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Die Vehmgerichte

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Titel: Die Vehmgerichte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 237–239
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[237]
Die Vehmgerichte.

Wohl über kein Institut unserer deutschen Rechtsgeschichte sind noch bis auf den heutigen Tag, namentlich unter den Laien, irrigere Vorstellungen verbreitet als über die „Gerichte der heiligen Vehme.“

Die Meisten können sich diese Gerichte gar nicht anders denken, als daß sie dieselben in ein unterirdisches Gewölbe, eine Höhle, eine unheimliche Ruine oder in das nächtliche Dunkel eines Waldes versetzen, und gewiß glaubt derjenige ein recht klares Bild von ihnen zu haben, der in Goethe's Götz von Berlichingen die Scene gesehen hat, in welcher die vermummten, in lange schwarze Mäntel gehüllten Vehmrichter über Adelheid von Weislingen zu Gericht sitzen und der Aelteste das Urtheil verkündet:

„Sterben soll sie! sterben des bitteren doppelten Todes;
„mit Strang und Dolch büßen doppelt doppelte Missethat. Streckt eure Hände empor und rufet Weh über sie! Weh! Weh! in die Hände des Rächers!“

und nun alle die verkappten schwarzen Gestalten mit dumpfen Stimmen in den unheimlichen Ruf ausbrechen: „Weh! Weh! Weh!“

Derartige Vorstellungen aber sind grundfalsch und es dürfte wohl nicht uninteressant sein, über dieses merkwürdige Rechtsinstitut, das Jahrhunderte lang, bis es ausartete und beseitigt werden mußte, eine gewaltige Macht über das ganze deutsche Reich zum gerechten Schrecken der Schuldigen und zum Segen der Gefährdeten und Verletzten entwickelte, so wie über seine Entstehung, seine Verfassung und sein Verfahren einige Aufklärung zu verschaffen.

In der vorcarolingischen Zeit, also bis in das achte Jahrhundert nach Chr., ging in den deutschen Landen Recht und Rechtspflege lediglich vom Volke aus. Jedes Gericht bestand aus einer Anzahl freier, ansässiger, waffenfähiger Männer, den sogenannten „Urtheilsfindern,“ welche für jeden einzelnen Fall aus dem Volke, das sich zum Zweck des abzuhaltenden Gerichts versammelt hatte, ausgewählt wurden.

Seit Kaiser Karl dem Großen erlitt dies aber eine Aenderung.

Nachdem nämlich mit dem ganzen Reich behufs einer sicherern Ueberwachung und geordnetern Verwaltung die so überaus wichtige und folgenreiche Eintheilung in Comitatus, d. h. größere Länderbezirke mit einem kaiserlichen Beamten: comes, (Graf) an der Spitze vorgenommen worden war, wurde für die Gerichte im Bezirke dieses Grafen ein für allemal eine gewisse Anzahl Männer zu „Urtheilfindern“ bestellt, welche nunmehr den besondern Namen scabini „Schöffen“ erhielten. Das übrige Volk ward dadurch jedoch keineswegs von aller Theilnahme an der Rechtspflege ausgeschlossen, dasselbe behielt vielmehr insofern immer noch einen gewissen Antheil an derselben, als es nicht nur berechtigt blieb, bei den Gerichten der Schöffen als sogenannter „Umstand“ gegenwärtig zu sein, sondern von jenen selbst in schwierigeren und wichtigeren Fällen zu Rathe („in das Gespräch“) gezogen wurde, überdieß auch jeder Einzelne aus dem „Umstände“ befugt war, das von den Schöffen gefundene Urtheil anzufechten (zu „schelten“).

