ADB:Ohm, Georg Simon
Martin O., folgte drei Jahre später.
Ohm: Georg Simon O., 1789–1854, stammt aus einer alten Bürgerfamilie, die, soweit ihre Erinnerung zurückreichte, von Vater zu Sohn das Schlossergewerbe vererbte. Sein Urgroßvater Wilhelm O. war Schlossermeister zu Westerholt bei Münster in Westfalen, sein Großvater Johann Vicentius kam als wandernder Schlossergeselle nach Franken, machte sich zunächst in Kadolzburg ansässig und erlangte 1764 infolge seiner Ernennung zum Universitätsschlosser das Bürgerrecht in Erlangen. Er hatte zwei Söhne, welche beide das Handwerk des Vaters erlernten, von denen jedoch der jüngere frühzeitig starb; der ältere, Johann Wolfgang, trat 1776 als Geselle die Wanderschaft an, arbeitete in den größten Städten Deutschlands und kehrte erst nach zehnjährigem Aufenthalte in der Fremde in seine Vaterstadt zurück. Hier erlangte er 1785 das Meisterrecht und verheirathete sich zu Anfang des folgenden Jahrs mit einer geborenen Beck. Erstes Kind dieser Ehe war unser Georg Simon O., geb. am 16. März 1789; ein zweiter Sohn, der im J. 1872 zu Berlin als Mathematikprofessor verstorbeneMeister Johann Wolfgang O. hatte erst nach der Rückkehr von seiner Wanderschaft in den vierziger Lebensjahren, als körperliche Leiden ihm die volle Ausübung seines anstrengenden Geschäfts erschwerten, sich nebenbei zum Studium gewendet und in Mathematik wie in Kant’scher Philosophie gründliche Umschau gehalten. Wäre es auch nicht durch das Zeugniß des 1804 von Erlangen nach Heidelberg berufenen Mathematikprofessors und Hofraths K. Ch. Langsdorff beglaubigt, die noch vorhandener Auszüge und Uebungen würden bestätigen, wie weit die mathematischen Kenntnisse des Vaters O. über die Elemente hinausreichten. Er war also wohl im Stande, seinen beiden das Erlanger Gymnasium besuchenden Söhnen den mathematischen Unterricht selbst zu ertheilen und in den jugendlichen Köpfen den Drang zur Klarheit des Lichts wachzurufen, der ihn selbst noch in späteren Jahren zum Studium getrieben hatte. Den Unterrichtserfolg bestätigt das bereits erwähnte Zeugniß Langsdorff’s, der nach fünfstündiger strenger Prüfung des fünfzehnjährigen Georg die Hoffnung aussprach, es werde ein neues Bernoulli-Brüderpaar aus der Familie des Schlossermeisters erstehen.
Eine so schmeichelhafte Aeußerung bewog den Vater, seine beiden Söhne für die Universität vorbereiten zu lassen, jedoch unter der fürsorglichen Bedingung, daß zur leichteren Beschaffung des Familienunterhalts und für ihre eigene Deckung im Falle der Noth beide das Schlosserhandwerk bei ihm fortbetreiben müßten. Ein Jahr noch besuchte Georg O. als Primaner das Gymnasium seiner Vaterstadt, das ihn an Ostern 1805 als reif zur Universität entließ. Am 3. Mai des nämlichen Jahres erhielt er die große Matrikel der philosophischen [188] Facultät zu Erlangen, da er sich für Mathematik, Physik und Philosophie entschieden hatte. „Die hohe Liebe zu diesen Lehren, schreibt er bei einer späteren Gelegenheit, und die durch immer weiteres Vordringen in denselben erlangte Ueberzeugung von ihrem wichtigen Einflusse auf absolute Menschenbildung, so wie die leise Ahnung einer höheren Stimme waren Ursache, daß ich mich ausschließend ihrer Ausbreitung und Erweiterung widmete.“ Er konnte jedoch die Universitätsstudien wegen Mangels an Mitteln nur auf drei Semester erstrecken. Der Ruf eines flotten Tänzers, ausgezeichneten Billardspielers und unübertrefflichen Schlittschuhläufers gehörte nicht zu den Vorzügen, die des Vaters Wohlgefallen erregten; es kam daher beiden sehr erwünscht, als Georg Simon Ende September 1806 durch Vermittlung des Buchhändlers Walther eine Lehrstelle für Mathematik am Erziehungsinstitute des Pfarrers Zehnder zu Gottstadt im Kanton Bern erhielt. Kurz, nachdem er diese Stelle angetreten, schrieb der Institutsvorstand an Walther: er habe beim ersten Anblicke des achtzehnjährigen kleinen und schmächtigen Jünglings nicht glauben können, daß dieser der empfohlene Lehrer sei, aber sich bald von dessen Tüchtigkeit und Brauchbarkeit überzeugt.
Als O. nach dritthalb Jahren Gottstadt verließ, um in Neuenburg unabhängig von einem Institut oder einer Herrschaft privatim Mathematik zu lehren und weiter zu studiren, namentlich aber französische Conversation zu pflegen, wurden ihm von verschiedenen sehr achtungswerthen Seiten her Anerbietungen gemacht, als Lehrer einzutreten, er wies sie aber alle zurück. Erst an Ostern 1811 kehrte er nach Erlangen zurück, um an der Universität, die ihn am 25. October desselben Jahres zum Doctor der Philosophie promovirt hatte, als Privatdocent aufzutreten. Er las jedoch nur drei Semester hindurch mit vielem Beifall über Mathematik, weil seine ökonomischen Verhältnisse ihn zwangen, im Januar 1813 eine Lehrstelle an der königlichen Realstudienanstalt in Bamberg anzunehmen, nachdem er vergeblich um die durch Schweigger’s Tod am Bayreuther Gymnasium erledigte Mathematikprofessur nachgesucht hatte.
Das Erwachen des nationalen Geistes gegen die Napoleonische Zwingherrschaft, nachdem des Korsen Glück zum ersten Mal auf Rußlands Schneefeldern sich von ihm gewendet, ließ unseren kerndeutschen O. nicht unberührt: Der Aufruf, der im Norden erging, wirkte mächtig auf sein braves Herz, aber die Rücksicht auf den bejahrten Vater, dessen Stütze mit dem Soldaten fiel, vielleicht auch die Ueberlegung, daß Thaten auf einem anderen Felde als dem der Ehre, nicht nur dem Vaterlande sondern der ganzen Menschheit zu gute kommen, vermochten es über ihn, daß er vorläufig an der Realschule blieb. Freilich bewog ihn die dort herrschende mechanische Drillung bei Schülern, die anderwärts nicht fortgekommen waren, schon am 16. August 1814 um Aenderung seines Dienstverhältnisses in Bamberg zu bitten. Statt Gewährung erhielt er drei Monate später, „in Erwägung, daß eine Realschule einem Progymnasium als der wichtigsten Vorbereitungsschule bei weitem nachsteht“, den Auftrag, an dem Bamberger Progymnasium so lange lateinischen Unterricht zu ertheilen, bis der eigentliche Lehrer eintreten werde. Als ihm vollends mittelst Ministerialentschließung vom 17. Februar 1816, welche die Realstudienanstalt zu Bamberg aufhob, gegen den Fortbezug seines Reallehrergehalts der Unterricht in einer Abtheilung der dortigen Oberprimärschule übertragen wurde – da machte er in einer an die Studiensection des königlichen Ministeriums des Innern eingesandten Vorstellung seinem gepreßten Herzen Luft und sprach, seinen Bildungsgang darlegend, mit aller Entschiedenheit aus, daß die in Bamberg ihm gestellten Lehraufgaben seinen Kenntnissen und Neigungen geradezu widerstritten. „Der vorzüglichste Beweggrund, heißt es darin, warum ich zu dem Berufe eines Lehrers mich hinneigte, war die Aussicht auf eine freie, nicht durch Erstickung aller Individualität geschwächte [189] Ausbildung und Ausübung meiner Kräfte. Das letztere konnte leider bisher noch nicht geschehen, und nun soll ich vollends aus einer Wirkungssphäre herausgerissen werden, in der ich mit Besonnenheit und Absicht auf einen erkannten Gegenstand lozusteuern fähig bin und in ein meiner innersten Natur widerstrebendes Element, worin ich nur zagend und zweckwidrig mich bewegen würde, versetzt bleiben?“ Mit seiner Vorstellung erreichte jedoch O. nichts weiter als die beruhigende Versicherung, er werde sobald als möglich wieder im Lehrfache der Mathematik angestellt werden.
