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    Bücher

    Mikrokosmos einer verlorenen Stadt {Lesetipp}

    15. Februar 2025

    Auf diesen Roman war ich sehr neugierig, denn er sollte an die finstersten Zeiten unseres Land erinnern und die Veränderung in der Gesellschaft unter dem Faschismus aufzeigen. Sehr aktuell und notwendig.
    Der Ort der Handlung ist das fiktive “Ginsterburg”, Berlin findet Erwähnung und – Stetten am Kalten Markt. Das lässt mich hier in Ba-Wü natürlich aufmerken. Stetten ist ja gar nicht so weit entfernt. Ein bisschen über Stetten a.K.M. und seiner Geschichte im Netz geforscht und schon wird mir klar, dass ein wichtiger Protagonist in diesem Buch eine historische Persönlichkeit ist. Schade, dass dies weder im Klappentext noch in Vor- oder Nachwort Erwähnung findet. Das sollte nachgeholt werden, denn es würde das Buch ja eigentlich authentischer machen.

    Arno Frank: Ginsterburg

    Arno Frank führt uns in die fiktive deutsche Kleinstadt Ginsterburg, wo wir zu drei Zeitpunkten, in den Jahren 1935, 1940 und 1945 die Entwicklung der Bevölkerung verfolgen können.

    1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung hat sich der Alltag bereits deutlich verändert. 
    Die jung verwitwete, politisch eher links orientierte Buchhändlerin Merle hat noch große Ressentiments gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern. Sie zieht allein und sehr liebevoll ihren sensiblen, sehr naturverbundenen Sohn Lothar auf. Anfangs fremdelt Lothar sehr mit der Hitlerjugend in seinem Ort, die mit Ignoranz und Brutalität glänzt. Doch mit seiner Faszination für das Fliegen wird er bald an deren Angel hängen.
    Die Gunst der Stunde ergreift der Blumenhändler Gürckel, macht Geschäfte, reichert Machtpositionen an, steigt so zum Kreisleiter auf und bringt Grundstücke und Gebäude in seinen Besitz. Er verhilft auch Eugen, der sich an seinem Kriegsveteranen-Vater abarbeitet, zum Posten des Schriftleiters der ehemals jüdisch geleiteten Ginsterburger Lokalzeitung. Den ganzen Verlauf des Romans wird Eugen ausschweifend und inbrünstig an der Chronik des Ortes schreiben.

    Ein weiterer Profiteur ist der Papierfabrikant Jungheinrich. Er weiß auszunutzen, dass man für Granaten auch Papier braucht. Auch der Arzt Hansemann lebt seine „medizinischen Forschungsinteressen“ im Osten aus.

    Zu den Verlierern gehören z.B. der jüdische Zeitungsverleger, der schwule Filmvorführer und der geistig behinderte Fritz

    1940 haben sich die jüdischen Mitbürger selbst aus dem Ort entfernt, durch Flucht oder Suizid. Der Krieg scheint weit weg zu sein. Dafür laufen die Geschäfte der Profiteure prächtig. Kritische Stimmen sind verstummt oder haben sich korrumpieren lassen. Man hat sich mit den Gegebenheiten arrangiert oder angepasst, wenn man nicht sowieso voller völkischer Begeisterung mitschwingt. Es ist deutlich zu merken, wie das Geschehen die Menschen verändert hat. 

    Fazit:

    Ich halte das Thema an sich, wie das alltägliche Leben der Menschen bis ins Detail von der Machtergreifung verändert wurde, vom kleinen Kind bis zum Greis, vom Gesunden bis zum Kranken für ungemein wichtig.

    Die Blicke auf drei verschiedene Jahre: 1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung, 1940 nach Kriegsbeginn, 1945 kurz vor dem Zusammenbruch und Kriegsende sind eigentlich eine gute Idee, um Entwicklungen zu verdeutlichen. So werden an verschiedenen Protagonisten die Gewinner und Verlierer des Systems, die Korrumpierung der Menschen, seelische Auswirkungen, ihre persönlichen Verstrickungen aufgezeigt.

