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Textdaten
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Autor: Moritz Busch
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Titel: Das Rigigespenst
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 669–671
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[669]
Das Rigigespenst.
Von Moritz Busch.


„Wenn Einer eine Reise thut, so kann er was erzählen“, sagt tiefsinnig der Poet, – „und wenn man bei seinen Reisen Glück hat, kann man auch von solchen Dingen berichten, die Andere nicht erzählen können“, füge ich nicht minder tiefsinnig hinzu. Ein Paar gute Augen und ein treues Gedächtniß thun viel dazu, das Beste aber muß immer das Glück oder, wenn man will, der Zufall leisten. Ich spreche aus Erfahrung; denn ich bin viel von Hause weg gewesen, und das Glück hat mir dabei ziemlich wohl gewollt. Abenteuer erheblicher Art zwar hat es mir, obschon der Ort zuweilen dergleichen erwarten ließ, nicht in den Weg gestellt, dagegen hat es mich sowohl im Bereiche des Menschenlebens, wie auf dem Gebiete der Natur eine Anzahl Dinge sehen lassen, die mancher Andere nicht leicht zu Gesicht bekommt.

Ich war schon in vier Welttheilen gewesen, als ich das erste Mal nach Berlin kam, und in zweien davon ganz entschieden nach dem Willen des Glückes. Ich durchstreifte das Land zwischen Hudson und Mississippi, und dreimal trugen mich die Dampfer des österreichischen Lloyd nach den Gestaden des Orients. Ich habe im Eriesee und im Nil gebadet, im lebendigen Alpheios, im Todten Meere und selbstverständlich auch in der heiligen Fluth des Jordan, habe in Ohio dem Gottesdienste der tanzenden Shaker, in Kassim Pascha am Goldenen Horne dem der tanzenden Derwische und nicht minder dem der heulenden Derwische von Masr Atikah mit gebührender Andacht beigewohnt, habe wiederholt mit langbärtigen Tunkern disputirt, mehrmals mit Staunen und gelindem Grauen beobachtet, was verzückte Methodisten-Campmeetings in religiöser Schwelgerei zu leisten und zu vertragen im Stande sind, und mehr als einmal mit Mormonen gebetet und gesungen, wobei mir fast immer mehr oder minder ein wohlwollender Zufall den Weg wies und die betreffende Thür öffnete. Ich war in St. Louis, und derselbe hülfreiche Zufall führte Kinkel dahin und ermöglichte mir dadurch, Blicke in das Leben und Treiben der damaligen deutschen Flüchtlingswelt zu thun, wie sie sich so ergötzlich und so lehrreich nicht alle Tage boten. Wieder derselbe mich freundlich begleitende Zufall zeigte mir Amerikas größtes Naturwunder unter Umständen, wie sie europäische Freunde des Landschaftlich-Erhabenen selten erlebt haben werden: er ließ mich den Niagarafall im Wintergewande, verbrämt mit bereiftem Ufer- und Inselgebüsch und behangen mit dem Schmuck riesiger Eiszapfen, bewundern und für alle Zeit in der Erinnerung mit heimnehmen.

In New-York mußte man vor etwa fünfundzwanzig Jahren, wenn man die schwärzeste Stelle an der Nachtseite der Stadt gesehen haben wollte, die Five Points und namentlich die „Old Brewery“ besucht haben, ein altes gichtbrüchiges, windschiefes Gebäude, in dem Alles, was die Diebsnester der Manhattaninsel von Seitenstücken zu den Scheusalen der „Geheimnisse von Paris“ und den Verbrechergestalten der Ainsworth'schen Muse aufzuweisen hatten, in den ruchlosesten Exemplaren hauste. Als Liebhaber der Vollständigkeit wollte ich das Nest sehen, und zwar bei Nacht, wo sich Dergleichen besonders gut ausnehmen sollte. Aber es war schon am hellen Tage für Leute, die auf eine heile Haut halten und ihr Geld lieber in der eigenen Tasche, als in fremder sehen, dort nicht geheuer. Da sandte mir das Glück den Bootsmann des Schiffes, mit dem ich herüber gekommen, in den Gasthof; der kannte den „French Lewis“, einen der Loafercapitaine der Stadt, den alles böse Volk derselben mehr als die Polizei respectirte und der uns bereitwillig durch das unheimliche Viertel begleitete, und siehe da, die Expedition wurde ohne Schaden und zu großer Bereicherung meiner Kenntniß von menschlicher Teufelei ausgeführt.