Unterdessen war er eifrig mit der Ausarbeitung seines Erstlingswerkes beschäftigt: „Grundlinien zu einer zweckmäßigen Behandlung der Geometrie als höheren Bildungsmittels“. Diese im Frühjahre 1817 bei Enke in Erlangen erschienene, fünfzehn Druckbogen starke und nur mit hundert Freiexemplaren honorirte Schrift ist schon durch die Vorrede bedeutend, welche einen tiefen Blick in Geist und Gemüth ihres Verfassers thun läßt. Am Schlusse derselben gibt er nehmlich eine kurze Charakteristik seines Vaters, nicht, wie es heißt, um dessen Person eitlen Weihrauch zu streuen oder in dem Wahne, ihm durch öffentliche Anerkennung einen Theil der unermeßlichen Schuld für die dem Glücke des Sohnes alle Annehmlichkeiten des Lebens opfernde Vaterliebe abtragen zu können, sondern um den überwiegenden Einfluß dieses Vaters auf die Eigenthümlichkeit der wissenschaftlichen Bildung des Sohnes anzudeuten und alles Verdienstliche des eben ins Leben tretenden Buchs den wirkungsvollen väterlichen Unterweisungen und Rathschlägen zuzuschreiben.
Verdient hier die Dankbarkeit und Bescheidenheit des Sohnes unsere Anerkennung, so erfüllen uns die an anderen Stellen der Vorrede dargelegten Anschauungen über höhere Geistesbildung und ihre Vermittlung mit Hochachtung für den tiefblickenden Geometer. Er sieht den letzten Zweck aller höheren Geistesbildung darin, die Verstandeskräfte des Menschen durch alle Zwischenstufen ihrer Entwicklung bis auf den Punkt der Reife zu bringen, von wo aus sie fähig sind, durch Zerlegung und Verbindung erhaltener Begriffe Vernunfterkenntnisse in und durch sich selbst nach Absicht und mit Bestimmtheit hervorzubringen. Wessen Denkkraft bis auf diese Höhe gekommen sei, in dessen Innerem habe sich eine neue Welt gestaltet, die mit der Außenwelt in beständiger Wechselwirkung steht, um eine vollendete Harmonie zwischen innerer und äußerer Natur herzustellen. Um aber im Kampfe nach diesem Ziele der erforderlichen Kraft und des glücklichen Erfolgs sicher zu sein, müsse vor Allem die eigenthümliche Wirkungsweise eines jeden Unterrichtsmittels auf das Denkvermögen, sowie die nothwendige Verbindung aller Lehrzweige unter einander zu einem geschlossenen Systeme der Unterrichtskunst dargethan und gewissenhaft beobachtet werden. So lange bei dem Unterrichte noch das Wort des Wortes willen, der Stoff des Stoffes halber gegeben werde, gehe die rohe Masse todt in das zarte Gemüth und ersticke dort, statt zu beleben, den Keim des höheren Seins.
Unter den Bildungsmitteln verdiene die rationelle Geometrie eine ehrenvolle Stelle: ihr rein geistiger und doch mit der Sinnlichkeit so nahe verwandter Gegenstand erleichtere den Uebergang vom Anschauen zum Denken, und ihr höchst einfacher und doch so vernunftgemäßer Bau eigne sie im hohen Grade zur Leitung des Menschen aus dem Gebiete des imitativen Verstehens in das des productiven Forschens. Die Geometrie, fährt O. fort, nachdem er das gewöhnliche fruchtlose Verfahren sie zu lehren gezeichnet hat, die Geometrie muß, wenn sie sich den Vorrang vor anderen Zweigen des Unterrichts sichern will, den Damm, welcher das blose Begreifen vom eigenen Forschen unterscheidet, durchbrechen: sie muß den Menschen, dessen Denken bisher nur der Widerhall eines Gedachten war, zwingen, mit der in seinem Inneren lodernden Flamme alle [190] von dieser erreichbaren Gegenstände schlechthin durch sich selbst zu läutern und zu beleuchten. Die zwar immer in gleicher Weise wirkende Denkkraft muß ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit kennen gelernt haben, wenn sie sich nicht zaghaft hinter die Bollwerke des Gedächtnisses zurückziehen soll; ihre schöpferische Kraft muß sich entwickelt haben, damit sie nicht knechtisch von den Vorurtheilen einer geistigen Despotie sich beherrschen lasse; sie muß sich ihrer unüberwindlichen Stärke bewußt geworden sein, um nicht kleinmüthig bei einem unerwarteten Widerstande die Flucht zu ergreifen.
Es ist die heuristische Methode, die O. in seinem Buche lehrt und die er sowohl beim Unterrichte als beim wissenschaftlichen Forschen sein ganzes Leben hindurch festgehalten hat. Wer es nicht, wie der Verfasser dieser Biographie, aus dem Munde des Lehrers erfuhr, kann heutzutage noch an allen Ohm’schen Schriften sein sorgfältiges Bestreben erkennen, den strengen Zusammenhang aller Glieder seiner Schlußfolgerungen mit geometrischer Genauigkeit herzustellen.
Die Urtheile der Presse über Ohm’s Grundlinien der Geometrie lauteten nicht alle anerkennend, und sehr begreiflicher Weise, da sich nur wenige Kritiker auf den idealen Standpunkt des Verfassers zu stellen vermochten, der strengster mathematischer Schlußfolgerung genügen und den Geist nach Formen, wie sie ein consequentes System fordert, in der Selbstthätigkeit üben wollte. Gleichwohl trug die Schrift, welche auch der König von Preußen Friedrich Wilhelm III. mit Wohlgefallen entgegennahm, viel dazu bei, daß O. unter dem 11. September 1817 vom königlichen Consistorium zu Köln a. Rh. einen ebenso ehrenvollen als vortheilhaften Ruf als Oberlehrer der Mathematik und Physik an das dortige Gymnasium erhielt, den er auch ohne Weiteres annahm.
Im November jenes Jahres trat O. seine neue Stellung an, die ihm vorderhand einen entsprechenden Wirkungskreis gewährte. Neun Jahre lang konnte er nun die Grundsätze, die ihm so sehr am Herzen lagen, zur Ausführung bringen, und seine eigenthümliche erfolgreiche Lehrweise erlangte bald um so größere Anerkennung, je tiefer das mathematische Studium am Kölner Gymnasium bis dahin gestanden hatte. Denn von nun an gingen, im Gegensatze zu früher, nicht nur fast alle Preisbewerber und Preisträger der mathematisch-physikalischen Aufgaben der philosophischen Facultät zu Bonn, sondern auch die tüchtigsten Lehramtscandidaten für Mathematik und Physik aus dem Ohm’schen Unterrichte hervor. Zu seinen besten Schülern aus jener Zeit gehörten der gefeierte Mathematiker Lejeune-Dirichlet, (s. A. D. B. VIII, 251), welcher in Berlin mit Jacobi und Steiner und in Göttingen als Gauß’ Nachfolger lehrte, und der verdienstvolle Astronom Heis, dem eine bescheidenere Stellung an der Akademie in Münster zufiel. Aber nicht blos diejenigen Schüler, welche sich später dem Studium der exacten Wissenschaften zuwandten, hingen mit größter Verehrung an ihrem Lehrer O., die gleiche Anhänglichkeit theilten auch jene, die sich nicht sonderlich von Mathematik erwärmt fühlten. So spricht sich der bekannte Publicist Jacob Venedey, ein geborener Kölner, bei Uebersendung seiner in der Verbannung verfaßten Schrift „Der Dom zu Köln“ in einem aus Havre de Grace vom 28. September 1842 datirten Briefe in folgender Weise aus: „Es wird Sie vielleicht wundern, geehrter Herr, wenn ein Schüler, der so wenig von Ihnen und ihren Collegen gelernt hat, daß er jetzt durch Schreiben sein Brod verdienen muß, das lebendigste Andenken an Sie aufbewahrt hat. Die Mathematik ist daran nicht Schuld, denn von der ist mir nur eine dunkle Ahnung geblieben; aber die Person meines Lehrers, seine Art und Weise, sein frisches gesundes Wesen steht mir lebendig vor der Seele, und es gehen selten Wochen, nie Monate vorüber, ohne daß ich an Sie denken muß. Es ist das kein Compliment, denn ich kenne Sie hinlänglich, um zu wissen, daß ein solches Ihrer unwürdig [191] wäre, und bin leider meinerseits auch gerade nicht zu dergleichen geboren. Ich habe oft gewünscht Ihnen einmal zu begegnen und habe hundertmal geglaubt Sie zu sehen, wenn in der Ferne ein Mann auch nur einige Aehnlichkeit mit Ihnen hatte. Sie haben mir etwas angethan: soviel ist gewiß, daß ich nur mit der höchsten Verehrung, fast mit Liebe an Sie denke, und daß es ein glücklicher Tag für mich sein würde, an dem ich Ihnen eine frohe Stunde zu bereiten im Stande wäre“.
So eifrig O. seinem Unterrichte in den beiden oberen Classen des Gymnasiums oblag – nie verlor er das höhere Ziel aus den Augen, das Grübeln und Forschen, wozu ihn sein Genius trieb. Seine Wahl schwankte lange Zeit zwischen Mathematik und Physik, aber die Erfahrung, „daß dort die Autorität manchmal ein gar arges wunderliches Spiel zu treiben pflegt“, hieß ihn zur Physik greifen, die ja ohnehin der Mathematik nicht entbehren kann. Er wollte nach dem Vorworte seines Hauptwerks zu seiner Proberolle ein Stück wählen, wobei Concurrenz am wenigsten zu scheuen wäre, und fand es an den räthselhaften Erscheinungen des galvanischen Stroms.
