Die Etablierung einer Alleinherrschaft unter den römischen Kaisern brachte für die römische Senatorenschaft einschneidende Veränderungen mit sich. Unter den gewandelten Bedingungen galt es für diese Angehörigen der Aristokratie, ihren Platz in dem neuen Herrschaftssystem zu finden, ihr Selbstverständnis zu definieren sowie traditionelle senatorische Aufgabengebiete zu verteidigen und sich neue Bewährungsmöglichkeiten zu erschließen. Dieser Prozess war selbst nach mehreren Generationen nicht abgeschlossen, und bei jedem Herrscherwechsel musste die Senatsaristokratie die Interaktionsbedingungen und Spielräume mit dem jeweiligen princeps neu aushandeln. Die umfassende Hinterlassenschaft des jüngeren Plinius – neben seinen Epistulae und seinem Panegyricus an Trajan sind 13 ihm dedizierte Inschriften erhalten – liefert einen unvergleichlichen Einblick in diese Strukturen und Vorgänge wie auch in die Mentalität der senatorischen Führungsschicht. In der altertumswissenschaftlichen Forschung konnte bislang ein umfassend angelegter Ansatz, der die vielschichtigen Komponenten des senatorischen Selbstverständnisses und die für einen aristokratischen Lebensentwurf maßgeblichen Elemente zu einem Sozialprofil der kaiserzeitlichen Senatorenschaft zu vereinen weiß, als Desiderat gelten.1
Sven Page nimmt sich in seiner Darmstädter Dissertation nun dieser Forschungslücke am Beispiel des jüngeren Plinius an. Der exemplarische Zugriff auf die Person des Plinius ist für dieses Vorhaben zum einen methodisch notwendig und sinnvoll und zum anderen der spezifischen Überlieferungssituation geschuldet, die für Plinius außergewöhnlich gut ist. Page versteht es jedoch, keineswegs singulär auf Plinius und dessen Selbstverständnis fokussiert zu bleiben, sondern sehr wohl immer wieder die Repräsentativität des plinianischen Lebensentwurfs herauszustellen, indem er nicht zuletzt für Plinius dessen Auffassung von einer mustergültigen Verkörperung des aristokratischen Habitus rekonstruiert und auf diese Weise vermeintlich individuelles Agieren in der Verhaltenserwartung, den Handlungsmaximen und dem Werte- und Normenkonzept der gesamten Senatorenschaft verankert. Mit dieser Anlage seiner Studie versucht Page auch die – wie eine Quadratur des Kreises wirkende – Vereinigung altertumswissenschaftlicher Forschungsfelder zu leisten, indem er die soziopolitische Ordnung des Prinzipats, also eine dezidiert systemspezifische Perspektive, die Integration der aristokratischen Führungsschicht in dieses System, folglich einen gruppendynamischen Aspekt, und den prosopographischen Zugriff auf Individuen eng miteinander verbindet. Nur ein solches, unterschiedliche altertumswissenschaftliche Perspektiven auf die kaiserzeitliche Senatsaristokratie verschränkendes Verfahren gestatte es, anders als bei der Betrachtung lediglich eines Teilaspekts, einem so komplexen Phänomen wie der senatorischen Existenz in der Zeit des Prinzipats gerecht zu werden.
Pages Untersuchung basiert auf einer wichtigen Grundannahme, der Heterogenisierung senatorischer Bewährungsfelder im Zuge der Institutionalisierung der Alleinherrschaft.2 An diesen vervielfältigten, aber im Vergleich zur republikanischen Zeit nicht grundlegend neu definierten senatorischen Aufgabengebieten sowie an den diesen zugeordneten Diskursfeldern orientiert sich im Wesentlichen Pages Vorgehen. Er macht für das senatorische Sozialprofil insgesamt sechs konstitutive Aufgabenfelder aus, denen er einzelne Kapitel widmet: die politische Betätigung, die literarische Produktion, die Profilierung im militärischen Bereich, das patronale Engagement, die Mitwirkung am Diskurs über den senatorischen Habitus und Erwägungen über ökonomische Fragen. Innerhalb dieses Ensembles könnten die Tätigkeit im politischen Raum sowie der Beitrag zum Diskurs über das senatorische Selbstverständnis als obligatorisch und sozusagen als sämtlichen anderen Bewährungsgebieten übergeordnet angesehen werden. Alle anderen Felder betrachtet Page als untereinander prinzipiell gleichberechtigt, auch wenn diese im alltäglichen Agieren der Führungsschicht nicht immer dieselbe Aufmerksamkeit erfahren hätten, vielmehr durch die jeweiligen Akteure gezielt Schwerpunkte gesetzt worden seien. Auf diese Weise habe man diverse Komponenten zu einem spezifischen Sozialprofil arrangiert, das sich an unterschiedliche Situationen als außerordentlich anpassungsfähig erwies, dabei aber bei den jeweiligen Protagonisten die Fähigkeit voraussetzte, situationsspezifische Spielräume wie erforderliche Handlungsmaximen auszuloten und nötige Prioritäten zu setzen. Page zeichnet damit das Sozialprofil der kaiserzeitlichen Senatoren keinesfalls als einen starr fixierten Rahmen, sondern als ein insgesamt vielschichtiges und flexibles Rollen- und Methoden-Portfolio.
