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Titel
"Atomkraft – nein danke!". Der lange Weg zum Ausstieg


Autor(en)
Sternstein, Wolfgang
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Brandes & Apsel Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sibylle Marti, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Im November 2011, acht Monate nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima, widmete sich eine Ausgabe der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Frage nach dem möglichen Ende des Atomzeitalters. Der emeritierte Bielefelder Technik- und Umwelthistoriker Joachim Radkau verfasste dafür „Eine kurze Geschichte der deutschen Antiatomkraftbewegung“, wobei er hinsichtlich des Forschungsstands festhielt, die Geschichte dieser Bewegung sei „längst nicht so gut erforscht, wie man in Anbetracht ihrer historischen Tragweite und faszinierenden Neuartigkeit erwarten könnte“1. Auch das hier zu besprechende, im Jahr 2013 bei Brandes & Apsel erschienene Buch von Wolfgang Sternstein mit dem Titel „‚Atomkraft – nein danke!‘ Der lange Weg zum Ausstieg“ vermag diese Forschungslücke nicht zu füllen.

Ziel von Sternsteins Darstellung, so der Klappentext auf der Rückseite des 240 Seiten umfassenden, mit zahlreichen schwarz-weiß Fotografien und der Abbildung einiger Quellendokumente versehenen Buches, ist eine „Analyse der Bürgerbewegung von Wyhl bis Gorleben“ sowie eine Beschreibung von „erfolgreichen Methoden und Strategien gewaltfreier Aktionen“. Nach einer kurzen Vorgeschichte zeichnet Sternstein in sieben Kapiteln wichtige Stationen und Ereignisse der bundesdeutschen Anti-Atomkraft-Bewegung der siebziger und achtziger Jahre nach, gefolgt von einer Zusammenfassung. Schwerpunkte seiner Darstellung liegen dabei auf dem Widerstand gegen das geplante Kernkraftwerk in Wyhl am Oberrhein und gegen die Wiederaufbereitungsanlage im niedersächsischen Gorleben, sowie auf der innerhalb der Bewegung ausgetragenen Kontroverse über die Frage der Legitimität der Gewaltanwendung im Widerstand.

Autor Wolfgang Sternstein, promovierter Friedens- und Konfliktforscher aus Stuttgart und ein Urgestein der bundesdeutschen Anti-Atomkraft-Bewegung, formuliert in seinem Buch zwei Hauptthesen: Erstens ist, so Sternstein, der von Deutschland beschlossene Ausstieg aus der Atomenergie hauptsächlich auf den „Protest und Widerstand breiter Bevölkerungskreise, insbesondere der Landbevölkerung, die vom Bau atomarer Anlagen unmittelbar betroffen war“, zurückzuführen (S. 22). Zweitens – und mit dem ersten Punkt verbunden – war die Anti-Atomkraft-Bewegung laut Sternstein immer dann erfolgreich, wenn sie als breite, nicht-militante Bürgerbewegung den gewaltfreien Widerstand in der Tradition von Mahatma Gandhi und Martin Luther King praktizierte. Und umgekehrt: Immer dann, wenn militante, linksradikale, die Gewaltfreiheit kritisierende Kräfte die Bewegung dominierten, war die Anti-Atomkraft-Bewegung erfolglos und drohte, gespalten zu werden oder gar zu zerfallen. Dies führt Sternstein zu dem Schluss, den Weg der Gewaltfreiheit als „Königsweg“ zu bezeichnen, der „schon viel früher zum Ziel geführt [hätte], hätten die Mitglieder der Bewegung sich auf ihn verständigen können“ (S. 225, im Original kursiv). Seine Darstellung liest sich denn auch weniger als Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung denn als Plädoyer für den gewaltfreien Widerstand, der zwar zivilen Ungehorsam und illegale Aktionen ein-, jegliche Form von Gewaltanwendung jedoch ausschließt und Militanz damit grundsätzlich vehement ablehnt.

Sternstein verfolgt mit seinem Buch offensichtlich keinen wissenschaftlichen Anspruch, jedenfalls finden sich praktisch keine Quellenbelege, keine Fragestellung, kein methodisch geleitetes Vorgehen und kein analytisch geschärftes Vokabular. Aussagen, Befunde oder Kausalitäten werden nur selten empirisch gestützt, es dominiert die Darstellung der Ereignisse aus Sternsteins Perspektive, die stark normativ, bisweilen anekdotisch gehalten ist. Eine Einordnung seiner Interpretation in die neuere Forschungsliteratur aus dem Bereich der Umweltgeschichte und der Bewegungsforschung fehlt ebenfalls gänzlich.2