Fünf Jahre später befand ich mich in Triest auf dem Wege nach Aegypten. Die Abfahrt verzögerte sich, und ich ärgerte mich nicht wenig darüber. Aber das Glück hatte es gut damit gemeint. Man rieth mir, inzwischen einen Abstecher nach Venedig zu machen. Ich folgte dem Rathe, und wahrhaftig, wieder hatte Dame Fortuna mir eine Ueberraschung bereitet, wie ein Fremder sie schwerlich oft zu begrüßen haben wird: sie hatte es, als ich früh in der „Luna“ erwachte, schneien lassen, und sie hatte – es war in der Weihnachtszeit des Jahres 1856 – dem Kaiser Franz Josef den Gedanken eingegeben, gerade jetzt der Königin der Adria einen Besuch abzustatten, die ihn dafür durch eine glänzende Illumination ehrte. Man denke sich: die Marcuskirche, der Dogenpalast, der Campanile, die Procurazien in Schnee und von hunderttausend Flämmchen, Pechpfannen und bengalischem Feuer strahlend! Noch heute sehe ich deutlich die Spiegelbilder all dieser Herrlichkeit auf den dunkeln Wassern des Canale Grande gaukeln.

In Aegypten pilgerte ich in der Nacht nach dem Fuße der großen Pyramide, aus deren Spitze die romantische Laune eines Reisegefährten am nächsten Morgen die Sonne aufgehen zu sehen wünschte, und war dort dringend einer Schlafstelle bedürftig. Beim Lichte des Mondes fand ich sie in einer Höhle am Felsrande, dicht unter Chufu's Riesenbau, und als ich mir diese bei Tagwerden genauer betrachtete, hatte ich in einem mit Hieroglyphen verzierten Mumiengrabe geschlafen – wenn der rothe Murray Recht hatte, war es das letzte Bett eines altägyptischen Hofraths, oder gar eines Geheimen Hofraths gewesen, in das mich der Zufall gewiesen. Es lag[1] sich allerliebst darin.

In Jerusalem gab es 1859 allerlei hochverwundersame Raritäten zu sehen, z. B. die Steine, so da geschrieen haben würden, wenn die Menschen geschwiegen hätten, das Haus des reichen Mannes – im Gleichniß, und an einer Mauer auf der Via Dolorosa, nicht weit von der Thür, wo der Ewige Jude dem Heilande das Ausruhen verwehrte, den tiefen Abdruck der Schulter des Erlösers, den er zurückgelassen, als er unter der Last des Kreuzes gestrauchelt war. Ich habe diese Wunder allesammt gewissenhaft besucht und noch ein Dutzend beinahe ebenso erstaunliche. Auf eine andere große Sehenswürdigkeit dagegen, die Manchem bedeutender erscheinen wird, meinte ich verzichten zu müssen. Vor dem Eingange zum Haram Esch [670] Sherif, der ummauerten Hochebene des Moriah, auf der einst der salomonische, dann der herodianische Tempel stand und wo sich jetzt neben der Aksa-Dschamie das zweitgrößte Heiligthum des Islam, die Kuppelmoschee mit dem Felsblocke erhebt, von dem Muhamed gen Himmel gefahren ist, wies mich, als ich in meiner Unschuld hinein wollte, wie der Engel mit dem Flammenschwerte am Thore des Paradieses, ein barscher Muslim, den krummen Säbel erhebend, als unreinen Giaur zurück, und ich erfuhr dann bei Consul Rosen, daß kein Franke dort Zutritt habe. Aber mein gutes Glück ließ sich nicht werfen. Es wußte auch hier Rath. Was macht es? Zwei Tage nachher schickt mir's den veritabeln Großfürsten Konstantin aus Petersburg und in dessen Begleitung den jetzt verstorbenen Professor Tischendorf aus Leipzig zu Hülfe, und vor diesen Celebritäten thut sich das verschlossene Sacrosanctum so weit auf, daß auch ich mit hinein schlüpfen und alles behaglich betrachten kann, wonach mein Herz begehrt.