Eine ganze Provinz, d. h. eine Reihe von Gauen und Grafschaften, stand unter der Oberaufsicht eines höchsten kaiserlichen Beamten, des sogenannten Sendgrafen, der, um die gesammte Verwaltung zu inspiciren, das Land alljährlich durchreiste und sogenannte Placita, (Provinziallandtage) abhielt, auf welchen die einzelnen Grafen mit einigen ihrer Schöffen erscheinen mußten. Bei Gelegenheit dieser wurde denn zugleich auch in denjenigen Fällen Gericht gehalten, in welchen der Graf Recht verweigert hatte oder der Beklagte nicht zu erlangen gewesen war. Wie alle Versammlungen des Volks fanden auch alle Gerichte auf offenem Felde, unter freiem Himmel statt, und das ganze Verfahren war, da Jedermann freien Zutritt zu denselben hatte, ein durchaus öffentliches. War der Vorgeladene erschienen, so mußte der Kläger seine Klage vorbringen und er konnte, wenn der Beklagte leugnete, letzteren sofort zum Zweikampfe herausfordern, weil man glaubte, in einem solchen Zweikampfe würde die Gottheit demjenigen, welcher im Rechte sei, den Sieg verleihen. Unterließ der Kläger eine solche Herausforderung, so hatte er nicht etwa seine Klage zu beweisen, sondern dem Beklagten lag ob, sich von derselben zu „reinigen.“ Unserer Rechtsauffassung erscheint freilich eine solche Vertheilung der Beweislast ganz unnatürlich, sie findet aber ihre gute Erklärung in dem altgermanischen Recht der Fehde, d. h. der blutigen Rache, indem der Einzelne für eine erlittene Verletzung sich eigenmächtig Genugthuung verschaffen durfte und der Beklagte von der gegen ihn gerichteten Beschuldigung nur dadurch sich befreien konnte, daß er in dem Kampfe den Sieg davon trug.

Die Art und Weise, wie sich der Beklagte von der erhobenen Klage reinigte, geschah zunächst durch seinen Eid; dieser allein aber reichte zu feiner Freisprechung nicht hin, vielmehr mußte mit ihm noch eine Anzahl sogenannter „Eideshelfer“ schwören, die den Eid des Beschuldigten dadurch bekräftigten, daß sie eidlich ihre Ueberzeugung betheuerten, der Angeklagte sei im Rechte, er schwöre „rein und nicht mein“ (einen reinen Eid, nicht einen Meineid). Leistete er den Reinigungseid nicht, oder fanden sich die erforderlichen Eideshelfer nicht oder erschien der Beklagte auf die an ihn erlassene Vorladung gar nicht, so wurde er verurtheilt und zwar traf ihn, wenn es sich um ein Verbrechen handelte, die Acht, durch die er dergestalt fried- und rechtlos wurde, daß ihn Jedermann ungestraft tödten konnte.

Nach den carolingischen Kaisern bis etwa in das dreizehnte Jahrhundert verschwanden diese Grafengerichte allmählich fast aus ganz Deutschland und wurden landesherrliche, weil um diese Zeit die Grafen sich selbst zu Herren des Landes machten und die Grafengewalt, die sie bisher nur als ein kaiserliches Amt ausgeübt hatten, als ein selbstständiges, erbliches Recht, und damit die Herrschaft über ihren Gau, d. h. die Landeshoheit sich anmaßten. Nur in einem Theile Deutschlands blieb es noch eine geraume Zeit beim Alten. In Westphalen nämlich entwickelte sich die Landeshoheit erst später und deshalb erhielten sich hier auch die altgermanischen Gerichte als kaiserliche viel länger, indem immer noch ein Graf, der nunmehr Freigraf hieß, an ihrer Spitze stand. Selbst als endlich auch in Westphalen die Landeshoheit um sich griff, änderte sich dies nur insofern, als seitdem an die Stelle des Freigrafen der Landesherr trat, dieser aber die Gerichtsbarkeit nicht als ihm eigenes Recht ausübte, sondern mit derselben als sogenannter Stuhlherr vom Kaiser nur belehnt wurde.

Aus diesen westphälischen Gerichten gingen die Vehmgerichte hervor. Seit wann sie ausschließlich so genannt wurden, läßt sich geschichtlich nicht nachweisen; ebensowenig weiß man noch heutigen Tages eine untrügliche Erklärung des Namens zu geben; jedenfalls aber ist die Ansicht von Grimm die wahrscheinlichste, daß das altdeutsche Wort: Vehmeso viel als „Ding“ d. i. Gericht bedeutet.

