Ein bisher weitgehend verschwiegenes und tabuisiertes Phaenomen, das zu allen Zeiten und in allen Kriegen existent war, wird seit einigen Jahren auch in der historischen Forschung verstaerkt zur Kenntnis genommen und aufgearbeitet. Das Forschungsinteresse richtet sich dabei besonders auf Desertion und Deserteure im Zweiten Weltkrieg, deren Rezeption vor allem in Deutschland heftig und kontrovers diskutiert wurde. Die Auseinandersetzungen um den "Denkmalswert" und die oeffentliche Akzeptanz von Deserteuren, Fahnenfluechtigen und Kriegsdienstverweigerern beruehrt jedoch nur einen Teil der Problematik. Gerade auch die aktuellen Konflikte um die "Wehrmachtsausstellung" zeigen auf, dass die Handlungsraeume und die persoenliche Teilhabe von Soldaten, in diesem Fall an einem "Vernichtungskrieg", sehr differenziert zu betrachten sind. Desertion als individuelle Entscheidung fuer einen Rueckzug aus der Mitverantwortung stand in der Wehrmacht vielfach fuer eine Alternative und nicht zuletzt auch Konsequenz angesichts der Kriegsverbrechen und verlustreichen, immer sinnloser werdenden Kampfhandlungen. Die oeffentliche Diffamierung von Deserteuren im "Dritten Reich" als "Feiglinge" und "Verraeter" wurde hingegen bruchlos in die Gegenwart tradiert und bildet nicht selten den Hintergrund fuer eine unsachliche und emotionale Meinungsbildung in der Gegenwart. Das Thema Desertion und Deserteure, besonders im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, stellt deshalb vor allem in Deutschland ein schwieriges und brisantes Forschungsfeld dar.
Nach dem von Ulrich Broeckling und Michael Sikora aktuell herausgegebenen Sammelband "Armeen und ihre Deserteure. Vernachlaessigte Kapitel einer Militaergeschichte der Neuzeit" (Goettingen 1998), wendet sich der Berliner Historiker Christoph Jahr in seiner 1996 vorgelegten und im Herbst 1998 als Publikation erschienenen Dissertation dem bislang im deutschsprachigen Raum nur unzureichend erforschten Bereich der Desertion waehrend des I. Weltkrieges zu. In einer umfassend und breit angelegten Vergleichsstudie, die weit ueber die chronologischen Grenzen des I. Weltkrieges hinausreicht, widmet sich der Autor den militaerjustiziellen Richtlinien sowie der hierarchisch strukturierten Organisation des Militaerapparates im britischen und deutschen Heer, die sich in den Jahren 1914 bis 1918 als Kriegsgegner gegenueberstanden.
Ausgehend von Gerhard Oestreichs Modell der "Sozialdisziplinierung" unternimmt Jahr das zweifellos schwierige Unterfangen, das komplexe Problemfeld der Desertion mit sozialen, gesellschaftlichen und mentalitaetshistorischen Aspekten zu verbinden. Jahr vertritt in seiner facettenreichen Studie die Auffassung, das die Desertion mehr als nur eine Spontanhandlung war, die aus privaten und persoenlichen Gruenden, dienstlichen Konflikten mit Vorgesetzten und Kameraden sowie auch aus individuell erfahrenen Schock- und Stresserfahrungen im Angesicht der vielfaeltigen Kriegsschrecken resultieren konnte. Der Krieg erweist sich dabei als ein Zustand, der eine psychologische Ausnahmesituation abseits der "buergerlichen Normalitaet" darstellte und Ursache fuer persoenliche Auseinandersetzungen wurde. Hierbei ist jedoch zu beruecksichtigen, dass die Desertion als Hoechstform der Dienst- und Kampfesverweigerung nicht gleichzusetzen ist mit einem generellen Widerstand gegen Krieg, Aggressionen und Gewalt. Mit dieser sicherlich zutreffenden Feststellung wendet sich Jahr auch gegen die zeitgenoessische Polarisierungen, die Desertion gerne als "Anti-Heldentum" bzw. als "Stoerfaktor" des militaerischen Ordnungsgefueges ansehen.
Bereits in seiner Einleitung verweist Jahr auf die Schwierigkeiten, einige Fragen zum Themenkomplex "Desertion im Ersten Weltkrieg" umfassend zu beantworten. Aufgrund der lueckenhaften Ueberlieferung vor allem in den deutschen Archiven, beschraenkt er seinen geographischen Untersuchungsraum auf die Westfront, an der sich nicht nur deutsche und britische, sondern vor allem auch franzoesische und (seit 1917) US-amerikanische Truppenverbaende gegenueberstanden. Als Begruendung fuer die einseitig auf die deutsche und britische Armee beschraenkte Untersuchung fuehrt Jahr die politischen, gesellschaftlichen und militaerstrukturellen Unterschiede an. Unter diesen Aspekten betrachtet, waere eine analytische Studie ueber die Desertion in der waehrend des Ersten Weltkriegs besonders stark involvierten franzoesischen Armee ein moeglicherweise ebenso ergiebiges Thema gewesen. Eine plausible Erklaerung fuer seine getroffene Auswahl ist der Studie nicht zu entnehmen, wobei der Hinweis auf die Gegensaetze hinsichtlich Tradition, Gesellschaft und Armee in beiden Staaten etwas unzureichend erscheint. Das mindert den Wert seines methodischen Ansatzes jedoch nicht. Ein weiterer Schwachpunkt, der jedoch nicht zu Lasten des Verfassers geht, ist die quellenbedingte, hauptsaechlich auf die sueddeutschen Kriegsgerichtsakten beschraenkte Eingrenzung des Untersuchungsrahmens auf die 2. und 4. bayerische Infanterie-Division, der zwei bzw. sechs britische Divisionen gegenuebergestellt werden. Dieses Ungleichgewicht zwischen einer engbegrenzten deutschen und einer breiten englischen Quellenlage bestimmt dann auch die Auswertung der detailreichen Studie. Ob die Rueckschluesse dann auch exemplarisch auf die deutsche Armee zu uebertragen sind, wie der Titel verheisst, erscheint fraglich, auch wenn der Verfasser immer wieder auf das deutsche Untersuchungsgebiet zurueckkommt.
