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„Kippelemente im Erdklimasystem“ – Versionsunterschied

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[[Datei:Franzke 2022 Environ Res Lett Fig2 - Schematic of some possible interactions and cascading effects between the Earth system and the Human system.jpg|mini|400px|Kopplung zwischen klimatischen und sozialen Kippelementen<ref>{{Literatur |Autor=Christian L E Franzke et al |Titel=Perspectives on tipping points in integrated models of the natural and human Earth system: cascading effects and telecoupling |Verlag=IOP Publishing Ltd |Datum=2022-12-14 |Sprache=en |Reihe=Environmental Research Letters |NummerReihe=1 |BandReihe=17 |Seiten=015004 |ISSN=1748-9326 |DOI=10.1088/1748-9326/AC42FD | |Format=PDF |KBytes=1193 |Abruf=2023-04-03}}</ref>]]
 
Als '''Kippelement''' ({{enS|Tipping Element}}) wird in der [[Erdsystemforschung]] ein großskaliger Bestandteil des [[Klimasystem |Klima-]] oder allgemeiner des Erdsystems bezeichnet, der bereits durch geringe äußere Einflüsse in einen neuen Zustand versetzt werden kann, wenn er einen „Kipp-Punkt“ bzw. „[[Tipping„Tipping-Point]]“Point“ erreicht hat. Diese Änderungen können oft abrupt oder unumkehrbar sein.<ref name="PIKA">{{cite webInternetquelle |url=http://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente |titletitel=Kippelemente – Achillesfersen im Erdsystem |accessdatezugriff=2014-06-06 |publisherhrsg=Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung |archiv-url=https://web.archive.org/web/20140807113406/http://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente |archiv-datum=2014-08-07}}</ref><ref>{{Literatur |Hrsg=IPCC |Titel=Climate Change 2021: The Physical Science Basis |Kapitel=Glossary |Fundstelle=Einträge ''tipping element'' und ''tipping point'' |Seiten=2251}}</ref>
 
Über die genauen Schwellwerte vieler Kippelemente besteht Unsicherheit, sie könnten bei anhaltenden Treibhausgasemissionen in diesem Jahrhundert überschritten werden. Die Änderungen können sich in wenigen Jahren vollziehen, für die meisten Kippelemente werden jedoch deutlich längere Änderungszeiträume vermutet.<ref name="wang2023">{{Literatur |Autor=Seaver Wang, Adrianna Foster, Elizabeth A. Lenz, John D. Kessler, Julienne C. Stroeve, Liana O. Anderson, Merritt Turetsky, Richard Betts, Sijia Zou, Wei Liu, William R. Boos, Zeke Hausfather |Titel=Mechanisms and Impacts of Earth System Tipping Elements |Sammelwerk=Reviews in Geophysics |Datum=2023-02 |DOI=10.1029/2021RG000757}}</ref> Die Wahrscheinlichkeit abrupter, irreversibler Änderungen und die Folgen solcher Änderungen nehmen mit fortschreitender Erderwärmung zu. Bereits bei Überschreitung des [[1,5-Grad-Ziel]]s gibt es ein hohes Risiko, dass Kippelemente ausgelöst werden.<ref>{{Literatur |Hrsg=IPCC |Titel=Synthesis Report of the IPCC Sixth Assessment Report (AR 6) – Longer Version |Datum=2023-03 |Kapitel=3.1.3 The Likelihood and Risks of Abrupt and Irreversible Change}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=David I. Armstrong McKay, Arie Staal, Jesse F. Abrams, Ricarda Winkelmann, Boris Sakschewski |Titel=Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points |Sammelwerk=Science |Band=377 |Nummer=6611 |Datum=2022-09-09 |ISSN=0036-8075 |Seiten=eabn7950 |DOI=10.1126/science.abn7950}}</ref> Das Auslösen von Kippelementen kann eine zusätzliche signifikante Erderwärmung nach sich ziehen.<ref name="wang2023"/> Es gibt Befürchtungen, dass das Kippen einzelner Elemente Rückkopplungen in Gang setzen könnte, die Änderungen in anderen Subsystemen des Systems Erde hervorrufen und so Kaskadeneffekte auslösen.<ref>{{Literatur |Autor=Nico Wunderling, Jonathan F. Donges, Jürgen Kurths, Ricarda Winkelmann |Titel=Interacting tipping elements increase risk of climate domino effects under global warming |Sammelwerk=Earth System Dynamics |Band=12 |Nummer=2 |Datum=2021-06-03 |ISSN=2190-4979 |Seiten=601–619 | |Abruf=2021-06-04 |DOI=10.5194/esd-12-601-2021}}</ref> Hypothesen über Kaskaden, die mit einer Erderwärmung von mehr als zwei Grad innerhalb diesesdiesen und nächstesnächsten Jahrhunderts verbunden sind, bedürfen einer weiteren Substanziierung und sind nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft unwahrscheinlich.<ref name="wang2023"/>
 