Während in allen übrigen Gerichten nur der unmittelbar oder wenigstens mittelbar Verletzte (z. B. der Ehemann für die Ehefrau) als Ankläger auftreten konnte, hielten sich die westphälischen Schöffen („Freischöffen“) für berechtigt, bei gewissen, namentlich schwereren Verbrechen in ihrem Namen als Ankläger („Rüger“) vor den Freigerichten Klage zu erheben. Aus diesem Recht wurde dann eine Pflicht und diese mußte von jedem einzelnen Schöffen mittelst Eides ausdrücklich übernommen werden. Anfangs beschränkte sich freilich diese Rügepflicht nur auf den Sprengel jedes einzelnen Gerichts, später aber, namentlich bei der immer mehr überhand nehmenden Rechtsunsicherheit, erstreckte sie sich für gewisse Fälle über denselben hinaus. Leistete nämlich der Angeschuldigte der Ladung seines ordentlichen Richters keine Folge, oder weigerte sich dieser Richter, den Beklagten zum Erscheinen vor sein Gericht vorzuladen, was leider nur zu häufig vorkam, dann glaubten es die westphälischen Freischöffen übernehmen zu müssen, dem verletzten Rechte Genugthuung wiederfahren zu lassen und das begangene Verbrechen in ihrem Namen zu „rügen“; sie hielten sich hierzu um so mehr für berechtigt, als sie ja die Schöffen von kaiserlichen Gerichten waren, die als solche im ganzen deutschen Reich Anerkennung finden mußten.

In dieser Ausdehnung lag damals ein großer Segen, denn gar traurig sah es in der Zeit des Faust- und Fehderechts im deutschen Reiche aus. Ueberall herrschte die größte Willkür, überall die Macht des Stärkeren. Die abscheulichsten Verbrechen wurden ungestraft verübt, denn in vielen Fällen wollte, in den meisten konnte der Richter des Thäters nicht habhaft werden, weil bei der Menge von Territorien, in welche das deutsche Reich zerfiel, es dem Verbrecher ein Leichtes war, aus einem in das andere zu fliehen und so der Verfolgung seines ordentlichen Richters zu entgehen. An eine nur einigermaßen geordnete Polizei war nicht [238] zu denken und bei den ewigen Kriegen, die der Kaiser theils im Reiche selbst, theils nach Außen zu führen hatte, vermochte er nicht, der grenzenlosen Verwirrung und Rechtsunsicherheit abzuhelfen.

In dieser trüben Zeit war es, in welcher die Gerichte der heiligen Vehme ihre Macht entfalteten und einen gerechten Schrecken über das ganze deutsche Reich verbreiteten. Ihnen hatte man es zu danken, daß kein Verbrecher jetzt mehr sicher war, ungestraft zu entkommen, denn wohin er auch fliehen mochte, seine Rächer ereilten ihn sicher.

Wie früher alle germanischen Gerichte, so wurden anfangs auch die westphälischen theils regelmäßig, zu bestimmten Zeiten im Jahre, theils bei außerordentlichen Veranlassungen besonders abgehalten. Im ersteren Falle hieß das Gericht das „echte“ oder „ungebotene Ding,“ weil Ort und Zeit der Versammlung bekannt war und daher nicht speciell zu derselben vorgeladen wurde; im andern Fall dagegen hieß es das „gebotene,“ „vorbotene“ oder „verbotene Ding“ weil die Parteien sowohl als die erforderliche Anzahl von Schöffen besonders vorgeladen (entboten) werden mußten. Mit dem Verschwinden der alten Grafengerichte und dem Umsichgreifen der Territorialgerichtsbarkeit kamen aber die ungebetenen Gerichte fast überall außer Anwendung und auch in Westphalen wurde das verbotene Ding die Regel.

