Die Einweihung eines russischen Hauses
[699] Die Einweihung eines russischen Hauses. „Wollen Sie uns die Freude machen nächsten Dienstag um zwei Uhr bei uns zu sein, um der feierlichen Weihe unseres neuen Hauses beizuwohnen? Sie würden uns einen besonderen Gefallen erweisen, wenn Sie, statt der dunkeln Kleider, die Sie meist tragen, zur Feier des Tages möglichst helle anlegen wollten. Von Herzen etc.“ So lautete die freundliche Einladung eines Russen, der auf der großen Marskoi in St. Petersburg ein altes Haus niedergerissen und dort einen prächtigen Neubau hatte aufführen lassen. Die anberaumte Stunde kam und auch ich. Schon als mir der Portier in seinem stattlichen Pelz im Hausflur die doppelten Glasthüren nach dem Treppenhaus öffnete, drangen volle Töne an mein Ohr; es klang wie die schönste Orgel, deren volle Register gezogen waren. „Die kaiserliche Capelle,“ berichtete der Portier, der mein Staunen bemerkte, und immer voller, immer deutlicher ließen sich die herrlichen Stimmen vernehmen, während ich über die mit weichen Teppichen belegten Granitstufen hinauf stieg. Die Treppe war zu beiden Seiten mit Palmen und sonstigen exotischen Pflanzen bestellt; Schlinggewächse aller Art tapezirten die Nischen, wo die von Meisterhand geschaffenen Statuetten auf dem grünen Hintergrund doppelt vortheilhaft hervortraten. Wer in das weite Treppenhaus eintrat, war von der milden Temperatur, die darin herrschte, angenehm berührt, und so wie hier war jeder Winkel des Hauses durch Luftheizung gleichmäßig durchwärmt.
Ein Diener öffnete mir die Thür, nahm mir Pelz und sonstige Hüllen im Vorzimmer ab, und leise schlich ich in den großen Saal, wo eben die Stimmen der Chorsänger im zartesten Pianissimo verhallten. Es war als träte man in eine Kirche; so feierlich andächtig waren Alle hier versammelt. Drei russische Popen officirten in vollem Ornate vor den mitgebrachten Heiligenbildern; um sie her standen die kaiserlichen Chorsänger in ihren blauen mit Gold reich verzierten Kleidern; der schön geschmückte Saal mit den vielen geputzten Leuten, die sich während der Gebete auf die Kniee warfen und sich immer von Neuem bekreuzigten, machte auf den Hinzutretenden einen überwältigenden Eindruck. Wer in irgend einem Verhältniß zum Hause stand, war hier zugegen: Verwandte und Freunde, Angestellte und Dienstboten, alle wohnten der geistlichen Weihe des Hauses bei. Niemand hatte es versäumt sich festlich zu schmücken, denn, da die Russen bei Geburts- und sonstigen Festen großen Werth auf möglichst helle und vortheilhafte Kleidung der Theilnehmer legen, waren heute Dienerschaft wie Herrschaft in vollem Staat versammelt.
Als die Gebete zu Ende waren und die Sänger einen Schlußchoral anstimmten, trat der Hausherr, auf einen Wink der Geistlichen, an das Heiligenbild heran und küßte das Glas, unter dem eine kleine schwarze Madonna in goldenem mit Edelsteinen besetztem Kleide lag. Diesem Beispiele folgten die schöne junge Frau des Hauses, die Kinder, die Gäste und schließlich mit ganz besonderer Andacht die Dienstboten.
Diese Heiligenbilder, die zu feierlichen Gelegenheiten von Haus zu Haus gebracht werden, sind nicht nur im Gewande „steinreich“, sondern sie sind es selbst, denn wer ihrer bedarf, zahlt der betreffenden Kirche, der sie angehören, ganz bedeutende Summen, und so ist z. B. in Moskau, wo man oft viele Tage auf einen kurzen Besitz des Hauptmarienbildes warten muß, der Kutscher, der es zu fahren hat, fast Millionär. Man buhlt förmlich um die Gunst des Marienlenkers, und ein „goldener Händedruck“ für ihn jagt seine Rosse mit Windeseile an das erwünschte Ziel.