Eine der grundlegenden Ergebnisse der Studie ist, bezogen auf den Ersten Weltkrieg, die wesentlich haertere Bestrafung von Desertion in der britischen Armee, naemlich 269 Todesurteile. In der deutschen Armee war die Zahl der verhaengten Todesstrafen gegen Deserteure mit 18 Soldaten nach Jahr eher marginal. Der Verfasser konstatiert in diesem Zusammenhang, dass sich dieser Befund im Zweiten Weltkrieg, bedingt durch die politisierte Militaerjustiz des NS-Staates, erheblich erhoeht hat. Rund 10.000 deutsche Soldaten wurden zwischen 1939 und 1945 zum Tode verurteilt, waehrend Todesurteile gegen britische Soldaten eher die Ausnahme bildeten. Im Gegensatz dazu erklaert Jahr die hohe Anzahl von Todesurteilen gegen britische Soldaten im Ersten Weltkrieg damit, dass das Sozialprestige von Soldaten in der Oeffentlichkeit nicht sehr hoch war, darueber hinaus war die Hierarchie innerhalb des britischen Heeres elitaer gepraegt. Das sich durchaus als Elite verstehende britische Offizierskorps sah die "gemeinen Soldaten" unter anderem als "Kriminelle" und "minderwertige Klassenangehoerige" an. Die gleichen hierarchischen Grundstrukturen existierten zwar auch in der deutschen Armee, die wiederum durch die historische Entwicklung seit den Einigungskriegen traditionell auch vom Buergertum getragen wurde.
Anders als in Grossbritannien, wo der Militaerdienst als "einfacher Soldat" in der Regel die "Endstation einer Negativkarriere" (S. 66) darstellte, bot das deutsche Heer auch "gemeinen Soldaten" einen Karriereaufstieg und somit auch eine soziale und gesellschaftliche Neuorientierung. Jahr ignoriert trotz seines sozial- und mentalitaetsgeschichtlichen Ansatzes den nicht zu unterschaetzenden Aspekt einer "sozialen Militarisierung" in Deutschland, die besonders nach der Gruendung des Kaiserreiches 1871 einsetzte. Das hohe oeffentlich Ansehen der Armee und ihrer Angehoerigen sowie die staatlich gefoerderte Pflege von z. B. Kriegervereinen bewirkte ein Klima, das von Patriotismus und einer emotionalen Bindung an das "Vaterland" gepraegt war. Der Verfasser stellt zwar fest, dass "Gehorsam" und "Meuterei" jeweils eine starke Gruppenbindung voraussetzten (S. 35), waehrend die Desertion moeglicherweise ein Indiz fuer eine fehlende Gruppenbindung sein koennte, gibt aber keine dezidierte Erklaerung fuer einen moeglichen Grund fuer das "Verbleiben bei der Truppe" an. Folgerichtig koennten "Vaterlandsliebe", "Traditionspflege" und "Opferbereitschaft" als gruppenspezifische Merkmale, die besonders im kaiserlichen Deutschland in einem besonderen Umfang gepflegt wurden, innerhalb einer Armee durchaus auch Hindernisgruende fuer eine Desertion sein. Die sozialgeschichtliche Wirklichkeit im Ersten Weltkrieg laesst sich durch die ueberwiegend auf Akten der Militaerjustiz basierende Untersuchung nicht nachvollziehen. Unter den oben genannten Aspekten erscheint das Kapitel V ("Nation und Desertion") und die als "Stiefkinder des Vaterlandes" bezeichneten Elsass-Lothringer sowie die Iren im britischen Heer in Ansaetzen gewinnbringend. Das "Ueberlaufen" als Merkmale einer fehlenden Identifikation mit der Nation und Armee, beispielsweise auch bezogen auf "Volksdeutsche" im polnischen Heer waehrend des "Polenfeldzuges" 1939, eroeffnet einen neuen Aspekt hinsichtlich des uebergeordneten Themenkomplexes der Desertion.
Abschliessend erweist sich die vergleichende Studie von Christoph Jahr als ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Desertion sowie des Verstaendnisses ihrer Hintergruende und Ursachen. Der besondere Wert dieser Arbeit liegt nun darin, dass erstmalig eine groessere Untersuchung ueber Desertion im Ersten Weltkrieg und auch im Vergleich zwischen zwei gegnerischen Armeen vorgenommen wurde. Obwohl durch die restriktive Quellenlage mancher Aspekt leider nur in Ansaetzen erschlossen werden konnte, liefert das ins Detail gehende und gruendlich recherchierte Werk im Hinblick auf die Desertionsforschung wertvolle Impulse. Fuer den Bereich des Ersten Weltkriegs kann es sogar als Ausgangsbasis bezeichnet werden. Die gute Verarbeitung der historischen Grundlagen und besonders die schluessige Struktur des Buches hinterlaesst darueber hinaus einen erfreulichen Eindruck.