Die Vehmgerichte wurden nur in Westphalen gehalten und es ist Fabel, wenn noch heutzutage an vielen Orten Deutschlands in alten Schlössern, verfallenen Burgen u. drgl. finstere Gemächer gezeigt werden, in denen die Gerichte der heiligen Vehme zu Gericht gesessen haben sollen. Ebenso durften die Schöffen der Vehmgerichte (Freischöffen) ursprünglich nur Einheimische, also Westphalen sein; man sah aber bald ein, daß, wenn der Rechtsunsicherheit wirksam abgeholfen, wenn an den Verurteilten die verdiente Strafe wirklich vollzogen werden sollte, auch Fremde als Vehmschöffen aufgenommen werden müßten. So geschah es, und im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts waren durch das ganze deutsche Reich Tausende und Abertausende von solchen Richtern der heiligen Vehme verbreitet. Jeder frei und ehelich Geborne, an dem sonst kein Makel haftete, konnte – aber nirgends anders als in Westphalen – in den Bund der Vehmrichter aufgenommen werden. Wer es irgend möglich machen konnte, der scheute die Reise nicht, um in Westphalen den Schöffeneid zu schwören und sich einweihen („wissend machen“) zu lassen. Im Gegensatz zu diesen Eingeweihten („Wissenden“) hießen alle übrigen, die nicht Vehmschöffen waren, „Nichtwissende.“

Hiermit hing eine wichtige Eintheilung der Vehmgerichte zusammen. Man unterschied nämlich das „offene,“ „offenbare Ding“ und das „heimliche,“ das „Stillgericht,“ auch „heimliche Acht.“ Vor das erstere wurden nur die Nichtwissenden geladen; war dagegen ein Schöffe, ein Wissender, selbst angeklagt, so durfte dieser nur vor das „heimliche Ding“ entboten und nur in diesem ihm der Proceß gemacht werden. Unter solchen heimlichen Gerichten, die man auch „die beschlossene Acht“ nannte, darf man aber, was freilich aus Mißverständnis; des Namens meistentheils geschieht, nicht etwa Gerichte verstehen, die bei Nacht und an unzugänglichen, verborgenen Orten, in Höhlen, Ruinen und Wäldern, gehalten worden wären, sie erhielten diese Namen blos, weil außer Wissenden Niemand an denselben Theil nehmen durfte und alle etwa anwesende Nichtschöffen sich entfernen mußten. Wie das offenbare Ding wurde übrigens auch das Stillgericht stets bei Tage, unter freiem Himmel, an den bekannten Gerichts-, den sogenannten Mahl-Stätten auf offenem Felde, in der Regel unter dem Schutze eines großen Baumes abgehalten. Das „offene Ding“ verwandelte sich sofort in ein „Stillgericht,“ wenn die umstehenden Nichtwissenten, die meistens nur aus Neugierde herbeigekommen waren, aufgefordert wurden, den Gerichtsplatz zu verlassen. Dieser Aufforderung mußte sofort Folge geleistet werden und wehe dem, der sich unbefugter Weise unter die Schöffen eingedrängt und dem Stillgericht beigewohnt hätte. Ohne Erbarmen wurde ein solcher Eindringling, den man entdeckte, ergriffen und an dem nächsten Baume aufgeknüpft.

Eine derartige Umwandlung des offenen in das heimliche Gericht kam sehr häufig vor; in allen den Fällen nämlich, wenn der Angeschuldigte auf die an ihn ergangene Vorladung sich nicht selbst gestellt hatte. Gegen einen Abwesenden in dieser geschlossenen Acht zu verfahren, namentlich das über ihn gefällte Urtheil geheim zu halten, war dringend nothwendig, damit derselbe von Niemand gewarnt werden und auf seine Sicherheit bedacht sein konnte. In dieser Geheimhaltung lag also die Haupteigenthümlichkeit und die Hauptwirksamkeit der Vehmgerichte, auch nannte man sie später überhaupt, selbst wenn das Verfahren vor dem offenen Ding stattfand, „heimliche Gerichte.

Als Ankläger durfte nur ein Freischöffe auftreten, darin lag aber durchaus keine Beschränkung, weil jeder Schöffe nicht nur wegen eines gegen ihn selbst begangenen Verbrechens, sondern auch im Namen eines jeden verletzten Wissenden oder Nichtwissenden Klage erheben konnte.