== Geschichte ==
Das Konzept der Kippelemente wurde von [[Hans Joachim Schellnhuber]] um das Jahr 2000 in die Klima-Forschungsgemeinschaft eingebracht.<ref name="pnas.org">{{cite journal |author=Kaspar Mossman |year=2008 |title=Profile of Hans Joachim Schellnhuber |journal=[[Proceedings of the National Academy of Sciences|PNAS]] |volume=105 |issue=6 |pages=1783–1785 |language=en |doi=10.1073/pnas.0800554105}}</ref><ref>{{cite web |url=http://archive.sciencewatch.com/dr/nhp/2009/09julnhp/09julnhpLentET/ |title=New Hot Papers: Timothy M. Lenton & Hans Joachim Schellnhuber |accessdate=2014-02-15 |date=2009-07 |publisher=ScienceWatch.com |language=en |type=Interview}}</ref> Aufbauend auf seinen Arbeiten zur [[Nichtlineares System|nichtlinearen Dynamik]] wies er – als einer der koordinierenden Leitautoren der Arbeitsgruppe II – im [[Dritter Sachstandsbericht des IPCC|dritten Sachstandsbericht]] des [[Intergovernmental Panel on Climate Change]] (2001) auf die bis dahin vernachlässigte Möglichkeit diskontinuierlicher, irreversibler und extremer Ereignisse im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung hin. Bis dahin war vorwiegend von linearen, allmählich stattfindenden Veränderungen ausgegangen worden.<ref>{{Literatur |Autor=Joel B. Smith, Hans Joachim Schellnhuber, M. Monirul Qader Mirza |Titel=Vulnerability to Climate Change and Reasons for Concern: A Synthesis |Sammelwerk=IPCC Third Assessment Report – Climate Change 2001 |WerkErg=Working Group II: Impacts, Adaptation and Vulnerability |Verlag=[[Cambridge University Press]] |Datum=2001 |Kommentar=Report | |Format=PDF |KBytes=404}}</ref>
 
Der im Februar 2008 publizierte Fachartikel „Tipping elements in the Earth’s climate system“ gehörte in den Jahren 2008 und 2009 zu den am häufigsten zitierten Arbeiten im Bereich der Geowissenschaften<ref>{{cite web |url=httphttps://www.pik-potsdam.de/de/aktuelles/pressemitteilungennachrichten/archiv/2009/kippelemente-bleiben-201eheises201c-thema?set_language=de |title=Kippelemente bleiben „heißes“ Thema |accessdate=2014-01-06 |publisher=Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung}}</ref> und weist gegenwärtig (Stand: April 2019) über 2.500 Zitationen in der Fachliteratur auf. Die Forschungsarbeit zu dem Artikel hatte im Oktober 2005 begonnen. Bei einem Workshop in der [[Britische Botschaft in Berlin|Britischen Botschaft in Berlin]] hatten 36 britische und deutsche Klimaforscher das Konzept diskutiert und mögliche Kippelemente im Erdsystem identifiziertdiskutiert. Im Jahr darauf wurden 52 weitere internationale Experten befragt sowie die gesamte relevante wissenschaftliche Literatur zu dem Thema ausgewertet. Als Ergebnis wurden neun potentielle Kippelemente benannt, bei denen der Kipp-Punkt vor dem Jahr 2100 erreicht werden könnte.<ref name="PIK2008">{{cite web |url=https://www.pik-potsdam.de/de/aktuelles/nachrichten/archiv/2009/archiv/2008/kippelemente-im-klimasystem-der-erde |title=Kippelemente im Klimasystem der Erde |accessdate=2022-01-09 |date=2008-02-05 |publisher=Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung}}</ref> Inzwischen wurden weitere mögliche Kippelemente identifiziertangegeben.<ref>{{cite web |urlname=http://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente/kippelemente?set_language=de"PIKA" |title=Kippelemente – Achillesfersen im Erdsystem |accessdate=2014-02-16 |publisher=Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung}}</ref>
 
