Die Reaktorunfälle von Fukushima haben einmal mehr bewiesen, dass es offenbar Katastrophen bedarf, um auf die Probleme, die mit der Nutzung der Atomenergie verbunden sind, aufmerksam zu machen. Wenn diese Katastrophen sich allerdings nur schwer räumlich und zeitlich eingrenzen lassen, keine eindeutigen Bilder produzieren, nicht in Echtzeit an den Bildschirmen mitverfolgt werden können und über keine transnational mobilisierende Lobby verfügen, haben sie es schwer, überhaupt als solche wahrgenommen zu werden. Wenig entscheidend ist dabei, ob die Folgen bis in die Gegenwart andauern und auch die Zukunft der jeweiligen Region bestimmen.
Ein beeindruckendes und teilweise verstörendes Korrektiv zu diesem Trend ist das 2013 erschienene Buch „Plutopia“ von Kate Brown. Die Historikerin widmet sich gleichzeitig zwei schleichenden nuklearen Katastrophenfällen, die sich nicht nur im geographischen Abseits zweier sich im Kalten Krieg gegenüberstehender Fronten befanden, sondern ungeachtet ihres Ausmaßes (jeweils „zweifaches Tschernobyl“) auch im Abseits des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses. Im Mittelpunkt von Browns Buch stehen dabei nicht wie zu erwarten die „nuclear wastelands“, wie sie unter anderen Valerie Kuletz1 für den Westen der USA beschrieben hat, sondern viel mehr die im öffentlichen Diskurs oft verschwiegenen, weil auch unbequemen und paradoxen Begleiterscheinungen des „ground zero of nuclear Armageddon“ (S. 336): Die Plutoniumfabriken. Diese produzierten nicht nur tödliches Waffenmaterial und Umweltkatastrophen unfassbaren Ausmaßes, sondern waren zugleich auch Horte der Sicherheit und Glückseligkeit.
„Plutopia“ steht für die ersten beiden „Plutoniumstädte“ der Welt: Richland im nordwestlichen US-amerikanischen Bundesstaat Washington und Ozersk (auch bekannt als Tscheljabinsk-40 und später Tscheljabinsk-65) im südlichen Teil des Urals. Als Annexe zu den ersten beiden Plutoniumfabriken Hanford und Majak entstanden diese Enklaven des Wohlstands, diese „unique, limited-access, aspirational communities“ (S. 4) inmitten einer durch die fahrlässig betriebene Plutoniumproduktion zunehmend kontaminierten und unbewohnbar werdenden Umgebung. In den „Plutopias“ lebten Arbeiter/innen de facto ein exklusives Mittelklasseleben, durch Zäune und Zugangsbeschränkungen getrennt von denen, die in einfachsten Siedlungen und auch Arbeits- und Gefangenlagern nicht mit „sauberen“ Lebensmitteln versorgt und gesundheitlich überwacht, sondern zu den schmutzigsten Aufgaben wie Aufräumarbeiten nach Unfällen herangezogen wurden.
Frappierend daran: Sowohl in Ost als auch in West wurde derart vorgegangen. Wären da nicht die Ortsnamen und bestimmte Codes, ließe sich in den dichten Beschreibungen Browns manchmal kaum unterscheiden, von welcher Seite des Kalten Krieges gerade die Rede ist. Die Parallelen, die beide Siedlungen aufweisen, die Abbilder, die sie voneinander schufen, werden von der Autorin plastisch und überzeugend dargestellt. Es sind Gemeinsamkeiten, die politische Ideologien und nationale Kulturen überschritten, die aus der „Natur“ der (militärischen) Nutzung der Radioaktivität selbst herrührten – den Risiken und komplexen Unsicherheiten, die unmittelbar damit verbunden sind und den daraus abgeleiteten Komplexen der Nuklearsicherheit und -spionage. Dies aufzuzeigen, ist das größte Verdienst des Buches. Während es mittlerweile fast zum geistes- und sozialwissenschaftlichen Standardrepertoire gehört, den transnationalen Charakter atomarer Wolken oder Meeresströme (und deren Folgen) zu betonen, geht Brown an die Wurzel des Problems und schlüsselt auf, „how plutonium bound lives together across the Cold War divide“ (S. 8).
In vier Hauptteilen untersucht Brown, warum selbst Arbeiter/innen und Angestellte mit hohem Bildungsgrad jahrzehntelang die sie umgebende massive Umweltverschmutzung ignorierten und warum die Einwohner/innen der „plutonium cities“ freiwillig staatsbürgerliche, biologische und politische Rechte gegen Konsum und Wohlstand eintauschten – und das nicht nur in der Sowjetunion, wo die Versuchung angesichts des allgemeinen Mangels weitaus größer gewesen sein mochte, sondern auch in den Vereinigten Staaten.
Die ersten beiden Teile des Buches widmen sich der Aufbauphase der Plutoniumfabriken in Richland und Ozersk zwischen 1943 bis 1946. Beginnend mit dem nordamerikanischen Vorreiter analysiert Brown den Umgang mit den Herausforderungen, die die Situierung der geheimen Fabriken in entlegenen, wenig erschlossenen Gebieten mit kaum vorhandenen Arbeitskräften mit sich brachte. Sie zeichnet nach, wie sich in nur zweieinhalb Jahren seit der Grundsteinlegung das zunehmend verstaatlichte Richland, das zuvor einen „certain scent of failure“ (S. 16) verbreitet hatte, von einem offenen Arbeitslager, dem die Arbeiter/innen massenweise davon liefen und in dem trotzdem an einer Mexikaner/innen und Afro-Amerikaner/innen diskriminierenden Einstellungspolitik festgehalten wurde, in eine mustergültige, weiße Mittelklassestadt ohne Mittelklasse wandelte.
