Lengnau ging neben Endingen als eines der zwei schweizerischen Judendörfer in die Geschichte ein und ist als solches einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Historikerinnen Florence Guggenheim-Grünberg und Augusta Weldler-Steinberg arbeiteten in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Geschichte der zwei Dörfer erstmals wissenschaftlich auf und gaben der Historiographie der folgenden Jahrzehnte gleichzeitig die Themen vor: der Kampf des ländlichen Judentums um die politisch-rechtliche Gleichstellung und die Abwanderung in die größeren Städte nach 1877.1 Spätere Arbeiten rückten vermehrt die judenfeindlichen Ressentiments der Mehrheitsbevölkerung in den Vordergrund und schufen damit eine klare Trennung zwischen der jüdischen und der christlichen Lebenswelt.2 Alexandra Binnenkade setzt sich in ihrer Dissertation zum Ziel, diese, ihrer Meinung nach konstruierte Segregation aufzulösen und ihr eine „durch Interaktion entstandene Kultur [entgegenzustellen], die dem Kontakt zwischen den Menschen und ihren Institutionen entsprang“ (S. 11).
Der im Titel erwähnte Begriff ‚Kontaktzonen‘ verweist auf die methodisch-theoretische Untermauerung der Arbeit. Binnenkade entlehnt ihn von der Amerikanistin Mary Louise Pratt, welche Kontaktzonen als soziale Räume versteht, in welchen sich Kulturen treffen, sich aneinander reiben und miteinander ringen; der Kulturkontakt findet dabei über Hierarchien hinweg statt.3 An dieser Stelle weist Binnenkade richtigerweise darauf hin, dass der Begriff leicht zu Beschönigungen der tatsächlichen Zustände verleiten kann, indem sie aber Störungen, Machtmissbrauch und das Aushandeln von Zugeständnissen gleichermaßen thematisiert, verhilft sie ihm durch kritische Reflexion zur nötigen analytischen Kraft.
Zonen sind Räume; der starke Raumbezug der Arbeit ist daher nur konsequent. Die Autorin greift den dörflichen Raum auf drei Ebenen: er war erstens Rahmen für die Interaktionen seiner Bewohner, zweitens war er Anlass für Beziehungen und er war drittens deren Abbild. Mit den Mitteln der dichten Beschreibung werden die Lebenswelt der christlichen und jüdischen Bewohner des Dorfes, die dortigen gesellschaftlichen Strukturen herausgearbeitet und in einen größeren Zusammenhang gestellt. Es geht ihr dabei nicht darum, den Ablauf von Ereignissen nachzuzeichnen (die wichtigsten Daten und Fakten sind in tabellarischer Form im Anhang angefügt, S. 281-284), sondern die Beziehungen zwischen den Akteuren zu untersuchen.
Neben den üblichen Bestandteilen, wie Fragestellung und Forschungslage, beinhaltet die Einleitung (Postkartenansichten, S. 9-36) auch eine kurze Abhandlung des Begriffs ‚Judendorf‘ (ein Begriff, der oftmals die falsche Assoziation von einer jüdischen Mehrheitsbevölkerung hervorruft) sowie eine knappe Einführung in die Geschichte des Kantons Aargau, der Schweiz und Europas im 19. Jahrhundert, mit einem klaren Fokus auf die jüdische Geschichte. Die folgenden vier Kapitel bieten thematische Einblicke in das dörfliche Beziehungsgefüge, ohne den Anspruch zu erheben, die Geschichte des Dorfes im 19. Jahrhundert lückenlos darzustellen. Drei Exkurse wurden zwischen die Kapitel geschoben. Diese drei Teile stehen, im ansonsten sehr schlüssig aufgebauten Buch, etwas im Leeren. Der erste zum englischen Suppenküchenentwickler Benjamin Thompson (Benjamin Thompson und die Reise einer Vision, S. 75-83) schließt zwar thematisch an die Problematik von Sparsuppen als Angriff auf die Dorf- respektive Gemeindeautonomie an, bringt aber nur wenig neuen Erkenntnisgewinn; die zwei späteren hingegen (Allianzen der Ordnung: Religion als Kontaktzone, S. 164-176, Kredit im 19. Jahrhundert in ländlichen Gebieten, S. 266-274) sind in ihrer Thematik derart spannungsgeladen, dass man sich als Leser eine ausführlichere Auseinandersetzung wünscht. Die vier Hauptkapitel ihrerseits sind so aufgebaut, dass der Kontakt respektive die Kontaktzonen auf unterschiedlichen Ebenen und anhand verschiedener Beispiele thematisiert und problematisiert werden.