Ging der IPCC 2001 noch davon aus, dass das Erreichen von Kipppunkten erst bei einer Erwärmung von mehr als 5 Grad wahrscheinlich sei, kam er in den jüngeren Sonderberichten aus den Jahren 2018 und 2019 zu dem Ergebnis, dass Kipppunkte bereits bei einer Erwärmung zwischen 1 und 2 Grad überschritten werden könnten.<ref name="Lenton 2019">{{Literatur |Autor=Timothy M. Lenton, Johan Rockström, Owen Gaffney, Stefan Rahmstorf, Katherine Richardson |Titel=Climate tipping points — too risky to bet against |Sammelwerk=Nature |Band=575 |Nummer=7784 |Datum=2019-11 |Seiten=592–595 | |Abruf=2019-11-28 |DOI=10.1038/d41586-019-03595-0}}</ref>
 
Weitere Forschung ist entscheidend, um der Gesellschaft Kosten, Nutzen und Grenzen von Klimaschutz und -anpassung verstehen zu helfen. Angesichts der Relevanz des Themas für die Klimapolitik gibt es Rufe nach einem IPCC-Sonderbericht zu Kippelementen.<ref>{{Internetquelle |hrsg=Weltmeteorologieorganisation |titel=United in Science 2022 – A multi-organization high-level compilation of the most recent science related to climate change, impacts and responses |url=https://public.wmo.int/en/resources/united_in_science |abruf=2023-03-27 |kommentar=Abschnitt ''Tipping Points in the Climate System - WMO, World Climate Research Programme (WMO/International Science Council/IOC-UNESCO)''}}</ref> [[Thomas Stocker]] vertritt die Position, die Klimawissenschaft wisse noch zu wenig über Kipp-Punkte, sowohl was die Theorie betrifft als auch die Modelle und die Beobachtungen; während er zwar bestätigt, dass „wir sehr genau wissen, dass Kipppunkte grundsätzlich existieren“, betont er aber, dass es noch große Unsicherheiten gibt vorherzusagen, welche Kipppunkte wann erreicht werden und welche Konsequenzen dies haben wird; darum setzt er sich seit 2020 für einen IPCC-Sonderbericht dazu ein.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2022-11/klimaforscher-thomas-stocker-kipppunkte-ipcc-sonderbericht/komplettansicht |titel=Klimaforscher Thomas Stocker: "Eigentlich brauchen wir die Drohkulisse der Kipppunkte nicht" |werk=zeit.de |hrsg=[[Zeit Online]] GmbH |datum=2022-11-14 |abruf=2022-11-16}}</ref>
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* Abschmelzen des [[Grönländischer Eisschild|Grönländischen Eisschildes]]
* Abschmelzen des [[Westantarktischer Eisschild|Westantarktischen Eisschildes]]
* Erlahmen der atlantischen [[Thermohaline Zirkulation|thermohalinen Zirkulation]] mit damit verknüpftem Kollaps des [[Nordatlantikstrom]]s
* Veränderung der [[El Niño-Southern Oscillation]] (ENSO)
* Zusammenbruch des [[Indischer Monsun|indischen Sommermonsuns]]
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* Schmelzen von Teilen des ostantarktischen Eisschilds, am [[Wilkes-Subglazialbecken|Wilkes-Becken]]<ref name="Lenton 2019" />
* Schwinden der tibetischen[[tibet]]ischen Gletscher
* Methan-Ausgasung aus den Ozeanen und aus anderen [[Methanhydrat]]-Lagerstätten
* Methan- und Kohlendioxidemissionen aus tauenden [[Permafrostboden|Dauerfrostböden]]<ref name="uba(de)_hintergrund">{{Internetquelle |autor=Claudia Mäder |url=https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/publikation/long/3283.pdf |titel=Kipp-Punkte im Klimasystem |titelerg=Welche Gefahren drohen? |hrsg=[[Umweltbundesamt (Deutschland)|Umweltbundesamt]] – UBA |datum=2008-07 |format=PDF; 256&nbsp;kB |abruf=20182023-0908-2130 |zitat=Die Methan- und Kohlendioxidemissionen aus tauenden Permafrostböden kommen zu den anthropogenen Treibhausgasemissionen hinzu und verstärken die Klimaerwärmung. Dieser Prozess stellt eine wichtige positive Rückkopplung (verstärkende Wirkung) im Klimasystem dar.}}</ref><ref>{{Internetquelle |url=http://wiki.bildungsserver.de/klimawandel/index.php/Kipppunkte_im_Klimasystem#Methanfreisetzung_durch_tauende_Permafrostgebiete_und_Kontinentalschelfe |titel=Kipppunkte im Klimasystem |titelerg=Methanfreisetzung durch tauende Permafrostgebiete und Kontinentalschelfe |hrsg=Wiki Klimawandel, Angebot des Climate Service Centers, des Hamburger Bildungsserversund des Deutschen Bildungsservers |abruf=2018-09-21}}</ref>
* Austrocknen des nordamerikanischen Südwestens
* Abschwächung der marinen [[Kohlenstoffpumpe]]
* Absterben von [[Korallenriff]]en
* Destabilisierung des [[Jetstream]]s (sowie des Monsuns - siehe oben) erhöht die Wahrscheinlichkeit von heftigen Fluten und Dürren<ref>{{Internetquelle |autor=Nick Reimer und Dagny Lüdemann |url=https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2018-08/klimawandel-erderwaermung-duerre-risiko-klima-forschung-kippelemente/komplettansicht |titel=Klimawandel: Was, wenn die Welt am 1,5-Grad-Ziel scheitert? |titelerg=Wieder endet eine Klimakonferenz ohne klares Zugeständnis. Dabei warnen Forscher: Das Klima wird kippen, falls die Welt so weitermacht. Hier noch einmal, was das bedeutet |werk=zeit.de |hrsg=[[Zeit Online]] GmbH |datum=2018-08-08 |abruf=2019-02-10}}</ref>
* Rückgang der Netto-Produktivität der Biosphäre (NPB), d.&nbsp;h., der Fähigkeit der Biosphäre, das Treibhausgas CO<sub>2</sub> zu binden.<ref>{{Internetquelle |autor=Michael Odenwald |url=https://www.focus.de/wissen/klima/biosphaeren-bombe-schon-2060-kapituliert-die-erde-vor-den-co2-massen_id_10441729.html |titel=Forscher identifizieren neuen Klima-Kipp-Punkt |werk=focus.de |hrsg=[[Focus Online]] Group GmbH |datum=2019-03-12 |abruf=2019-03-29}}</ref>
* Auflösung niedriger Schichten aus [[Stratocumulus]]wolken über dem [[Subtropen|subtropischen]] Meer bei CO<sub>2</sub>-Konzentrationen um 1200&nbsp;ppm<ref>{{Literatur |Autor=Tapio Schneider, Colleen M. Kaul, Kyle G. Pressel |Titel=Possible climate transitions from breakup of stratocumulus decks under greenhouse warming |Sammelwerk=Nature Geoscience |Band=12 |Nummer=3 |Datum=2019-03 |ISSN=1752-0908 |Seiten=163–167 |DOI=10.1038/s41561-019-0310-1}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Nadja Podbregar |Titel=Klimawandel zerstört Kühlwolken |Sammelwerk=scinexx {{!}} Das Wissensmagazin |Datum=2019-02-26 | |Abruf=2019-04-27}}</ref>
* Schmelzen der Eisschild-Grundzone der Antarktis durch eindringendes Meerwasser<ref>{{Internetquelle |url=https://www.nature.com/articles/s41561-024-01465-7 |titel=Tipping point in ice-sheet grounding zone melting due to ocean water intrusion |abruf=2024-07-02 |autor=T. Bradley, Ian J. Hewitt |werk=Nature Geoscience |datum=2024-06-25 |sprache=en}}</ref>
 
