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R. E. Lee (Hrsg.): The Longue Durée and World-Systems Analysis

Cover
Titel
The Longue Durée and World-Systems Analysis.


Herausgeber
Lee, Richard E.
Reihe
Fernand Braudel Center Studies in Historical Social Science
Erschienen
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 69,67
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Andrea Komlosy, Universität Wien

Im Jahr 1958 veröffentlichte Fernand Braudel den Aufsatz „Histoire et Sciences Sociales: La Longue Durée“.1 50 Jahre später, 2008, fand am Fernand Braudel Center (FBC) an der State University New York (SUNY) in Binghamton eine Konferenz statt, die die Bedeutung von Braudels Konzept multipler Temporalität für die Weltsystem-Analyse thematisierte.

Der 2012 erschienene Konferenzband stellt aktuelle Beiträge weltsystemischer Forschung im Lichte der methodischen Leitlinien Braudels für den Umgang mit Raum und Zeit vor. Überraschenderweise verrät der Band nichts über das Fernand Braudel Center sowie die Wirkungsstätten und Schwerpunkte der Autoren. Er enthält eine Einleitung und einen Beitrag von Richard E. Lee (FBC, SUNY Binghamton), weiter Beiträge von Dale Tomich (FBC), Peter Taylor (Loughborough University, UK), Jason Moore (FBC), Wilma A. Dunaway (Virginia Polytechnical Institute Blacksburg), Philip McMichael (Cornell University Ithaca), Ravi Arvind Palat (SUNY Binghamton), Erich Mielants (Fairfield University) und José da Mota Lopes (Absolvent SUNY Binghamton). Lee, Tomich, Moore (Historiker) und Palat (Soziologe) gehören zum Kern der Weltsystemforschung der SUNY, alle anderen kooperieren eng mit dieser Institution, die 1976 von Terence K. Hopkins und Immanuel Wallerstein gegründet wurde und als das eigentliche Laboratorium der Weltsystem-Analyse gilt. Braudel lieh ihr seinen Namen und nahm an der Eröffnung teil.

Alle Beiträge setzen sich, aus der Perspektive des jeweiligen Forschungshintergrunds, mit dem von Braudel formulierten Anspruch auseinander, die engen methodischen Reviere der Disziplinen zu überwinden, also anstatt Geschichtswissenschaften als zuständig für die Ereignisse der Vergangenheit, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften für die Strukturen der Gegenwart bzw. für ahistorisch-zeitlose Modellierung, Geographie für räumliche Unterschiede und die Anthropologie für die Erforschung traditioneller Kulturen zu begreifen, diese Fragmentierung zugunsten einer integrierten, Disziplinen übergreifenden historischen Sozialwissenschaft zu überwinden. Braudel schlug zu diesem Behufe in seinem Aufsatz ein integriertes raum-zeitliches Verfahren vor, das Zeit und Raum als soziale Konstrukte begriff. Darin stellen Ereignis (kurzfristige, episodische Zeit), zyklische Bewegungen (mittelfristige, konjunkturelle Zeit), langfristige Kontinuitäten und Veränderungen (longue durée) keine Gegensätze dar, sondern sind Ausdruck unterschiedlicher Perspektiven auf die soziale Wirklichkeit, die sich nur durch den Wechsel und die Kombination der Perspektiven und Ausschnitte erfassen lasse. Jeder historischen Zeit entspricht ein räumlicher Einzugsbereich bzw. Aktionsradius, der die Wahl der räumlichen Ebene eng mit der jeweils gewählten zeitlichen Dimension in Beziehung setzt. Darüber hinaus führte Braudel noch die Dimension der sehr, sehr langen Dauer ein, quasi anthropologische Grundkonstanten.

Braudels Aufsatz wurde von Immanuel Wallerstein neu übersetzt, in der Zeitschrift Review FBC 2009 (32, 2) veröffentlicht und dem Konferenzband als Appendix beigegeben. Damit wird er vom Fernand Braudel Center quasi in Besitz genommen. Wallerstein hat sich in früheren Publikationen ausführlich mit Braudels raum-zeitlichem Mehrebenensystem auseinandergesetzt und es als zentralen methodischen Ansatz für Weltsystem-Forschung herausgestellt.2 Seine Vorstellung eines historischen Kapitalismus, der sich an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert aus der Krise des europäischen Spätmittelalters herauskristallisierte, in der Folge zu einem die ganze Welt erfassenden System mit wechselnden Zentren und hegemonialen Führungsmächten verdichtete und an der Schwelle vom 20. zum 21. seine Fähigkeit zur systemimmanenten Überwindungen von Krisen und Widersprüchen eingebüßt hat, baut maßgeblich auf der Braudelschen Vorstellung der langen Dauer, gleichzeitig aber auch der Endlichkeit historischer Systeme auf.