Ich habe ferner einige Reisen nach Schleswig-Holstein gemacht, auf deren letzter der mir immer gewogene Zufall – oder war's diesmal vielleicht etwas Anderes? – es so einzurichten wußte, daß ich tief in das Hauptquartier der Augustenburgischen hinein gelangte. Aeltere Leser der „Gartenlaube“ und der „Preußischen Jahrbücher“ wissen sich vielleicht zu erinnern, daß mein Stern mir auch da in einige Winkel und Winkelzüge hineinleuchtete, zu denen ich mich ohne ihn nicht hingefunden hätte.

Ich bereiste endlich Frankreich nach dem Willen eines gütigen Geschickes unter höchst eigenthümlichen und gewissen Beobachtungen ungewöhnlich günstigen Umständen. Es war während der großen Völkerwanderung des Jahres Siebenzig, und ich hatte – Salz in die Augen des Neidischen! – die Ehre, die Tour von Saarbrücken bis Sedan und von da nach Versailles in der unmittelbaren Umgebung des Grafen von Bismarck zu machen und während des ganzen Krieges, drei oder vier Tage ausgenommen, in denselben Häusern mit ihm zu wohnen, mit ihm zu speisen, beim Thee seine Aeußerungen zu hören und überhaupt täglich direct mit ihm verkehren zu dürfen.

Nach diesen Erinnerungen darf ich wohl sagen, daß ich dem Glücke einigen Dank schulde und mich vor dem Neide fürchte. Die französische Reise war die höchste Begünstigung, deren ich gewürdigt wurde. Ich gedenke von ihr demnächst in der „Gartenlaube“ einiges Mittheilbare zu berichten. Heute will ich nur von dem wunderbarsten unter den Naturspielen erzählen, die mir der Zufall auf meinen Wanderungen vor die Augen führte. Da es kaum schon von Vielen in der Gestalt und Farbe, in der ich es vor mir schweben sah, beobachtet worden ist, so schildere ich es mit aller Ausführlichkeit.

Man hat oft vom Brockengespenste gehört, jener Luftspiegelung im Nebel, welche, mit der Fata Morgana verwandt, dem Reisenden als sein eigenes riesengroßes Schattenbild entgegentritt. Aehnliche barocke Phantasien der atmosphärischen Welt spuken auch an anderen Orten in allen Welttheilen, in den Wüsten Asiens und Afrikas, an den Küsten verschiedener Meere und in den Bergen sowie auf den Steppen der westlichen Hemisphäre. Auch der Rigi hat sein Gespenst, welches in seiner gewöhnliche Gestalt und Tracht dem des Brocken im Wesentlichen gleichen soll, aber auch noch eine andere, gewissermaßen eine Sonntagstracht hat. Auch in jener selten, scheint es in dieser nur ganz besonders Bevorzugten sich zu zeigen, und ein solcher Fall, der im Sommer des Jahres 1865 vorkam, soll im Folgenden mitgetheilt werden. Physiker mögen die Bedingungen erklären, unter denen das höchst eigenthümliche Phänomen sich bildet. Ich berichte lediglich, was ich gesehen und seitdem in lebendigster Erinnerung bewahrt habe, und schicke nur noch voraus, daß dabei die Rolle des Zufalls diesmal der vor Kurzem verstorbene Leipziger Buchhändler Hirzel übernommen hatte.

Im Spätsommer 1865 also besuchte ich Heinrich von Treitschke zu Freiburg im Breisgau, der damals dort als außerordentlicher (oder war's als ordentlicher) Professor wirkte. Eben wollte ich mich wieder auf den Heimweg begeben, da jener eine Reise durch die Schweiz nach Lyon vorhatte, als ein Brief von Hirzel eintraf, der unter andern spaßhaften Dingen die Aufforderung an Treitschke enthielt, mich unter allen Umständen – zur Noth mit Anwendung von Gewalt – mit nach der Schweiz zu nehmen und mich wenigstens ein Stück davon sehen zu lassen. Ich hatte daran nicht entfernt gedacht, wollte nicht, konnte nicht, gab aber doch zuletzt nach, und der nächste Tag sah uns über Basel nach Zürich dampfen. Von dort ging's später an den Zugersee und hinüber nach Arth am Fuße des Rigi und dann zu Fuße den Berg hinauf.