=== Abschmelzen des arktischen Meereises ===
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=== Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds ===
[[Datei:Kurzerklärt - Kipppunkte unseres Klimas - Tagesschau.webm|mini|hochkant|Kipppunkte im Klimasystem am Beispiel des Grönländischen Eisschilds (Erklärvideo der [[Tagesschau (ARD)|tagesschau]])]]
Der Kipppunkt für das vollständige Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds könnte bereits ab einer globalen Erwärmung von 1,5 bis 2&nbsp;°C erreicht werden. Der Grönländische Eisschild besitzt überwiegend eine Mächtigkeit von 3.000&nbsp;Metern, sodass seine hoch über dem Meeresspiegel liegende Oberfläche sehr niedrigen Temperaturen ausgesetzt ist. Die Lufttemperatur nimmt gemäß [[Barometrische Höhenformel#Typische Temperaturgradienten|barometrischer Höhenformel]] um etwa 0,5&nbsp;°C pro 100 m Höhe ab. Je dünner der Eisschild wird, desto häufiger werden Perioden auftreten, in denen die Oberfläche zu tauen beginnt. Das Abschmelzen beschleunigt sich damit selbst und würde über Jahrtausende zu einem Anstieg des Meeresspiegels von etwa 7 Metern führen. Es wird angenommen, dass unterhalb einer kritischen Eisdicke sich der Schmelzprozess selbst dann fortsetzt, wenn das Klima auf das [[Industrialisierung|vorindustrielle]] Temperaturlevel zurückgehen sollte.<ref name="PIKA" /><ref>{{Literatur |Autor=Frank Pattyn u.&nbsp;a. |Titel=The Greenland and Antarctic ice sheets under 1.5 °C global warming |Sammelwerk=Nature Climate Change |Datum=2018-11 |DOI=10.1038/s41558-018-0305-8}}</ref> Ein Vergleich mit dem letzten [[Interglazial]], der [[Eem-Warmzeit]] vor etwa 126.000 bis 115.000 Jahren, vermittelt allerdings aus wissenschaftlicher Sicht ein uneinheitliches Bild. Während manche Studien einen bis zu 15 Meter höheren Meeresspiegel als gegenwärtig postulieren, mit einem Schmelzwasseranteil des Grönländischen Eisschilds von 4,2 bis 5,9 Metern,<ref name="10.5194/tc-6-1239-2012">{{Literatur |Autor=A. Born, K. H. Nisancioglu |Titel=Melting of Northern Greenland during the last interglaciation |Datum=2012-11-05 |Sprache=en |Reihe=The Cryosphere |NummerReihe=6 |BandReihe=6 |Seiten=1239–1250 |DOI=10.5194/tc-6-1239-2012 | |Format=PDF |KBytes=3047 |Abruf=2023-04-03}}</ref> wird überwiegend davon ausgegangen, dass während des Eem-Interglazials, bei partiell wärmerem Klima als im [[Holozän]], der Meeresspiegel maximal 9 Meter über dem heutigen Niveau lag. Nach diesem Szenario hätte der Eisschild ungefähr 1,5 bis 2,5 Meter zu dieser Erhöhung beigesteuert und demnach nur einen Teil seiner Masse eingebüßt.<ref name="10.1126/science.1205749">{{Literatur |Autor=A. Dutton, K. Lambeck |Titel=Ice Volume and Sea Level During the Last Interglacial |Datum=2012-07-13 |Sprache=en |Reihe=Science |NummerReihe=6091 |BandReihe=337 |Seiten=216–219 |DOI=10.1126/science.1205749 | |Format=PDF |KBytes=444 |Abruf=2023-04-03}}</ref><ref name="10.1038/ngeo1890">{{Literatur |Autor=O’Leary, M., Hearty, P., Thompson, W. et al. |Titel=Ice sheet collapse following a prolonged period of stable sea level during the last interglacial |Datum=2013-07-28 |Sprache=en |Reihe=Nature Geoscience |BandReihe=6 |Seiten=796–800 |DOI=10.1038/ngeo1890 | |Format=PDF |KBytes=393 |Abruf=2023-04-03}}</ref><ref name="10.5194/cp-9-621-2013">{{Literatur |Autor=Stone, E. J., Lunt, D. J., Annan, J. D., and Hargreaves, J. C. |Titel=Quantification of the Greenland ice sheet contribution to Last Interglacial sea level rise |Datum=2013-03-11 |Sprache=en |Reihe=Climate of the Past |BandReihe=9 |Seiten=621–639 |DOI=10.5194/cp-9-621-2013 | |Format=PDF |KBytes=2234 |Abruf=2023-04-03}}</ref>
 
