1968 beschloss die Kultusministerkonferenz (KMK) „Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen“, die dieses Thema erstmals bundesweit zum schulischen Bildungsauftrag erklärten – verbindliche Vorgaben hatte es bis dahin lediglich in West-Berlin, Hamburg und Hessen gegeben. Der Beschluss bestand aus Kompromissformeln, die die Wogen glätten sollten zwischen Unions- und SPD-Kultusministern/-senatoren (Frauen waren nicht darunter). Bereits im Juni 1969 präsentierte die Gesundheitsministerin Käte Strobel (SPD) einen an den KMK-Empfehlungen orientierten „Sexualkunde-Atlas“ mit dem Untertitel „Biologische Informationen zur Sexualität des Menschen“. Der mit 48 Seiten kompakt geratene Band war für den Einsatz in Schulen konzipiert, richtete sich aber auch an die breite Öffentlichkeit. Die erste Auflage von 100.000 Exemplaren war schnell vergriffen. Die Veröffentlichung des „Atlas“ führte zu einer hitzigen öffentlichen Debatte.
Die Zeitgeschichte hat sich dem Thema schulische Sexualaufklärung trotz der bedeutenden Rolle im Kampf der politischen Lager um 1969 noch nicht umfassend gewidmet. Ausnahmen bilden die zahlreichen Aufsätze von Lutz Sauerteig, die sich vorrangig mit (schulischen) Aufklärungsmedien beschäftigen1, sowie Sonja Levsens Studie „Autorität und Demokratie“.2 Auch Susanne Roßkopf streift das Thema in ihrer Arbeit zur Bekenntnisschulbewegung.3 Vorrangig sind es Publikationen aus den historisch orientierten Erziehungswissenschaften, auf denen das derzeitige Wissen beruht. Dies gilt auch für das hier anzuzeigende Werk von Marcus Heyn, das als Dissertation im Kontext der Allgemeinen Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim entstanden ist, dem die Forschung die meisten Arbeiten zum Thema verdankt. Die Studie untersucht den Printmediendiskurs zum Erscheinen des „Sexualkunde-Atlas“ und gliedert sich in fünf Teile: Zu Beginn werden zentrale Begriffe und Methoden erläutert sowie die „Korpusbildung“ beschrieben. Es folgen eine prägnante Darstellung des untersuchten Segments der bundesdeutschen Presse am Ende der 1960er-Jahre sowie eine knappe Einführung in die zeitgenössische sexualpädagogische Debatte. Eine ausführliche Darstellung des Forschungsstands zur bundesdeutschen Sexualpädagogikgeschichte fehlt allerdings. Die Hauptteile der Arbeit bilden die Kapitel drei und vier mit insgesamt 250 Seiten, in denen die Pressetexte untersucht und in einer „Synopse“ zusammengeführt werden. Im fünften Teil wird der sexualpädagogische Diskurs informativ weiterverfolgt – von den 1970er-Jahren über die Debatten der „geistig-moralischen Wende“ bis zum rechtskonservativen Aufbruch in den Jahren seit 2014.
Die vorrangige Grundlage der Analyse im Hauptteil bilden 25 Presseartikel und Leser:innenbriefe, die von Juni bis September 1969 in sieben Zeitungen (Zeit, Welt, FAZ, SZ, FR, Bild, Bild am Sonntag) sowie dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ erschienen und im Anhang des Buchs abgedruckt sind. Diese Artikel werden nach Medium sortiert, mit Informationen zu Medium und Autor:innen kontextualisiert – wobei es über das Buch verstreut viele Redundanzen gibt – und anschließend diskurstheoretisch analysiert. Einer historischen Diskursforschung mit deutlicher Fokussierung auf Sprache verpflichtet, betrachtet Heyn insbesondere Syntax und Lexik der Texte. Der Erkenntniswert von Beobachtungen wie „Hypotaktische und parataktische Satzorganisationen wechseln sich ab“ (S. 150) bleibt bisweilen begrenzt. Problematisch erscheint die unkommentierte Übernahme von Quellenbegriffen wie „Kommerzialisierung“ der Sexualität (S. 384) oder „kirchlich-konservativ motivierter Sexualfeindlichkeit“ (S. 326).
