Am 15. Oktober 2016 feierte man in Frankfurt am Main das Richtfest der neu entstehenden Altstadt auf einem Areal zwischen dem Dom und dem Römerberg. Die Neu- und Wiedererrichtung als historisch deklarierter Ensembles gehört neben der Rekonstruktion von für die Geschichte und / oder für das Stadtbild als unerlässlich angesehenen Einzelbauten mittlerweile zum gängigen, dabei kaum wirkungsvoll kritisierten Repertoire städtebaulicher und architektonischer Lösungen. Die von Carmen M. Enss und Gerhard Vinken im Mai 2015 an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg durchgeführte Tagung, aus der der hier vorgestellte Sammelband hervorging, zielte darauf, die Herstellung von Altstädten sowohl als historisches wie auch als gegenwärtiges internationales Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven zu erfassen. Die Konstruktion von Altstädten war bereits Gegenstand der 2010 veröffentlichten Habilitationsschrift Gerhard Vinkens.1 So ist es ein Verdienst der nun vorliegenden Publikation, die Beiträge unter anderem von Kunsthistoriker/innen, Denkmalpfleger/innen, Stadtplaner/innen und Architekten versammelt, die Thesen und Ergebnisse des früheren Buches hinsichtlich der Methoden, des empirischen Materials und – zumindest punktuell – in einem internationalen Kontext ebenso zu erweitern wie in den unterschiedlichen historischen Epochen zu vertiefen. Mit Blick auf sie sind die Texte des Bandes gegliedert.
Die ersten vier Beiträge konzentrieren sich auf die städtebaulichen Konzepte um 1900, die die notwendige „Modernisierung der Städte in einen Bezug zur Tradition setzen wollten“ (Vinken, S. 18), damit auf die Anfänge der Wahrnehmung und Konstruktion der Altstädte im modernen Städtebau. Hier widmet sich Klaus Tragbar dem italienischen Architekten, Bauhistoriker und Denkmalpfleger Gustavo Giovannoni (1873–1947), der die Idee des ambientismo – das Bemühen, „auf wertkonservativer Basis [...] eine konzeptuelle Einbindung der Architektur“ zu erreichen (S. 38) – formulierte und zu einer Entwurfsmethode entwickelte. Melchior Fischli wendet sich dann der Denkmalpflege in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu. Dabei zeigt er unter anderem, wie die Vorstellung und Konstruktion von Stadtbildern im Sinn einer Heimatschutzbewegung zu einer Gestaltungsaufgabe wurde, die der Stadt ihr „‚eigentliches‘ Bild ‚zurückgab‘ – oder eben das, was man dafür hielt“ (S. 51). So entstanden Idealvorstellungen, die die Folie für Vereinheitlichungen der baulichen Substanz bildeten und zum Verlust von Zeitschichten führten, die diesen Bildern nicht entsprachen. Die Herstellung von Stadtbildern durch Sanierungen untersuchen dann auch Christiane Weber und Hélène Antoni am Beispiel von Altstadtsanierungen in Straßburg, indem sie für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein Zusammenspiel von deutschen und französischen Stadtbaukonzepten in ihrer lokalen Anwendung darstellen. Der letzte Beitrag dieser Sektion wendet sich wieder einer Einzelperson und ihren Ideen zu. Carmen M. Enss kann mit Theodor Fischer (1862–1938) einen deutschen Städtebauer vorstellen, der nach einer Phase der Begeisterung für Heimatschutzziele zu dem Schluss kam, dass sich eine Altstadt selbst nicht planen lasse, sondern sie vielmehr entwicklungsfähig zu halten sei, ohne sie ihrer wechselvollen Geschichte zu berauben.
Die zweite Sektion – „Heimatschutz und Wiederaufbau“ – bleibt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verschiebt den zeitlichen Rahmen aber bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Darauf, dass wir hier wiederholt mit einer Geschichte der Kontinuitäten seit dem Nationalsozialismus konfrontiert sind, verweisen die Herausgeberin und der Herausgeber bereits in ihrer Einleitung anhand der „Altstadt“ von Köln, die in der heute existierenden Form während des Nationalsozialismus als Ergebnis von Entkernungen und Auflockerungen (und „Arisierungen“) entstand. Umfassender wird dies in den Beiträgen von Paul Zalewski und Jakob Hofmann behandelt. Während sich Zalewski den Altstadtsanierungen in der Zeit des Nationalsozialismus auf der Grundlage eines offensiven Biologismus am Beispiel Hannovers widmet, stellt Hofmann die Planungen und Realisierungen einer Heimatschutzarchitektur während des Wiederaufbaus in der Stadt Soest dar (1941–1959). Małgorzata Popiołek untersucht den Umgang mit den historischen Stadtzentren in fünf heute in Polen gelegenen Städten. Dabei lassen sich die komplexen deutsch-polnischen Beziehungen der Jahre 1900–1950 als eine Grundlage für Stadtplanungen aufzeigen – im Sinne von Entscheidungen für Erhalt, Abriss, Sanierung, Um- oder Wiederaufbau. Deutlich wird in dem Text aber auch, dass die Planungen zunächst oft nur den Status eines Entwurfes besaßen und erst infolge der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges realisiert werden konnten. Sigrid Brandt erläutert schließlich „Asymmetrie, Rhythmus, Bewegung“ als „Aspekte der historischen Stadt“ im forschenden und publizistischen Wirken des Architekten, Stadtplaners und Hochschullehrers Wolfgang Rauda (1907–1971), der als Professor in den 1950er-Jahren zunächst in Dresden und später in Hannover tätig war.
