In die „beste Stadt der Welt“ wollten Architekten die zerstörte Stadt Warschau nach dem Zweiten Weltkrieg verwandeln, behauptet der Architekt und Publizist Grzegorz Piątek in seinem Buch, das den ersten fünf Wiederaufbaujahren der polnischen Hauptstadt gewidmet ist.1 In den 1950er-Jahren wurde die Warschauer Altstadt samt ihrer Baudenkmale rekonstruiert und es entstanden die neue repräsentative, innerstädtische Wohnsiedlung Marszałkowska Dzielnica Mieszkaniowa (MDM) im Stil des sozialistischen Klassizismus sowie der Kulturpalast, eine Cousine der „Sieben Schwestern“ in Moskau. Danach folgte eine Reihe von städtebaulichen Wettbewerben und Projekten, die aus verschiedenen Gründen nicht umgesetzt werden konnten. Bis heute fehlende Bebauungspläne und die willkürliche Rückgabe der 1945 kommunalisierten Grundstücke machten eine ausgewogene, einwohnerorientierte Stadtentwicklung in der Warschauer Innenstadt unmöglich. Jedoch begannen die Probleme mit der Planung im Stadtzentrum von Warschau schon vor der politischen Wende, wie Jana Fuchs in ihrem Buch feststellt. Warum war aber Stadtplanung, immerhin eines der wichtigsten Propagandamittel, in einem zentral gesteuerten, autoritär regierten Land so wenig erfolgreich?
Jana Fuchs rekonstruiert in ihrer 2019 publizierten Dissertation komplexe Auseinandersetzungen um zwei zentrale Plätze in Warschau, dem Zwycięstwa-Platz (Siegesplatz, heute Piłsudskiego-Platz) und dem Teatralny-Platz (Theaterplatz). Sie berücksichtigt dabei politische, gesellschaftliche, architekturhistorische und städtebauliche Ebenen der vielseitigen Geschichte dieser beiden Stadträume zwischen 1945 und 1989, mit einer Retrospektive in die Zwischenkriegszeit und einem Ausblick in die spätere Entwicklung. Das Schicksal der beiden Plätze wird in vier chronologisch aufgebauten Kapiteln untersucht, deren Gliederung politischen Zäsuren der polnischen Geschichte folgt, die sich wiederum auf die Architektur und den Städtebau auswirkten: 1945, 1949, 1956, 1970 und 1989. Fuchs betrachtet die beiden städtischen Räume als Gegenstand von Aushandlungsprozessen zwischen Politik und Gesellschaft, die sich in den immer wieder wechselnden politischen Narrativen, sozialen Praktiken und letztendlich auch in den städtebaulichen Verhältnissen vor Ort widerspiegeln. Sie verfolgt akribisch die Diskussionen, die zwischen Architekten, Stadtplanern, Behörden, der Kirche und den Bürgern über die Gestalt der beiden Plätze geführt wurden. Sie analysiert die entstandenen städtebaulichen Projekte und Konzepte, deren faktische Umsetzung oder auch Nicht-Realisierung sowie nicht zuletzt die geplante und vor allem die tatsächlich gelebte Nutzung der Plätze.
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Kommunisten vor der Herausforderung, die politische Legitimation ihrer Herrschaft in der polnischen Gesellschaft zu untermauern. Der Wiederaufbau der zerstörten Hauptstadt eignete sich sehr gut als Gründungsmythos eines neuen sozialistischen Staates. Da die beiden Plätze patriotische Konnotationen aus der Zweiten Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit aufwiesen, bemühten sich die neuen Machthaber, sie symbolisch umzukodieren und ihnen neue Deutungen zuzuschreiben. Auf dem Zwycięstwa-Platz wurde das Grab des Unbekannten Soldaten, das sich seit 1926 in den Arkaden des Sächsischen Palais befunden hatte, in Form einer Kriegsruine im Jahr 1946 neu eingeweiht. Auf dem benachbarten Teatralny-Platz wurden neben dem rekonstruierten Großen Theater die Ruinen der Andreaskirche und des Rathauses abgerissen, um Platz für neue Symbole zu schaffen. Im Zuge des politischen Tauwetters nach 1956 und des wachsenden militärischen Patriotismus sowie des zunehmenden Nationalismus wurde hier das Denkmal der Helden von Warschau der Jahre 1939 bis 1945 errichtet, die sogenannte „Warschauer Nike“, die pauschal allen Gruppen gewidmet war, die während des Zweiten Weltkriegs für die Freiheit Warschaus gekämpft hatten, und somit den politisch heiklen Warschauer Aufstand von 1944 gedenkpolitisch zu vereinnahmen suchte.