So entstanden zunächst auf der Grundlage experimenteller Untersuchungen mit dem physikalischen Apparate des Kölner Gymnasiums, den er vermöge seiner von Jugend auf erworbenen mechanischen Fertigkeit geschickt zu behandeln und nach Bedürfnis zu ändern verstand, jene Mittheilungen über die Natur des elektrischen Stroms, welche er zeitweise in dem Jahrbuch für Chemie und Physik von Schweigger veröffentlichte und nach ihrem Hauptinhalt in dem zweiten Hefte des Jahrgangs 1826 zusammenfaßte. Erst nach dem Abschlusse dieser rein experimentellen Arbeiten ging O. daran, das Gebiet der Elektricität, der Wärme und des Lichts in der mathematischen Richtung zu durchstreifen, um etwa zu ergänzen, was in der Physik der Imponderabilien den Bemühungen eines Laplace, Fourier, Poisson, Fresnel und andrer Forscher noch entgangen sein mochte, und so auf einem Gebiete festen Fuß zu fassen, das bisher die Franzosen als ihre Domäne anzusehen gewohnt waren. Dem ersten deutschen Analysten, welcher mit seinem Instrumente die wunderbaren Aeußerungen der Elektricität prüfte, unserem O. ist es gelungen, den bereits durch Versuch von ihm aufgefundenen Gesetzen der galvanischen Erscheinungen eine auf die einfachsten und bekanntesten Thatsachen gestützte mathematische Theorie hinzuzufügen und damit einen tieferen Einblick in die Natur des Galvanismus zu gewinnen. Er durfte sich schmeicheln eine ähnliche Theorie auch für das Licht schaffen zu können, obwohl sie ihm viel schwieriger erschien, weil hierzu noch der Ausbau einiger an den Grenzen der Wissenschaft gelegenen Zweige der Mathematik erforderlich war.
Zur Vollendung der einen und zur Weiterführung der anderen Theorie bedurfte O. nicht blos größerer Muße als sie sein Amt verlieh, sondern auch umfassenderer litterarischer Hilfsmittel als er in der Gymnasialbibliothek fand. Er suchte daher am 1. April 1826 um einen über das ganze Schuljahr 1826/27 sich erstreckenden Urlaub nach, unter dem Hinweis auf die bereits erwähnten gedruckten Mittheilungen und auf eine im Manuscript beigelegte für Poggendorff’s Annalen der Physik und Chemie bestimmte Abhandlung über die Theorie der galvanischen Kräfte. Nachdem das Provinzialschulcollegium über die Zulässigkeit des Ohm’schen Verlangens vom pädagogischen Standpunkte aus und der Akademiker Professor Paul Ermann zu Berlin, der trotz der damals zügellos herrschenden naturphilosophischen Speculation einer rationellen Forschung ihr Recht wahrte, über den wissenschaftlichen Werth der vorgelegten Abhandlung einvernommen worden – bewilligte das Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten am 10. August 1826 den nachgesuchten einjährigen Urlaub in einer den Bittsteller ehrenden und zum [192] Danke verpflichtenden Weise; denn es wurde ihm „zur Förderung seiner wissenschaftlichen Bestrebungen“ der halbe Jahresgehalt belassen und im Falle des Bedarfs ein weiterer Zuschuß aus Staatsmitteln in Aussicht gestellt.
Schon im Mai 1827 erschien Ohm’s mathematische Bearbeitung der galvanischen Kette, eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges, welche die Mannigfaltigkeit der durch Berührung zweier oder mehrerer verschiedenartiger Körper entstehenden galvanischen Erscheinungen unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenfaßte, indem sie zunächst für die Fälle, wo die erregte Elektricität blos nach einer Dimension sich bewegt, die von O. bereits empirisch gefundenen Gesetze aus der feststehenden Thatsache der elektrischen Spannung zwischen verschiedenartigen sich berührenden Körpern und aus einer nach sorgsamster Prüfung mit Hilfe der Rechnung begründeten Ansicht über die Fortpflanzung der Elektricität in solchen Körpern herleitete. Gleichwohl fand bei ihrem Erscheinen die später so epochemachende Arbeit weder bei den maßgebenden Gelehrten des Tages noch bei der höchsten wissenschaftlichen Behörde die verdiente Beachtung. Man kann nicht sagen, daß sie überhaupt nicht beachtet worden sei, im Gegentheile, sie wurde nach kurzer Zeit von Fechner in Leipzig, von Pfaff in Erlangen und von Poggendorff in Berlin in ihrer vollen Tragweite gewürdigt; auch Kämtz in Halle brachte in der Allgemeinen Litteraturzeitung eine Beurtheilung, zwar ohne allen Tadel, aber zurückhaltender als es deutsche Gelehrte sonst zu sein pflegen. Nur in den Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik äußerte sich Professor Pohl ohne jede Einschränkung wegwerfend.
Vermochten auch die heftigen Tadelsworte des den Philosophen Hegel verherrlichenden Blatts im mathematisch gebildeten Publikum eben so wenig einzuschlagen als Salmonensische Theaterblitze, so läßt sich doch kaum bezweifeln, daß eine solche Kritik und das bedenkliche Schweigen der Berliner Akademiker auf den mit Hegel eng befreundeten Cultusminister Freiherrn v. Altenstein und seinen bei der Gründung und Herausgabe der fraglichen Jahrbücher betheiligten Referenten in Schulsachen, den Geheimrath Johannes Schulze, ungünstig einwirkten. Von dem Gutachten dieses einflußreichen Hegelianers hing es ab, ob Ohm’s sehnlicher Wunsch, gelegentlich in die akademische Laufbahn überzutreten, erfüllt werden sollte oder nicht; auf Gewogenheit aber konnte der Bewerber trotz aller gerechten Ansprüche nur zählen, wenn er sich mit Leib und Seele zur neuen Philosophie bekannte, an welche O. am allerwenigsten glauben mochte, da sie nicht einmal Newton’s Principia mathematica gelten ließ, die freilich ein langsameres Aufbauen vorschrieben als die lustigen Pläne der jungen Naturphilosophen.
Bald nach dem Erscheinen der galvanischen Kette und der Pohl’schen Kritik kam es auf Ohm’s Veranlassung zu einer Unterredung zwischen ihm und dem Ministerialreferenten, welche unmittelbar zum Bruche führte und O. bestimmte, sofort mündlich und bald darauf schriftlich zu erklären, daß ihm unter solchen Verhältnissen nur übrig bleibe, seine Stellung in Köln aufzugeben und um seine Entlassung zu bitten. Weder eine vermittelnde Zuschrift des Ministers v. Altenstein aus Kissingen vom 17. August 1827, noch eine die Rückkehr nach Köln bei Strafe der Entlassung fordernde Ministerialentschließung vom 3. März 1828, auch nicht eine Abordnung von Gymnasialschülern, welche ihren verehrten Lehrer dringend um Wiederaufnahme seines Unterrichts bat, konnte den wenig weltläufigen aber willensfesten Mann bewegen, sein einmal ausgesprochenes Wort zurückzunehmen.
Durch Verfügung des Staatsministers vom 29. März 1828 erfolgte die erbetene Entlassung mit dem Ausdrucke der ganz besonderen Zufriedenheit über [193] den Fleiß, die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, womit O. seinen Obliegenheiten in der Stellung eines Oberlehrers auf eine ausgezeichnete Weise genügt habe, und mit dem Bedauern, daß das Ministerium, trotz der aufrichtigen Achtung, welche es für Ohm’s wissenschaftliches Streben hege, außer Stande sei, ihm einen anderweitigen Wirkungskreis außerhalb des Gymnasiallehrfachs anzuweisen.
Mißmuthig über das Fehlschlagen aller Hoffnungen, mit denen er vor Jahresfrist nach Berlin gekommen war, und nur auf einen jährlichen Bezug von 300 Thalern angewiesen, welchen er auf Vermittlung das Generals v. Radowitz für drei Wochenstunden mathematischen Unterrichts an der Allgemeinen Kriegsschule zu Berlin bezog, trat O. in das Privatleben zurück, um sechs Jahre (1827 bis 1833) des kräftigsten Mannesalters für sich und die Wissenschaft fast zu verlieren. Seine gedrückte Lage hob ein Decret Königs Ludwig I. von Baiern vom 3. Juli 1833, welches ihn zum Professor der Physik, nicht wie er gewünscht und gehofft hatte, für die polytechnische Schule in München, sondern für die in Nürnberg ernannte, welche auf Grund allerhöchster Verordnung vom 16. Februar 1833 als königliches Institut mit dem Range eines humanistischen Lyceums ins Leben getreten war. Anderthalb Jahre später, nach der Berufung v. Staudt’s an die Universität Erlangen, wurde ihm auch der Lehrstuhl der höheren Mathematik zugleich mit dem Inspectorat des wissenschaftlichen Unterrichts und 1839, als Johannes Scharrer von der Leitung der technischen Lehranstalten zurücktrat, das Rectorat der polytechnischen Schule zu Nürnberg übertragen, das er zehn Jahre lang mit größter Gewissenhaftigkeit und Treue verwaltete.