In diesem Band fällt die Aufgabe der Interpretation Richard E. Lee und Dale Tomich zu, den beiden Direktoren des FBC. Tomich fasst die Essenz der Braudelschen Methodologie zusammen: es gehe darum, ständig zwischen verschiedenen Analyseebenen hin- und herzuwechseln, um die Komplexität raum-zeitlicher Verhältnisse zu erfassen (S. 30).
Er stellt zudem die seriellen ökonomischen Zeitreihen in der Tradition von Ernest Labrousse, die in den 1950er und 1960er Jahren das Aushängeschild der Annales-Schule darstellten, und die italienische Microhistoria, die sich in den 1980er und 1990er Jahren dieser quantifizierenden Tendenz der historischen Sozialwissenschaft vehement entgegenstellte, sowie den Einzelfall, das Ereignis als Totalität der Erkenntnis privilegierte, als zwei Extreme dar. Es gehe jedoch nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern beides zusammenzuführen - ganz im Sinne einer „Sanduhr, die immer wieder gedreht wird, vom Ereignis zur Struktur, und dann wieder von den Strukturen und Modellen zum Ereignis“ (Braudel 1958/2012, S. 274).
Lee setzt sich mit „Superstrukturen“ auseinander, die er nicht als Überbauphänomene verstanden wissen will, sondern als Ausdruck der longe durée von Wissenskulturen im kapitalistischen Weltsystem. Er stellt der strukturellen Ungleichheit auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene die Weltsicht- und Deutungsebene der europäischen Aufklärung gegenüber, die im Sinne von Descartes Vernunft von Moral trennte und für deren wissenschaftliche Erschließung mit Natur- und Geisteswissenschaft unterschiedliche Analyseinstrumente entwickelte. Immanuel Wallerstein hat diesen unterschiedlichen Wissenskulturen in seinen späteren Werken große Bedeutung zugemessen, zuletzt im vierten Band seines „Modernen Weltsystems.“3

Jason W. Moore und Philip McMichael erschließen in ihren Beiträgen die konzeptuelle Spaltung von Natur und Kultur, die den aneignenden Zugriff des Kapitals auf alles, was zur Natur erklärt wurde, im Sinne des zivilisatorischen Fortschritts legitimierte. Damit werden Ökologie und Nachhaltigkeit, aber auch der Grenzen des Wachstums als zentrale Elemente in die Weltsystem-Forschung eingeführt und der Prozess der Inkorporierung neuer Regionen und Felder in das System als Vorantreiben von commodity frontiers gefasst.

Moore und Ravi Arvind Palat stellen mit dem Nord- und Ostseeraum einerseits und dem Indischen Ozean andererseits zwei Weltregionen vor, die sich in unterschiedlicher raum-zeitlicher Hinsicht in die longue durée des Weltsystems einschrieben. Die Ostsee stand bereits im Mittelalter in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis zu Westeuropa, das sich in der Zusammensetzung der Handelsgüter ausdrückte. Mit der niederländischen Hegemonie im 17. Jahrhundert wurde dieses verschärft und von regionalen in globale Strukturen überführt. Das über den Indischen Ozean mit Ostafrika integrierte Asien stellte demgegenüber ein eigenes Weltsystem dar, das erst im 18. bzw. 19. Jahrhundert unter britische Hegemonie geriet. Die unterschiedlichen Inkorporierungsverläufe sind Ausdruck der Vielfalt raum-zeitlicher Verhältnisse und ihrer Ungleichzeitigkeit.

Peter J. Taylor und Eric Mielants haben sich als Geograph bzw. Soziologe mit räumlicher Ungleichheit auf einer kleinräumigeren Ebene befasst, nämlich dem Verhältnis von Stadt und Umland. Indem sie kleinräumige Zentrum-Peripherie-Verhältnisse aufgreifen und mit innerstaatlicher und globaler Polarisierung in Beziehung setzen, tragen sie einem der wesentlichen Kritikpunkte am Weltsystem-Ansatz Rechnung, nämlich der Überbetonung staatlicher Einheiten bei der Analyse globaler Ungleichheit.

