Die Geschichtsschreibung ländlicher Räume ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Anette Schlimm gelingt es in ihrer 2020 als Habilitation angenommenen Arbeit über das Regieren in Dörfern, diese unrühmliche Bilanz deutlich zu verbessern. Dabei arbeitet sie einen neuen Kern heraus – „Ländlichkeit“ als Konstrukt und als Nexus des Diskurses über ländliche Räume in der Moderne.
Präzise umfasst Schlimm das Forschungsproblem und den -stand sowie ihren methodischen Zugriff und ihr Vorgehen. Den Schwerpunkt setzt sie auf das Regieren im ländlichen Raum, einem nicht neuen Forschungsbereich.1 Als Kernproblem macht die Autorin aus, dass Wandel und ländliche Räume bis heute nicht zufriedenstellend zusammengedacht wurden. Die Ursachen dafür analysiert sie, indem sie auf den Diskurs über die Moderne abhebt, der wie kein anderer mit dem Rubrum des Wandels verknüpft ist. In der vorwiegend als Stadt- und Urbanisierungsgeschichte betriebenen Moderneforschung erschienen ländliche Räume als das Andere im städtischen Normalzustand, als das Ungleichzeitige im ständigen Wandel, als das Traditionelle in der Modernisierung der Gesellschaft. Schlimm möchte stattdessen verbinden, indem sie die „Scharnierfunktion“ (S. 33) der Zeit um 1900 für die gesamte Moderne hervorhebt; indem sie in ländlichen Räumen die Genese von Ländlichkeit untersucht; indem sie den Fluchtpunkt Tradition versus Moderne überwindet und Traditionalität historisiert. Ihren Modernebegriff orientiert sie an Basisprozessen (unter anderem Staatsexpansion und Bürokratisierung) und Ordnungsmustern (vor allem Tradition), die Handlungsmacht der Akteure versucht sie über Praktiken zu greifen. Methodisch folgt Schlimm der Mikrogeschichte, ebenfalls auf bewährten Pfaden bewegt sie sich mit der Auswahl ihrer drei Untersuchungsgemeinden in Bayern (Bernried), Brandenburg (Mahlow) und dem Elsass (Wolxheim).2 Das Buch folgt einem chronologischen Aufbau anhand dreier sich überlappender Zeiträume (1850–1900, 1875–1925, 1900–1945). Ein Auftaktkapitel stellt die drei Dörfer geographisch und sozialhistorisch vor.
Das erste Hauptkapitel befasst sich mit der „Gouvernementalisierung“ (S. 68) von Dörfern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie in allen folgenden Hauptkapiteln auch beginnt Schlimm direkt mit einem inhaltlichen Kapitel und führt die Lesenden in die dort verwendeten Analysekategorien sowie den methodischen Zugriff ein. Für die Gouvernementalisierung ist der Kontext kommunaler Selbstverwaltung wichtig, die parallel zur Einordnung in den Staat praktiziert wurde. Staatspraktiken kamen aufs Land, Dörfer wurden in den Staat integriert und „standardisiert“ (S. 68), zugleich steckten ländliche Akteure eigene Handlungsfelder (kommunale Freiheiten) ab. Als Ergebnis entstanden „Gemeinden als Institutionen“ und „Akteurinnen des lokalen Regierens“ (S. 68). Schlimm deklariert diese Gemeinden über die Gemeindeverfassungen, die -vertreter und den -rat sowie die -vorsteher durch. Es folgt die Gemeindewirtschaft, wobei der Zusammenhang zwischen Finanzpolitik und sozialer Stratifikation der Dorfbevölkerung deutlich wird: Oft erwirtschafteten Gemeinden durch Kleinstbeträge einen wichtigen Teil ihrer Einnahmen und regelten die sozialen Verhältnisse vor Ort – etwa indem über die Versteigerung des Allmendguts die soziale Unterschicht reguliert wurde. Die Ausgaben behandelt Schlimm knapp und zeigt, dass der Haushalt auch Spiegel der Gouvernementalisierung war, indem er zeigte, was der Staat an Ausgaben erwartete und wie gering die fakultativen Gemeindeausgaben waren.