Sein Hauptverdienst um diese technische Bildungsanstalt bestand jedoch weniger in der Verwaltung, so sehr sie auch den Schulorganismus frisch zu beleben und kräftig zu erhalten wußte: im Gedächtnisse seiner Schüler lebt O. nur als unübertroffener Lehrer fort, weil von seinem Geiste jeder eine innerliche Wirkung spürte. Vorträge allein hätten diesen Erfolg nicht zuwege gebracht: Ohm’s ganz eigenthümliche Lehrweise bestand in dem ununterbrochenen lebendigen Verkehr mit den Schülern; Prüfungen und Uebungen an der Tafel nahmen stets die erste Hälfte jeder Doppelstunde des Unterrichts in Anspruch, und die andere Hälfte allein wurde auf die Fortsetzung der Vorträge verwendet. Nur so konnte O. auf jeden einzelnen Schüler nach dessen Begabung einwirken und künftigen Lehrern ein Muster ihres Standes werden.
Mit dem der Jugend eigenen feinen Gefühle unterschieden auch die Zöglinge in Nürnberg so gut wie in Köln und an der Kriegsschule zu Berlin den wahren Priester der Wissenschaft von dem Vulgarisator, der nur die Frucht fremder geistiger Arbeit zugänglich und mundgerecht macht. Wer praktische Beweise für die Vorzüglichkeit der Ohm’schen Methode haben wollte, fände sie nicht blos in den Protokollen der königlichen Commissionen, welche die an den drei polytechnischen Schulen des Landes von 1835 bis 1850 vorgebildeten Ingenieur- und Lehramtscandidaten der Mathematik und Physik zu prüfen hatten, sondern auch in den Leistungen der Ingenieure aus jener Zeit beim Bau und Betrieb der Staatseisenbahnen und anderen Unternehmungen. sowie in dem Unterrichtserfolg an solchen technischen Schulen, denen Schüler Ohm’s als Lehrer beschieden waren.
Während Ohm’s Thätigkeit fast ganz in der Schule aufging und nur gelegentlich auf Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Forschungen sich erstrecken konnte, hielten sich mehrere namhafte Physiker, wie Poggendorff und namentlich Fechner in Deutschland, Jakobi und Lenz in Rußland, Henry in England, [194] Rosensköld in Schweden und de Heer in Holland für verpflichtet, die Ohm’schen Untersuchungen über die Bewegung der Elektricität auf Grund ihrer eigenen Arbeiten als richtig anzuerkennen. Weniger aber diese Anerkennung als der Umstand, daß der französische Physiker und Akademiker Pouillet im J. 1837 (zehn Jahre nach dem durch O. vermittelten Empfang eines Exemplars der galvanischen Kette) zwei Abhandlungen über thermo- und hydroelektrische Ketten vorlegte, in denen ein Theil der Ohm’schen Theorie (sogar mit den dort eingeführten technischen Ausdrücken) enthalten war, veranlaßte betreffs der Contactelektricität eine Bewegung unter den Physikern des In- und Auslandes, so daß Ohm’s Werk in einer Uebersetzung auch zur Kenntniß der britischen Physiker kam.
Bei ihnen fand dasselbe sammt allen sich daranschließenden in den Jahren 1825 bis 1833 ausgeführten und veröffentlichten Ohm’schen Experimentaluntersuchungen bereitwillige volle Anerkennung, und die Royal Society sah sich veranlaßt, den Verfasser mit der goldenen Preismedaille zu ehren, welche Copley zur Belohnung der wichtigsten Entdeckungen im Gebiete exacter Forschung gestiftet hatte, eine Auszeichnung, die vor O. nur Einem deutschen Gelehrten, Karl Friedrich Gauß in Göttingen, zutheil geworden war. Ihren in der Jahressitzung vom 30. November 1841 vollzogenen Act hat die königliche Gesellschaft zu London in nicht minder ehrenvollen Worten begründet. „In den genannten Werken, heißt es nämlich in dem Sitzungsprotokolle, hat Dr. O. zuerst die Gesetze der elektrischen Kette aufgestellt, ein ebenso weittragend wichtiger als bisher in unsicheres Dunkel gehüllter Gegenstand. Er hat gezeigt, daß die gewöhnlichen verworrenen Unterscheidungen von Intensität und Quantität unbegründet und alle aus diesen Betrachtungen abgeleiteten Erklärungen gänzlich falsch sind. Er hat theoretisch und experimentell nachgewiesen, daß die Wirkung einer Kette gleich ist der Summe der elektromotorischen Kräfte getheilt durch die Summe der Widerstände, und daß, wenn dieser Quotient für irgend zwei Ströme, ob voltaischer oder thermoelektrischer, gleich ist, ihre Wirkung die gleiche bleibt. Er hat auch die Mittel angegeben, um die einzelnen Widerstände und elektromotorischen Kräfte in der Kette mit Genauigkeit zu bestimmen. Diese Untersuchungen haben auf die Theorie der strömenden Elektricität bedeutendes Licht geworfen, und obgleich Ohm’s Arbeiten (von Fechner abgesehen), über zehn Jahre unbeachtet geblieben sind, so haben doch in den letzten fünf Jahren (1837 mit 1841) Gauß, Lenz, Jakobi, Poggendorff, Henry und viele andere ausgezeichnete Physiker den großen Werth seiner Untersuchungen und die Dankesschuld an den Führer bei ihren eigenen Forschungen anerkannt. Wäre das Werk von O. und sein Werth früher bekannt und erkannt worden, so hätte sich der Fleiß der Experimentatoren besser gelohnt. Die erfahrensten Galvaniker Englands haben für die Hilfe, welche sie aus dieser Quelle zogen, und für die Genauigkeit, mit welcher die beobachteten Erscheinungen beständig der Ohm’schen Theorie entsprechen, das kräftigste Zeugniß abgelegt.“
Als die Royal Society der Auszeichnung Ohm’s durch Verleihung der Copleymedaille am 5. Mai 1842 auch noch die weitere beifügte, ihn wegen seiner „eminenten mathematischen und physikalischen Untersuchungen“ einstimmig zu ihrem auswärtigen Mitgliede zu ernennen, da gingen die beiden der wissenschaftlichen Welt in der galvanischen Kette seit fünfzehn Jahren vorliegenden „Ohm’schen Gesetze“, namentlich das erste, in die Lehrbücher der Physik über und deutsche wie fremde Akademien beeilten sich, ihren Entdecker als Physiker ersten Ranges anzuerkennen. Von den beiden Gesetzen bezieht sich das erste (elektromotorische) auf die Größe des Stroms in jeder galvanischen Kette, d. h. auf die Menge der Elektricität, welche durch eine Verbindung von Leitern in [195] gegebener Zeit strömt, und dieses erste Gesetz ist bald nach dem Erscheinen der Ohm’schen Schrift auf dem Wege des Versuchs von dem schon mehrmals erwähnten ausgezeichneten Physiker Fechner in Leipzig und später, als der eben so tüchtige englische Physiker J. F. Daniell das Experimentiren mit der voltaischen Säule durch seine Erfindung constanter galvanischer Apparate wesentlich erleichtert hatte, von vielen anderen Gelehrten experimentell bestätigt worden. Wenn Physiker von „dem Ohm’schen Gesetz“ schlechtweg sprechen, so meinen sie immer das erste (elektromotorische), das einfacher gestaltet und leichter nachweisbar ist als das zweite (elektroskopische), welches die Stärke der Elektricität in jedem Querschnitte der galvanischen Verbindung als Function der elektrischen Zustände und der Abmessungen der Kettenglieder ausdrückt. Selbst Fechner und die englischen Physiker der Royal Society haben das zweite Gesetz nicht infolge der eigens dafür angestellten Versuche als richtig anerkannt, sondern weil es theoretisch aus derselben Hypothese abgeleitet ist, welche sich bei dem ersten Gesetze so auffallend bewährt hatte.
Der Grund, warum die experimentelle Begründung des zweiten Gesetzes seit seiner Entdeckung durch O. keinem anderen Physiker glücken wollte, lag im Mangel eines Elektrometers, womit man die geringsten elektrischen Spannungen an verschiedenen Punkten der einfachen geschlossenen Kette messen konnte. Als endlich F. Dellmann ein annähernd entsprechendes Elektrometer erfunden und Professor R. Kohlrausch in Marburg dessen Genauigkeit in sinnreicher Weise gesteigert hatte, konnte der letztere im J. 1848 das zweite Ohm’sche Gesetz gegen alle Einwendungen der Empiriker ebenso sicher stellen als Fechner zwanzig Jahre vorher das erste Gesetz.