Nachdem Alle das Bild geküßt, begann die eigentliche Hausweihe: Die Popen zogen voran mit Weihwasser und Wedel durch die schönen Herrschaftsräume, durch Küche und Gesindekammern, bis hinunter in den Stall. Nicht der kleinste Raum wurde umgangen; dafür sorgten die Dienstboten gar wohl, denn wer je in einer Kammer schlief, aus der Priesterhand nicht „das Böse“ vertrieben hatte, der mußte sicherlich darunter leiden. Wie oft behaupten die Russen, wenn das Zipperlein einen alten Schnapsbruder zwickt, seine Schmerzen rühren nur daher, daß, nachdem eine Stube neu tapezirt, sie nicht auch neu geweiht wurde! Die Heiligenbilder, welche die russischen Leute stets an einer Wandecke ihrer Kammern anbringen und vor welchen an allen Festtagen eine kleine Oelflamme brennt, genügen demnach ihrem frommgläubigen Herzen durchaus nicht, um sie vor allem Bösen zu schützen.
Wo die Popen vorüberkamen, sprengten sie mit Weihwasser; wir Alle, die wir zugegen waren, wurden bespritzt und mußten uns wohl hüten, die geweihten Tropfen weder von Gesicht noch Kleidung abzuschütteln – das wäre in den Augen der Russen ein wahres Verbrechen gewesen.
Als nach geschehenem Umzuge die Geistlichen den Empfangssaal wieder betreten hatten, wurde Champagner gereicht (ohne Champagner ist in Rußland kaum irgend eine Feier denkbar) und fröhlich stießen die Gäste auf das Wohl der Bewohner des neuen Hauses an.
Jetzt entfernten sich die kaiserlichen Sänger, und schon bedauerten wir ihren Weggang, als plötzlich die Kaiserhymne in solcher Vollkommenheit vor der Thür erscholl, wie man die schöne Melodie unmöglich anderswo hören kann. Die wahrhaft kindliche Verehrung, mit der die Russen an ihrem Kaiser hängen, sowie an Allem, was sich auf ihn bezieht, hat etwas wahrhaft Rührendes; ihr Gebahren, sobald die Nationalhymne angestimmt wird, grenzt an Gottesdienst. Und hier, von den kräftigen und doch so weichen Männer- und Kinderstimmen vorgetragen, wirkte das Lied auch auf den Nichtrussen erhebend. Die kaiserliche Capelle ist weltberühmt – [700] und mit Recht; freilich läßt es sich der Kaiser etwas kosten, seine Sänger zu recrutiren, denn fortwährend sind competente Musiker im weiten Reich auf Reisen, nur um aus allen Ständen der Nation die besten Stimmen auszulesen und ihre Inhaber, oft mit sehr bedeutenden Opfern, zu bestimmen, in den Kirchenchor Seiner Majestät einzutreten.
Der gehobenen Stimmung gesellte sich bald eine fröhliche, und unbefangen vertheilten sich die Gäste in den schönen Räumen. Den Russen, und sogar den in Rußland lebenden Ausländern, ist die Geselligkeit mit ihren leichten, natürlichen Formen wie angeboren; in der größten Gesellschaft – und mögen auch die Leute aus den verschiedensten Sphären zusammengewürfelt sein – bilden sich einzelne kleine Clubs, wo fröhlich geplaudert wird, und in denen sich der Fremdeste sofort heimisch fühlt. Die Unterhaltung hat meist einen kosmopolitischen Anstrich, weil der Gesichtskreis des Einzelnen in einer Stadt, wo alle Nationen vertreten sind, sich nothwendig erweitert. Gewiß wird auch in Petersburg zuweilen ein Stückchen redlichen „Stadtklatsches“ auftauchen, aber so hartnäckig, wie in kleinen Orten, wo sich Alle kennen und wenig Anregung von außen hinzukommt, wird er nimmermehr sein Recht behaupten.
