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Titel
Vermögen vererben. Politiken und Praktiken in der Bundesrepublik und Großbritannien 1945–1990


Autor(en)
Grundig, Ronny
Reihe
Geschichte der Gegenwart
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Thomas Sokoll, Arbeitsbereich Geschichte und Gegenwart Alteuropas, Historisches Institut, FernUniversität Hagen

Dass in modernen Gesellschaften die Vermögen extrem ungleich verteilt sind und in den letzten Jahrzehnten der Vermögenstransfer durch Erbschaften solche Ungleichheitslagen zunehmend befestigt sowie verschärft hat (und weiter verschärfen wird), ist seit langem (auch öffentlich) bekannt und durch zahlreiche Studien eindringlich belegt. Es genügt, auf die bereits als klassisch zu wertenden Arbeiten von Jens Beckert, Thomas Piketty und Tony Atkinson zu verweisen.1 Einen wertvollen Beitrag zu diesem Forschungsfeld liefert jetzt Ronny Grundig mit der hier anzuzeigenden Studie, die auf seiner von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Potsdamer Dissertation (2020 bei Frank Bösch) basiert und sich durch breite Quellenbasis, lebendige Darstellung und sicheres Urteil auszeichnet. Im Zentrum stehen weniger die quantitativen Parameter (Entwicklung und Verteilung des Erbvolumens, dessen Anteil am Vermögen, Struktur der Erbschaft- und Vermögenssteuer etc.) als die Vererbungsvorgänge selbst – mit besonderem Augenmerk auf die Akteure (Erblasser und Erben, Berater und Verwalter) innerhalb des durch Politik und Justiz vorgegebenen Handlungsrahmens. Instruktiv (und neu!) ist der Vergleich zwischen der Bundesrepublik und Großbritannien, deren unterschiedliche Erbrechtstraditionen als relativ konstante Kontrastfolien greifbar werden, die sich immer wieder wechselseitig erhellen und dadurch die Lektüre zu einer spannenden Entdeckungstour machen (auch der umsichtige Erzählfluss und die treffenden Formulierungen tragen dazu bei).2

Eingerahmt von Einleitung (Thema, Erkenntnisinteresse, Forschungsstand, Quellenlage, Methode) und Fazit führt die Darstellung durch vier etwa gleich lange Kapitel, in denen zunächst die Entwicklung der politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen nachgezeichnet (I. Nachkriegszeit, II. Steuerpolitik) und anschließend eine Analyse der „Mechanik des Erbens“ (S. 317) aus der Perspektive der Beteiligten entwickelt wird (III. Vererben, IV. Erben). In den ersten beiden chronologisch gehaltenen Kapiteln werden Deutschland und Großbritannien jeweils nacheinander behandelt, während sie in der folgenden Strukturanalyse – deren sachlogischer Anlage entsprechend – zu jedem Punkt nebeneinanderstehen (Vermächtnisse für eheliche/uneheliche Kinder, Ehepartner, Geliebte und andere; Erbengemeinschaften; Schenkungen; Stiftungen). Kapitel IV ist leider auf die Bundesrepublik beschränkt. Methodisch und darstellerisch überzeugt (und „lebt“!) die Studie durch die vielen kleinen, geschickt eingestreuten Fallgeschichten, die größtenteils aus unveröffentlichten Akten der Finanz- und Justizbehörden sowie der Presse geschöpft sind und zum einen den Problemhorizont der politischen Entscheidungsträger, zum andern die Interessen und Handlungsoptionen von Erblassern und Erben beleuchten (auch die der übrigen Akteure: Gerichte, Steuer- und Firmenberater). Hinzu kommt eine statistische Auswertung von 1.030 Nachlassakten des Amtsgerichts Berlin-Neukölln für das Jahr 1962/63, die dazu dient, die verschiedenen Seiten der Vererbung zusammenhängend zu erfassen (Wer erbt? Von wem? Wieviel? Wie verteilt? Wie geregelt?) – erstaunlicherweise wurden solche Fragen von den Ministerien, Gerichten oder auch dem Statistischen Bundesamt nur sporadisch untersucht. Für den vergleichenden Blick auf Großbritannien, wo die amtlichen Stellen ähnlich spärlich unterrichtet waren, greift Grundig auf Daten aus der neueren Forschung zurück.