Der Tag war schwül; Wolken zogen sich zusammen, und auf der Strecke zwischen Rigi-Klösterli und Rigi-Staffel brach ein ziemlich heftiges Gewitter los, das dicht über uns hing und uns trotz Treitschke's Schirm und Plaid ganz artig durchnäßte, sonst aber ohne Unglimpf und Harm bis auf einige leichte Wolkenweben vorüberzog.

Als wir den Gasthof auf Rigi-Staffel erreicht, Unterkunft gefunden und uns, so gut es ging, gesäubert und umgezogen hatten, begaben wir uns eilig hinaus, um uns den Gästen beizugesellen, welche die Pracht des Spätnachmittagslichts drunten auf der Ebene nach Küßnacht hin bewunderten. Es war ein unvergleichlich schönes Bild. Die Dörfer, die einzelnen Gehöfte, die Capellen, die Wiesen und Büsche lagen, mit brennendem Tiefgelb übergossen, wie ein erhaben gearbeiteter Teppich vor uns. Alle Einzelnheiten waren zu erkennen; alle Ferne war verschwunden; ein gutes Auge unterschied deutlich viertausend Fuß unter uns Menschen und Thiere, Fenster und Thüren, und Alles trat uns plastisch entgegen. Aber während hier und auf einem kleinen Theile des Vierwaldstättersees die Sonne aus blauem Himmel ihre vollste reichste Lichtfülle ausgeströmt hatte, war hinter uns und zur Linken über uns Alles ein einziges fahles Grau, und unter den schweren Wolken lag die Gegend in tiefem melancholischem Schatten. Hier und da flog durch das Halbdunkel, wie ein langer weißer Schleier, ein dünner lichter Dunststreifen über die Wipfel der Waldschluchten hin.

Nach dem Pilatus zu war es heller, und man gewahrte hier in der Ferne die Gletscher und die schneebedeckten Felspyramiden des Hochgebirges. Um sie und den See besser sehen zu können, begaben wir uns auf den Weg nach einer kleinen Erhöhung am Ende der Matte hin, an welcher unser Gasthof lag. Diese Erhöhung, Rigi-Rothstock genannt und mit einem Geländer und einer Bank versehen, befindet sich nach meiner Erinnerung einige hundert Schritte vom Hôtel, und der Weg dahin führt über eine Wiese mit kurzem Grase. Wir waren, als wir uns nach ihr aufmachten, allein. Auch vor uns war Niemand zu bemerken. Nur einer von jenen weißen Wolkenschleiern schwebte langsam, von der Gegend des Sees herkommend, dicht über dem Boden hin. Wir hatten ihn zur Linken, und er mochte etwas mehr als doppelte Mannshöhe haben und sich zwanzig bis fünfundzwanzig Schritte von uns hinbewegen. Wir waren nicht fern mehr von der Erhöhung mit der Bank, als ich plötzlich an einer Stelle in dem wandernden Wölkchen ein Phänomen bemerkte, das erst bleich, dann heller und zuletzt brennend, wie ein Rad ohne Speichen und Nabe aussah. Es war ein Kreis in den Farben des Regenbogens, der unverrückt in dem dahinziehenden Nebelgewebe stehen blieb. Der Kreis schien circa vier Fuß im Durchmesser zu haben, die bunte Peripherie zwei Hände breit zu sein; das von ihr Eingeschlossene war weiß. Alles war still und einsam um uns. Ich machte meinen Begleiter auf das Wundergebilde aufmerksam und wir betrachteten es ein Weilchen. Dann stiegen wir von der Matte den Hügel mit der Bank hinauf, und als ich mich hier umdrehte, war das Phänomen noch immer vorhanden; nur hatte es eine andere Gestalt angenommen. Es war jetzt unten auseinander gegangen und zu einer regenbogenfarbenen Nische von der Form eines stark gestreckten Hufeisens oder eines Rundbogenfensters geworden.