Den Vorsitz im Gericht führte ein westphälischer Freigraf. Vor ihm stand eine Tafel und auf dieser lagen ein blankes Schwert und ein aus Weiden geflochtener Strick. Auf dem Schwert wurden die zu leistenden Eide abgenommen, der Strick zeigte an, daß der Hals des Angeklagten in Gefahr sei. Nach erhobener Anklage wurde zunächst entschieden, ob das „gerügte“ Verbrechen eine „Vehmroge“, d. h. ob das Vehmgericht berechtigt und verpflichtet sei, über den Verbrecher Gericht zu halten. „Vehmrogen“ waren aber alle mit dem Tode zu bestrafenden Verbrechen, wie Mord, Raub, Brandstiftung, Ehebruch, selbst Diebstahl und viele andere. Hierauf wurde an den wegen einer Vehmrüge Angeschuldigten eine Ladung erlassen, vor dem betreffenden Vehmgerichte an dem in dem Ladungsbriefe bezeichneten Mahlplatz „zu erscheinen zu rechter Tageszeit“ oder „zu rechter Gerichtszeit Tages,“ also nicht bei Nacht. Solcher Mahlplätze gab es seiner Zeit in Westphalen über hundert. Die Frist, welche dem Angeklagten bis zum Erscheinen eingeräumt wurde, war die alte sächsische von dreimal fünfzehn Tagen (sechs Wochen drei Tagen), welche noch heutzutage in dem sächsischen Rechte eine wichtige Rolle spielt. Die gewöhnliche Art und Weise, wie die Ladungen den Betreffenden bekannt gemacht wurden, war die, daß dieselben von Vehmschöffen persönlich überbracht wurden. Dabei kam es wohl vor, daß die Ueberbringer sehr übel aufgenommen wurden, ja daß sie bisweilen mit dem Leben büßen mußten. Um diesen Gefahren zu entgehen, wurden häufig die Ladungsbriefe bei Nacht und unbemerkt entweder an der Hausthüre des Beklagten, oder in einer Kirche, wohl auch an die Thore einer Stadt angeschlagen. Wie aber, wenn man den Wohnort des Vorzuladenden nicht kannte? In diesem Fall half man sich dadurch, daß man zunächst das Land zu ermitteln suchte, in welchem der Beschuldigte muthmaßlich sich aufhielt; war dies geschehen, so wurde dann der Ladungsbrief an verschiedenen Orten dieses Landes, meistentheils auf Straßen und zwar nach den vier Himmelsgegenden aufgesteckt.

Die Nichtwissenden durften, wie bemerkt, nur vor das offene Ding, die Wissenden dagegen nur vor das heimliche Gericht geladen werden. Das Verfahren selbst war in beiden Fallen ein verschiedenes.

Leistete der angeklagte Nichtwissende der Vorladung Folge und stellte sich zur bestimmten Zeit vor dem offenbaren Ding, bei welchem also Jedermann gegenwärtig sein und der Verhandlung zusehen und zuhören konnte, so trug der rügende Schöffe noch einmal die Anklage vor. Gestand der Angeschuldigte, dann war der Proceß ein kurzer. Der Angeklagte hatte sich, wie es hieß, selbst gerichtet. Er wurde ergriffen und im nächsten Augenblicke hing er, im Angesicht der umstehenden Menge, an einem Baume. Stellte er dagegen die Begehung des ihm Schuld gegebenen Verbrechens in Abrede, dann lag es ihm ob, von der Anklage sich zu „reinigen.“ Niemals versuchten die Vehmrichter, den Angeklagten des Verbrechens zu überführen, niemals ihn zu einem Geständniß durch Gewissenspredigten zu bewegen, oder durch verwickelte Fragen zu verlocken, oder wohl gar durch Folterqualen zu zwingen. Marterwerkzeuge haben die Vehmschöffen nie in den Händen gehabt. Wenn Dir daher, lieber Leser, einmal in einer alten Folterkammer solche gräuliche Instrumente gezeigt werden, und Dein Führer mit wichtiger Miene Dir bedeutet, daß dieselben noch von den Richtern der heiligen Vehme herrührten, so weißt Du, daß man Dir ein Mährchen erzählt. Das einzige Mittel, eine Freisprechung zu erwirken, sich von der Anklage zu „reinigen,“ bestand in dem Eid und zwar mußte zunächst der angeklagte Nichtwissende einen Reinigungseid leisten. Dieser allein aber genügte nicht, vielmehr mußten, und zwar von den gegenwärtigen Vehmschöffen, noch zwei oder drei Eideshelfer mitschwören. Positive Gewißheit von der Unschuld des Angeklagten brauchten diese nicht zu haben, sie erhärteten ja durch ihren Eid blos ihre Ueberzeugung, „der Angeklagte schwöre rein und nicht mein.“ Fanden sich zwei oder drei Eideshelfer, so konnte der Kläger diesen sechs andere entgegenstellen und der Beklagte wurde, wie [239] es hieß, „selb siebent“ überschworen. Gelang es dann dem Letzteren nicht, dreizehn Eideshelfer für sich zu gewinnen, oder konnte der Ankläger gegen diese dreizehn zwanzig aufbringen, dann war der Angeschuldigte verloren und – der Strang ihm gewiß.

