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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„So will ich mich für jetzt von Ihnen verabschieden und Ihren Herrn Papa aufsuchen,“ sagte Lüdinghausen.

„O, ich gehe mit Ihnen,“ rief Lea, „ich bin ja stolz darauf, einen so lieben Gast als Jagdbeute mit heimzubringen.“

Sie nahm ihren Hut auf und klopfte einige Moos- und Blatttheilchen aus seinem Tüll. Dann faßte sie ihn an dem Rand und trug ihn in der herabhängenden Hand. So ging sie langsam neben Lüdinghausen her.

„Sie waren auf der Jagd . . .?“ nahm Lüdinghausen die Unterhaltung wieder auf.

„Nach schwarzen Gedanken, kohlpechrabenschwarzen,“ lachte Lea.

„Die möchte ich kennen,“ sagte er, „denn sie scheinen so unvereinbar mit Ihnen.“

„Wie wenig Sie mich demnach kennen!“ erwiderte sie langsam. „Ich bin oft sehr ernst, so ernst, daß es schon an Traurigkeit grenzt.“

Lüdinghausen bekam Herzklopfen. Er sah sie an, Ihr Gesicht war ganz streng und stolz, ihr Auge düster. Sie sah aus wie jemand, der gewohnt ist, ein großes Leid stumm zu verbergen. Sekundenschnell flog ihm der Gedanke durch den Kopf, daß ihre Liebe zu ihm sie vielleicht unglücklich mache, weil sie das Gefühl nicht erwidert glaube. Daß Lea denken könne, er sei in sie verliebt, fiel ihm trotz seines werbenden Benehmens nie ein.

Lea hingegen gab sich in dieser Pause, von wenig Herzschlägen Dauer einer ihrer „großen“ Stimmungen hin. Mit Verachtung gegen das Geschick und Spott für Lüdinghausen dachte sie, wie oft sie hier neben einem andern so gegangen war; nicht einmal das Pferd als Staffage fehlte. Und für diesen andern waren Blick und Lächeln echt gewesen! Sie fühlte sich als Märtyrerin und sagte sich, daß sie ihrer Persönlichkeit es schulde, das Unglück stolz zu tragen, und das häßliche Leben fest und muthig anzugreifen.

„Worüber traurig?“ fragte er, und seine Stimme zitterte, „darf ich es wissen? Fühlen Sie so viel Vertrauen zu mir, um sich mir gegenüber aussprechen zu mögen?“

Frauen verachten die Männer immer, welchen sie eine Komödie vorspielen. Lea sah in diesem Augenblick geradezu auf Lüdinghausen herab.

Aber sie fing an, zu sprechen, und schon nach wenig Worten hatte sie diese Aufwallung vergessen. Sie redete sich ganz in das hinein, was sie sprach, und sah in Lüdinghausen die Erfüllung ihrer Augenblicksphantasien.

„Ich fürchte, mißverstanden zu werden,“ sagte sie. „Was kann ein Mann wissen von den qualvollen, ja vielleicht zu hochfliegenden und darum thörichten Träumen einer Frauenseele! Aber jede von uns – das heißt die, welche die Kraft und die Fähigkeit in sich haben, etwas zu leisten – hat einmal eine Zeit, wo sie wünscht, ein Mann zu sein. Was können wir? Nichts! Nicht einmal uns die Aufgaben wählen, zu deren Erfüllung wir berufen wären. Wir müssen warten, bis die Aufgaben an uns herankommen. Wir müssen zufrieden sein mit dem Platz, welchen uns der Zufall der Geburt gegeben hat. Ein Mann kann sich einen höheren und besseren Platz erobern, wenn er sich dem entwachsen fühlt, auf welchem er stand. Er kann empor. Wenn er in sich die Berufung zu einem Thron fühlt, kann er sich den des Geistes, den der Arbeit erobern. Wir können nichts. Wir müssen warten – warten. Und wenn kein freundliches Geschick uns erlöst, müssen wir still unser Können, unser Wollen begraben. Wir müssen schön und anmuthig bleiben, vielleicht brave Frauen werden, die auf Ordnung in Küche und Haus halten, aber zu den Herrlichen dieser Welt gehören wir nicht. O, daß ich eine der Wenigen, Auserlesenen wäre!“

Wie sich jeder in eine schöne Musik das hineindenkt, was ihn gerade bewegt, so vernahm auch Lüdinghausen aus dem Wortgetön Leas gerade das, was er gewünscht hatte, in ihr zu finden: das Bedürfniß nach großen Lebensaufgaben.