Leider sind auch Sternsteins Hauptthesen wenig überzeugend. Zweifellos stellte der zivilgesellschaftliche Widerstand einen wesentlichen Grund dafür dar, dass bestimmte Atomprojekte nicht oder zumindest nicht vollständig verwirklicht wurden. Durch den einseitigen Fokus auf die Aktivitäten der Bewegung verliert Sternstein andere Erklärungsfaktoren jedoch größtenteils aus dem Blick. Demgegenüber hielt Radkau im eingangs erwähnten Artikel zur Geschichte der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung fest: „Vom Anfang bis heute ist deutlich zu erkennen, dass sich die Dauerhaftigkeit und der Erfolg der deutschen Antiatomkraftbewegung nicht nur aus inneren Strukturen des Protests erklären, sondern auch aus Wechselwirkungen zwischen Bürgerprotest, Medien, Politik, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft“3. Zu einer ähnlich differenzierten Einschätzung gelangt der Zürcher Historiker Patrick Kupper im Hinblick auf das gescheiterte Atomkraftwerkprojekt im schweizerischen Kaiseraugst – ein mit dem Kernkraftwerkprojekt in Wyhl durchaus vergleichbarer Fall, wie auch Sternstein anmerkt. Kupper führt für das Scheitern dieses Atomkraftwerkprojektes neben dem – übrigens keineswegs nur gewaltfreien – Widerstand denn auch eine ganze Reihe weiterer Gründe, unter anderem die Fehleinschätzung unternehmerischer Risiken, die Struktur der schweizerischen Atomprojektlandschaft und die Pfadabhängigkeit des geplanten AKW-Projektes, an.4

Sternsteins Befund, die Erfolge der Bewegung hätten auf der Praxis des gewaltfreien Widerstands gefußt, ist zwar sympathisch, als Erklärung aber ebenfalls wenig befriedigend. Aus seiner Aktivistenperspektive übersieht Sternstein weitgehend, dass ‚Erfolge‘ des gewaltfreien Protests – ebenso wie ‚Misserfolge‘ der militanten AKW-Gegner – nur in bestimmten historischen Konstellationen möglich waren, die einer detaillierten und multiperspektivischen Untersuchung bedürfen.

Was also können Historikerinnen und Historiker aus einem Buch lernen, das weniger einen Beitrag zur Forschungsliteratur als vielmehr eine Ergänzung zur (Selbst-)Dokumentation der Bewegung darstellt?5 Da eine umfassende Aufarbeitung der (deutschen) Anti-Atomkraft-Bewegung noch ausstehend ist, könnten die in Sternsteins Buch angesprochenen Themen Ausgangspunkte für historische Studien bilden. Dies gilt beispielsweise für die Frage der Resonanz unterschiedlicher Protestformen, der (Dis-)Kontinuitäten und Parallelitäten der Anti-Atomkraft-Bewegung zur Anti-Atom- bzw. Friedensbewegung der fünfziger und der achtziger Jahre, der Verbindungen der Anti-Atomkraft-Bewegung zu den Neuen Sozialen Bewegungen, der Außerparlamentarischen Opposition und der 68er-Bewegung, der Entstehung der Grünen aus der Umweltbewegung und des Einflusses der Kriegserfahrung als Protestmotiv. Dabei käme der transnationalen Dimension der Bewegung – das wird aus Sternsteins Darstellung deutlich – eine wesentliche Rolle zu.

Wolfgang Sternsteins Buch ergänzt die Dokumentationen aus dem Innern der Bewegung, zeichnet ein jahrzehntelanges, bemerkenswertes politisches Engagement nach und kann mitunter als praktischer Leitfaden für heutige Bürgerinitiativen dienen. Es macht weitere geschichtswissenschaftliche Forschungen jedoch keineswegs überflüssig, sondern regt vielmehr dazu an, die Anti-Atomkraft-Bewegung aus einer transnationalen Perspektive einer systematischen historischen Analyse zu unterziehen.

Anmerkungen:
1 Joachim Radkau, Eine kurze Geschichte der deutschen Antiatombewegung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 61 (2011), Nr. 46–47, S. 7–15, hier S. 7.
2 Eine globale Perspektive auf die Geschichte der Umweltbewegung bietet Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie – Eine Weltgeschichte, München 2011.
3 Radkau, Eine kurze Geschichte, S. 12.
4 Patrick Kupper, Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst, Zürich 2003.
5 Vgl. bspw. jüngst in der Reihe „Bibliothek des Widerstands“ im Laika Verlag: Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv, 5 Bde., Hamburg 2011–2014 (der fünfte und abschließende Band soll noch dieses Jahr erscheinen).

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