Ein etwas anderes Verfahren fand statt, wenn ein angeklagter Wissender vor dem heimlichen Gericht erschienen war. Er konnte durch seinen alleinigen Reinigungseid seine unbedingte Freisprechung erlangen, und diese weit günstigere Stellung der Wissenden war wohl der Hauptgrund, aus welchem, als auch Nichtwestphalen Freischöffen werden konnten, aus ganz Deutschland so viele nach Westphalen eilten und sich zu Wissenden machen ließen. Indessen dauerte dieses Vorrecht nicht sehr lange, denn man sah nicht nur die Unbilligkeit einer solchen Bevorzugung, sondern auch, bei der immer mehr anwachsenden Zahl der Freischöffen, die Gefährlichkeit derselben ein, daher denn auch bei diesen das Ueberbieten mit Eideshelfern Regel wurde. Nur insofern blieb den Wissenden immer noch ein Vortheil, daß sie unbedingt frei waren, wenn sie den zwanzig Eideshelfern des Klägers einundzwanzig entgegenstellen konnten.

Der am häufigsten vorkommende Fall war, daß die Angeschuldigten nicht erschienen.

Fand sich ein Nichtwissender am bestimmten Tage nicht ein, so verwandelte sich, nachdem der Name des Vorgeladenen feierlich ausgerufen worden war, das offene Gericht in die heimliche Acht dadurch, daß ein Schöffe der versammelten Menge befahl, das Feld zu räumen, ähnlich, als wenn heutzutage der Präsident einer Assisenverhandlung die Zuhörer auffordert, die Gallerie und den Saal zu verlassen. Hiernach mußte der Ankläger die Klage noch einmal vortragen und dieselbe durch seinen mit sechs Eideshelfern unterstützten Eid beweisen. Dasselbe galt, wenn ein Wissender sich nicht gestellt hatte. War die Anklage auf diese Weise erwiesen und der Angeklagte der Vehmroge für schuldig befunden, dann wurde er verurtheilt („vervehmt“). In solch einem Urtheil hieß es z. B.: „Den beklagten Mann mache ich unwürdig, echtlos, rechtlos, siegellos, ehrlos und untheilhaftig alles Rechts und verführe ihn und vervehme ihn und setze ihn hin nach Satzung der heimlichen Acht und weihe seinen Hals dem Stricke, seinen Leichnam den Thieren und Vögeln in der Luft, ihn zu verzehren und befehle seine Seele Gott im Himmel in seine Gewalt, wenn er sie zu sich nehmen will, und setze sein Lehen und Gut ledig, sein Weib soll Wittwe, seine Kinder Waisen sein.“

Die einzige Strafe, welche die Vehmrichter über einen Verurtheilten verhingen, war – die Todesstrafe; die einzige Art der Vollziehung – das Hängen. Nie haben sie geköpft, geviertheilt, ertränkt, lebendig begraben oder sonst auf andere Weise vom Leben zum Tode gebracht.