„Glauben Sie mir,“ sagte er ernst, „daß ich verstehe, was Sie bewegt. Sie fühlen sich zu höheren Leistungen veranlagt, als diejenigen sind, welche Ihre Pflichten hier von Ihnen fordern. Die Zukunft wird Ihnen ohne allen Zweifel bringen, was sie Ihnen schuldet. Ich liebe und bewundere den Ehrgeiz auch in einer Frauenseele. Auch eine Frau soll kämpfen. Auch eine Frau soll das Pfund recht verwalten, das ihr die Natur gegeben hat.“

Diese seine Worte zogen Lea aus ihren Höhen wieder herab auf die Erde, und sie hörte nur, daß er sie offenbar ganz und gar nicht verstanden hatte. Was Kampf? Was Pfund verwalten? O Clairon, der fühlte mit jedem Pulsschlag ihr nach, daß sie zu etwas Höherem geboren sei. Zu Genuß und Glanz, aber nicht zu Kampf und Arbeit.

Und wieder erschien ihr Lüdinghausen so schulmeisterlich und so unerträglich pedantisch.

O Gott, warum hatte nicht Robert, der schöne, stolze, vornehme Robert, die Millionen dieses Menschen!

Lüdinghausen schwieg, weil seine Gedanken übervoll waren von beglückenden Hoffnungen. Lea schwieg, weil die Bitterkeit ihr Herz verzehrte.

So kamen sie an das Parkgitter.

„Wir sind angekommen,“ sagte sie, „ich eile, den Meinigen den lieben Gast zu verkünden und Ihnen den Reitknecht entgegenzuschicken.“

So war Lüdinghausen denn auf Römpkerhof, und der Tag, welchen er hier verleben sollte, erschien ihm in allen späteren Jahren, wenn er daran zurückdachte, nicht wie ein Tag, sonderst wie eine ungemessene Spanne Zeit.

(Fortsetzung folgt.)



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Unschuldig verurtheilt!
Beiträge zur Geschichte des menschlichen Irrthums.0 Neue Folge. III.
Irrthümer der Medizin und der Naturwissenschaft. – Der Prozeß gegen die Ottoschen Eheleute wegen Mords der eigenen Kinder. – Mord oder Selbstmord? – Wahnsinn oder Verstellung?

Bei der Feststellung des wirklichen Thatbestands, das heißt bei der Beantwortung der Frage, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt oder nicht, ist der Richter oft ganz auf den Ausspruch der medizinischen Sachverständigen angewiesen. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die Todesursache festzustellen, wenn der Tod eines Menschen unter verdächtigen Umständen erfolgte. Der Gerichtsarzt übernimmt in solchen Fällen das Amt des urtheilenden Richters und die damit verbundene oft weittragende Verantwortung. Die Schwankungen und Irrthümer in den Lehrsätzen der Erfahrungswissenschaften, welche heute oft etwas als unumstößliche Wahrheit aufstellen, was sie nach einer Reihe von Jahren wieder als falsch verwerfen müssen, beeinflussen damit auch die Frage der Schuld oder Nichtschuld eines Angeklagten. So fällt namentlich die Entscheidung darüber, ob der Tod eines Menschen die Folge der Beibringung von Gift gewesen ist, neben der Medizin zunächst der Chemie zu. Ihre Aufgabe ist es, im Wege der chemischen Untersuchung das Vorhandensein oder Fehlen von Gift oder Giftspuren in der vielleicht schon längere Zeit im Grabe ruhenden Leiche festzustellen. Und gerade nach dieser Richtung hin hat die Chemie in den letzten Jahrzehnten durch Erfindung geeigneter Apparate und Entdeckung neuer Verfahren große Fortschritte gemacht. Aber mit jeder neuen Verbesserung der Methode verband sich zugleich die Feststellung der Mängel der frühern und der möglichen Irrthümer, welche durch sie verschuldet sein konnten. Mit dem irrenden Ausspruche der Wissenschaft irrt aber auch der Richter.

Auch hierfür liefert die Geschichte der Strafrechtspflege mehrfache Beispiele, in welchen die Wahrheit noch zum Worte gekommen ist, ehe es zu spät war.

Im Herbst 1889 spielte sich vor dem Schwurgerichte in Gera der Schlußakt einer Untersuchung ab, welche gegen den Drahtwarenfabrikanten Eduard Otto und dessen Ehefrau in Jena wegen versuchter und vollendeter Ermordung ihrer eignen Kinder durch Beibringung von Gift anhängig gemacht worden war. Bei diesem Prozesse lag der Ausgang ganz in den Händen der Chemie und Medizin.

Den beiden genannten Eheleuten waren während ihrer vierzehnjährigen Ehe elf Kinder geboren worden. Von diesen starben zwei Mädchen im Alter von anderthalb Jahren bezw. vier Monaten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_328.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2023)