    Charaktere, die nur teilweise überzeugen können

    Der am besten gezeichnete Charakter ist für mich der Junge Lothar. Der junge Naturliebhaber, fasziniert vom Fliegen, entrinnt seiner Mutter zunehmend. Er ist sehr sensibel und liebevoll dargestellt und kann kein Wesen leiden sehen. Allerdings ist seine Entwicklung nicht so anschaulich dargestellt, dass ich verstehe, wie es dazu kommt, dass er später emotionslos Bomben auf Städte fallen lässt. Dabei ist es doch gerade so wichtig, dass man genau das nachvollziehen kann. 

    “Was kannst du nicht?” – “Grausam sein. Töten. Ich kann es nicht.” – Gesine lächelte aufmunternd: “Das lernst du schon noch!”

    S. 64

    Unter die fiktiven Charaktere mischen sich tatsächliche historische Personen mit ihrem Realnamen wie Lothar Sieber und Erich Barmin.  Gerade dieser Lothar Sieber wird zu einem äußerst wichtigen Protagonisten. Ohne Erwähnung z.B. in einem Vor- oder Nachwort ist das so in meinen Augen absolut nicht in Ordnung, zumal sogar das Testament des realen Lothar Sieber wortgetreu übernommen wird.

    Das Grauen in der Ferne

    Lediglich angedeutet in kurzen Erwähnungen oder kleinen Bildern werden die Vernichtung der Juden, politische und rassische Verfolgung und andere Grausamkeiten. Alles scheint wie auch der Krieg nur in der Ferne stattzufinden.

    Es gibt nur wenige Momente, die mich wirklich bewegt und erschüttert haben, wie der blutige Wahnsinn und rauschhafte Blutdurst der Soldaten beim Töten der Kraniche, die lapidare Hinrichtung von Zwangsarbeitern und des britischen Kriegsgefangenen, welcher sich wie ein Menetekel vom Beginn des Buches an auf Ginsterburg zubewegt.

    Ansonsten haben die Protagonisten anscheinend kaum greifbare Zweifel oder Emotionen. Mir fehlen da persönliche Entwicklungen, Einsichten, Widerstand. Die Beziehungen der Charaktere sind oft wenig nachvollziehbar, teilweise banal und berühren mich so nicht.  So möchte man doch unbedingt miterleben, wie es zu Lothars Entwicklungswende kommt, wie Protagonisten plötzlich eine Beziehung beginnen etc. 
    Die Darstellung der Charaktere ist gelegentlich recht grob skizziert und oberflächlich, manchmal auch klischeehaft z.B. die Nazizwillinge des Kreisleiters.  Manche Figuren erscheinen redundant (z.B. die Zirkusleute). Viele Entscheidungen und Entwicklungen der Charaktere an denen man gerne teilhaben würde, werden nur nacherzählt (z.B. Wendepunkte bestimmter wichtiger Personen, Entwicklungen von persönlichen Beziehungen).  

    Die Erzählperspektive wechselt öfter. Am Anfang hatte ich die Hoffnung, dass die Darstellung von Merle und ihrem Sohn Lothar tiefer dringt, leider entgleiten dem Autor diese Fäden.
    Mir ist es deshalb leider nicht gelungen, mich mit einem der Charaktere näher zu verbinden.   

    Mäandrierender Schreibstil

    Der Schreibstil erinnerte mich etwas an den Stil der 30iger und 40iger Jahre, was ja eigentlich passen würde.  Zeitweise ist der Stil recht anschaulich und stimmungsvoll. Aber oft scheint die Geschichte vor sich hin zu mäandrieren und immer wieder Schleifen zu den vielen Nebenfiguren zu ziehen.

    Das Ziel des Autors Arno Frank ist Parallelen aufzuzeigen zwischen der heutigen politischen Situation und der, die zur NS-Zeit geführt hat mit den entsprechenden Folgen für die Menschen. Die normale Bevölkerung wird zu Mitläufern, Mittätern, Denunzianten. Am Ende mündet es alles direkt in der Katastrophe. Das ist eine sehr wichtige Absicht, die mich persönlich hier aber nicht wirklich überzeugen konnte.

    Ich bedanke mit beim Klett-Cotta-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
    Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.

    Arno Frank:
    Ginsterburg
    Verlag Klett-Cotta, Februar 2025
    432 Seiten

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