Von Luther zu Twitter – das spannt den Rahmen über mehr als 550 Jahre Medien und politische Öffentlichkeit – so auch Titel und Untertitel der gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, auf die der vorliegende Sammelband zurückgeht.1 Der besondere Charme des Buches liegt darin, dass stets in aufeinanderfolgenden Essays im Zeitverlauf zunächst eine neue Medientechnologie behandelt wird und anschließend jeweils politische Protagonist/innen, die sich die jeweilige Medieninnovation, gegebenenfalls mit gewisser Verzögerung, zu Nutze machten. Deshalb müsste das Buch genauer eigentlich Vom Buchdruck zu Trump heißen.
Denn am Anfang steht natürlich zu Recht Johannes Gutenberg und seine Erfindung des Druckes mit beweglichen Lettern, wie Matthias Miller in seinem Essay schildert. Es ist tatsächlich eine solch umwerfende Veränderung, dass Neil Postman meinte, „after the printing press was invented, you did not have old Europe plus the printing press. You had a different Europe“.2 Der anschließend von Andrew Pettegree porträtierte Martin Luther hat die Druckkunst für seine Reformation genutzt und damit wirkmächtig in die Weltgeschichte eingegriffen. Dabei erschloss er sich insbesondere durch Veröffentlichungen auch in deutscher Sprache ein breiteres Publikum: „Dies war der wahrhaft revolutionäre Moment der Reformation“ (S. 66).
Weniger berühmt als Gutenberg und Luther ist Johann Carolus, obschon mit ihm und seiner Erfindung der Zeitung erst recht eigentlich die Geschichte der Massenmedien beginnt. Tagesschau und twitternder Trump sind ohne die Zeitung nicht denkbar. Und diese erfindet der Nachrichtenhändler und Drucker Carolus 1605 in Straßburg. Astrid Blome, Direktorin des Instituts für Zeitungsforschung in Dortmund, schlägt den großen Bogen von Carolus hin zu den politischen Umwälzungen und Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Struktur des Bandes folgend, schließen sich Porträts von Olympe de Gouges und Karl Marx an.
Melanie Lyon gelingt es, Olympe de Gouges sehr anschaulich als eine Frau hervorzuheben, die während der Französischen Revolution „als eine von wenigen Medienakteurinnen die neu entstandenen publizistischen Freiheiten“ nutzte und sich „gegen den Ausschluss von Frauen aus der politischen Öffentlichkeit“ wehrte (S. 96). Sie war eine der ersten Frauen, die versuchten, sich „in einem männlich dominierten öffentlichen Diskurs Gehör“ zu verschaffen (S. 97), und ihr Ende ist deshalb leider wenig überraschend: „Am 3. November 1793 wurde sie als erste Frau nach der ehemaligen Königin Marie-Antoinette auf dem Place de la Révolution unter dem Geschrei der Schaulustigen durch die Guillotine hingerichtet“ (S. 105). Gerd Koenen nimmt anschließend Karl Marx und sein publizistisches Wirken in den Blick. Engels und Marx waren vor allem mit ihrer Neuen Rheinischen Zeitung als Organ der Demokratie eine durchaus wahrnehmbare Stimme in der Revolution von 1848, und doch sind beide als Publizisten bislang wenig erforscht.
Die nächste behandelte Medientechnologie ist die Telegrafie. Amelia Bonea stellt in ihrem Essay heraus, dass „die Presse, insbesondere die Tageszeitungen, tatsächlich zu den frühesten und enthusiastischsten Nutznießern der neuen Technologie gehörte“ (S. 136). Als bedeutenden politischen Nutznießer der neuen Technik stellt Ulrich Lappenküper Otto von Bismarck vor. Allgemein bekannt ist diesbezüglich vor allem die Emser Depesche. Lappenküper aber, Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung, bietet in seiner detailreichen, quellengesättigten Studie weitere Belege für Bismarcks tiefes Verständnis der Medien. Bismarck agierte „nie nur als Politiker, sondern stets auch als Journalist“ (S. 147).