Schlägt man in den Verzeichnissen der Mitarbeiter an den von Schweigger, Poggendorff und Kastner herausgegebenen Zeitschriften für Physik und Chemie den Namen G. S. O. auf, so findet man ihn in den Jahrgängen von 1829 bis 1839 fast nicht mehr oder nur in Verbindung mit einigen thatsächlichen Nachweisen der Gültigkeit seiner galvanischen Gesetze angeführt. Es war die wissenschaftliche Ruhepause in Ohm’s Leben, hervorgerufen durch das Schicksal der „galvanischen Kette“, worüber er sich gleich anfangs in einem Briefe an Professor Schweigger in Halle entschieden aussprach. Erst in Nürnberg regte sich Ohm’s Forschungsgeist wieder, nachdem er sich mehrere Jahre ausschließlich dem Unterrichte gewidmet hatte: Ende 1839 fallen nämlich seine Versuche, den dichten Schleier zu lüften, der damals noch über ein seinem bisherigen Arbeitsfelde fernes Gebiet, der musikalischen Akustik, ausgebreitet lag. Ein solches Unternehmen war gerade bei O. auffallend, einem Physiker ohne alles musikalische Gehör. Aber der Reiz, eine dunkle Frage an der Hand mechanisch-physikalischer Principien und eines fein ausgebildeten Calculs aufzuklären, und die Hoffnung, daß für den praktischen Theil auch ein musikalischer Freund nicht fehlen werde, thaten offenbar ihre Wirkung.
Mathematisch gefaßt handelte es sich hier darum, die Anzahl der Schwingungen eines irgendwie in Bewegung gesetzten tönenden Körpers während einer gegebenen Zeit, aus der Gesammtheit seiner physischen Eigenschaften zu bestimmen. Seit zwei Jahrhunderten hatten sich die größten Mathematiker mit dieser Aufgabe beschäftigt, nachdem Brook Taylor zuerst mit einer Arbeit über schwingende Saiten und mit der Behauptung hervorgetreten war, eine solche Saite könne nur dann isochron schwingen, wenn sie, wie es der Fall sei, die Gestalt einer Kykloide annehme. Auch Johann Bernoulli verfocht diese Ansicht, bis d’Alembert den Irrthum nachwies und seinerseits behauptete, daß unendlich viele Curven den Saiten isochrone Schwingungen gestatten. Ein Jahr später zeigte Leonhard Euler, daß die Gestalt einer isochron schwingenden Saite nicht [196] einmal in algebraischer Form ausdrückbar zu sein brauche. Dies widersprach d’Alembert, und nun mischte sich auch Daniel Bernoulli in den Streit, der beiden Gegnern eine zu abstracte Behandlung der Sache vorwarf und die Gestalt der schwingenden Seite als Trochoide oder aus Trochoiden zusammengesetzt erklärte. Endlich fand Lagrange, daß unter der Annahme, die Saite bestehe aus einer endlichen Anzahl von Theilchen, Daniel Bernoulli’s Behauptung, bei einer unendlichen Zahl von Theilchen aber Leonhard Euler’s Resultat richtig sei.
All’ dieser Aufwand von Scharfsinn führte jedoch bei weitem nicht zum Ziel. Da nämlich eine Saite unter sonst gleichen Umständen immer den gleichen Ton gibt, in welcher Weise sie auch aus ihrer Ruhelage gebracht worden sein mag, so mußte die Willkürlichkeit des letzteren Umstandes in die Rechnung eingeführt werden – ein Schritt, der erst nach den analytischen Untersuchungen Fourier’s über die Wärme gelingen konnte. Es blieben also damals (1807) und noch weitere dreißig Jahre die Vorstellungen der Physiker über das, was man einen Ton nennt, sehr mangelhaft: sie konnten nicht erklären, woher der verschiedene Charakter (die Klangfarbe) einer und derselben Note rührt, je nachdem sie von dem einen oder anderen Instrumente oder von der menschlichen Stimme angegeben wird; ebensowenig vermochten sie die Natur der Consonanz und Dissonanz, des Wohlgefallens und Mißfallens am Zusammenklang der Töne, richtig zu deuten oder anzugeben, wie in den verschiedenen musikalischen Instrumenten und in dem menschlichen Stimmorgan die Töne entstehen und durch das Ohr zu unserem Bewußtsein gelangen.
Ueber alle diese Punkte gab das mit Unterstützung Königs Max II. von Baiern vor zwanzig Jahren in erster Auflage erschienene Werk eines unserer größten deutschen Naturforscher, des Professors Helmholtz, „Ueber Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“ genügenden Aufschluß, und damit freilich zugleich auch den Beleg für die Unbrauchbarkeit der bisherigen physikalischen Grundlage der Musikwissenschaft. Nahezu die Hälfte dieses einen starken Octavband füllenden Werkes ist der Erörterung, der Erleichterung des experimentellen Nachweises und der Anwendung des Ohm’schen musikalischen Gesetzes gewidmet, das der geniale Entdecker zwei Jahrzehnte vorher, im J. 1843 unter dem Titel „Ueber die Definition des Tones und die Theorie der Sirene und ähnlicher tonbildender Vorrichtungen“ in Poggendorffs Annalen der Physik veröffentlicht hatte.
Nach diesem Gesetze erzeugt ein tönender Körper außer dem tiefsten oder Grundtone gleichzeitig verschiedene höhere oder Obertöne, deren Luftwellenschwingungszahl zwei, drei und mehrmal so groß ist als die des Grundtones: das Hörbare also, was wir gewöhnlich Ton nennen, ist nicht eine einfache periodische Bewegung der Klangmasse gegen das Ohr, sondern eine Zusammensetzung solcher Bewegungen, ein Zusammenklang harmonischer Töne. Gemäß der schärferen Analyse des physikalischen Vorganges der Tonerzeugung, wie sie O. ermöglicht hat, empfindet das menschliche Ohr nur diejenige Luftbewegung als einzigen und einfachen Ton, bei welcher die bewegten Lufttheilchen senkrecht zum Trommelfelle periodisch und pendelartig hin und her schwingen, und eine aus Schallwellen verschiedener Art bestehende Klangmasse nimmt nur dann eine periodische und als zusammengesetzter Ton sich kundgebende Bewegung an, wenn alle sich mischenden Klänge ganze Vielfache der Schwingungszahl des Grundtons zu Schwingungszahlen haben. Demnach läßt sich auch nach dem Ohm’schen musikalischen Gesetze jede zu einem solchen Tone gehörige periodische Luftbewegung in eine Reihe pendelartiger Schwingungen zerlegen, von denen jede als Ton empfunden wird, dessen Höhe genau der Schwingungsdauer der Luftbewegung entspricht.
[197] O. hat sein akustisches Gesetz ebenso wie die beiden elektrischen auf doppeltem Wege bewiesen: durch mathematische Ableitung aus einem Princip und durch physikalische Experimente. Bei Feststellung der Theorie des Galvanismus gingen die empirischen Beweise den mathematischen Entwicklungen voraus, bei dem akustischen Gesetze folgten sie ihnen. Der mathematischen Begründung des letzteren Gesetzes lag das schon erwähnte, durch vielfache wichtige Anwendungen berühmt gewordene Theorem zu Grunde, das Fourier in seiner Théorie analytique de la chaleur aufgestellt hatte. Es war ein eben so glücklicher als scharfsinniger Gedanke Ohm’s, nach diesem Mittel zu greifen, um die willkürlichen Umstände, die bei schwingenden Körpern berücksichtigt werden müssen, in die Rechnung einzuführen. Die Ergebnisse derselben experimentell zu prüfen, lieh ihm ein ehemaliger Zuhörer (Dr. Kellermann) sein feingebildetes Ohr.
Wie Ohm’s elektrische Gesetze wurde auch sein akustisches anfangs nur wenig beachtet und von Experimentalphysikern sogar angegriffen, obgleich bekannt war, daß schon vor langer Zeit einige besonders feinhörige Musiker die den Grundton begleitenden Obertöne bemerkt hatten. Erst als Helmholtz durch mehrfache Mittel die Obertöne zur sinnlichen Wahrnehmung gebracht und nachgewiesen hatte, daß sie fast in jedem Tone unserer Instrumente zu erkennen sind, gelangte das neue Gesetz bei denjenigen Physikern zur Geltung, welche das Helmholtz’sche Werk gründlich studirt hatten und zur offenen und ehrlichen Anerkennung fremden Verdienstes ebenso geneigt waren als sein berühmter Verfasser. Ihre Zahl ist jedoch noch immer klein gegenüber jenen, welche in ihren Lehrbüchern das Ohm’sche akustische Gesetz entweder gar nicht oder unter Helmholtz’ Namen mittheilen, trotz der wiederholten und deutlichen Erklärung des letzteren, daß es das Ohm’sche Gesetz sei, welches er durch Thatsachen erhärtet oder bei der Zusammensetzung und Zerlegung der Töne angewendet habe.
Zu der Zeit, wo O. den Anhang zu der 1827 herausgegebenen „galvanischen Kette“ schrieb, trat ihm nach seinen eigenen Worten der Gedanke mächtig entgegen, es müsse sich für den Bau des physischen Körpers eine Auffassungsweise finden lassen, welche aus den Vorzugsweise als immanent geltenden Eigenschaften der Materie auch in die Natur ihrer geheimnißvollen Erregerinnen, Licht, Wärme und Elektricität, einen Einblick gestatte. An die Stelle der künstlichen Auskunftsmittel, die sich der Verstand schafft, um Erscheinungen zu begreifen, das Wesen der Körper selbst als Ausgangspunkt zu setzen und so der Erkenntniß des Zusammenhangs und der der unendlich mannigfaltigen Aeußerungen der materiellen Welt sich zu nähern: Das war es, was O. durch eine Molecularphysik erreichen wollte. Aber die abschreckenden Erfahrungen, die er bei seinem ersten Versuche, frei vom Gängelbande der Schule Selbstgeschaffenes zu liefern, an Ephoren der Wissenschaft machen mußte, dann die wenige Jahre nachher eingetretene Veränderung seiner Stellung ließen ihn nicht zur unmittelbaren Ausführung schreiten, wenn er auch das ferne Ziel nie ganz aus den Augen verlor. Erst der Beifallsruf der Royal Society und ihre Ermunterung zu Ausdauer und Beharrlichkeit gaben ihm neuen Muth zur Verfolgung des alten Gedankens.