Bei dem wohlbekannten Sprachtalent der Russen wechselt die Redeweise jeden Augenblick, und tritt man in einen Petersburger Salon ein, so könnte man sich an den Thurm zu Babel versetzt glauben – aber wie gut verstehen sich die Leute hier und wie gut sprechen sie die fremden Sprachen! Die in Rußland lebenden Ausländer legen großen Werth darauf, daß ihre Kinder vor Allem das Russische erlernen, denn wer das inne hat, dem fällt weder Deutsch noch Französisch, weder Englisch noch Italienisch schwer. Es sei nur das Einzige hier erwähnt: die Russen haben keinen Artikel, und nur durch die veränderten Endungen wird der Fall, in dem das Hauptwort steht, angegeben. Welcher Stein des Anstoßes sind die vier Fälle in unserer Sprache für den Nichtdeutschen – die Russen haben ihrer gar sechs. Der Reichthum ihrer Sprache ist unerschöpflich; während wir für jede unserer Handlungen nur ein Zeitwort haben, bezeichnen sie durch ganz verschieden Wörter, ob sie z. B. täglich oder nur dann und wann hier oder dorthin gehen etc. Doch wohin gerathen wir? Eine grammatikalische Abhandlung sollten diese Zeilen nicht sein. Darum zurück in den behaglichen kleinen Salon, wo eben einige ältere Damen durch die großen Fensterscheiben des Erkers hinab aus das Menschen- und Wagengewirr der großen Marskoi blicken! Die Frau des Hauses nähert sich ihnen: „Darf ich bitten ein Stückchen Häring zu genießen?“ sagt sie freundlich – so lautet in Rußland stets die Aufforderung an den Tisch zu kommen – und damit führt sie die Damen nach dem Eßsaal.
Die Speisestunde ist erst um sechs Uhr; daher ist jetzt nicht wie zu einer eigentlichen Mahlzeit gedeckt. Der große Tisch in der Mitte des Saales ist mit allen erdenklichen Leckerbissen auf das Geschmackvollste beladen. Teller und Bestecke stehen auch dort, und nachdem alle Damen an kleinen Tischen Platz genommen, bringen ihnen die Herren, was sie wünschen, herbei und setzen sich erst dann, wenn sie Alle versorgt sind, zu ihnen, auch ihr „Stückchen Häring“ zu verzehren. Diese erste Bewirthung in einem neuen Hause gestaltet sich stets zu einem Piknik, und nicht die Eingeladenen sind bei dem Wirth zu Gaste, sondern eher er bei ihnen. Wie in Deutschland in so vielen Gegenden die freundliche Sitte des „Herdwärmens“ beim Wohnungswechsel besteht, so bringt auch hier jeder Eingeladene Brod und Salz an den neuen gastlichen Herd. Gar zu genau nimmt man es freilich nicht damit, und meist verwandeln sich diese unumgänglichen Zuthaten in schöne Pasteten, in Früchte oder Zuckerwaaren. Brod und Salz spielen in Rußland eine große Rolle: bereist der Kaiser nach der Krönung sein Land, so wird ihm von jeder Provinz als Huldigung Brod und Salz entgegen gebracht, und die reichen Gold- und Silberplatten, auf denen dies geschieht, stehen zu Hunderten auf den Büffets der kaiserlichen Speisesäle im Winterpalast von Petersburg.
Beim fröhlichen Mahl löste der perlende Wein die Zungen; im ernsten und launigen Reden gaben die Freunde ihren guten Wünschen für Haus und Herd Ausdruck, und längst spiegelten sich die funkelnden Lichter in der Newa, als sich endlich die Gäste aus dem ihnen auf’s Neue geöffneten gastlichen Hause entfernten.