Der Charme dieser Veröffentlichung liegt in der Verknüpfung zweier aktueller Stränge der Forschungsdiskussion zur deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich zum einen um die Entwicklung des Nationalismus als einer wirkmächtigen Integrationsideologie. Die Nation wird nicht mehr wie in der älteren Debatte als eine objektive Realerscheinung verstanden, sondern als eine subjektiven Idee, eine „gedachte Ordnung“1 und „imaginierte Gemeinschaft“2. Zum anderen nimmt der Autor die Forschung über die Durchsetzung des Historismus im frühen 19. Jahrhundert auf, liefert einen exemplarischen Beitrag zum Verständnis der Entfaltung der modernen Geschichtswissenschaft als einer eigenständigen Disziplin.3
Niklas Lenhard-Schramm untersucht die Interdependenz dieser beiden historischen Entwicklungen anhand von Geschichtsprofessoren, denen sich als Abgeordnete in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 die Chance eröffnete, ihre wissenschaftlichen Einsichten und akademischen Wertungen in der praktischen Politik umzusetzen. Unter den etwa 60 Professoren, die in der Paulskirche saßen, identifiziert der Autor im Anschluss an das von Best/Weege zusammengestellte „Biographische Handbuch“4 16 Hochschullehrer des Faches Geschichtswissenschaft. Aus dieser Gruppe hat er sechs Geschichtsprofessoren ausgewählt, wobei das Auswahlkriterium nicht nur das Vorliegen von Stellungnahmen zur nationalen Frage im weitesten Sinne ist, sondern auch eine Breite der politischen und landmannschaftlichen Orientierung angestrebt wird. Drei der sechs Geschichtsprofessoren erfreuen sich auch heute noch eines gewissen Bekanntheitsgrades. An ihrer Spitze stehen sicherlich Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860) und Johann Gustav Droysen (1808–1884), der Erstgenannte als Wortführer der Protestation der Göttinger Sieben gegen den Verfassungsbruch des hannoverschen Königs im Jahr 1837, der zweite durch sein Werk zur geschichtswissenschaftlichen Methodologie („Historik“). Das schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass zu diesen beiden Gelehrten in den letzten Jahren neue Biographien erschienen sind.5 Auch der Verfassungshistoriker Georg Waitz (1813–1886) ist bis heute ein geläufiger Name. Weniger bekannt sind die übrigen drei Geschichtsprofessoren, der demokratisch eingestellte Karl Hagen (1810–1868), der von seinem Heidelberger Extraordinariat in die Schweiz vertreiben wurde, der Leipziger Professor der historischen Hilfswissenschaften Heinrich Wuttke (1818–1876) und der Freiburger Geschichtsprofessor August Friedrich Gförer (1803–1861), der als vormaliger Repetent am Evangelisch-Theologischen Stift in Tübingen durch seine spätere Konversion zum Katholizismus Aufsehen erregte.
Im Mittelpunkt des Buches steht die historiographische Konstruktion der Nation durch diese sechs Geschichtsprofessoren. Lenhard-Schramm kann aufzeigen, dass ihnen allen gemeinsam ist, dass sie die Nation als ein überzeitliches Kollektivsubjekt verstehen, das auf essentialistischen Merkmalen wie der Gemeinsamkeit von Sprache, Religion oder Sitte aufbaut. Der deutschen Nation wird dabei aufgrund ihrer angenommenen geistig-kulturellen Überlegenheit der Vorrang eines auserwählten Volkes zugesprochen. Während diese nationalistischen Grundauffassungen mehr oder weniger von allen untersuchten Geschichtsprofessoren geteilt werden, sind sie im Hinblick auf die Führungsstellung in der deutschen Nation geteilter Meinung. Vier der Geschichtsprofessoren (Dahlmann, Droysen, Waitz und Wuttke) setzen auf die Führung Preußens im deutschen Einigungsprozess, Gförer hält am habsburgischen Kaisertum fest, während der Republikaner Hagen weder dem preußischen noch dem österreichische Herrscherhaus den Vorrang zuspricht.
Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz in der Untersuchung der Konstruktion von Nationen, dass sie auf Perzeptionen sowohl der Inklusion, meint der Zugehörigkeit von Bevölkerungsgruppen, als auch der Exklusion, das heißt des Ausschlusses von angeblich fremden Gruppen sowie der Frontstellung gegen bestimmte Nachbarvölker beruhen. So gehörte zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck der Terrorphase der französischen Revolution und der anschließenden napoleonischen Besetzung Deutschlands die Antipathie gegen die Franzosen zu den Gründungsimpulsen des deutschen Nationalismus. Als klassisches Beispiel einer solchen Konstruktion von Nationalfeindschaften führt Lenhard-Schramm zu Recht die bekannte Waterloo-Rede Dahlmanns vom 18. Juni 1815 an. Für die nachfolgenden Jahrzehnte arbeitet er anhand der Veröffentlichungen insbesondere Wuttkes heraus, wie die anfängliche Polenbegeisterung deutscher Intellektueller schon im Vormärz einer Polenphobie wich, ein Umschlag, der nicht erst durch die berüchtigte Rede Wilhelm Jordans in der Paulskirche am 24. Juli 1848 herbeigeführt wurde. Die zweite Grenzfrage, die bei der Formierung des deutschen Nationalismus eine zentrale Frage spielte, war die Auseinandersetzung um die Zugehörigkeit von Schleswig zum deutschen Staatsverband. Mit Dahlmann, Droysen und Waitz lehrten gleich drei der untersuchten Geschichtsprofessoren, die zu Wortführern der Integration Schleswigs in den deutschen Nationalverband wurden, zeitweise an der schleswig-holsteinischen Landesuniversität in Kiel. Es überzeugt, wie Lenhard-Schramm die vormärzlichen Publikationen der sechs Geschichtsprofessoren als Inkubation für ihre nationalistischen Stellungnahmen in der Nationalversammlung der Märzrevolution interpretiert. Doch sein anschließendes Referat der Verfassungsdiskussion in der Paulskirche mit über 60 Seiten ist eine langatmige Fleißarbeit. Sie hätte sich leicht auf den Grundgedanken reduzieren lassen, dass sich in der parlamentarischen Erörterung der Grundrechte, der Organisation der Reichsgewalt und der Abwägung zwischen einem groß- oder kleindeutschen Nationalstaat die Deutschen in einem doppelten Sinne des Wortes als Nation konstituierten.
Im abschließenden Kapitel fasst Niklas Lenhard-Schramm in konziser Weise die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen und gibt einen knappen Ausblick auf die Nachwirkung der von ihm untersuchten Geschichtsperiode. Der Vergleichsmethodik folgend, konstatiert er zwischen den von ihm untersuchten sechs Geschichtsprofessoren sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Zu den Divergenzen zwischen den Sechsen gehören die unterschiedlichen Feindbilder, aber auch die Vielfalt der von ihnen propagierten Staatsformen, wobei allerdings die Anhänger der konstitutionellen Monarchie dominierten. Doch bedeutsamer sind die eindeutigen Gemeinsamkeiten in den Konzeptionen der Geschichtsprofessoren in der Setzung der (deutschen) Nation als dem zentralen historisch-politischen Wert.6 Das zentrale Ergebnis der Untersuchung von Lenhard-Schramm ist der Nachweis, dass dieses nationalistische Geschichts- und Weltbild sich bereits in den wissenschaftlichen und publizistischen Veröffentlichungen der Jahrzehnte vor 1848 ausprägte und während der Revolution lediglich in politischen Stellungnahmen umgesetzt wurde. Damit entsprechen die sechs Hochschullehrer, so resümiert Lenhard-Schramm zu Recht, dem Sozialtypus des „politischen Professors“, für den sich Wissenschaft und Politik verbinden, ja eine Einheit darstellen.7
Und schließlich ist das wichtigste Ergebnis des Buches von Lenhard-Schramm bereits in seinem Buchtitel angekündigt: Die Professoren und insbesondere die Geschichtsprofessoren waren in der deutschen Revolution von 1848/49 die „Konstrukteure der Nation“, prägten mit ihrer historischen Fachkompetenz als nationale Avantgarde den politisch-parlamentarischen Diskurs. Das letztendliche Scheitern der Verfassungsbemühungen von 1848/49 führte daher auch zum Ende dieser bis dahin unangefochtenen Führungsstellung der Hochschullehrer in der politischen Öffentlichkeit.