Wilma A. Dunaway repräsentiert in dem Band ein Thema, das am FBC einen der zentralen Forschungsschwerpunkte darstellt: die Herausbildung von Lohnarbeit, die Kombination und gegenseitige Stützung bezahlter und unbezahlter ArbeiterInnen im Familienhaushalt und die Folgen der unterschiedlicher Verteilung und Kombination von bezahlten und unbezahlten, freien und erzwungenen Arbeitsverhältnissen für die Weltwirtschaft. Sie fasst den Beitrag unbezahlter Arbeit im semiproletarischen Haushalt zusammen, wie er in den 1980er Jahren von den (damals) Bielefelder Subsistenzfeministinnen Claudia von Werlhof, Veronika Bennholdt-Thomsen und Maria Mies entwickelt und in der von Joan Smith und Wallerstein geleiteten Arbeitsgruppe am FBC aufgegriffen wurde. Dunaways Präsenz als einzige Frau unter den Autoren erinnert daran, dass Frauen zum harten Kern des FBC bis heute schwer Zugang finden.

Im letzten Beitrag macht José da Mota Lopes die seit 1998 alle 14 Tage erscheinenden, über Internet in 35 Sprachen verbreiteten Kommentare Immanuel Wallersteins zum Zeitgeschehen zum Gegenstand einer Reflexion zum Verhältnis von tagespolitischem Ereignis und seiner Deutung vom dem Hintergrund der longue durée. Es ist eine Hommage an den großen Meister.

Insgesamt lässt sich der Band als Akt der Selbstvergewisserung des Fernand Braudel Centers sehen. In den ersten 20 Jahren seiner Existenz war dieses ein lebendiger Hort für die Entwicklung eines Forschungsansatzes, der international Furore machte, Forschende aus aller Welt anzog und durch die erfolgreiche Disseminierung und Ausdifferenzierung, nicht zuletzt auch durch die vielfältig geäußerte Kritik daran zu einer nicht mehr wegzudenkenden Methode in den historischen Sozialwissenschaften wurde. Seit Ende der 1990er Jahre verlor das FBC seinen prägenden Einfluss auf die Entwicklung der Weltsystem-Forschung, die in der Globalgeschichte gegenüber anderen Ansätzen zudem an Bedeutung einbüßte. Das Zentrum in Binghamton, das zeitgleich den Niedergang von einer industriellen Boom-Town zu einem Problemfall im Staat New York durchmachte, wurde durch Konflikte bzw. das Ausscheiden der Gründergeneration geschwächt: Terence K. Hopkins starb zwei Jahre nach seiner Pensionierung 1997, Giovanni Arrighi übersiedelte 1999 an die John Hopkins Universität, Andre Gunder Frank, ein zentraler Kooperationspartner und Koautor zahlreicher Publikationen, nahm den Perspektivenwechsel ernst und warf dem „Modernen Weltsystem“ Eurozentrismus vor, und Wallerstein nahm 1998 ein Professur in Yale an, fungierte allerdings noch bis 2004 als Direktor des FBC. Die Nachfolgegeneration konnte daher erst 2004 den Neustart in Angriff nehmen. Das Fernand Braudel Center muss sich ohne seine Leitsterne in der nicht mehr so großzügig ausgestatteten Universität SUNY Binghamton sowie in einer viel komplexeren US-weiten und internationalen Weltsystem- und Globalgeschichte-Landschaft positionieren und seine Funktion erst unter Beweis stellen. Die Konferenz und Publikation zu Braudel, longue durée und Weltsystemanalyse dient genau diesem Zweck.

Anmerkungen:
1 Annales Economies Societés Civilisations 13 (1958) 4, S. 725-53, dt.: Geschichte und Sozialwissenschaften: Die lange Dauer, in: Schriften zur Geschichte 1, Stuttgart 1992, S. 49-87.
2 Vgl. Immanuel Wallerstein, Die Sozialwissenschaften „kaputtdenken“. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, Weinheim 1995.
3 Immanuel Wallerstein, Das Moderne Weltsystem, Bd.: Der Siegeszug des Liberalismus 1789-1914, Wien 2012.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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