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B. J. Neuroth: Das Private in der Sicherheitsgesellschaft

Cover
Titel
Das Private in der Sicherheitsgesellschaft. Umstrittene Freiheitsrechte in den USA 1963–1977


Autor(en)
Neuroth, Benedikt Josef
Reihe
Studien zur Zivilgesellschaft
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hintz, Institut für Amerikanistik, Universität Leipzig

Kaum eine Debatte über das deutsch-amerikanische Verhältnis wurde in den letzten zehn Jahren so heftig geführt wie um die Enthüllung von NSA-Abhörmaßnahmen in Europa durch Edward Snowden. Dabei wurde oft eine – tatsächliche oder angebliche – spezifisch deutsche Sensibilität für die eigene Privatsphäre ins Spiel gebracht. Benedikt Josef Neuroths jetzt erschienene Dissertation erinnert an die komplexe und vielschichtige Geschichte, die Diskurse um ein Recht auf Privacy in den USA selbst gehabt haben und die von scheinbar disparaten Feldern wie der Kontrolle der Geheimdienste bis zum Abtreibungsrecht reichen. Die deutschsprachige Publikation erscheint parallel zu mehreren neueren, in englischer Sprache verfassten Büchern zum Thema.1 Neuroth fokussiert allerdings die 1960er- und 1970er-Jahre als Schlüsselstelle in der Entwicklung von modernen Privacy-Praktiken.

Ansprüche auf Privacy entstanden für Neuroth als Reaktion auf staatliche Übermacht – an sich keine brandneu wirkende These im Hinblick auf die Geschichte liberaler Gesellschaften oder der 1960er- und 1970er-Jahre in den USA, doch der Autor gibt ihr durch Rückgriff auf die Foucault’sche Machtanalyse sowohl konzeptionell als auch in der spezifischen historischen Umsetzung eine originelle Wendung.2 Zur genauen Einordnung des amerikanischen Privacy-Begriffs unterscheidet Neuroth in einer knappen Einleitung theoretisch zwischen Gouvernementalität und „Privarität“, die über bekannte Dichotomien wie Privatheit und Öffentlichkeit oder privater und politischer Sphäre hinausgeht. Neuroth definiert Gouvernementalität als die sich historisch entwickelnde Sammlung von Techniken, Bevölkerungen zu steuern, wobei der analytische Schwerpunkt auf der Entwicklung einer modernen staatlichen Gouvernementalität liegt, die durch Sicherheit regiert. In Neuroths praktischer Anwendung des Gouvernementalitätsbegriffs werden Techniken der Selbstführung von Subjekten, die sonst häufig zu diesem Begriff hinzugezählt werden, eher ausgeklammert.3 Privarität ist nämlich ein von Neuroth für die Studie entwickeltes zusätzliches Konzept, das einen regulierenden „Gegenpol“ der Gouvernementalität beschreiben soll (S. 375). Mit ihm sind von der Gouvernementalität selbst gesetzte Begrenzungen ihrer Herrschaft gemeint, die aus bürgerlichen Ansprüchen auf Privacy gegenüber staatlicher Sicherheitspolitik erwachsen. Was genau zur Privatsphäre gehörte, konstituierte sich damit sukzessive aus dem, was als Übergriff auf sie galt.

Neuroths ebenfalls an Foucault angelehnter Sicherheitsbegriff umfasst thesenstark und elegant sowohl die „nationale und innere“ als auch unterschiedliche Formen „sozialer“ Sicherheit. Diese modernen Sicherheitspraktiken und -diskurse operierten, im weiten Sinne, durch Kosten- und Risikokalkulationen über die ganze Bevölkerung. Als Quellen zur Entwicklung der wechselseitig wirkenden Faktoren Sicherheit und Privacy greift Neuroth daher auf Akten des FBI und mehrerer US-Administrationen zurück, aber auch auf Unterlagen aus dem Kongress, zentrale Gerichtsentscheidungen und Dokumente und Publikationen zivilgesellschaftlicher Akteure. Diese werden diskursanalytisch auf Muster von Sicherheits- und Privatheitsansprüchen untersucht, wobei Neuroth ausdrücklich die Geschichte staatlicher Regierungspraktiken akzentuiert (S. 24f.).