Um Pages im Ganzen überzeugende Ergebnisse im Einzelnen zu würdigen, ist hier nicht der Raum. Daher ist es kaum möglich, des Näheren auf die vielseitigen Analysen zu Plinius dem Jüngeren einzugehen, für den Page im Wesentlichen ein Streben nach dignitas, auctoritas und immortalitas sowie einen gewiss nur schwer zu belegenden und wohl zum Teil Selbstdarstellungsstrategien geschuldeten didaktisch-pragmatischen Anspruch gegenüber seinen senatorischen Standeskollegen geltend macht. Doch sollen einige wichtige Punkte herausgestellt werden, die von allgemeinem Interesse sind: Gerade mit seiner Feststellung, dass politische Betätigung für das Verständnis der römischen Senatsaristokratie in der Kaiserzeit essentiell und von ungeschmälerter Bedeutung war, bezieht Page deutlich Distanz gegenüber Forschungsmeinungen, die eine Entpolitisierung der Senatoren postulieren. Page weiß die Veränderungen, die die Alleinherrschaft für die Senatorenschaft nicht zuletzt im politischen Bereich mit sich brachten, sehr wohl einzuordnen. Aus diesem Grunde argumentiert er mittels eines erweiterten Politikbegriffs für das Konzept eines politischen Raumes, in dem sich vielfältige politische Ausdrucksformen und Einflussmöglichkeiten verwirklichen und experimentell erproben ließen, so dass insgesamt von einer Politisierung der senatorischen Interaktionskultur zu sprechen sei. Gleichfalls nimmt Page Abstand von einer Betrachtung des plinianischen Panegyricus als eines Fürstenspiegels oder von der Annahme einer propagandistischen Wirkung dieser Schrift zugunsten des Kaisers Trajan. Darüber hinaus arbeitet Page dezidiert die besondere Förderung des jüngeren Plinius durch den postum zum malus princeps erklärten letzten Kaiser der flavischen Dynastie, Domitian, heraus, von dem sich Plinius in der trajanischen Herrschaftszeit deutlich distanzierte, um eine Involvierung in dessen Regime zu kaschieren.
Page entwirft ein insgesamt schlüssiges Bild einer selbstbewussten aristokratischen Elite in der römischen Kaiserzeit, die sich mit dem System des Prinzipats arrangiert hatte und die im Dienst für die res publica und den princeps besonders maßgebliche Komponenten ihres Selbstverständnisses sah, die sich aber darüber hinaus zahlreiche Betätigungs- und Diskursfelder erschlossen hatte und sich durch zuweilen ostentatives Repräsentationsverhalten Eingang in die memoria verschaffte. Jedem, der sich mit der römischen Senatorenschaft im Prinzipat beschäftigt, sei daher Pages durchweg gut lesbare Studie ans Herz gelegt.
Anmerkungen:
1 Erste Ansätze dazu finden sich bei Elke Stein-Hölkeskamp, Vom homo politicus zum homo litteratus. Lebensziele und Lebensideale der römischen Elite von Cicero bis zum jüngeren Plinius, in: Karl-Joachim Hölkeskamp u.a. (Hrsg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme und Leitbilder im Altertum, Mainz 2003, S. 315–334, sowie Dies., Zwischen Pflicht und Neigung? Lebensläufe und Lebensentwürfe in der römischen Reichsaristokratie der Kaiserzeit, in: Wolfgang Blösel / Karl-Joachim Hölkeskamp (Hrsg.), Von der militia equestris zur militia urbana. Prominenzrollen und Karrierefelder im antiken Rom. Beiträge einer internationalen Tagung vom 16. bis 18. Mai 2008 an der Universität zu Köln, Stuttgart 2011, S. 175–195.
2 Zu diesem Phänomen vgl. Karl-Joachim Hölkeskamp, ,Prominenzrollen‘ und ,Karrierefelder‘ – Einleitende Bemerkungen zu Thematik und Begriffen, in: Blösel / Hölkeskamp (Hrsg.) (vgl. Anm. 1), S. 9–27; ferner: Uwe Walter, Vom integralen Aristokraten zum Karrierespezialisten? Versuch einer Bilanz, in: Blösel / Hölkeskamp (Hrsg.) (vgl. Anm. 1), S. 223–237.