Eine noch wagemutigere Standortwahl ohne jegliche Infrastruktur und mit einem großen Mangel an Materialien sowie Arbeitskräften bei gleichzeitig schlechter Organisation führten auf der sowjetischen, kriegszerrütteten Nachzüglerseite dazu, dass es fast zehn Jahre dauerte, bis das sowjetische „Plutopia“ nach amerikanischem Muster fertig gestellt war. Dabei herrschte alles andere als eine „sozialistische Ordnung“. Der Aufbau des hochgeheimen Objektes glich einer „Sicherheitskatastrophe“, geprägt von Chaos, Korruption und Anarchie (S. 96ff.) In den ersten Jahren schufteten GULag-Zwangsarbeiter/innen und Strafgefangene unter brutalsten Bedingungen. Sie hatten ihr eigenes Regime installiert, das schnell außer Kontrolle geriet. Selbst die geschlossene Stadt, die im Herbst 1947 als Gegengewicht zu den Lagern aus dem Boden gestampft wurde, konnte dem vorerst wenig entgegenwirken. Es bedurfte der Amnestien nach Stalins Tod und der Installation einer „first class socialist city“ (S. 138) mit für sowjetische Verhältnisse außergewöhnlichen Investitionen in Wohnraum, Konsumgüterversorgung und Freizeitangeboten, um das Problem auf Dauer zu lösen.
Unter dem Titel „The Plutonium Disasters“ untersucht Brown im dritten Hauptteil des Buches nicht nur den Unfall von Majak 1957 (auch bekannt als Kyshtym-Unfall), sondern widmet sich auch der Umweltverseuchung durch die Plutoniumproduktion insgesamt. Nahezu alltägliche kleinere und größere Störfälle summierten sich zu schleichenden Katastrophen für Menschen, Tier und Umwelt. Zudem geht sie detailliert auf die Praktiken medizinischer Untersuchungen und Überwachung auf beiden Seiten ein. Oft blieben deren Ergebnisse, soweit sie nicht geschönt wurden, folgenlos. Beispielsweise wurde bereits 1951 entdeckt, dass der an das Majak-Werk angrenzende Techa-Fluss hochgradig radioaktiv kontaminiert war. Die Evakuierung der Menschen, die am und vom Fluss lebten, verzögerte sich jedoch um mehrere Jahre oder fand niemals statt. Die Autorin erwähnt dabei auch die Ambiguität von medizinischen Untersuchungen – nicht nur im Bereich der Radiologie: „Medical diagnoses obscure as much as they reveal about complex medical realities.“ (S. 176)2 Sie scheut sich nicht, Widersprüche aufzuzeigen und persönliche Reflektionen darüber in das Narrativ des Buches zu integrieren.
Die Zeit nach der Zäsur „Tschernobyl“ steht im Mittelpunkt des vierten Hauptteils von „Plutopia“. Nach der Explosion des Reaktors im April 1986 waren die gut ausgebildeten Spezialisten und Spezialistinnen aus Ozersk die ersten vor Ort, die Messungen vornahmen und mit improvisierten Mitteln versuchten, die Ersthelfer und Aufräumarbeiter/innen aufzuklären und notdürftig zu schützen. Die Explosion hatte nicht nur weite Teile Europas verseucht, sondern auch den Glauben an die Sicherheit der Technologie und des Umgangs mit radioaktiven Stoffen selbst weit über Europas Grenzen hinaus ins Wanken gebracht. Das rasant angestiegene Bewusstsein für die Gefahren führte dazu, dass sich nun neben Anti-AKW-Initiativen auch Opfergruppen um die „Plutoniumstädte“ herum in den USA und der Sowjetunion sowie ihren Nachfolgestaaten formierten. In den Städten selbst indes zeigte sich das Paradox, dass diejenigen, die am stärksten betroffen waren, oft jene waren, die die Gefahren am heftigsten leugneten – um überleben oder zumindest in Ruhe sterben zu können. Glückliche Kindheitserinnerungen wogen dabei – wie so oft – stärker als ökologische oder politische Realitäten. Die verschiedenen Formen der Zuschreibung oder Ablehnung von radioaktiver Verstrahlung als Krankheitsursache zeigen dabei sehr deutlich, dass jedes Wissen über die Auswirkungen von Radioaktivität auf den menschlichen Organismus begrenzt ist (S. 312).
Kate Browns systemübergreifende „Tandem“-Studie (S. 4), die weder Unterschiede verschleiert noch Ambiguitäten glättet, ist ein wichtiger Beitrag in der Katastrophen-, Umwelt- und Wissensgeschichte. Darüber hinaus bieten die zahlreichen nahezu anthropologischen Einblicke in die Forschungsmethoden der Historikerin, die expliziter Teil des Narrativs sind (und das Buch besonders lesenswert machen!), viele Anknüpfungspunkte, um nicht nur darüber zu reflektieren, wie wir Geschichte schreiben, sondern auch, wie wir sie erzählen, wenn sie so voller Widersprüche ist, wie es die Geschichte der Auswirkungen atomarer Katastrophen ist.
Anmerkungen:
1 Valerie Kuletz, The Tainted Desert. Environmental and Social Ruin in the American West, New York 1998.
2 Vgl. dazu auch die hervorragende Studie der Anthropologin S. Lochlann Jain, Malignant. How Cancer Becomes Us, Berkeley 2013.