In den 1960er-Jahren konnten keine baulichen Projekte auf den Plätzen realisiert werden, was Fuchs auf die Schwäche der Partei zurückführt, die mit internen Kämpfen und am Ende des Jahrzehnts auch mit gesellschaftlichen Massenprotesten beschäftigt war. Seit Ende der 1970er-Jahre entglitt den Machthabern dann allmählich die Deutungshoheit über die Plätze, wie Fuchs konstatiert: „Ein bisher in höchstem Maße offizieller Raum wurde so zunehmend zu einem öffentlichen, weil öffentlich verhandelten Raum“ (S. 284). Auf dem Zwycięstwa-Platz fanden inoffizielle Gedenkzeremonien zur Erinnerung an den Unabhängigkeitstag der Zwischenkriegszeit, an den polnischen Sieg über die Rote Armee im „Wunder an der Weichsel“ von 1920 und an den Warschauer Aufstand statt. Besonders prägnant schrieb sich aber der Besuch des polnischen Papstes Johannes Pauls II. im Sommer 1979 ins kollektive Gedächtnis ein, der eine umjubelte Messe auf dem Zwycięstwa-Platz feierte. Nach der offiziellen Anerkennung der Gewerkschaft Solidarność 1981 wurde auf dem Platz spontan demonstriert. Trotzdem versuchte die Partei den Platz wieder für sich zurückzuerobern. Die Blumen und Kerzen, die regelmäßig in Form eines Kreuzes an der Stelle abgelegt wurden, wo bei der päpstlichen Messe der Altar gestanden hatte, wurden von der Miliz immer wieder entfernt, bis dieser Teil des Platzes schließlich eingezäunt wurde. Als am 18. April 1989 eine Urne mit sterblichen Überresten der durch das sowjetische „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten“ (NKWD) in Katyń ermordeten polnischen Offiziere im Grab des Unbekannten Soldaten beigesetzt wurde, deutete dies bereits auf das nahende Ende des Kommunismus in Polen hin.
Im Laufe der 50 Jahre wurden mehrere architektonische Wettbewerbe für den Zwycięstwa-Platz ausgeschrieben, deren Siegerentwürfe immer wieder durch politische Entscheidungen, neue Wettbewerbe oder Wechsel der geltenden Stilistik für nichtig erklärt wurden. Folglich waren sowohl der Zwycięstwa- als auch der Teatralny-Platz bis 1989 durch freie Flächen geprägt. Fuchs bezeichnet die Planungsgeschichte beider Plätze deshalb als „Geschichte des Scheiterns“ (S. 324) und „Geschichte fehlender tragender Selbstbilder“ (S. 326). Sie zeigt, dass die Kommunisten kein konkretes politisch-städtebauliches Programm für die beiden Plätze parat hatten. Fuchs nennt dieses Phänomen im Anschluss an Philipp Oswald „konzeptuelle Leerräume“2, die oft nach politischen Systemwechseln entstehen. Sie plädiert dafür, nicht wie in der Architekturgeschichte üblich primär das Gebaute zu untersuchen, sondern die leeren Flächen und ihre Geschichte zu analysieren, die zuweilen aufschlussreicher als das Gebaute sein können.