Die Studie hat eine weitgehend chronologische Logik, die fallstudienhaft den Präsidentschaften von Lyndon B. Johnson über Richard M. Nixon bis Gerald Ford folgt, aber auch die Vor- und Nachgeschichte dieser Periode in den Blick nimmt. So verfolgte der amerikanische Staat seit dem 19. Jahrhundert unterschiedlich gelagerte Politiken der Sicherheit, die etwa auf die Regulierung von Reproduktion abzielten (Kapitel I). Gleichzeitig entstanden juristische Diskurse um ein „Recht ‚to be let alone‘“ (S. 33). Laut Neuroth waren es aber staatliche Interventionen im Rahmen der antikommunistischen Red Scares am Ende des Ersten Weltkriegs und zu Beginn des Kalten Kriegs und dazwischen die großen Wohlfahrtsreformen unter Franklin D. Roosevelt, die zum massiven Anwachsen des Sicherheitsapparats in ganz unterschiedlichen Bereichen führten. Ging es in der sich entwickelnden „Sicherheitsgesellschaft“ (S. 25) zum einen um die Identifizierung und Bekämpfung potenziell gefährlicher innerer und äußerer politischer Gegner und Unruhen, sollte zum anderen die Bevölkerung vor Armut geschützt werden. Tatsächlich waren die Privacy-Debatten der Sixties und frühen Seventies von der Überwachung subversiver politischer Organisationen und sozialer ‚Krisenherde‘ genauso geprägt wie von den Great-Society-Reformen, dem letzten Kapitel der langen New-Deal-Ära. Wichtig waren dabei aber auch Diskurse über die sexuelle Intimsphäre.

In den 1950er- und 1960er-Jahren entstanden neue Technologien, die sowohl zu Zwecken der gouvernmentalen Überwachung und Lenkung als auch der Selbstbestimmung dienen konnten. Hier ist die Entwicklung von Computern und anderen Systemen zu nennen, die zum Aufzeichnen, Sammeln und Verarbeiten von Daten aus der ganzen Bevölkerung genutzt wurden. Dazu gehört ebenso die medizinische Einführung von Verhütungsmitteln wie der Pille, die sowohl die Kontrolle über die Fortpflanzung ‚privatisieren‘ konnten, im Rahmen ihrer Legalisierung aber auch als Mittel der „‚Population Control‘“ verhandelt wurden (S. 122). Vor diesem Hintergrund zählt Neuroth zu den Techniken der Gouvernementalität neue institutionelle Strukturen in den Bereichen des Rechts, der Polizeibehörden und Geheimdienste sowie der Verwaltung, die an ein bestimmtes Wissen über soziale Risiken und staatliche Präventions- und Interventionsmöglichkeiten gebunden waren. Neuroth diagnostiziert damit sich „verdichten[de]“ „Sicherheitsdispositive“ (S. 233), die jedoch machtstabilisierende Freiräume aufgemacht hätten.

Die große Stärke von Neuroths begrifflichem Rahmen ist es, Kontinuitäten über unterschiedliche Administrationen hinweg zu verdeutlichen, damit aber auch auf graduelle Umwandlungen hinzuweisen. So beschreibt er eine paternalistische Bevölkerungspolitik unter Johnson, die an Geburtenkontrolle interessiert war und politische Dissidenten, etwa durch COINTELPRO, geheimpolizeilich ausspionierte und unterminierte (Kapitel II). Sehr interessant ist vor allem Neuroths Rekonstruktion der bislang unterbeleuchteten Debatte über die Schaffung eines National Data Center als staatliche Daten- und Statistikbehörde (S. 156–186). Obwohl Johnsons Vorhaben und Maßnahmen zum öffentlich umstrittenen und rechtlich angefochtenen „Politikum“ (S. 101) wurden, setzten sie sich unter Nixon weitgehend fort. Durch die schrittweise Aufdeckung des Überwachungsapparats habe sich aber die veritable „Krise des Liberalismus“ (S. 98) verfestigt. Nixons Präsidentschaft war zunehmend von Watergate und anderen Skandalen geprägt, die bürgerlichen Forderungen nach Privacy-Reformen neues Gewicht verschafften (Kapitel III). So beriefen sich staatliche Akteure auch selbst gern auf ein Recht des Schutzes der vermeintlich privaten Unterlagen, wie Neuroth im Hinblick auf den unter Druck geratenen Nixon konstatiert (S. 316ff.).