Im zweiten Hauptkapitel beschäftigt sich Schlimm zunächst mit Local Citizenship: Citizenship beschreibt „Facetten von Zugehörigkeit und die sich daraus ergebenden Rechten [sic!] und Pflichten eines Subjekts“ (S. 193), wobei mehrere Zugehörigkeiten zum Beispiel zum Dorf und zum Staat der Normalfall seien. Schlimm analysiert Heimatrechte, die vor allem in Bayern und der dortigen Gesetzeslage rund um die sogenannte Heimatgemeinde von Bedeutung waren: Heimat war Teil eines Rechtsbegriffs und ein Instrument zur Regierung der Bevölkerung. Zu den Partizipationsrechten zählten auch die über Steuerklassen regulierten Wahlrechte. Hier untermauert Schlimm, wie die soziale Stratifikation in Dörfern dazu führte, dass die Gemeinde nicht mit ihrer Einwohnerschaft deckungsgleich war. Bezüglich nationaler Zugehörigkeit nimmt die Autorin wenig verwunderlich das mehrfach die Nation wechselnde Wolxheim als Fallbeispiel – zu dem Preis, dass man nichts über Nationalbewusstsein in Bayern und Preußen erfährt oder darüber, was die Schaffung des Kaiserreichs und der zentralistischen Weimarer Republik dort mit sich brachte. Die kommunale Vorsorge veranschaulicht, wie der Interventionsstaat auf dem Land regierte: Die Armenpflege war Teil der Gouvernementalisierung; Schulen waren „zentrale Institution der inneren Nationsbildung“ (S. 250), im Sinne der Gebäude aber vor allem eine kommunale Infrastrukturleistung; Infrastruktur wiederum wurde für das 19. Jahrhundert bisher überwiegend in Bezug auf Städte erforscht und Schlimm hält fest, dass die ländliche Infrastruktur nur dann „defizitär“ wirkt, „wenn der Maßstab die Metropole ist“ (S. 275). Es folgt das zentrale inhaltliche Kapitel zu Ländlichkeit, von dem ausgehend Schlimm darlegt, wer an der Produktion dieses Konzepts beteiligt war und welche Wirkung es entwickelte. Ländlichkeit wurde statistisch erfasst, etwa über eine zentrale Landesbeschreibung in Frankreich, welche die Entwicklungsbedürftigkeit einzelner Landstriche deutlich machen sollte. In einem Streitfall über Baustile in Bernried schufen Akteure unterschiedlich gedeutete „ästhetische Ländlichkeit“ (S. 291) und trugen ihre eigentlichen Konflikte über dieses Medium aus. Noch deutlicher wird Schlimm, wenn sie die positive Konstruktion von Ländlichkeit über Tourismus und die abwehrende Konstruktion gegenüber dem Vorort-Siedlungsbau im Berliner Speckgürtel zeigt.
Im dritten Hauptkapitel analysiert die Autorin vermehrt Zustände statt Entwicklungen. Zunächst stellt sie das lokale Regieren im Ersten Weltkrieg vor, das durch staatliche Eingriffe von ungekanntem Ausmaß gekennzeichnet war. Die Arbeitslast der Gemeindeverwaltungen nahm stark zu, was Bürgermeister in ihrer Vermittlerrolle zwischen Dorf und Staat unter Druck setzte. Die Revolution 1918 wurde auf dem Land nicht abgelehnt, aber Unterstützung gab es wenig, denn Gemeinden wollten Verwaltungskontinuität im Systembruch schaffen. Die strukturellen Veränderungen verdichteten sich zu der Vorstellung, „in einer vollkommen neuen Zeit zu leben“ (S. 357), in der das Vertrauen in den Staat erstmals grundsätzlich verloren ging. Weiter zeigt Schlimm, wie Ländlichkeit in den 1920er-Jahren zu einem Abwehrkonzept wurde: Im Elsass wehrte sich Wolxheim gegen den staatlich verordneten Laizismus, in Brandenburg machte der Preußische Landgemeindeverband Front gegen die Gemeindeordnungsreform und hob die Spezifika der ländlichen Selbstverwaltung hervor. Gemeinderatswahlen wurden zunehmend entlang politisch schärferer Kanten entschieden, wobei Neubürger und Alteingesessene sich nicht selten unversöhnlich gegenüberstanden. Kurzum: In den 1920er-Jahren wurde Ländlichkeit zur „Differenzmaschine“ (S. 387). Abschließend beschreibt Schlimm den Übergang zum und das ländliche Regieren im Nationalsozialismus. Hier zeigt sie, dass eben noch hochgehaltene Prinzipien wie die Selbstverwaltung de facto abgeschafft wurden und die ländlichen Akteure ihre Unterordnung unter Führerprinzip sowie Volksgemeinschaft beunruhigend reibungslos praktizierten.
