, ist eine personelle und materielle Vollausstattung der Truppe erforderlich. Aller­dings gelingt es der Bundeswehr seit Jah­ren nicht, ausreichend und geeignetes Personal zu gewinnen. Materiell war die Bundeswehr zu lange auf Krisen­manage­menteinsätze ausgerichtet und hat einen schwerfälligen Rüstungs­beschaffungs­prozess etabliert. Hinzu kommt die un­zu­längliche Versorgung mit und Bevorratung von Munition. Der Be­schaffungs­prozess muss strukturell und recht­lich reformiert werden, um jenseits von lang­wierigen Ausschreibungs- und Be­schaf­fungsverfahren sowie Produktfestlegungen kurzfristig das benötigte und marktverfügbare Material beschaffen zu können.

  • Einsatzbereitschaft: Um sie zu erhöhen, braucht es strukturelle Reformen. Zum Beispiel muss die Entscheidungshierarchie abgeflacht und den unteren Ebenen mehr Eigenverantwortung übertragen werden. Dadurch kann mehr Fle­xi­bilität und eine grundlegende Kaltstartfähigkeit geschaffen werden. »Kaltstartfähigkeit« bedeutet hier, voll ausgerüstete und um­fassend aus­gebildete Streitkräfte zur Ver­fügung zu haben, die im Falle einer mili­tärischen Konfrontation kurzfristig abruf­bereit und geografisch unabhängig ein­setzbar sind. Die Einsatzbereitschaft der Bundes­wehr kann verbessert werden, indem Kräfte und Fähigkeiten für Landes- und Bündnisverteidigung vorbestimmt und dafür ausgebildet werden.
    Um die Einsatz­fähigkeit der Bundeswehr abzusichern, wäre ferner ein umfassendes Reserve­konzept hilfreich. Das würde etwa den Bedarf an Sicherungs- und Absicherungsfähigkeiten abdecken, der innerhalb der Bundesrepublik entsteht, sollte ein Konflikt eskalieren und Kräfte aus Tier 3 des NFM abgerufen werden müssen. Für die deutschen Bei­träge zur ARF, die permanent unter der Führung der Nato stehen, sollte eine Art Präautorisierung durch den Bundestag er­wogen werden. Diese würde sowohl der Nato als auch den deutschen militärischen Füh­rern mehr Handlungssicherheit geben. Diese Art Vorratsbeschluss würde dem SACEUR erlauben, auch in Krisen unter klaren Vorgaben schnell zu reagieren, ihn aber zu einer nachträglichen Geneh­migung verpflichten. Es wäre ein pragmatischer Kompromiss, der poli­ti­sche Kontrolle und militärische Schnelligkeit verbindet.

  • Finanzierung und politische Unterstützung: Das Sondervermögen über 100 Milliarden Euro, verbunden mit der Zusage, den Verteidigungshaushalt auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzuheben, macht es möglich, seit langem bestehende Fähigkeitslücken zu schließen. Dazu gehören zum Beispiel die persönliche Ausstattung der Soldaten, Kommunikationssysteme, das Kampf­flug­zeug F‑35, das Deutschlands Rolle in der nuklearen Teilhabe sichern soll. Aller­dings handelt es sich bei den meisten Beschaffungsprojekten um langfristige, mehrjährige Vor­haben. Entsprechend muss die Finan­zie­rung langfristig gesichert sein. Die Alli­ierten sind sich weitgehend einig, dass ihre 2014 formulierte Forderung, 2 Pro­zent des BIP für Vertei­digung auszugeben, lediglich ein Minimum beschreibt (»2 % ist the floor, not the ceiling«).
    Hinzu kommt, dass Geld allein die seit langem bekannten Prob­leme der Bundes­wehr nicht lösen kann. Ebenso wichtig sind funktionierende Beschaffungs- und Ver­gabesysteme, eine Anpassung der Trup­penstruktur und klare politische Ziel­vorgaben. Letztere kann die Natio­nale Sicherheitsstrategie bieten, die der­zeit unter Federführung des Auswärtigen Amtes erarbeitet wird.

Ausblick: Mehr Europa

In Madrid ist es den Alliierten gelungen, trotz großer Differenzen politische Ge­schlos­senheit zu demonstrieren. Das ist auch nötig: Erst wenn die Nato-Staaten politisch über­zeugend nach innen und außen vermitteln können, dass sie fürein­ander einstehen, wird das militärische Bei­standsversprechen glaubwürdig. Beson­ders ermutigend waren die starke politi­sche Unterstützung der USA und die Verstärkung ihrer mili­täri­schen Prä­senz in Europa. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass erstens wei­ter­hin der Indo-Pazifik in der US-Verteidi­gungspolitik Pri­orität genießt, wie die kürz­lich verabschiedete Nationale Verteidigungs­strategie belegt. Zweitens wächst durch die innen­politische Polarisierung in den USA die Wahr­scheinlichkeit, dass bei den nächs­ten Präsidentschaftswahlen 2024 ein Kandi­dat gewinnt, der vergleichbar mit dem vor­he­ri­gen Präsidenten Trump wenig Interesse an transatlantischer Kooperation zeigt.

Langfristig müssen sich die Europäer da­her auf eine Verteidigung mit immer gerin­geren US-Beiträgen vorbereiten. Das heißt, sie müssen ihre Nato-Beiträge ver­bessern und erhö­hen, so dass sie zukünftig mindes­tens 50 Pro­zent der Nato-Planungen leisten. Eine militärische Verteidigung Europas ohne konventio­nelle und nukleare Beiträge der USA und deren politische Führung ist in den kom­men­den 10 bis 15 Jahren unrea­listisch. Die Europäer können aber ihre Bei­träge suk­zes­sive stei­gern. Die Beschlüsse von Madrid sind folg­lich vor allem Haus­aufgaben für die Euro­päer – und ins­beson­dere für die, die wie Deutschland aufgrund ihres wirtschaftlichen und politischen Ge­wichts die Allianz prägen.

Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Fregattenkapitän Göran Swistek ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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