Das widerständige und oppositionelle Verhalten deutscher Eisenbahner hat in der historischen Forschung bislang kaum Interesse gefunden. Raul Hilberg beschäftigte sich schon 1976 mit der Funktion der Reichsbahn und dem Handeln der Reichsbahnelite bei der Deportation der europäischen Juden, während Alfred Mierzejewski knapp 25 Jahre später die Geschäftspolitik der Reichsbahn im „Dritten Reich“ und die Reichsbahnelite umfassend untersuchte und Klaus Hildebrand dem Verhältnis zwischen der Reichsbahnführung, der Regierung und der NSDAP einen längeren Beitrag widmete. Allen drei Untersuchungen war wegen ihres Fokus‘ auf die Elite der Bahnbeamten gemeinsam, dass sie die politischen Einstellungen, Verhaltensweisen und Wahrnehmungen der subalternen Bahnbeamten und der Eisenbahnarbeiter aus ihrer Forschungsperspektive überwiegend ausblendeten (Hilberg, Mierzejewski) oder ihnen nur sekundäre Bedeutung beimaßen (Hildebrand).1
Der Hauptautor, der anerkannte Eisenbahnhistoriker Alfred Gottwaldt vom Berliner Museum für Verkehr und Technik, hat sich vor allem mit einer biographischen Studie über den Reichsbahn-Generaldirektor (1925-1945) und Reichsverkehrsminister (1937-1945) Julius Dorpmüller sowie einer systematischen Darstellung der Deportationszüge aus dem Reich in die Ghettos und die Vernichtungslager einen Namen gemacht.2 Es ist das unausgesprochene, aber deutliche Ziel Gottwaldts und seiner Mitautorinnen und Mitautoren, den bislang noch wenig erforschten Widerstand von Eisenbahnern zusammenhängend und umfassend darzustellen, die Beteiligten zu ehren und im Sinne einer positiven Traditionsbildung Identifikationsfiguren für heutige und künftige Eisenbahner-Generationen zu schaffen.
Das von Mierzejewski dargestellte, vermeintlich unpolitische Fachbeamtentum und die widerstandslose Anpassung an die politischen Loyalitätsforderungen der nationalsozialistischen Herrschaft trafen zwar auf einen großen Teil der Beamten, keinesfalls aber auf alle Bahnarbeiter zu. Gerade die Eisenbahnarbeiter hatten sich bis 1933 in erheblichem Umfang im sozialdemokratischen „Einheitsverband der Eisenbahner Deutschlands“ (EdED) und in der kommunistischen „Revolutionären Gewerkschaftsopposition“ engagiert. Die Auseinandersetzungen mit nationalsozialistischen und deutschnationalen Bahnarbeitern endeten entgegen dem von der Reichsbahn-Spitze proklamierten Ideal des im Dienste unpolitischen Eisenbahners nicht vor den Türen der Dienststellen.
Gottwaldt und den übrigen Autorinnen und Autoren ist eine verdienstvolle biographiezentrierte Darstellung des widerständigen und oppositionellen Handelns von Eisenbahnern gelungen, die keine relevante Handlungsmotivation übersieht. Neben der unbedingten politischen Gegnerschaft von sozialdemokratischen, kommunistischen und zentrumsnahen Eisenbahnern bezieht der Band auch widerständiges und oppositionelles Handeln aus religiösen und säkular-humanistischen Motiven oder aus Mitleid mit verfolgten Juden ein. Lobenswert, da nicht unbedingt selbstverständlich, ist die gleichberechtigte Behandlung des kommunistischen Widerstands, der nach dem Ende der kommunistisch dominierten Traditionsbildung des antinazistischen Widerstands in der DDR dem Vergessen in der historischen Forschung und dem Verdrängen aus öffentlichen Gedenkräumen anheimzufallen drohte.
Ungeachtet der lebendigen und gründlich recherchierten biographischen Skizzen wäre bei der Darstellung des sozialdemokratischen und des kommunistischen Widerstands eine stärkere Einbeziehung der sich wandelnden Widerstandsstrategien der Exilvorstände von SPD und KPD und ihrer Folgen für die Organisation des Widerstandes wünschenswert gewesen. Die hohen Zahlen verhafteter Kommunisten erklären sich nicht allein durch die Professionalität und das Feindbild des nationalsozialistischen Polizeiapparats, sondern auch durch die Widerstandsstrategie des KPD-Politbüros. Bis 1936 versuchte die KPD, einen ebenso riskanten wie opferreichen Massenwiderstand mit einer gefährlich hohen Vernetzung ihrer Gruppen zu organisieren. Auf der Mikroebene der biographischen Skizzen wünscht man sich gelegentlich eine intensivere Darstellung der politischen, sozialen und kulturellen Milieukontexte und Erklärungen, ob die Arbeitswirklichkeit und die Unternehmenskultur der Reichsbahn widerständiges Handeln erschwerten oder erleichterten. Leser/-innen finden zu wenige Hinweise darauf, welche Rolle Denunziationen durch Kollegen für die Verfolgung widerständiger Eisenbahner spielten.
Zu den Stärken des Buchs gehört auch die Darstellung des reichsweiten Widerstandsnetzes des EdED unter der organisatorischen Leitung des exilierten sozialdemokratischen Gewerkschafters Hans Jahn. Dank der umfassenden finanziellen und logistischen Unterstützung durch die Internationale Transportarbeiter-Förderation unter ihrem legendären Vorsitzenden Edo Fimmen gelang der Aufbau einer reichsweiten Widerstandsorganisation, die in der Geschichte der deutschen Gewerkschaften beispiellos war.
Dieses Buch ist insgesamt eher eine chronologische und additive Reihung von biographischen Skizzen widerständiger und oppositioneller Eisenbahner als eine systematische Studie von Opposition und Widerstand in der Reichsbahn. Gottwaldt und seine Mitarbeiter/-innen greifen leider nicht auf geläufige Definitionen des Widerstands-, Oppositions- und Resistenzbegriffs zurück, die eine systematische Einordnung der Motive und Mittel widerständigen Handelns und seiner Akteure erlaubt hätten. Fazit: Ein verdienstvolles und wertvolles Buch zur Geschichte des Widerstands, das leider nicht immer den Anschluss zu den Thesen und Ergebnisse der Widerstandsforschung findet.
Anmerkungen:
1 Raul Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz, Mainz 1976; Alfred C. Mierzejewski, The Most Valuable Asset of the Reich, Vol. 2, Chapel Hill 2000; Klaus Hildebrand, Die Deutsche Reichsbahn in der nationalsozialistischen Diktatur 1933-1945, in: Lothar Gall / Manfred Pohl (Hrsg.), Die Eisenbahn in Deutschland, München 1999, S. 165-243.
2 Alfred Gottwaldt / Diana Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; ders., Dorpmüllers Reichsbahn. Die Ära des Reichsverkehrsministers Julius Dorpmüller 1920-1945, Freiburg im Breisgau 2009.