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=== Rückgang der Netto-Produktivität der Biosphäre ===
Das heutige Erdsystem ist eine [[Kohlenstoffsenke|CO<sub>2</sub>-Senke]], es nimmt mehr CO<sub>2</sub> auf, als es abgibt. Die Ozeane absorbieren ca. 25 % des vom Menschen erzeugten CO<sub>2</sub>, die Biosphäre (Bäume und andere Pflanzen sowie Böden) weitere ca. 25 %. Doch ab der Mitte des Jahrhunderts wird die Aufnahmekapazität unseres Planeten einer Studie der Columbia University in New York zufolge zurückgehen. Es wird eine zerstörerische Rückkopplung vorhergesagt: Durch Hitzewellen und Dürren fahren Pflanzen ihre Photosynthese herunter, die einer der wichtigsten Mechanismen zur Entnahme von CO<sub>2</sub> aus der Atmosphäre ist. Zugleich sterben viele Gewächse ab. Dies führt dazu, dass mehr anthropogenes CO<sub>2</sub> in der Atmosphäre verbleibt und zusätzlich durch die Zersetzung der abgestorbenen Biomasse weiteres CO<sub>2</sub> hinzukommt (in die Atmosphäre abgegeben wird). Dies treibt die Erderwärmung weiter voran, sodass sich Hitze und Trockenheit intensivieren. Da Pflanzen bei Hitzestress weniger Wasser verdunsten, fehlt somit zusätzlich die kühlende Wirkung dieser Transpiration.<ref>{{Internetquelle |autor=Michael Odenwald |url=https://www.focus.de/wissen/klima/biosphaeren-bombe-schon-2060-kapituliert-die-erde-vor-den-co2-massen_id_10441729.html |titel=Forscher identifizieren neuen Klima-Kipp-Punkt |werk=focus.de |hrsg=[[Focus Online]] Group GmbH |datum=2019-03-12 |abruf=2019-03-29}}</ref>
 