Er ging nun ans Werk und entwarf zunächst ein System der Molecularphysik, das sich auf bestimmte Annahmen über Beschaffenheit, Form, Größe und Wirkungsweise der Atome stützte. Dem Atome selbst, als einem weder durch künstliche noch durch ihm eigene Kräfte weiter zerlegbaren oder irgendwie veränderbaren allerkleinsten Theil eines Körpers, gab er eine bestimmte Gestalt und unterschied die Atome nach Größe und Natur: nach der Größe, indem er das wirkliche Atom in blos gedachte Theilchen, in „Differentialatome“ zerlegte, deren [198] Dimensionen gegen die des wirklichen Atoms verschwinden und nach allen Richtungen die gleichen Eigenschaften besitzen; nach der Natur, indem er zwischen gleichartigen und ungleichartigen Differentialatomen unterschied, je nachdem sie als Theilchen zweier verschiedenen wirklichen Atome abstoßend oder anziehend aufeinander wirken.
Durch die mathematische Zerlegung der Atome in Differentialatome machte O. es möglich, daß wir jene in unser Vorstellungsvermögen ganz so aufnehmen können wie Körper mit endlichen Dimensionen: die Richtung der zwischen zwei Differentialatomen eintretenden Wechselwirkung geht durch beide hindurch und ist eine völlig bestimmte, da die Dimensionen dieser Differentialräumchen[WS 1] gegen ihre Entfernungen unendlich klein sind; dagegen ändert sich die Stärke der Wechselwirkung mit der Entfernung und der Beschaffenheit der Differentialatome. Hierbei ist Wirkung und Gegenwirkung stets gleich groß, und an der Gesammtwirkung zwischen zwei ganzen Atomen participiren die zwischen ihren Differentialatomen eingeleiteten Theilwirkungen in der Weise, daß man jene aus diesen nach den gewöhnlichen Regeln der analytischen Mechanik zusammensetzen kann.
O. unterschied auch homogene und heterogene Atome und gebrauchte die erstere Bezeichnung für dasjenige Atom, dessen Differentialatome entweder alle abstoßend oder alle anziehend einwirken, die letztere, wenn ein Theil der Differentialatome abstoßend und ein anderer anziehend auf ein außerhalb des Atomes gelegenes Differentialatom einwirkt. Mit diesen Begriffen gelangt er zu einem neuen Unterschiede der Atome: er nennt nämlich ein heterogenes Atom polar, wenn seine beiden Bestandtheile getrennte Mittelpunkte (Pole) haben, unpolar, wenn die Mittelpunkte der Bestandtheile zusammenfallen. Demnach ist das homogene Atom ein polares, dessen einer Bestandtheil zu wirken aufgehört hat.
Nach den Regeln der analytischen Mechanik das Verhältniß der verschiedenen Atome gegenüber äußeren Einwirkungen zu bestimmen, sollte die Krönung von Ohm’s System bilden, aus dem er auf rein mathematischem Wege die Gesetze in ihrem Zusammenhange zu entwickeln gedachte, denen die Erscheinungen des Lichts, der Wärme, der Elektricität, des Magnetismus und der Krystallisation unterworfen sind. Aber hier begegnete er gleich bei dem ersten Schritte einer Schwierigkeit, die schon vor ihm mancher Forscher, namentlich Fourier empfunden hatte, daß nämlich die bis dahin bekannten Entwickelungen der höheren Mathematik seinen Vorstellungen nicht die Einfachheit und Kürze des Ausdruckes zu geben vermochten, die er für nothwendig oder mindestens für wünschenswerth hielt. Die Schwierigkeit zu heben war seine „Analytische Geometrie am schiefwinkligen Koordinatensystem“ bestimmt, welche 1849 in Nürnberg erschien und als erster Band seiner „Beiträge zur Molekularphysik“ deshalb bezeichnet wurde, weil sie nach der Vorrede „im Grübeln über den inneren Bau des natürlichen Körpers ihre Veranlassung fand und sonach mit dem physikalischen Objecte die Glieder Eines Leibes ausmacht“. Mit dem ersten Bande auf gleicher Linie stand der die „Dynamik der Körpergebilde“ enthaltende zweite Band, dessen einzelne Abschnitte bei dem Erscheinen des ersten bereits durchgearbeitet vorlagen, der aber doch nicht früher vollendet und in die Presse gegeben werden sollte, bis die in einem dritten und vierten Bande darzustellenden eigentlichen physikalischen Untersuchungen die Probe auf die Vollständigkeit des zweiten geliefert hätten. Den ersten Band seines leider unvollendet gebliebenen Werkes widmete O. der Royal Society zu London „aus Dankbarkeit, weil sie seinen durch vorausgegangene abschreckende Begegnung erweichten Muth von Neuem stählte, und weil sie großen Antheil hat an dem was seine Forschungen Gutes bringen mögen“.
Während er mit unermüdlichem Fleiße das Unternehmen förderte, welches [199] für die Bewegungen der kleinsten Theilchen eines physischen Körpers zu werden versprach, was Newton’s Principia für die Bewegungen der Himmelskörper im Weltenraume geworden sind, erging zu Ende des Jahres 1849 ohne jede Veranlassung von seiner Seite an ihn der Ruf, die durch Eintritt Steinheils in den österreichischen Staatsdienst erledigten Stellen eines Conservators der mathematisch-physikalischen Sammlungen bei der Münchener königl. Akademie der Wissenschaften und eines Referenten für die Telegraphenverwaltung in deren physikotechnischen Beziehungen bei dem Staatsministerium des Handels und der öffentlichen Arbeiten zu übernehmen, mit der weiteren Verpflichtung, für die Universität in der Eigenschaft eines ordentlichen Professors Vorlesungen über Physik und Mathematik zu halten.
Wie O. von der ebenso unerwartet als reichlich über ihn ausgegossenen königlichen Huld wohlthätig berührt wurde, welche ihm endlich den seiner Neigung ganz entsprechenden akademischen Wirkungskreis anwies, so freuten sich auch des an ihn ergangenen Rufes seine Schüler und Verehrer. Fraglich aber bleibt es, ob die Wissenschaft der Physik nicht einen größeren Gewinn aus der Nichtberufung gezogen hätte. Denn infolge der Uebersiedlung nach München blieb die Molecularphysik unvollendet: die zahlreichen amtlichen Geschäfte des Conservators und Referenten, dann die Ausarbeitung von Specialvorlesungen die der Akademiker zu halten berufen war und gerne hielt, endlich seit dem Jahre 1852, wo er seine in drei Jahren ihm liebgewordenen Aemter an deren früheren Inhaber zurückzugeben und dafür die Professur der Experimentalphysik an der Universität zu übernehmen hatte, die Verabfassung eines für die neuen Vorlesungen nothwendigen und in kürzester Frist zu vollendenden Lehrbuchs der Physik, legten ihm ungewöhnliche Anstrengungen auf und verursachten eine weitere Schwächung seiner im Dienste der Wissenschaft ohnehin schon sehr abgenützten Körperkräfte.
Wäre es bei der Berufung Ohm’s an die Akademie verblieben, so würden die amtlichen Geschäfte der ersten drei Jahre wohl nur einen zeitweisen Aufschub der Arbeiten für die Molecularphysik bedeutet haben, den man umsomehr verschmerzen konnte, als schon das Jahr 1852 der wissenschaftlichen Welt die gewichtige mathematische Abhandlung „über die in einaxigen Krystallplatten zwischen geradlinig polarisirtem Lichte wahrnehmbaren Interferenzerscheinungen“ brachte, eine Denkschrift, welche den Entstehungsgrund dieser Erscheinungen rechnerisch aufdeckte und hieran Betrachtungen von ungemeiner Wichtigkeit für die Lichtwellentheorie knüpfte, indem sie der eigentlichen Erklärung des einzelnen Falles eine allgemeine Analyse des Ganges des Lichtes durch einaxige Krystallplatten vorausschickte, durch welche es möglich wurde, ein ebenso interessantes als dunkles Capitel der Physik, das bis dahin nur fragmentarisch bearbeitet worden war, in den Compendien klarer, vollständiger und kürzer darzustellen.