Anette Schlimm ist mit ihrem Buch einiges gelungen. Sie hat sich erfolgreich als Gärtnerin zwischen „Kraut und Rüben“ (S. 24) der Forschung zu ländlichen Räumen betätigt und aus den vielen bereits beackerten Forschungsbereichen das zusammengetragen, was notwendig war, um einen verbindenden Kern sichtbar zu machen. Zugleich haben Zugriff und Methode ihren Preis. Die Einteilung in drei Perioden ist sinnvoll, auch wenn die mittlere (1875–1925) das „Gravitationszentrum“ (S. 432) der Analyse ausmacht. Deshalb verwundert es, dass Schlimm dieses nicht mit der Klassischen Moderne 1880–1930 gleichsetzt, denn genau diese und ihre Spezifika beschreibt sie. Ein zweites Manko, das möglicherweise einer stilistischen Entscheidung für die Druckfassung geschuldet ist, erwächst aus den spärlich gesäten Literaturverweisen. Das ist für den methodischen Zugriff wenig hilfreich, etwa wenn Schlimm ohne Verweis auf die Regalmeter füllende Forschung zu Praxeologie auskommt oder wenn sie im zweiten Hauptkapitel verkürzt Martina Löws Raumtheorie mit einer einzigen Fußnote (ohne Seitenangabe!) einführt (S. 277). „Praktiken“ bleiben bei Schlimm opak, was zum wenig erhellenden Schluss führt, sie habe die Verschränktheit von Basisprozessen und Ordnungsmustern vor Ort herausgearbeitet und „praxeologisch“ geschärft (S. 438). Dafür aber traut sie ihren Akteuren zu wenig zu: Die zentrale Fragestellung zielt lediglich darauf, wie Akteure „die Wandlungen, denen sie und ihre Welt unterworfen waren“, deuteten und wie sie darauf reagierten (S. 21).
Der überzeugend kritisierten bisherigen Moderne-Rezeption kann Schlimm selbst nicht ganz entkommen und sie begründet den Fokus ihres dritten Hauptkapitels auf „historische Ereignisse“ mit einer zeittypischen Häufung von „letztlich ununterbrochen […] krisenhafte[n] Entwicklungen“, die außerhalb der „Grenzen und Gestaltungsmöglichkeiten“ ländlicher Akteure gelegen hätten (S. 430). Das negiert die Eigenmächtigkeit der ländlichen Akteure und reproduziert ein Bild der Weimarer Republik als Aneinanderreihung von Krisen.3 Auch stellt sich die Frage, weshalb etwa die Reichsgründung 1871 nicht ebenso jenseits der Grenzen und Gestaltungsmöglichkeiten einzelner Akteure stattgefunden habe. Ein letzter Kritikpunkt betrifft den Aufbau des Buchs als mikrohistorisch arbeitender dynamischer Vergleich, den Schlimm aber darauf reduziert, regionalspezifische Ergebnisse vor Ort einer Einordnung in „die geltenden überlokalen Bedingungen“ (S. 437) unterzogen zu haben – doch die Kunst der Mikrogeschichte liegt ja gerade darin, das Große im Kleinen zu finden, nicht darin, letzteres in ein bereits definiertes Größeres einzuordnen.
Anette Schlimms Buch ist der Kritik ungeachtet unbedingt als Lektüre zu empfehlen: Wer ihr Buch gelesen hat, braucht einen Großteil der verstreut daliegenden Forschung zu ländlichen Räumen in der Moderne nicht mehr zu lesen, da die Autorin diese erfolgreich kondensiert und durch ihre eigene profunde Quellenanalyse angereichert hat. Darüber hinaus etabliert sie einen verbindenden Kern und kann dessen Tragweite für die Rezeption ländlicher Räume belegen – Ländlichkeit.
Anmerkungen:
1 Vgl. unter anderem Patrick Wagner, Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005; Ruth Dörner, Staat und Nation im Dorf. Erfahrungen im 19. Jahrhundert. Frankreich, Luxemburg, Deutschland, München 2006.
2 Vgl. Lutz Raphael, Das Projekt „Staat im Dorf“. Vergleichende Mikrostudien zwischen Maas und Rhein im 19. Jahrhundert – eine Einführung, in: Norbert Franz / Bernd-Stefan Grewe / Michael Knauff (Hrsg.), Landgemeinden im Übergang zum modernen Staat. Vergleichende Mikrostudien im linksrheinischen Raum, Mainz 1999, S. 9–20; Christine Mayr, Zwischen Dorf und Staat. Amtspraxis und Amtsstil französischer, luxemburgischer und deutscher Landgemeindebürgermeister im 19. Jahrhundert. Ein mikrohistorischer Vergleich, Frankfurt am Main 2006.
3 Vgl. Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987; Christoph Thonfeld, Krisenjahre revisited. Die Weimarer Republik und die Klassische Moderne in der gegenwärtigen Forschung, in: Historische Zeitschrift 302 (2016), S. 390–420.