Erste Indizien deuten darauf hin, dass die globalen Böden und Landmassen 2023 erstmalig bedeutend weniger Kohlenstoff binden konnten, was eine beschleunigte Freisetzung bisher gebundener CO<sub>2</sub>-Äquivalente und ein beschleunigtes und intensiviertes Eintreten von [[Folgen der globalen Erwärmung|Klimafolgen]] nahelegt.<ref>{{Literatur |Autor=Piyu Ke, Philippe Ciais, Stephen Sitch, Wei Li, Ana Bastos, Zhu Liu, Yidi Xu, Xiaofan Gui, Jiang Bian, Daniel S Goll, Yi Xi, Wanjing Li, Michael O’Sullivan, Jeffeson Goncalves de Souza, Pierre Friedlingstein, Frederic Chevallier |Titel=Low latency carbon budget analysis reveals a large decline of the land carbon sink in 2023 |Datum=2024 |DOI=10.48550/ARXIV.2407.12447 |Kommentar=[[Preprint]], dennoch bereits öffentl. Rezeption in Fachkreisen}}</ref>
 
=== Schmelzen der Eisschild-Grundzone der Antarktis durch eindringendes Meerwasser ===
Auch eine sehr begrenzte weitere Erwärmung des Meereswassers löst eine sehr große Eisschmelze in der Antarktis aus, weshalb der weitere globale Meeresspiegelanstieg bislang deutlich unterschätzt wird und in bisherigen Modellen nicht berücksichtigt ist. Forschende haben ein Modell entwickelt, das das jüngst beobachtete weite Eindringen wärmeren Ozeanwassers in die Eisschild-Grundzone (Ort der Eislösung vom Festland der Antarktis in den Ozean hinein) und seine Auswirkungen erfasst. Auch eine relativ geringe Erhöhung der Meerestemperatur kann ein enormes Schmelzen der Grundzone bewirken. Durch die Schmelze entstandene neue bzw. vergrößerte Hohlräume im Eisschild ermöglichen das Eindringen immer weiteren Ozeanwassers. Dabei wird die Grundzone des Eisschildes vergrößert, Temperatur und Fließgeschwindigkeit der Umgebung werden erhöht. Das Modell könnte die in Grönland und der Antarktis insgesamt beobachteten erhöhten Schmelzraten erklären und zu zuverlässigeren Schätzungen beitragen.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.nature.com/articles/s41561-024-01465-7 |titel=Tipping point in ice-sheet grounding zone melting due to ocean water intrusion |abruf=2024-07-02 |autor=T. Bradley, Ian J. Hewitt |werk=Nature Geoscience |datum=2024-06-25 |sprache=en}}</ref>
 
== Wechselwirkungen und Kaskaden ==
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Eine Reihe [[empirischer Beleg]]e spricht für die Existenz von Kipp-Punkten im Erdsystem, die, wenn sie einmal aktiviert wurden, möglicherweise irreversibel<ref>{{cite journal |last1=Dakos |first1=Vasilis |last2=Matthews |first2=Blake |last3=Hendry |first3=Andrew P. |last4=Levine |first4=Jonathan |last5=Loeuille |first5=Nicolas |last6=Norberg |first6=Jon |last7=Nosil |first7=Patrik |last8=Scheffer |first8=Marten |last9=De Meester |first9=Luc |title=Ecosystem tipping points in an evolving world |journal=Nature Ecology & Evolution |date=2019-03 |volume=3 |issue=3 |pages=355–362 |doi=10.1038/s41559-019-0797-2 |language=en |issn=2397-334X}}</ref> eine Verschiebung hin zu einem anderen Ökosystemzustand oder Klimagleichgewicht katalysieren.
 