Diese Nische oder Thür schien mit ihren beiden Pfosten auf dem Erdboden zu ruhen. In der Mitte aber, zwischen diesen, standen zwei Schatten. Es waren die Silhouetten von Menschen und, als ich genau hinsah – unsere Schatten. Sie hatten ungefähr die Größe von dreijährigen Kindern. Sonst waren sie entschieden unsere Abbilder: die breitrandigen Hüte, Treitschke's Plaid und Schirm, mein Stock, Alles scharf umrissen, nichts nebelhaft, nichts schwankend. Ich meinte einer Augentäuschung zu unterliegen und fragte Treitschke, ob er das wunderliche Gebilde auch noch sehe. Er bejahte es. Zu größerer Sicherheit nahm ich ihm den Regenschirm, schwenkte ihn und winkte dem [671] Gespenste damit, und siehe da, mein schwarzer Doppelgänger hatte jetzt ebenfalls einen Schirm und schwang ihn ebenfalls. Noch nicht völlig sicher und zufrieden, rief ich einem Manne, der jetzt mit zwei halbwüchsigen Mädchen (er war, wenn ich mich recht entsinne, aus Appenzell oder Schaffhausen) über die Matte auf die Erhöhung zukam, die Frage entgegen, ob er in dem Wolkenstreifen etwas sehe. Auch er sah die Regenbogennische und die Schatten. Ich ersuchte dann das eine der Mädchen, statt Treitschke’s, den ich bei Seite zu gehen bat, neben mich zu treten, und richtig stand, wie ich erwartet, jetzt der Schatten einer weiblichen Gestalt in dem bunten Rahmen.

Die Erscheinung mochte nahezu vier Minuten gedauert haben, und sie war während dieser Zeit mehrmals bald blaß, bald brennend geworden, als sie allmählich wieder erbleichte, ganz undeutlich wurde und verschwand, während der weiße Wolkenstreifen fortfuhr, lautlos und langsam über die Matte hinzuschweben.

Als wir später unser Erlebniß an der Wirthstafel erzählten, sagte man uns: „Sie haben das Rigigespenst gesehen.“

Wir hätten das Phänomen vielleicht genauer untersuchen, dem Gespenste zu Leibe gehen, mehrmals den Ort wechseln, hinter die Nische treten sollen und dergleichen. Aber wie das bei solchen Fällen wohl immer zu gehen pflegt, die Erscheinung war im eigentlichsten Sinne fesselnd; sie heftete den Zuschauer an den Boden. Man wagte eine Zeit lang kaum zu athmen, geschweige denn sich zu rühren. Man war überdies nicht gewillt, das zarte Gebilde zu stören. Man genoß es ohne das Bedürfniß, es zu kritisiren und zu analysiren, und so blieb Vieles daran für uns Laien in der Physik ein Räthsel. Warum veränderte das Phänomen nicht seinen Stand? Warum sah man nicht auch den Schatten des Schweizers in dem Regenbogenrahmen? Wie geschah es, daß der Kreis sich in eine Nische verwandelte? Daß die Erscheinung eine theils mit der Fata Morgana, theils mit dem Regenbogen verwandte war, lag auf der Hand. Namentlich die Verwandtschaft mit dem letzteren war nicht zu verkennen. Denn lange noch, nachdem unser Gespenst verschwunden war, sahen wir in der Ferne, da, wo die Wolkenschatten den Boden verdunkelten, ähnliche Strahlenbrechungen. Auf abgeschrägtem Lande jenseits des Sees brannte mitten im Schwarz der Beschattung eine Fläche Landes, dem Anschein nach etwa hundert Quadratruthen groß, wie ein mit Regenbogensamen besäetes Feldstück, und die Myten bei Schwyz starrten, von denselben glühenden Farben überlaufen, wie ein paar ungeheuere Steinbockshörner oder Mammuthszähne aus der sie umgebenden Nacht empor.

Ich habe erzählt, was ich gesehen, nichts dazu gethan und nichts weggelassen, nichts verschönert und nirgendwo höhere Lichter aufgesetzt. Ich denke, so müßte es die Wissenschaft brauchen können, und vielleicht kommt nun einer von ihren Leuten und macht für die „Gartenlaube“ einen Vers daraus.


  1. Vorlage: „ag“