Es versteht sich von selbst, dass ich die vielfältigen Ergebnisse und Einsichten der Studie hier nicht im Einzelnen darlegen kann. Ich muss mich auf die wichtigsten Linien beschränken, die ich der Einfachheit halber zunächst für Deutschland und Großbritannien getrennt nachzeichne.

In Deutschland hoben die Alliierten im Kontrollratsgesetz von 1946 das zuvor geltende Erbrecht auf, erhöhten die Erbschaftsteuersätze (bis zu 60 Prozent) und senkten die Freibeträge, wodurch die Erbschaftsteuereinnahmen deutlich anstiegen – allerdings nur kurzfristig, denn es blieben weiterhin Schlupflöcher (Schenkungen, Verkäufe, Ausnahmen für Betriebsvermögen). Auch die Rückerstattung der „erbenlosen Nachlässe“ von jüdischen Opfern der Shoah erwies sich als komplizierter als von den Alliierten gedacht – manche Verfahren zogen sich jahrzehntelang hin. Von deutscher Seite wurde die alliierte Steuerpolitik vehement kritisiert: Die Veranlagung auch engster Angehöriger (überlebender Ehepartner, Kinder) zur Erbschaftsteuer untergrabe den Familiensinn und beraube mittelständische Unternehmen der Existenzgrundlage. In der Bundesrepublik wurden genau diese Monita bereits 1951 durch ein neues Erbschaftsteuergesetz beseitigt, das im Kern die Gesetzeslage von 1925 wiederherstellte (hohe Freibeträge, niedrige Steuersätze für enge Familienangehörige, zwingende Pflichtteile). In den 1960er-Jahren wurden von der SPD ernsthafte Pläne zu einer grundlegenden Erbschaftsteuerreform angestoßen, die auf eine stärkere Vermögensstreuung zielten und bald auf erstaunlich breite Zustimmung stießen. Selbst die CDU trat in ihrem Parteiprogramm von 1970 für höhere Steuersätze ein und die FDP forderte 1971 in den Freiburger Thesen einen Spitzensteuersatz von 75 Prozent für Erbschaften über 6 Mio. DM. Das 1973 verabschiedete Gesetz blieb jedoch hinter solchen Erwartungen weit zurück und änderte an der verteilungspolitischen Schieflage kaum etwas. Die höheren Steuersätze wurden durch erhöhte Freibeträge für Ehepartner und Kinder (die überwiegende Zahl aller Erben) weitgehend „ausgeglichen“. Dass die Erbschaftsteuereinnahmen tatsächlich anstiegen, lag vor allem an der höheren Bewertung des Grund- und Immobilienvermögens. Die Frage der gerechten Bewertung dieser Vermögensart im Vergleich zu anderen (Geld, Kapital, Betrieb, Kunstwerke, Schmuck etc.) sollte auch alle späteren Reformen der Erbschaft- sowie Vermögenssteuer begleiten und ist bis heute – ungeachtet der Ermahnung im Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995 – ungelöst, während die Erbschaftsteuer für Betriebsvermögen zur Sicherung von Arbeitsplätzen zunehmend reduziert wurde (S. 119–147).3