Besonders instruktiv ist die Studie, wenn sie Einsichten aus der Textanalyse mit Ergebnissen der bisherigen Forschung in Dialog bringt. So bestätigt Heyn die Thesen Dagmar Herzogs, die die erinnerungspolitischen Dimensionen der sexualpolitischen Debatte betont hat (S. 388–390). Franz X. Eders Deutung, dass kirchliche Keuschheits- und Sittlichkeitsgebote in den 1960er-Jahren für die große Mehrzahl der Westdeutschen „keine besondere Rolle mehr“ gespielt hätten4, widerlegt er hingegen auf Basis seines Materials (S. 384). Auch die rechte Gegenmobilisierung wird thematisiert, von katholischen Elternvereinigungen über den bayerischen Freundeskreis Maria Goretti bis zur NPD. Der Autor zeigt, dass generell Argumentationsmuster der politischen Rechten dominierten, während der „Aufklärungs- und Liberalisierungsdiskurs“ (S. 388) im untersuchten Sample marginal war – ein klarer Kontrast zu bisherigen Forschungsdiskussionen wie auch zum Alltagswissen über die Reformzeit Ende der 1960er-Jahre.
Der Dialog mit den Forschungsergebnissen verweist zugleich auf ein Manko der Untersuchung: Mit nur 25 Presseartikeln und Leser:innenbriefen als Quellengrundlage stehen die Aussagen auf eher wackeligen Füßen. Es wäre sinnvoll gewesen, sich neben der Feinanalyse an einem Überblick auf Grundlage eines breiteren Korpus zu versuchen, der nicht nur weitere Massenperiodika wie „Christ und Welt“, „Neue Bildpost“ oder „National-Zeitung“ einbeziehen, sondern in die publizistische Breite gehen müsste. So werden zwar wichtige Stränge der Argumentation der außerparlamentarischen Linken durch einen „Spiegel“-Gastbeitrag des vormaligen SDS-Vorsitzenden Reimut Reiche abgebildet. Interessant gewesen wäre hier jedoch eine Kontrastierung mit „konkret“ und „Pardon“, aber auch mit den „St. Pauli Nachrichten“. Für das rechte Spektrum kommen hingegen drei Aspekte nicht ausreichend zur Geltung, die für das Verständnis der Debatte zentral sind.
Erstens geht Heyns Fokussierung auf die sprachliche Ebene mit einer Unterrepräsentation der politischen Dimension einher. Die herausgehobene innenpolitische Bedeutung des um 1969 ubiquitären Narrativs, der sexuelle Wandel mit der Sexualaufklärung als zentralem Signum sei ein sozialdemokratischer respektive kommunistisch orchestrierter Plan zur Zerstörung der Nation, thematisiert Heyn kaum. Auch die theoretischen Bezüge zu zivilisationspessimistischen Anklängen in der Debatte – der von Heyn nicht untersuchte „Bayernkurier“ brachte gegen den „Atlas“ vor, hier werde „grünes Licht […] für Rundum-Sexualität im personal unbezogenen Raum“ gegeben5 – können aufgrund der Quellengrundlage nur in Ansätzen analysiert werden.
Zweitens zeigten sich im rechten „Gegenwissen“ zur geschlechtlichen Aufklärung im Allgemeinen und zum „Sexualkunde-Atlas“ im Besonderen frappante Geschlechterunterschiede, wie ein eher randständiges Beispiel zeigen mag: Ein in rechten Periodika vielfach verwendetes Zitat eines ungenannten „Experten“ exemplifizierte das Wissen, Aufklärungsmaterialien würden bei Kindern „neurotische Störungen“ hervorrufen. Dass es in dem Bericht gerade Mädchen waren, die „in Ohnmacht fielen und sich übergeben mussten“, und dass ihr zuvor „gesundes Verhältnis zum anderen Geschlecht“ nun als „empfindlich gestört“ beschrieben wurde6, verdeutlicht die geschlechtsspezifische Dimension der Debatte, die weit über die von Heyn (S. 307) dargestellte Fehde zwischen den Ministerinnen Strobel und Aenne Brauksiepe (CDU) hinaus Beachtung finden sollte.
Drittens kann Heyn die Abgrenzung von Muckertum und Prüderie als zentrale rhetorische Figur konservativer bis radikalnationalistisch-völkischer Periodika nicht ausreichend als Marker rechter Aushandlungsprozesse über den sexuellen Wandel würdigen, da sie in dem gewählten Quellenkorpus lediglich in einem Artikel der „Welt“ auftaucht (S. 295) – zudem ist fraglich, ob diese Figur mit dem Begriff „sexualfreundlich“ (S. 388) bestimmt werden kann, der selbst quellenkritisch eingeordnet werden sollte.