Auch diese Abhandlung Ohm’s hatte ein eigenes Schicksal. Als nämlich ihr Verfasser den für seine im Sommer 1851 gehaltene Specialvorlesung über Optik nöthigen physikalischen Apparat ordnete und vervollständigte, beobachtete er, daß wenn man zwei Krystallplatten aus Doppelspath oder Bergkrystall, wie sie zu gewöhnlichen Polarisationsversuchen angewendet werden, in gewisser Weise übereinanderlegt, unzählige prismatisch gefärbte concentrische Ellipsen sichtbar werden, deren Mittelpunkte in der Mitte des Gesichtsfeldes liegen. Diese Erscheinung hatte O. früher niemals gesehen, und da er sie auch in keiner der nachgeschlagenen Schriften über Optik erwähnt fand, so hielt er sich für berechtigt, sie als Novität zu veröffentlichen. Ehe er jedoch seine Abhandlung der Münchener Akademie zur Aufnahme unter ihre Denkschriften vorlegte, erkundigte er sich noch persönlich auf der 1852 in Gotha abgehaltenen Naturforscherversammlung [200] bei den dort anwesenden Physikern und Mineralogen, ob sie die ihnen vorgezeigte Erscheinung schon kennen oder vielleicht wüßten, daß Andere sie wahrgenommen haben. Alle erklärten die Erscheinung für neu, aber kaum war der erste Theil der Abhandlung im Drucke erschienen, so stellte sich heraus, daß die fragliche Entdeckung Professor Langberg in Christiania bereits zehn Jahre früher gemacht und in dem norwegischen „Magazin for Naturvidenskaberne“ (1841, Bd. II) veröffentlicht hatte, wovon 1842 im Ergänzungsbande zu Poggendorffs Annalen ein sehr magerer Auszug gegeben wurde. Zu Anfang des zweiten Theils der Abhandlung bereitwilligst die Priorität der Beobachtung des norwegischen Forschers anerkennend, spricht sich O. über dieses Vorkommniß weiter wie folgt aus: „Ich weiß nicht, soll ich es Glück oder Unglück nennen, daß mir die höchst beachtenswerthe Schrift von Langberg so ganz und gar entgangen ist. Allerdings wären, hätte ich früher von ihr Kenntniß erhalten, meine gegenwärtigen Untersuchungen, welche gerade durch jenes Ellipsensystem veranlaßt wurden, nicht gemacht und mir eine große Mühe erspart worden; dann aber wären auch andere kaum minder wichtige Dinge im Schooß der Zeit verborgen geblieben. Es hat sich mir bei dieser Gelegenheit der tiefe Sinn des Sprichwortes „Der Mensch denkt und Gott lenkt“ aufs Neue bewährt. Was meine Thätigkeit anfänglich in Bewegung setzte, ist in Nebel zerronnen, und woran ich von vorne herein auf keine Weise denken konnte, hat Stand gehalten“.
Zu den wichtigeren Ergebnissen seiner durch Scharfsinn und Eleganz der Darstellung ausgezeichneten mathematischen Untersuchung der Interferenzerscheinungen in Krystallplatten rechnet O. erstens die fast vollkommene Bewegungsfähigkeit, welche er optischen Rechnungen dieser Art durch Aufstellung zweier ebenso genauen als allgemeinen Gleichungen über den Gang des Lichts durch Krystallplatten gegeben habe, zweitens die völlig genaue Bestimmung der Intensität des Lichts an den verschiedenen Stellen eines Bildes, und drittens den Nachweis von der überaus großen Abweichung der gewöhnlichen Intensitätsgleichungen von den erfahrungsmäßigen Erscheinungen innerhalb bestimmter Krystallplatten. O. ließ die zweite Hälfte seiner Abhandlung bis auf den Anfang in der ursprünglichen Fassung, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie, im Ganzen wesentlich verschieden von der des Professors Langberg, nur in sehr wenig Punkten mit ihr zusammentraf und auch jetzt noch ganz den Titel ausfüllte, unter dem er sie ursprünglich schrieb.
Wir haben vorhin zu den Ursachen, aus welchen die Vollendung der Molecularphysik unterblieb, auch den Kraft- und Zeitaufwand gerechnet, den O. der Verabfassung eines „Grundzüge der Physik“ betitelten Compendiums für die seit 1852 an der Münchener Universität zu haltenden Vorlesungen über Experimentalphysik widmete. Man kann fragen, wie ein so bedeutender Forscher dazu kam, ein Lehrbuch zu schreiben, da dergleichen Geschäfte in der Regel von Kräften zweiten und dritten Ranges besorgt werden und O. selbst von jeher einen Widerwillen gegen die Ausarbeitung eines Leitfadens zu seinen Vorlesungen empfand. Diesen Widerwillen, der ihn noch in Nürnberg völlig beherrschte, mußte er in München infolge der ungewöhnlichen Einrichtung des physikalischen Hörsaales der Universität und der großen Verschiedenheit seiner alten und neuen Zuhörer überwinden. Der Hörsaal enthielt nämlich nur Sitze zum Hören aber keine Tische zum Schreiben, und der qualitative Unterschied der Schüler von sonst und jetzt bestand darin, daß jene die erforderlichen mathematischen Vorkenntnisse besaßen, diese aber nicht. Ein Feind jener Oberflächlichkeit, wie sie nicht minder das bloße Anhören als das gedankenlose Nachschreiben exact-wissenschaftlicher Vorträge erzeugt, beschaffte O. den Studirenden eine schriftliche Beihülfe dadurch, daß er im ersten Jahre seiner Wirksamkeit an der Universität [201] (1852–1853) die Grundzüge seiner Vorlesungen in dem Maße als er sie hielt, lithographiren und unter die Zuhörer vertheilen, im zweiten aber mit geringen Abänderungen und Zusätzen auch für weitere Kreise (bei Schrag in Nürnberg) drucken ließ.
So entstand das Lehrbuch der Physik, das trotz seines unvortheilhaften Ursprungs doch durchaus des Verfassers würdig ist; denn jeder Abschnitt gibt Zeugniß von der auf eigener Prüfung und Forschung beruhenden tiefen Einsicht des Autors in den einzelnen Gegenstand, und die systematische Anordnung sowohl als die bündige Darstellung aller Theile bekunden den erfahrenen Lehrer, der die an ein Compendium zu stellenden Anforderungen nie aus den Augen verliert: „mit steter Hinweisung auf die Lücken, die von dem Lehrer noch auszufüllen bleiben, einen klaren und in sich zusammenhängenden Ueberblick der Hauptpunkte der Wissenschaft zu geben“. Das Ohm’sche Lehrbuch gehört zu den wenigen, welche im Gegensatze zu den mit Recht in Mißcredit stehenden zahllosen Compilationen den Beweis liefern, daß ein gutes Lehrbuch zu schreiben eine wahrhaft wissenschaftliche Aufgabe für einen gereiften Forscher und Lehrer ist, und daher auch nur von einem solchen besorgt werden sollte.
Als O. an Ostern 1854 die Vorrede und noch einige Anmerkungen zu seinem Compendium niederschrieb, fühlte er wohl, daß dieses seine letzten Worte sein würden; denn zu Anfang jenes Jahres hatte ihn ein Schlaganfall betroffen, von dem er sich zwar soweit erholte, daß er seine Sommervorlesungen wieder aufnehmen konnte, aber eine bedenkliche Abnahme seiner Kräfte bemerkten sowohl er selbst als seine Freunde nur zu deutlich. Wehmüthig sahen sie den in Kurzem drohenden Verlust eines so seltenen Mannes voraus, und ihn überkam dasselbe Gefühl bei dem Gedanken, daß er nicht mehr im Stande sei, seine die Molecularphysik betreffenden Untersuchungen auszuführen. Er sprach sich hierüber nicht blos mündlich gegen Näherstehende, sondern auch schriftlich in seinem Compendium aus. Gelegentlich der Erörterung der Wirkung nämlich, welche galvanisch durchströmte Elektricitätsleiter aufeinander ausüben, und bei der Beschreibung der von Ampère aufgefundenen Thatsachen über die Anziehung und Abstoßung galvanischer Ströme äußerte er sich auch über ein nach seiner Ansicht in der Betrachtung galvanisch-magnetischer Vorgänge noch immer fehlendes, von ihm aber schon in der „galvanischen Kette“ angedeutetes Verbindungsglied, und zwar „um so lieber, je zweifelhafter es ihm werde, daß er je wieder auf jene früheren Untersuchungen zurückkommen könne“. Indem er dann den eigenthümlichen Zustand darlegt, den nach seinem Ideengange ein Leiter infolge eines ihn durchziehenden elektrischen Stroms annehmen müsse, und die Bemerkung beifügt, daß die von ihm auf diesen hypothetischen Zustand gegründeten vorläufigen Rechnungen zu seinem höchsten Erstaunen die Sätze von Ampère bis auf eine geringe in der Nichtbeachtung des elektrischen Zustandes der galvanischen Kette gelegene Modification erkennen ließen, fährt er fort: „Ich unterbrach meine hierauf bezüglichen Arbeiten mit dem Vorsatze, sie bei größerer Muße wieder aufzunehmen, ohne zu ahnen, daß eine dämonische Verkettung von Umständen mich für immer davon abhalten werde“. Er gibt nun denjenigen, welche diese mühevolle aber sicher lohnende Arbeit nach ihm durchführen wollen, verschiedene Rathschläge, darunter diesen: die Anziehungen und Abstoßungen des Magnets nicht in besonderen positiv und negativ magnetischen, sondern in unveränderlich in die einzelnen Körperatome gelegten positiv und negativ elektrischen Kräften zu suchen, und schließt dann mit dem Beisatze: daß die Gedanken welche er hier niedergelegt, wohl Manchem als Träume erscheinen könnten, aber Niemand, der Beruf und Kraft genug dazu besitzt, abhalten sollten, die ausführlichen Nachweise [202] des von ihm nur theilweise erprobten Sachverhältnisses zu übernehmen man werde, wenn das Werk gethan sei, seinen Träumen Dank zollen.