Selten entging ein Vervehmter seinem Schicksal, namentlich als das Schöffenthum sich über ganz Deutschland verbreitet hatte. Derjenige Schöffe nämlich, auf dessen „Rüge“ der Angeschuldigte verurtheilt worden war, erhielt von dem Freigrafen das schriftliche Vervehmungsurtheil und dies diente ihm allen übrigen Schöffen gegenüber als Legitimation zur Aufforderung, ihm bei Auffindung, Ergreifung und Aufknüpfung des Verbrechers behülflich zu sein. Kein Vehmschöffe durfte seine Beihülfe verweigern, weil einem allein die Todesstrafe zu vollziehen nicht erlaubt war, sondern, um möglichen Mißbräuchen vorzubeugen, immer drei Schöffen dabei gegenwärtig und thätig sein mußten.

Wie aber erkannte ein Schöffe den anderen? Sahen sie doch, da sie nie besondere äußere Kennzeichen an sich trugen, eben so aus, wie jeder Andere, der nicht Schöffe war. So wenig man heutzutage Jemand ansehen kann, ob er ein Freimaurer ist, eben so wenig konnte man damals Jemand ansehen, ob er ein Freischöffe sei. Wie aber erstere an gewissen Merkmalen sich zu erkennen pflegen, so hatten auch die Vehmschöffen unter sich gewisse Erkennungszeichen, die sogenannte „heimliche Losung.“ Worin diese bestanden, darüber fehlt es an sicheren Nachweisen. Eine besondere Bedeutung hatten jedenfalls die Worte: Strick, Stein, Gras, Grein, daher man auch an jedem Baum, an welchem ein Vervehmter aufgeknüpft worden war, die Buchstaben St. St. G. G. eingeschnitten fand; was diese Worte aber besagen sollten, ist unbekannt. Der Gruß, den die Vehmschöffen unter sich zu führen pflegten, und an welchem sie sich wohl erkannt haben mögen, lautete:

„eck grüt ju, lewe man
wat fange ji hi an?
alles glücke kehre in
wo de freyenscheppen sin.“

Von der Regel, daß nirgends anders als in Westphalen die Vehmgerichte abgehalten werden durften, gab es einen einzigen Ausnahmsfall, in welchem ein Verbrecher, ohne daß er vor das offene Ding oder vor die heimliche Acht geladen, ohne daß also ein förmliches Vervehmungsurtheil über ihn gesprochen worden war, an einem Baume aufgeknüpft werden konnte. Wurde nämlich Jemand bei oder unmittelbar nach Begehung einer Vehmroge von einem Vehmschöffen ertappt und traf es sich, daß wenigstens noch zwei Schöffen in der Nähe waren und sofort herbeigerufen werden konnten, dann waren diese drei nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, ohne allen Proceß den Verbrecher zu vernehmen und die Strafe an ihm zu vollziehen. Es war dies das sogenannte Verfahren bei „handhafter That.“ Ja die Schöffen maßten sich dieses Recht später selbst dann an, wenn sie selbst gehört oder durch Andere auf glaubwürdige Weise in Erfahrung gebracht, daß sich Jemand zur Begehung eines Verbrechens bekannt, wohl gar damit gebrüstet habe. Ein solches Geständniß hieß „gichtiger Mund.“ In dieser Ausdehnung der Thätigkeit der Freischöffen lag freilich viel Gefährliches; sie führte auch in der That zu den grassesten Mißbräuchen, denn oft machten sich die Vehmschöffen, vielleicht nur um einen Privathaß zu kühlen, der größten Willkür schuldig.

Zwei Jahrhunderte hatten die Vehmgerichte eine segensreiche Wirksamkeit entfaltet, der im deutschen Reich eingerissenen frechen Zügellosigkeit und Rechtsunsicherheit einen gewaltigen Damm entgegengesetzt und kein Verbrechen, das zu ihrer Kenntniß gelangte, ungerochen gelassen. Am Ende des funfzehnten und Anfang des sechszehnten Jahrhunderts aber mußten oft auch Unschuldige vor ihnen zittern und so kam es, daß, als auch Kaiser und Reich, namentlich durch das um das Jahr 1495 in’s Leben gerufene Reichskammergericht auf eine gesicherte Rechtspflege Bedacht nahmen, die Macht der Vehmgerichte gebrochen wurde und sie im sechszehnten Jahrhundert so ziemlich ganz verschwanden.