Positiv hervorzuheben ist dagegen Heyns Analyse des Anti-Etatismus in den Texten konservativer Ausrichtung, die die „sexualpolitische Transformation des Staates anzeigt“ (S. 387): Während der bundesdeutsche Konservatismus vor den langen 1960er-Jahren noch vehement staatliches Handeln zum Zurückdrängen des „Sittenverfalls“ gefordert habe, sei um 1969 der Staat selbst als „Sittenverderber“ identifiziert worden, dessen Einfluss somit beschränkt werden müsse. Dies ist ein wichtiger Befund, der zeigt, wie zentral die Debatte um die Sexualaufklärung im Kontext der zeitgenössischen Aushandlungsprozesse über das Eingriffsrecht des Staates sowie über das Verhältnis von Staat und Kirche war. Ein größeres Korpus, das die Debatte um den „Sexualkunde-Atlas“ zu anderen sexualpolitischen Debatten des Jahres 1969 in Relation setzen könnte, hätte deutlich gemacht, dass dieser rechte Anti-Etatismus jedoch Brüche aufwies. Meist wurde weiterhin striktes staatliches Handeln gefordert. Kritisiert wurden die Obstruktionen durch eine als lahm empfundene Justiz, die die Polizei begrenze. Der Kampf um die Politisierung des Schlafzimmers, also die Frage, ob der Staat dort etwas zu suchen habe, verlief um 1969 vielfach weiter in den alten Schützengräben: Während „Sexualprogressive“ forderten, der Staat solle sich aus diesen Bereichen heraushalten, widersprachen die Konservativen. Heyn markiert hier jedoch eine auffällige diskursive Verschiebung, an die weitere Forschungen anknüpfen sollten.
Der als „Nachspiel“ bezeichnete fünfte Teil der Untersuchung bietet in den Überblicksanalysen interessante neue Einblicke, etwa zu Heiner Geißlers Umsetzung der – vermeintlich ausgefallenen – „geistig-moralischen Wende“ in Form des Zurückziehens der bedeutenden, jahrelang genutzten Aufklärungsmaterialien „betrifft: Sexualität“. Deutlich werden auch die Relevanz dieser Debatten um Sexualaufklärung für die Gegenwart und die argumentative Kontinuitätslinie der rechten Gegenwehr.
In der Gesamtschau lässt sich sagen, dass Marcus Heyn einen wichtigen Einstieg zu einem bisher wenig erforschten Thema geleistet hat. Aufgrund der begrenzten Quellenbasis, die durch die gewählte Methode bedingt ist, sollten weitere Forschungen die Ergebnisse überprüfen – Ergebnisse, die durch eine formalisierte Sprache und eine eng definierte Methode bisweilen nicht ausreichend zur Geltung kommen. Man hätte der Studie insgesamt die analytische Leichtigkeit gewünscht, die die luzide Untersuchung der Diskussion um drei später erschienene Aufklärungsmaterialien (von 1979, 1983, 1993) im letzten Kapitel auszeichnet.
Anmerkungen:
1 Stellvertretend Lutz Sauerteig, Representations of Pregnancy and Childbirth in (West) German Sex Education Books, 1900s–1970s, in: ders. / Roger Davidson (Hrsg.), Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth-Century Europe, London 2009, S. 129–160; für weitere Publikationen siehe https://www.ncl.ac.uk/medical-sciences/people/profile/lutzsauerteig.html (02.10.2024).
2 Sonja Levsen, Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975, Göttingen 2019; rezensiert von Dirk Schumann, in: H-Soz-Kult, 25.11.2020, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28605 (02.10.2024).
3 Susanne Roßkopf, Der Aufstand der Konservativen. Die Bekenntnisschulbewegung im Kontext der Bildungsreformen der 70er-Jahre. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte im Umbruch der 68er, Berlin 2017. Zu Aufklärungsfilmen, die auch ihren Weg in die Schule fanden, siehe Anja Laukötter, Sex – richtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2021; rezensiert von Olaf Stieglitz, in: H-Soz-Kult, 14.10.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97957 (02.10.2024).
4 Franz X. Eder, Die lange Geschichte der „Sexuellen Revolution“ in Westdeutschland (1950er bis 1980er Jahre), in: Peter-Paul Bänziger u.a. (Hrsg.), Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015, S. 25–59, hier S. 34.
5 Wolfgang Johannes Müller, Frau Strobel installiert neuen Dualismus. Der Sexualkunde-Atlas ist keine Hilfe, in: Bayernkurier, 12.07.1969, S. 13.
6 Hier O.V., Pädagogenbericht über Sexual-Atlas, in: Hochschullehrer-Zeitung 17,3 (1969), S. 33, nachgedruckt aus: Deutsche Wochenzeitung, 18.07.1969.