Die Liberalisierung des Abtreibungsrechts wurde – wie im juristischen Diskurs über Verhütung – mit einem Recht auf Privacy begründet, konnte zugleich aber unter den Verdacht von Privacy-gefährdender Bevölkerungsplanung gestellt werden (S. 238ff.). Neuroth zeigt aber eigentlich selbst, wie Geburtenkontrollrationalitäten zunehmend durch (sicher auch biopolitisch relevante) Argumente über weibliche Gesundheit und Selbstbestimmung ersetzt wurden, die 1973 für Roe v. Wade entscheidend waren (S. 279ff.).4

Neuroth beschreibt unter Ford schließlich eine aus Kompromissen entstandene „neue Balance“ (S. 356) von Ansprüchen auf Privacy und Sicherheit (Kapitel IV). Nach den Erfahrungen des vorhergehenden Jahrzehnts wurden den Ermittlungsdiensten einige Schranken auferlegt und der Datenschutz und die Informationsfreiheit gesetzlich reguliert. In einem abschließenden Hauptkapitel bietet Neuroth einen kursorischen Ausblick auf Privacy-Diskurse über die 1970er-Jahre hinaus, etwa um den Terrorismus oder die weiter umkämpfte Abtreibungsfrage (Kapitel V). Das kann klare Krise-und-Konsens-Narrative etwas in Frage stellen, ebenso wie die schon für die 1970er-Jahre häufig festgestellte anhaltende politische und soziale Polarisierung über die Rolle des Staats in einer „Age of Fracture“.5 Gerade unter diesen Bedingungen gewannen Privatheitsdiskurse aber zweifellos an neuer Bedeutung.

Neuroths analytisches Interesse an unterschiedlichen Diskursen und Praktiken von Sicherheits- und Privacy-Politik über mehrere Präsidialadministrationen hinweg ist konzeptionell recht breit gewählt. Daher werden die Verwerfungen der amerikanischen Gesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre, die zentral für die Herausbildung von unterschiedlichen Macht- und Rechtsansprüchen waren, pro Kapitel vergleichsweise knapp verhandelt, um stattdessen allgemeine Grundlinien des staatlichen Re(a)gierens zu rekonstruieren. So wird mehrfach eher am Rande darauf hingewiesen, dass die Kontrolle von politischen Gegnern und ‚Krisenherden‘ „auch eine ethnische Dimension“ gehabt hat (S. 247ff.). Diese historische Ungleichverteilung lässt über ‚weitere‘ Grenzen und Abhängigkeiten gouvernmentaler Sicherheitspolitik im Untersuchungszeitraum spekulieren, etwa über die Rolle einer rassifizierten Disziplin, die nicht immer die ganze Bevölkerung in den Blick genommen hat. Neuroth erwähnt manchmal das Fortbestehen anderer Machtmechanismen, über deren genaues Verhältnis zu Sicherheit und Privacy man aber gern noch etwas mehr gelesen hätte, ebenso wie zu privatwirtschaftlichen Akteuren und zur Selbstführung von Subjekten, die im späten New-Deal-Zeitalter gewiss auch eine Rolle spielte (S. 387f.). Die Herausforderung solcher fortführenden Fragen macht die Studie aber zu einer sehr anregenden Lektüre. Sie wird für deutschsprachige Leser:innen ein wertvolles und umfangreich recherchiertes historisches Grundlagenwerk zu einem bis in die Gegenwart relevanten politischen Thema bleiben.

Anmerkungen:
1 Frederick S. Lane, American Privacy. The History of Our Most Contested Right, Boston 2009; David Vincent, Privacy. A Short History, Cambridge 2016; Sarah E. Igo, The Known Citizen. A History of Privacy in Modern America, Cambridge, MA 2018; Lawrence Cappello, None of Your Damn Business. Privacy in the United States from the Gilded Age to the Digital Age, Chicago 2019; Amy Gajda, Seek and Hide. The Tangled History of the Right to Privacy, New York 2022.
2 Für ältere englischsprachige Fallstudien im gleichen Themenfeld vgl. z.B. David J. Garrow, Liberty and Sexuality. The Right to Privacy and the Making of Roe v. Wade, Berkeley 1994; Samuel Walker, In Defense of American Liberties. A History of the ACLU, 2. Aufl., Carbondale 1999 (1. Aufl. 1990); John W. Johnson, Griswold v. Connecticut. Birth Control and the Constitutional Right of Privacy, Lawrence 2005.
3 Thomas Lemke, Foucault’s Analysis of Modern Governmentality. A Critique of Political Reason, London 2019, S. 243–261.
4 Vgl. auch Mary Ziegler, Roe’s Race. The Supreme Court, Population Control, and Reproductive Justice, in: Yale Journal of Law and Feminism 25.1 (2013), S. 1–50.
5 Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge, MA 2011.

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