In Großbritannien setzte die Labour-Regierung unter Attlee (1945–1951) auf eine grundlegende Vermögensumverteilung und beschloss – neben der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien – eine Anhebung der Erbschaftsteuersätze für große Vermögen (bis zu 80 Prozent bei Nachlässen von über 1 Mio. Pfund), während sie zur Entlastung kleinerer Vermögen die Steuersätze senkte. Die Durchführung erwies sich jedoch als schwierig, vor allem bei spektakulären Erbfällen innerhalb des Hochadels, wo es um gigantische Vermögensmassen ging (Grundbesitz, Landsitze, Kunstsammlungen), über deren steuerpflichtigen Wert mit den Finanzbehörden endlos gestritten und verhandelt wurde. Um die üblichen Umgehungs- und Vermeidungsstrategien (Übertragung auf Familienstiftungen, Verkäufe zu Lebzeiten) zu unterbinden, bot der Staat sich an, die Objekte zu angemessenen Preisen zu übernehmen, um sie dann für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen (National Trust), wodurch sich auch die Betroffenen als Beförderer der nationalen Identität verstanden wissen mochten (aber zugleich von langfristigen Nutzungsregelungen profitierten [etwa: „ewiges“ Wohnrecht]). Ein notorisches Beispiel sind die Erben des Herzogs von Devonshire, mit denen die Finanzbehörden sich auf diese Weise verständigten und die zudem bei der Veräußerung ihrer zahlreichen Häuser und Grundstücke in Buxton bei Manchester den bisherigen Mietern und Pächtern ein Vorkaufsrecht zu Preisen weit unter Marktwert einräumten (S. 90–95). Mittelständische Familienbetriebe dagegen konnten sich im Erbfall oft nicht halten, denn um die fällige Steuer zu begleichen, mussten die Erben das Unternehmen (oder Teile davon) verkaufen – nach englischem Recht wurden (und werden bis heute) nicht die Erben besteuert, sondern der Nachlass. Geradezu typisch sind Kaufhäuser und Geschäfte, die auf diesem Wege von großen Warenhausketten übernommen wurden. Nicht weniger prekär war die Lage überlebender Ehefrauen, denen nach dem Tod des Mannes, wenn dieser sie im Testament nicht bedacht hatte, nur geringe Sockelbeträge des Nachlasses zustanden. Die für reiche Erben bestehenden Möglichkeiten, der Erbschaftsteuer teil- oder zeitweise zu entgehen, wurden unter den konservativen Regierungen (1951–1964, 1970–1974) besonders gern genutzt, wobei man sich zunehmend der Expertise von Steuerberatern bediente. Unter Labour (Wilson/Callaghan 1974–1979) wurde endlich eine Kapitaltransfersteuer eingeführt (1975), die auch bei Erbschaften und Schenkungen anfiel. Zudem wurde die Einkommenssteuer drastisch erhöht. Doch unter Thatcher (1979–1990) gab es eine radikale Kehrtwende, die im Zeichen eines marktliberalen Befreiungsschlags gegen den Sozialstaat auch eine grundlegende Umgestaltung des Steuersystems mit sich brachte. Die Kapitaltransfersteuer wurde schrittweise zurückgestuft und 1986 eine Erbschaftsteuer eingeführt, die im Kern bis heute besteht.

So unterschiedlich somit die Entwicklung der Vermögensvererbung in beiden Ländern verlief, was angesichts der fast gegensätzlichen Ausgangsbedingungen im Erb- und Steuerrecht kaum verwundern kann, so gab es doch in den Entscheidungen und im Verhalten der Akteure erstaunliche Konvergenzen. In der Bundesrepublik wie in Großbritannien wurden Vermögen größtenteils innerhalb der Kernfamilie vererbt, dabei aber traditionelle Familienvorstellungen zunehmend geschleift. Das Erbe sollte weniger der Sicherung des Familienbesitzes im männlichen „Stamm“ dienen, sondern eher individuelle Ansprüche auf Versorgung und Ausstattung begründen – zunächst der Ehegatten, dann der Kinder, mit deutlicher Tendenz zur Gleichbehandlung von Söhnen und Töchtern sowie ehelichen und unehelichen Kindern. Die Vererbung von Betriebsvermögen – vor allem bei Familienbetrieben – blieb jedoch ein Sonderfall, denn hier wurden eher Söhne bedacht; Töchter dagegen eher mit Geldvermögen und Schmuck. Eine Sonderregelung war ferner, dass bei der Vererbung selbst millionenschwerer Unternehmen oft weniger (oder gar keine) Erbschaftsteuer fällig wurde, solange die Arbeitsplätze als gesichert galten. Umgekehrt wurden in reichen Unternehmerfamilien natürlich nicht nur Betriebe, sondern in großem Umfang auch andere Vermögenswerte vererbt, wodurch sich einerseits der Drang zur Umgehung von Erbschaftsteuern, andererseits die Wahrscheinlichkeit leidenschaftlicher Erbschaftsstreitigkeiten erhöhte. Beide Konsequenzen illustriert Grundig gegen Ende des Buches eindringlich anhand der Familien Hardt, Haniel, Sachs, Koenigs und Krupp (S. 270–300) – leider nur deutsche Fallbeispiele (aber siehe oben: britischer Hochadel, S. 89–96).

