Was gehen uns die deutschen Gewalttaten in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg noch an? Martin Aust greift in seinem Buch einleitend auf seine eigene Familiengeschichte zurück, um die vielfältigen Verbindungen in die Vergangenheit zu verdeutlichen. Im Nachlass seines Großvaters, der als Wehrmachtssoldat in der Sowjetunion eingesetzt war, fand sich ein Bildwörterbuch, das den deutschen Eroberern Verständigungshilfen auf Russisch, Ukrainisch und Polnisch gab. Das Glossar übersetzte nicht nur für Soldaten offenbar wichtige, aber harmlose Begriffe wie (gleich auf der ersten Seite) „Bier“ und „Zigarette“, sondern auch Kernsätze des deutschen Herrenmenschen und Kämpfers im Vernichtungskrieg: „Putzen Sie die Stiefel!“; „Geben Sie mir Frühstück, aber schnell!“; „Beeile dich!“; „Sagt die Wahrheit, sonst werdet ihr erschossen!“ (S. 27f. und Anhang) Solche Überreste verweisen auf den verbrecherischen Charakter einer Kriegführung, mit der wir als Nachkommen der Tätergeneration verknüpft bleiben, nicht nur familiär. Das Wörterbuch wurde unter Mitarbeit des Osteuropa-Instituts in Breslau angefertigt, und der Bonner Osteuropahistoriker Aust fragt sich, was wohl die beteiligten Osteuropaforscher in der NS-Diktatur dachten, als sie völkerrechtswidrige Androhungen von Gewalt übersetzten.
Dieses Beispiel illustriert anschaulich, weshalb Deutschland verpflichtet ist, an den Vernichtungskrieg und die Besatzungsherrschaft in Osteuropa zu erinnern. Das bezeichnet Martin Aust etwas sperrig, aber treffend als Erinnerungsverantwortung. Dieser Aufgabe dient auch die Überblicksdarstellung, die er für die Bundeszentrale für politische Bildung und damit für einen breiten Leserkreis verfasst hat. Völlig zurecht geht er dabei von der Feststellung aus, dass es sich schon in Polen 1939 und vollends in der Sowjetunion 1941–1944 nicht nur um einen nationalsozialistischen, sondern aufgrund der Beihilfe und Tatbeteiligung so vieler Akteure um einen deutschen Vernichtungskrieg gehandelt habe. Da „Vernichtungskrieg“ wie selbstverständlich als Synonym für die „Allgegenwart von Gewalt und Verbrechen“ (S. 28) in der deutschen Kriegführung und Besatzungsherrschaft im Osten verwendet wird, wären Hinweise zur Geschichte und Definition des Begriffs nützlich gewesen. Hier hätte man auch daran erinnern können, dass es der später so stark angefeindete Andreas Hillgruber war, der den Krieg gegen die Sowjetunion bereits in den 1960er-Jahren als „rassenideologischen Vernichtungskrieg“ bezeichnet und den Begriff damit etabliert hatte.
Das Buch bietet dreierlei: erstens eine Zusammenfassung des Forschungsstands über den deutschen Krieg in Osteuropa und seine Vorgeschichte; zweitens eine Auswahl und Interpretation von Stimmen vor allem der Opfer und Verfolgten; und drittens Reflexionen über die gegenwärtige Erinnerungskultur. Die Synthese der Forschung (Kapitel I und II) vermittelt gekonnt, wie komplex inzwischen die Kenntnis über Osteuropa im Zweiten Weltkrieg ist. Die deutschen Vernichtungsabsichten und Gewaltmaßnahmen werden in der Forschung unvermindert, ja klarer als je zuvor als Voraussetzung und Kern der Verbrechen gesehen, doch wendet sich das Interesse heute stärker auch den Interaktionen auf dem Kriegsschauplatz und innerhalb der Besatzungsgesellschaften zu. Die Darstellung ist dort besonders überzeugend, wo der Verfasser diese neuen Aspekte aufgreift und mit seiner Expertise als Osteuropahistoriker zu Ansätzen einer integrierten Geschichte verbindet. So weist Aust zum Beispiel auf die Graustufen zwischen Widerstand und Kollaboration hin, spart die polnische und ukrainische Gewalt gegen Juden nicht aus und schreibt über Frauen als Opfer sexueller Gewalt und als Täterinnen auf deutscher Seite. Dagegen hätten die Passagen über so bekannte Fakten wie den Hitler-Stalin-Pakt oder den Kommissarbefehl etwas knapper ausfallen dürfen.