Im ersten Kapitel (Armut und die Mikropraktiken der Differenz, S. 37-74) wird Kontakt im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdwahrnehmung dargestellt. Ein Brief von Samuel Cain Guggenheim, dem Präsidenten der jüdischen Lengnauer Armenfürsorge, an die kantonale Armenkommission aus dem Jahr 1847 steht im Zentrum des Kapitels. In diesem Schreiben wird geltend gemacht, dass die jüdische Gemeinde aufgrund der religiösen Speisevorschriften die als Maßnahme gegen die Hungersnot verordnete Sparsuppe nicht kochen könnte; der Kanton möge die Nahrungsmittel in einer anderen Form zur Verfügung stellen. Binnenkade leitet daraus ab, dass Guggenheim, offensichtlich annehmend, dass sein Kommunikationspartner zumindest rudimentäre Kenntnisse der jüdischen Speiseverordnungen besass, „[…] die kulturelle Differenz als argumentative Ressource [einsetzte]“ (S. 73). In der Tatsache, dass auch die christliche Gemeinde Lengnaus kein Interesse an der Sparsuppe zeigte, erkennt sie eine ‚Lengnauer Sicht‘ auf das Thema und trotz differenter religiöser Zugehörigkeit ein ähnliches Verständnis von sozialer und ökonomischer Effizienz. So ergibt sich auf der Ebene Armenverköstigung eine gemeinsame, durch die Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft bedingte Kultur (Dies ist auch vor dem Kontrastbild Endingens wichtig, wo sowohl die jüdische, wie auch die christliche Gemeinden keinerlei Einwände gegen die Sparsuppenpolitik des Kantons einbrachten).
Im zweiten Kapitel (Geografien des Kontakts, S. 84-163) stellt die Autorin die Frage ins Zentrum, wo(ran) im dörflichen Raum Kontakt sichtbar gemacht werden kann und wie der Raum genutzt wurde. Anhand von ausgewählten Orten (unter anderen: Häuser mit Doppeleingängen, Wirtshäuser, Waschhäuser und die Metzgerei), welche auf vier Ebenen betrachtet werden (Geräusche, S. 92-96; Zeiten, S. 97-108; Traditionen, S. 108-112; Bewegung, S. 113-119) gelingt es ihr, soziale Überschneidungen (die sowohl positiv wie auch negativ behaftet sein können) sichtbar zu machen. Die Überschneidungen konnten sowohl zu Vermischungen, also zur Entstehung einer dezidiert gemeinsamen Dorfkultur und -sprache führen, aber auch zu klaren Abgrenzungen, zum Beispiel anhand von Elementen der gelebten Religiosität.
Das dritte Kapitel (Grenzwerte, S. 177-242) vertieft die Thematik der Grenzen, indem danach gefragt wird, wann Grenzen erfahren wurden, wie sich diese auf das dörfliche Gefüge auswirkten, und inwiefern sie sich als Teil der Kontaktzonen analysieren lassen. Anhand der Beispiele ‚Endinger Katzenmusik‘ (physische und symbolische Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung im Jahr 1861, welche im Zusammenhang mit der angestrebten politisch-rechtlichen Gleichstellung der Juden im Kanton Aargau standen) und des sogenannten ‚Mannli-Sturms‘, (ein antijüdischer und antiemanzipatorischer Volksprotest, der zur Abwahl der Regierung führte) wird aufgezeigt, dass „Kontaktzonen nicht nur Orte des friedlichen Nebeneinanders [sind]“. Grenzen dienen dabei der Selbstabgrenzung, aber auch der Bestärkung von Gemeinsamkeiten (S. 241).
Im vierten Kapitel (Kredite, Medium der Kontaktzone, S. 243-274) wählt die Autorin das Fallbeispiel Geld, respektive Kredite, durchbricht aber die tradierte und nur selten hinterfragte Annahme, dass Juden immer Gläubiger und Händler, und Christen umgekehrt immer Schuldner und Kunden waren; das Kreditgeschäft war vielmehr ein Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten (S. 251-254). Geld wird von ihr dabei als Medium der Beziehungen zwischen Land und Stadt, und zwischen Juden und Christen (S. 263), also als Medium der Kontaktzonen verstanden. Dabei wird nochmals die Neutralität ihres Kontaktbegriffs evident – Interaktion impliziert weder Wertschätzung noch Anerkennung, sondern stellt in erster Linie fest, dass man für das 19. Jahrhundert nicht von getrennten Gesellschaftsgruppen ausgehen kann.
Trotz der kleinen Einwände ist es Binnenkade gelungen, einen neuen Blick auf die Geschichte der Juden und Christen in Lengnau zu werfen. Die Auswahl der einzelnen Beispiele lässt eine mikrohistorische und daher mehrschichtige Erarbeitung der dörflichen Lebenswelt zu, durch die Einbettung in die strukturellen Zusammenhänge verliert sich die Studie aber nicht in Details, sondern bietet gleichzeitig einen Überblick über die vielschichtigen Beziehungsnetze. Die theoretisch-methodischen Reflexionen, die Auswahl der Quellen und die Art, diese Quellen zu lesen, machen das Buch nicht nur für den engeren Kreis von Fachleuten interessant.
Anmerkungen:
1 Vgl. Florence Guggenheim-Grünberg, Vom Scheiterhaufen zur Emanzipation. Die Juden in der Schweiz vom 6. bis 19. Jahrhundert, in: Willy Guggenheim (Hrsg.), Juden in der Schweiz, Zürich 1982, S. 10-53; Augusta Weldler-Steinberg, Geschichte der Juden in der Schweiz. Vom 16. Jahrhundert bis nach der Emanzipation, Zürich 1966.
2 Siehe exemplarisch dazu: Aram Mattioli (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz 1848-1960, Zürich 1998.
3 Vgl. Mary Louise Pratt, Arts of the Contact Zone, in: Profession 91 (1991), S. 33-40; dies., Imperial Eyes. Travel, Writing and Transculturation, New York 1992.