Ein Monitum zum Schluss. Gerade weil sich das Buch so gut liest, vermisst man nach der Lektüre umso schmerzlicher ein Personen- und Sachregister. Auch hätte ich mir eine Übersicht der wichtigsten Gesetze und Bestimmungen sowie eine Zusammenstellung der numerischen Rahmendaten gewünscht (Erbschaftsvolumen, Erbschaftsteueraufkommen, Anteil desselben am Gesamtsteueraufkommen). Solche Schlüsselinformationen werden zwar im laufenden Text mitgeteilt, sind aber so verstreut, dass man im Zweifelsfall lange suchen muss, um sie wiederzufinden. Bleibt zu hoffen, dass auch bei uns (so wie im angloamerikanischen Raum üblich) die Verlage akademische Titel auch erschließungstechnisch endlich (wieder) so ausstatten, wie sie es inhaltlich verdienen. Hier aber bleibt festzuhalten, dass Ronny Grundig die vergleichende Forschung zur sozialen Ungleichheit, zur Vererbung und zur Steuerpolitik in der Moderne mit dieser Arbeit einen beherzten Schritt vorangebracht hat. Und es ist erst recht ein gutes Zeichen, dass Marc Buggeln und Jürgen Dinkel inzwischen auf demselben Weg mit Siebenmeilenstiefeln weitergeschritten sind.4

Anmerkungen:
1 Jens Beckert, Unverdientes Vermögen. Erben in der Leistungsgesellschaft, Frankfurt am Main 2004; Jens Beckert, Erben in der Leistungsgesellschaft, Frankfurt am Main 2013; Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, Kap. 11; Anthony B. Atkinson, Ungleichheit. Was wir dagegen tun können, München 2016. Alle drei arbeiten mit international vergleichenden Daten. Speziell zu Frankreich und Großbritannien ferner Thomas Piketty, On the long-run evolution of inheritance. France 1820–2050, in: Quarterly Journal of Economics 126 (2011), S. 1071–1131; Anthony B. Atkinson, Wealth and inheritance in Britain from 1896 to the present, in: Journal of Economic Inequality 16 (2018), S. 137–169. Für Deutschland aktuelle Daten (und Schätzungen) bei Anita Tiefensee / Markus M. Grabka, Das Erbvolumen in Deutschland dürfte um gut ein Viertel größer sein als bisher angenommen, in: DIW Wochenbericht Nr. 27/2017, S. 565–570; Kira Baresel u.a., Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen geht an die reichsten zehn Prozent aller Begünstigten, in: DIW Wochenbericht Nr. 5/2021, S. 64–71. Beide DIW-Studien wurden in der Presse breit diskutiert.
2 Beckert, Unverdientes Vermögen, vergleicht durchgehend Deutschland, Frankreich und die USA, bietet aber so gut wie nichts zu England. Hier betritt Grundig tatsächlich Neuland.
3 Umsichtige Erörterung der Bewertungsprobleme bei Henriette Houben / Rolf Maiterth, Erbschaftsteuer und Erbschaftsteuerreform in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 80 (2011), S. 161–188. Diese Publikation wird von Grundig leider nicht genannt.
4 Marc Buggeln, Das Versprechen der Gleichheit. Steuern und soziale Ungleichheit in Deutschland von 1871 bis heute, Berlin 2022; Jürgen Dinkel, Alles bleibt in der Familie. Erbe und Eigentum in Deutschland, Russland und den USA seit dem 19. Jahrhundert, Köln 2023.