Kathrin Dreckmann widmet sich der Technik und frühen Entwicklung des Hörfunks. Dabei stellt sie die Leistungen von Hans Bredow heraus und unterschlägt nicht, dass dieser sich „für einen von der Reichspost gelenkten Staatsfunk“ (S. 167) einsetzte und damit durchaus für die Nationalsozialisten günstige Strukturen schuf. Auch wenn die „Vielfalt und Experimentierfreude der Pioniere der Weimarer Republik getrennt von der zerstörerischen und ideologischen Zensurpolitik des Reichspropagandaministeriums unter Joseph Goebbels zu betrachten“ (S. 168–169) seien – die Nationalsozialisten wussten von Beginn an, von den vorhandenen Strukturen Gebrauch zu machen. Das beschreiben Monika Pater und Uta C. Schmidt im darauffolgenden Kapitel zu Goebbels‘ Herstellung der „Volksgemeinschaft“ eindrücklich. Denn die Nationalsozialisten konnten „einen bereits 1932 zentralisierten Staatsrundfunk [...] ohne größeren Aufwand gleichschalten“ (S. 181). Goebbels war mit seiner „totalen Hörgemeinschaft“ (S. 183) der vermutlich härteste Gegner von „Filterblasen“ in der Geschichte – oder aber die „Volksgemeinschaft“ war eine einzige große „Filterblase“, die alle anderen ausschloss.
Gerhard Paul greift anschließend in seiner Geschichte des Fernsehens auch die nationalsozialistischen Fernsehpläne auf und erwähnt zahlreiche Medienereignisse wie die Krönung der britischen Königin 1953, die Mondlandung, den Vietnamkrieg, die Geiselnahme von Gladbeck, „Tutti Frutti“ und 9/11, mit der „Talkshowisierung“ in Bezug auf die politische Kommunikation als dysfunktionalem Fluchtpunkt. „Politische Kommunikation fand weniger zwischen Bürgern und Politik statt, sondern zwischen Politikern und zumeist wohlgesinnten Journalisten“ (S. 241). Bieten nun aber nicht genau hierfür das Netz und die sogenannten Sozialen Medien die Antwort – den direkten Kontakt zwischen Politiker/innen und Bürger/innen?
Mitnichten, stellt Adrian Lobe in seinem Beitrag über die „algorithmisch gelenkte Öffentlichkeit“ (S. 263) heraus. Denn nun sind die zuvor noch gescholtenen Journalist/innen ausgeschaltet, weil „algorithmische Systeme die Gatekeeper-Funktion von Journalisten erodiert haben“ (S. 266): „Die bürgerliche Öffentlichkeit, die stets Transparenz und die Abänderlichkeit diskursiver Spielregeln reklamiert, muss somit mit dem Zustand leben, dass ein Teil der res publica mit Arkanformeln regiert wird“ (S. 268). Vor dem Hintergrund der Gesamtlektüre des Buches erscheint dies allerdings ebenso fraglich oder zumindest unpräzise wie die „Analogien zwischen dem Radio und dem Aufstieg des Nationalsozialismus einerseits und populistischen Netzwerken und populistischen Bewegungen auf der anderen Seite“ (S. 268).
Den diesbezüglich wichtigsten Satz des Buches schreibt dann Klaus Brinkbäumer. Der ehemalige Spiegel-Chefredakteur und USA-Experte, seit Januar 2021 Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) und unter anderem für das spannende Journalismusprojekt RUMS in Münster als Kolumnist tätig, sagt über Twitter, es sei in Deutschland „noch immer Blasen- oder Randmedium“ (S. 283). Das kann natürlich nicht bedeuten, es wissenschaftlich ignorieren zu können – aber ein bisschen mehr journalistische Missachtung des twitternden Trump hätte im Sinne der Gatekeeper-Funktion wohl gutgetan. Der amerikanische Journalismusforscher und Soziologe Michael Schudson hat von der „twitterosis“3 der amerikanischen Journalist/innen gesprochen.
Ganz im Sinne der historischen Herangehensweise dieses insgesamt sehr lesenswerten Sammelbandes weist der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen am Ende des Buches in seinem Beitrag die Idee eines „postfaktischen Zeitalters“ zurück: „Eine solche Post-Truth-Diagnose ist [...] geschichtsblind, weil sie, rein begriffslogisch gesprochen, besagt, dass Wahrheit in früheren Zeiten klar dechiffrierbar war, nur eben leider nicht mehr heute“ (S. 305). Sie war es aber, das lehrt auch dieses Buch, zu keiner Zeit zweifelsfrei.
Anmerkungen:
1 Die Ausstellung findet noch bis zum 11. April 2021 statt. Informationen, auch zu Telefonführungen, finden sich unter: https://www.dhm.de/ausstellungen/von-luther-zu-twitter/ (20.02.2021).
2 Neil Postman, “Five Things We Need to Know About Technological Change”, Vortrag gehalten in Denver, Colorado am 28. März 1998, https://web.cs.ucdavis.edu/~rogaway/classes/188/materials/postman.pdf (20.02.2021).
3 Michael Schudson, My very own alternative facts about journalism, in: Pablo J. Boczkowski / Zizi Papacharissi (Hrsg.), Trump and the Media, Cambridge, Mass. 2018, S. 41–47, hier S. 41.