Der Rezensent hat nur ein inhaltliches Manko in dieser Veröffentlichung festzustellen. Das ist der Gesamteindruck des Textes, dass es sich bei der Führungsstellung von Professoren und insbesondere Geschichtsprofessoren in der Entwicklung des Nationalismus während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts um ein spezifisch deutsches Phänomen gehandelt habe. Lenhard-Schramm verweist zwar auf die Arbeiten von Miroslaw Hroch, der aufbauend auf seinem bahnbrechenden Buch von 1968 zu den nationalen Bewegungen bei den kleineren Völkern Europas 2005 die moderne Nationenbildung im europäischen Vergleich dargestellt hat.8 Auch erwähnt er einen einschlägigen Aufsatz des niederländischen Forschers Joep Leersen, doch ignoriert er dessen bahnbrechende kulturhistorische Arbeit von 2006 über die Entwicklung des nationalen Gedankens im Europa des frühen 19. Jahrhundert und das laufende Projekt einer „Encyclopedia of Romantic Nationalism in Europe“ (ERNiE), in dem schon jetzt die Breite der europäischen Nationalbewegungen überdeutlich wird.9 Der Rezensent vermutet, dass sich diese Beschränkung in Inhalt und Bewertung auf eine methodologische Entgegensetzung von älteren Forschungsrichtungen zum Phänomen der Nationsbildung10 und jüngeren, sich fortschrittlicher gebenden Arbeiten zum Nationalismus als einer ideologischen Bewegung zurückführt. Diese nach Meinung des Rezensenten bedauernswerte Entgegensetzung deutet sich bei Lenhard-Schramm zwischen den Zeilen an.
Insgesamt zeichnet sich das Buch von Niklas Lenhard-Schramm durch eine überbordende Gelehrsamkeit aus. Nicht nur eine große Fülle von Quellenmaterial vor allem aus den Veröffentlichungen der sechs Geschichtsprofessoren, sondern auch die umfangreiche einschlägige Forschungsliteratur wird sehr präzise und vollständig verarbeitet, ist im doppelten Wortsinne oft erschöpfend. Das ist umso mehr zu bewundern, als das Buch „nur“ auf einer Münsteraner Masterarbeit beruht. Sie hat zu Recht ihre Veröffentlichung in einem für die geschichtswissenschaftliche Diskussion renommierten Verlag verdient.
Anmerkungen:
1 M. Rainer Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: Heinrich A. Winkler (Hrsg.), Nationalismus in der Welt von heute, Göttingen 1982, S. 12–27.
2 So die Übersetzung des englischen Originaltitels der Veröffentlichung von Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. Der Titel der deutschen Übersetzung dieses bahnbrechenden Buches (Die Erfindung der Nation, Frankfurt am Main 1988, erweiterte Neuausgabe 1996) ist eher irreführend.
3 Dabei sind vor allem die Arbeiten von Ulrich Muhlack wegweisend, zum Beispiel dessen Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band: Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 7–17.
4 Heinrich Best/Wilhelm Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1996; Taschenbuchausgabe 1998.
5 Wilfried Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, und Wilhelm Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie, München 2010.
6 Die nationalistische Orientierung ist am schwächsten ausgeprägt bei Dahlmann. Bei diesem tritt das Nationale hinter dem Vorrang der Verfassungsordnung zurück, wie Lenhard-Schramm selbst konzediert, nachdem er zunächst den Nationalstaat als „Kernanliegen“ Dahlmanns behauptet (S. 85). Dieser Einsicht stimmt der Rezensent als Dahlmann-Biograph uneingeschränkt zu, auch wenn ihm die Erklärung Lenhard-Schramms (S. 83 mit Anm. 284), das Themenfeld der Nation sei nach 1820 in den Schriften Dahlmanns wegen der inhaltlichen Ausrichtung seiner Professoren zurückgetreten, ziemlich hergeholt erscheint.
7 Vgl. neben vielen Arbeiten zu diesem Thema insbesondere Ulrich Muhlack, Der „politische Professor“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Roland Burkholtz / Christel Gärtner / Ferdinand Zehentreiter (Hrsg.), Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann, Göttingen 2004, S. 185–204.
8 Miroslav Hroch, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung patriotischer Gruppen, Prag 1968, und ders., Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005.
9 Joep Leersen, National Thought in Europe. A Cultural History, Amsterdam 2006. Zu dem groß angelegten Projekt der “Encyclopedia of Romantic Nationalism in Europe” siehe die Study Platform of Interlocking Nationalism: <http://www.spinnet.eu/> (01.06.2015).
10 Immer noch grundlegend Karl W. Deutsch, Nationalism and Communication. An inquiry into the foundations of nationality, Cambridge/Mass 1953, 2nd ed. 1966.