Die dritte Sektion widmet sich der „Erfassung und Vermittlung“, also Medien, die neben der konkreten Architektur Altstadt konstruieren und einer Öffentlichkeit verständlich machen. Hans-Rudolf Meier nimmt das Denkmalschutzjahr 1975 als Anlass, die davorliegenden Debatten um Stadtbild, -erhalt und -gestaltung zu betrachten. Damit thematisiert sein Beitrag auch die Wiederentdeckung der historischen Bausubstanz und die Betonung einer Bedeutung des gewachsenen Stadtbildes in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund einer Ablehnung der Moderne. Als Medium untersucht Meier dann den 1973 von Josef Paul Kleihues im Auftrag des Senators für Bau- und Wohnungswesen herausgegebenen „Berlin-Atlas zu Stadtbild und Stadtraum“ als Beispiel von Stadtbildanalysen, die eine Voraussetzung für Eingriffe in bestehende Bausubstanz darstellten. Andreas Putz kann derartige Ansätze am Beispiel der planerischen Erfassung des Baubestandes von Zürich ausführen. Franziska Haas gibt abschließend in dieser Sektion einen Überblick zur Geschichte und Bedeutung des Architekturmodells, damit zur Überführung eines (ehemals vorhandenen) gebauten Ortes in ein (wiederum dreidimensionales) Dokument.
Die unter der Überschrift „Themen und Akteure heute“ versammelten fünf Beiträge des vierten und letzten Hauptteils widmen sich Aspekten der Gegenwart. Zu Beginn stellt Robert Kaltenbrunner die Altstadt im Kontext einer Wahrnehmung „zwischen Anlageobjekt und Baukultur“ dar; er verweist dabei auf ihre heutige Funktion als Teil einer Erlebnisgesellschaft. Uwe Altrock schildert Reurbanisierungstrends und Vitalisierungsstrategien im Kontext von Altstadterneuerungen in kleinen und mittelgroßen Städten. Mit dem Beitrag von You Jin Jang zur Konstituierung von Bukchon als Altstadt und öffentlichem Raum von Seoul wendet sich der Blick nach Asien. Das Beispiel verdeutlicht die Parallelen zum europäischen Raum sowohl in der Herstellung seit den 1970er-Jahren wie auch in der heutigen Nutzung als Ausgehviertel sowie als kommerzielles und kulturelles Zentrum. Beate Löffler gelingt es dann, das europäische Konzept der „alten Stadt“ als Folie für japanische Städte zu diskutieren. Sie kommt zu dem Schluss, dass im Gegensatz zu einem europäischen Verständnis, in dem die „alte Stadt“ ein „Sehnsuchtsort des Eigenen“ ist, sie sich in Japan „im Sinne eines sozialen Konzepts etabliert hat“, nicht aber als „narrativ aufgeladenes Bild von Stadt“. In der Folge ist die „alte Stadt“ „kein architekturhistorisches Schlüsselkonzept innerhalb der eigenen Kultur, sondern etwas dezidiert Fremdes, Exotisches: ein Sehnsuchtsort des Anderen“ (S. 253). Am Ende des Bandes betrachtet Achim Schröer das bürgerschaftliche Engagement sogenannter Altstadtfreunde in drei bayerischen Städten (Coburg, Nürnberg, Regensburg) – und damit die Akteur/innen, deren stadtpolitische Interventionen nicht nur bauliche Bestände sichern, sondern auch Planungen von Neubauten zur Diskussion stellen.
Insgesamt bietet der Band einen gelungenen Einblick in unterschiedliche Aspekte der Produktion von Altstadt: einerseits als konkreter Raum innerhalb unserer Städte, andererseits in der Wahrnehmung als Vorstellung und Bild. Dabei wird auch offensichtlich, dass sich Projekte wie die neu zu errichtende Frankfurter Altstadt dadurch auszeichnen, dass „Traditionsinseln“ und identitätsstiftende Räume nicht mehr allein durch Sanierungen oder Stadtbildpflege bestehender Quartiere konstruiert, sondern nicht selten als Neubauprojekte geplant und umgesetzt werden. Bedauerlicherweise wird ihnen – bezogen auf den deutschen Raum – in dem Band kein eigenständiger Beitrag gewidmet; sie werden lediglich immer wieder als Verweis auf eine aktuelle Tendenz bemüht. Hier bleibt in der Konsequenz eine unbefriedigende Leerstelle, da eines der auffälligsten Phänomene zeitgenössischer Altstadtproduktion nicht in die Analyse einbezogen wird.
Anmerkung:
1 Gerhard Vinken, Zone Heimat. Altstadt im modernen Städtebau, München 2010; siehe dazu meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 07.09.2010, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13908 (26.01.2017).