Die vorliegende Studie, die als Doktorarbeit am Imre Kertész Kolleg in Jena entstand, knüpft thematisch und konzeptionell an die nur in polnischer Sprache veröffentlichte Magisterarbeit von Jana Fuchs an. Darin hatte sie sich mit der Geschichte des Ortes befasst, an dem die nicht wiederaufgebaute Große Synagoge am Bankowy-Platz in Warschau stand.3 Mit ihren Arbeiten zur Zeitgeschichte all dieser „leeren“ Plätze schließt Fuchs eine bedeutende Forschungslücke. Zugleich fügt sich ihre Doktorarbeit in eine Reihe weiterer aktueller Dissertationen ein, die der Städtebaugeschichte des Warschauer Stadtzentrums gewidmet sind.4 Das Buch zeichnet sich durch eine beeindruckende Bandbreite an Quellen aus (Dokumente aus mehr als zehn Archiven, Fachpresse, Tageszeitungen, Belletristik, Memoiren, Reiseführer, Filme), die zudem in einer durchdachten Art und Weise zum Einsatz kommen. Besondere Beachtung verdient, dass Fuchs sich sehr reflektiert mit der Übersetzungsproblematik polnischer Begriffe ins Deutsche auseinandersetzt und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine weit überdurchschnittliche Sorgfalt bezüglich der Schreibung polnischer Eigennamen an den Tag legt.
Die einzigen schwächeren Stellen der Arbeit betreffen genuin kunsthistorische Fragen. So ist es etwas zu weit gedacht, die Anfänge des sozialistischen Realismus als Stilrichtung im Belgien der 1880er-Jahre zu suchen (S. 107). Auch kann der Unterschied zwischen Städtebau und Stadtplanung nicht darauf beruhen, wie Fuchs behauptet, dass an Ersterem die Politik beteiligt sei, an Letzterem jedoch nicht (S. 31). Manche Probleme werden etwas verkürzt wiedergegeben, was sich beispielsweise in der Behauptung spiegelt, dass eine moderne Denkmalpflege bedeute, „dass man sämtliche Stile konservieren solle, auch aktuell unbeliebte“ (S. 216). Bezüglich des angeblichen Abtransportes der Ziegel aus den ehemals deutschen Städten, die für den Wiederaufbau von Warschau verwendet worden seien, wiederholt Jana Fuchs eine zwar gängige, aber wissenschaftlich nicht belegte These (S. 90). Trotz dieser kleineren Unstimmigkeiten leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag zur raumbezogenen Geschichtsforschung und ist sowohl Architekturhistorikern als auch an der polnischen Nachkriegsgeschichte interessierten Zeithistorikern zu empfehlen.
Anmerkungen:
1 Grzegorz Piątek, Najlepsze miasto świata [Die beste Stadt der Welt], Warschau 2020.
2 Philipp Oswald, Berlin – Stadt ohne Form. Strategien einer anderen Architektur, München 2000, S. 59.
3 Jana Fuchs, Miejsce po Wielkiej Synagodze. Przekształcenia Placu Bankowego po 1943 roku [Der Platz nach der Großen Synagoge. Die Umgestaltung des Bankowy-Platzes nach 1943], Warschau 2016. Siehe auch die deutschsprachige Zusammenfassung der Arbeit: Jana Fuchs, Der Nicht-Wiederaufbau der Warschauer Großen Synagoge und die Nutzung ihres Grundstücks nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 62/1 (2013), S. 40–75.
4 Siehe das laufende Dissertationsprojekt von Aleksandra Łuczak an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder): „Die Baustelle der Zukunft. Imaginationen des Warschauer ‚Zentrum-West‘ und dessen Bau als Zeugnis der Geschichte der Volksrepublik Polens in den Jahren 1969–1989“ (Arbeitstitel); sowie Małgorzata Popiołek-Roßkamp, Warschau. Ein Wiederaufbau, der vor dem Krieg begann, Paderborn 2021 (im Erscheinen).