Das Kapitel III über die „Namen und Stimmen“ von Tätern, Verfolgten und Opfern ist ebenfalls dann am stärksten, wenn vertraute Zeitzeugnisse der deutschen Überlieferung (Willy Peter Reese, Victor Klemperer, Thomas Mann, die „Weiße Rose“), deren Repräsentativität teilweise fraglich ist, um Berichte und Interviews aus Osteuropa ergänzt werden. Hier löst der Verfasser seinen Anspruch ein, „sowohl die Verbrechen der Täter als auch die Erfahrungen der Verfolgten und Opfer im Blick zu haben“ (S. 172). Zitiert wird etwa aus dem Auschwitz-Bericht des Polen Witold Pilecki sowie besonders eingehend und aufschlussreich aus den zahlreichen Befragungen und Selbstzeugnissen, die im und nach dem Krieg von sowjetischen Kommissionen gesammelt wurden. Aust gibt dabei zugleich einen Überblick über die Arbeit und Intention dieser verschiedenen Projekte, von denen die Außerordentliche Staatliche Kommission, die Historikerkommission unter Leitung von Isaak Minc, das „Schwarzbuch“-Projekt von Ilja Ehrenburg und Vassilij Grossman sowie in der Nachkriegszeit das Leningrader „Blockadebuch“-Projekt von Ales Adamovič und Daniil Granin die wichtigsten waren. Das letztere Projekt entfernte sich am meisten vom offiziellen Narrativ des heroischen „Vaterländischen Krieges“ – und konnte auch deshalb nur stark gekürzt in der Sowjetunion erscheinen. Aust rechnet das „Blockadebuch“ einer „emphatischen Erinnerungskultur“ zu, „die nicht primär nach der Möglichkeit fragt, kollektive Identitäten zu schaffen und politisch zu repräsentieren“ (S. 163). Von hier wird ein Bogen geschlagen zu den Romanen, Erzählungen und Dokumentationen von Wassilij Grossman, Ales Adamovič und Swetlana Alexijevič – und, besonders originell, zu den Sinfonien von Dmitrij Šostakovič.
Inhalt und Analyse der sowjetischen Selbstzeugnisse berühren das Thema Erinnerungskultur, das von Aust immer wieder aufgegriffen wird. Die Interviews der sowjetischen Kommissionen verfolgten das Ziel, neben den deutschen Verbrechen vor allem den Heroismus und die Opferbereitschaft der sowjetischen Menschen zu dokumentieren und dadurch einen sowjetischen Erinnerungsort zu schaffen. Dabei wurden die unterschiedlichen Nationalitäten keineswegs verleugnet, weder von den Fragenden noch von den Befragten. Hier spiegelt sich für den Verfasser „ein Grundprinzip sowjetischer Staatsbürgerschaft und Territorialisierung wider, das auf den Kategorien einer übergeordneten sowjetischen Gemeinsamkeit und darunter liegenden nationalen Zugehörigkeiten basierte“ (S. 154). Diese „Mehrfachzugehörigkeit“ hätten sich die Menschen angeeignet. Nicht zuletzt aus dieser Erkenntnis heraus plädiert Aust dafür, in der Debatte über einen zentralen Gedenkort für die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs in Berlin – den er entschieden befürwortet – das historische Phänomen Sowjetunion nicht zu übersehen (S. 39). Ebenso mahnt er, über dem berechtigten (und nachholenden) Bemühen, den „Erinnerungswünschen“ von Polen, Belarus und der Ukraine nachzukommen, den Erinnerungsdialog mit Russland nicht zu vernachlässigen: Es wäre „geschichtswissenschaftlich unhaltbar und erinnerungskulturell fragwürdig, dabei über die russischen Erinnerungen hinwegzugehen und zu vergessen, dass Deutschland 1941 die Sowjetunion und nicht einzelne Nationalstaaten überfiel“ (S. 30).
Dieser bedenkenswerte Einwurf in die Diskussionen um eine nationale und transnationale Erinnerungskultur wurde 2021, also vor dem russischen Überfall auf die Ukraine formuliert. Seit dem Einschnitt des 24. Februar 2022 ist der Dialog mit Belarus und Russland über eine gemeinsame Erinnerung vorerst so gut wie abgebrochen. Die im lesenswerten Buch von Martin Aust dargelegte „Erinnerungsverantwortung“ der Deutschen bleibt aber ungeachtet des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands in der Ukraine unvermindert bestehen, auch gegenüber jenen Territorien und Menschen der ehemaligen Sowjetunion, die uns heute so fern gerückt sind.