Am Donnerstag, den 6. Juli 1854, Nachts zehn Uhr, bis zu welchem Tage O. trotz körperlicher Schwäche seine Vorlesungen hielt, erlosch infolge eines wiederholten Schlaganfalles plötzlich sein Leben. Eine halbe Stunde zuvor hatte er noch einigen Freunden ganz munter von seinen Erlebnissen in Köln und Trier erzählt. Am darauffolgenden Sonntag wurde er unter zahlreicher Betheiligung von Freunden, Collegen und Studirenden auf dem Münchener alten Kirchhofe, wo zur Zeit (1886) noch immer nur ein einfacher Denkstein das Grab bezeichnet, zur Ruhe gebettet.
O. hat es jederzeit abgelehnt, einem Maler oder Bildhauer zu sitzen und der Nachwelt sein Porträt ad vivum zu hinterlassen. Nur als die Photographie aufkam, saß er einem Anfänger dieser Kunst, sei es aus physikalischem Interesse oder in der Absicht, den jungen Mann zu unterstützen, zu einem Lichtbild. Dasselbe mißlang zwar, theils wegen des ungenügenden optischen Apparates theils durch die ungeschickten Anordnungen des Photographen, wurde aber doch unter Mitbenützung einer gelegentlich der Naturforscherversammlung zu Nürnberg (1845) von Carl Heideloff gefertigten Profilzeichnung maßgebend für das Oelbild, welches die k. Akademie der Wissenschaften zu München für ihren Sitzungssaal bestimmte, und für die Marmorbüste, welche König Ludwig I. in der baierischen Ruhmeshalle aufzustellen befahl. So ist es begreiflich, daß beide Bildnisse diejenigen nicht befriedigen, welche O. jahrelang nahe standen. Georg Simon O. erreichte ein Alter von 65 Jahren. Er war von fast klein zu nennender untersetzter Statur, aber der ausdrucksvolle Kopf mit der hohen etwas gefurchten Stirne, einem Paar geistvoller Augen und scharfgeschnittenem Munde verrieth auf den ersten Blick den ernsten Denker und zugleich wohlwollenden Menschenfreund. Stets ruhig und besonnen, sprach er nur wenig, seine Rede aber war immer gehaltreich und oft voll munterer Laune. Von dem ihm eigenen Witz und Humor machte er auch bei seinem Unterrichte Gebrauch, um an den Schülern Fehler zu rügen, deren Verbesserung nur des Wollens bedurfte, und er hat durch sein von natürlicher Wärme getragenes, jede Verletzung vermeidendes Verfahren ohne Zweifel die Wirksamkeit seiner ausgezeichneten Lehrmethode noch verstärkt. Ohm’s Lebensgewohnheiten waren von Hause aus einfach und sind es bis zu seinem Tode geblieben. Die bei dem Eintritte in das öffentliche Lehramt und lange hernach noch ungünstigen äußeren Verhältnisse seiner Stellung waren nach seinem eigenen Geständnisse schuld daran, daß er es nie versuchte, „dem Mangel an befreundetem Umgange abzuhelfen und aus dem bescheidenen Genusse eines stillen Familienglückes Muth und Stärke für die kleineren und größeren Leiden des Lebens zu schöpfen“. Erst mit seinem Umzuge nach München ergab er sich in die sorgsame Pflege einer nahen Verwandten.
O. war im Grunde nur seinen Schülern, Freunden und Collegen näher bekannt; in weiteren und namentlich hohen Kreisen wußte man wenig von ihm. Auch hat weder die glänzende Anerkennung seiner wissenschaftlichen Verdienste von Seite der Akademien zu London, Turin, Berlin und München, welche ihn zum Mitgliede ernannt hatten; noch die hohe Ehrung seiner im Lehr- und Rectoramte bewiesenen Tugenden von Seite der städtischen Collegien zu Nürnberg durch Verleihung des Ehrenbürgerrechts, noch endlich die seltene Auszeichnung durch seinen König, der ihn gleich bei der Stiftung des Maximilianordens für Kunst und Wissenschaft zum Mitgliede desselben berief, die öffentliche Aufmerksamkeit in nennenswerthem Grade auf den trefflichen Mann gelenkt. Der Grund hiervon liegt wol nicht minder in der Gemüthsanlage Ohm’s als in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Gelehrtenwelt, wie sie sich nach und nach an Universitäten [203] ausgebildet haben. Erziehung und Unterricht hatten glücklicherweise sein natürliches kindliches Wesen nicht verwischt: im Verkehr mit der Welt zeigte er sich wie in allen Verhältnissen wahr, offen und anspruchslos; bei der Bewerbung um eine die Existenz sichernde und die Möglichkeit freier wissenschaftlicher Thätigkeit gewährende Stelle setzte er dem Vordrängen Anderer keinen Widerstand entgegen; selbst das nach Vollendung seiner „galvanischen Kette“ zu Berlin über ihn hereingebrochene Mißgeschick, sechs Jahre des schönsten Mannesalters als Privatgelehrter verleben zu müssen, erfüllte ihn nicht lange mit Bitterkeit und menschenfeindlicher Stimmung sowie seine im letzten Lebensabschnitte erfolgte Erhebung unter die wissenschaftlichen Größen ersten Ranges keine Aenderung der gewohnten Einfachheit und Bescheidenheit seines Benehmens bewirkte. Die Verdienste Anderer beurtheilte er ohne Ansehen der Person stets gerecht und billig, und die Berichte und Gutachten, welche er als Beamter, Gelehrter und Akademiker zu erstatten hatte, zeichnen sich alle durch Objectivität, Gründlichkeit und Klarheit aus.
Vorherrschend Autodidakt bewegte sich O. stets auf eigenen Fährten und mannhaft seine Ueberzeugung vertretend, vermied er jeden Anschluß an eine Partei in der Wissenschaft wie im Leben. Gerade dadurch aber hat er die frühzeitige Anerkennung seiner wissenschaftlichen Erfolge, wenn nicht verhindert, doch verzögert. Denn die Erfahrung zeigt, daß nicht selten Gelehrte von mäßigen Leistungen aber großer gesellschaftlicher Gewandtheit eher zu ausgebreitetem Rufe und hohen Ehren gelangen als jene unweltläufigen Forscher, welche sich zwar aufs Entdecken, aber nicht auf die Mittel und Mittelchen verstehen, welche zu vortheilhafter äußerer Anerkennung führen. Ist es auch mißlich und im Allgemeinen nutzlos, Vermuthungen darüber aufzustellen, wie sich eine bereits abgeschlossene Laufbahn unter anderen Verhältnissen wohl hätte gestalten können: in Beziehung auf O. läßt sich mit größter Wahrscheinlichkeit behaupten, daß er, wenn ihm bald nach Vollendung seiner „galvanischen Kette“ Stellung und Mittel eines akademischen Lehrers zugefallen wären, seine Forschungen über den dunkelsten und schwierigsten Theil der Naturwissenschaft, die Molecularphysik, zum Abschluß gebracht und damit der wissenschaftlichen Welt ein Geschenk gemacht hätte, daß ihr vielleicht erst das nächste Jahrhundert bringt.
Aber auch ohne diesen Abschluß gehören Ohm’s wissenschaftliche Thaten der Geschichte an, und seine Entdeckungen greifen so wesentlich in den Bestand der Physik ein, daß sie gar nie vergessen werden können. Darin liegt aber ein wesentlicher Unterschied und zugleich Vorzug gegenüber jenen von den Zeitgenossen oft überschätzten wissenschaftlichen Verdiensten, die entweder nur in der Aufstellung neuer für die Forschung nützlicher Ideen, oder in wirksamer Anregung Anderer zu wissenschaftlicher Thätigkeit, oder endlich in erfolgreicher Anwendung theoretischer Ergebnisse auf Befriedigung von Bedürfnissen des praktischen Lebens bestehen. Von der Ueberzeugung durchdrungen, Ohm’s Name werde bis in die fernsten Zeiten in der Reihe tiefsinniger Forscher fortglänzen, können seine Freunde nur noch das Eine wünschen, daß die Zukunft neben den wissenschaftlichen Leistungen auch des edlen Charakters eingedenk bleibe, der den Lebenden zierte und den Gelehrten zur Höhe des ganzen Mannes emporhob.
- Vgl. des unterzeichneten Verfassers „Gedächtnisrede auf Georg Simon O., den Physiker“. München 1882.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Differentalräumchen