Eine Studie zeigte, dass größere [[Ökosystem]]e schneller 'kollabieren' können als bisher angenommen, der [[Amazonas-Regenwald]] zum Beispiel (zu einer [[Savanne]]) innerhalb von ~50 Jahren und die Korallenriffe der Karibik innerhalb von ~15 Jahren, sobald ein 'Kollaps'-Modus ausgelöst wird,. was imIm Fall von Amazonien war dies nach ihrer Einschätzung nach bereits 2021 der Fall sein könnte.<ref>{{cite news|url=https://www.theguardian.com/environment/2020/mar/10/ecosystems-size-of-amazon-rainforest-can-collapse-within-decades|title=Ecosystems the size of Amazon 'can collapse within decades'|language=en |date=2020-03-10|access-date=2020-03-10|work=The Guardian}}</ref><ref>{{cite news|url=https://www.eurekalert.org/news-releases/890913|title=Amazon rainforest could be gone within a lifetime|language=en |date=2020-03-10|access-date=2020-03-10|work=EurekAlert!}}</ref><ref>{{cite web |title=Ecosystems the size of Amazon 'can collapse within decades' |url=https://www.theguardian.com/environment/2020/mar/10/ecosystems-size-of-amazon-rainforest-can-collapse-within-decades |website=The Guardian |access-date=2020-04-13 |language=en |date=2020-03-10}}</ref><ref name="10.1038/s41467-020-15029-x">{{cite journal |last1=Cooper |first1=Gregory S. |last2=Willcock |first2=Simon |last3=Dearing |first3=John A. |title=Regime shifts occur disproportionately faster in larger ecosystems |journal=Nature Communications |date=2020-03-10 |volume=11 |issue=1 |pages=1175 |doi=10.1038/s41467-020-15029-x |pmid=32157098 |pmc=7064493 |bibcode=2020NatCo..11.1175C |language=en |issn=2041-1723}}</ref> Der Kipppunkt wird aktuell bei 20–25 % zerstörter Regenwaldfläche angesetzt und steht einer realen Entwaldung von 20 % sowie weiteren 6 % erheblicher Degradation (für West-, Süd- und Ostamazonien) gegenüber. Die Savannenbildung hat demnach dort bereits eingesetzt und wird zudem zu deutlich abnehmenden Niederschlägen führen, da intakter Regenwald etwa die Hälfte seiner Niederschläge selbst erzeugt.<ref>Marlene Quintanilla, Alicia Guzmán León, Carmen Josse (Hauptautoren): ''AMAZONIA AGAINST THE CLOCK: A REGIONAL ASSESSMENT ON WHERE AND HOW TO PROTECT 80% BY 2025.'' Investigative research conducted by the Red Amazónica de Información Socioambiental Georreferenciada (RAISG) within the framework of the Initiative “Amazonia for Life: protect 80% by 2025” and coordinating organizations [[Coordinadora de las Organizaciones Indígenas de la Cuenca Amazónica|COICA]] and Stand.earth., Executive summary 2022, [https://amazonia80x2025.earth/wp-content/uploads/2022/09/VF-2-sept-Executive-Summary-2022-Regional-Report.pdf PDF] abgerufen am 30. September 2024.</ref><ref>[[Thomas Lovejoy]] und Carlos Nobre: ''Amazon Tipping Point.'' Science Advances, 21. Februar 2018, Vol 4, Issue 2 [[DOI:10.1126/sciadv.aat234]].</ref>
 
Ein [[Übersichtsarbeit]] aus dem Jahr 2021 veranschaulicht, wie die Auswirkungen in gut dokumentierten Fällen abrupter Veränderungen in den letzten 30.000 Jahren kaskadenartig das Erdsystem durchlaufen haben.<ref name="Brovkin">{{cite journal|last1=Brovkin|first1=Victor|last2=Brook|first2=Edward|last3=Williams|first3=John W.|last4=Bathiany|first4=Sebastian|last5=Lenton|first5=Timothy M.|last6=Barton|date=2021-07-29|title=Past abrupt changes, tipping points and cascading impacts in the Earth system|language=en |url=https://www.nature.com/articles/s41561-021-00790-5|journal=Nature Geoscience|pages=1–9}}</ref><!--welche?-->
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== Literatur ==
* [[Anthony D. Barnosky,]] et al.: ''Tipping point for planet earth - how close are we to the edge?'' Thomas Dunne Books, New York 2016, ISBN 978-1-250-05115-8.
* Simon Dietz, Simon, [[James Rising]], Thomas Stoerk, and [[Gernot Wagner]].: “Economic''Economic impacts of tipping points in the climate system,”''. ''PNAS[[Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America]]'' (PNAS), 24. August 2021)., [[doi:10.1073/pnas.2103081118]]
* {{cite journal |author=[[Timothy M. Lenton]] |coauthors=[[Hans Joachim Schellnhuber]] |year=2007 |title=Tipping the scales |language=en |journal=[[Nature Reports Climate Change]] |volume=1 |month=11 |day=22 |doi=10.1038/climate.2007.65}}
* {{cite journal |author=Timothy M. Lenton |coauthors=Hermann Held, [[Elmar Kriegler]], Jim W. Hall, [[Wolfgang Lucht]], [[Stefan Rahmstorf]], Hans Joachim Schellnhuber |year=2008 |title=Tipping elements in the Earth's climate system |language=en |journal=[[Proceedings of the National Academy of Sciences|PNAS]] |volume=105 |issue=6 |pages=1786–1793 |doi=10.1073/pnas.0705414105 |url=http://www.pnas.org/content/105/6/1786.full.html}}
* {{cite journal |author=Hans Joachim Schellnhuber |year=2009 |title=Tipping elements in the Earth System |language=en |journal=PNAS |volume=106 |issue=49 |pages=20561–20563 |url=http://www.pnas.org/content/106/49/20561.full}}
* Claudia Mäder, Juli 2008, [[Umweltbundesamt (Deutschland)|Umweltbundesamt]]: ''Kipp-Punkte im Klimasystem. Welche Gefahren drohen?'' Hintergrundpapier(PDF; 256&nbsp;kB, Juli 2008Hintergrundpapier)<ref name="uba([http://www.umweltbundesamt.de)_hintergrund" /sites/default/files/medien/publikation/long/3283.pdf PDF]).>
* Anthony D. Barnosky, et al.: ''Tipping point for planet earth - how close are we to the edge?'' Thomas Dunne Books, New York 2016, ISBN 978-1-250-05115-8.
* Dietz, Simon, James Rising, Thomas Stoerk, and [[Gernot Wagner]]. “Economic impacts of tipping points in the climate system,” ''PNAS'' (24. August 2021). [[doi:10.1073/pnas.2103081118]]
 
== Weblinks ==
* {{Internetquelle |url=[https://www.pik-potsdam.de/de/produkte/infothek/kippelemente |titel=''Kippelemente – Großrisiken im Erdsystem''] |titelerg=Aktuelleram Forschungsstand: Kippelemente |werk=pik-potsdam.de |hrsg=[[Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung|Potsdam Institute for Climate Impact Research (PIK) e. V.]] |abruf=2023-04-03 |abruf-verborgen=1}}
* [https://global-tipping-points.org/ Global Tipping Points] an der [[University of Exeter]] (englisch)
* [https://www.carbonbrief.org/explainer-nine-tipping-points-that-could-be-triggered-by-climate-change ''Explainer: Nine ‘tipping points’ that could be triggered by climate change.''], in Carbon Brief, 2020. (englisch)
* [https://climatetippingpoints.info/ climatetippingpoints.info] - Wissenschafts-[[Blog]] (englisch)
* [https://www.regimeshifts.org/item/index.php?option=com_fabrik&view=list&listid=4&calculations=0&resetfilters=0&Itemid=7&isMambot=1 ''Kippelemente mit dem globalen Klimawandel als Treiber.''] in der ''Regime Shifts DataBase'' des ''Stockholm Resilience Center'' (englisch)
 
* {{Internetquelle |autor=Roana Brogsitter |url=https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/tipping-points-in-der-klimakrise-es-gibt-kein-zurueck/1859814 |titel=Tipping Points in der Klimakrise – Es gibt kein zurück |werk=br.de |hrsg=Podcast [[Radiowissen]], [[Bayern 2]] |abruf=2022-07-28 |abruf-verborgen=1}}
== Siehe auch ==
* [[Peak Phosphor]]
* [[Bienensterben]]
* [[Ozonloch]]
 
== Einzelnachweise ==