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Year: 2012
Review of: Klaus Kreimeier: Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des
frühen Kinos. Wien: Paul Zsolnay Verlag
Fuhrmann, Wolfgang
Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich
ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-68184
Journal Article
Published Version
Originally published at:
Fuhrmann, Wolfgang (2012). Review of: Klaus Kreimeier: Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des
frühen Kinos. Wien: Paul Zsolnay Verlag. Filmblatt, 17(48):75-76.
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begrüEen. (Dirk Alt)
Besprechungen
111 Klaus Kreimeier: Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen
Kinos. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2011, 416 Seiten, Abb.
ISBN 978-3-552-05552-0, € 24,90
Wo und wann beginnt die Geschichte des frühen Kinos? Wie lasst sie sich
gliedern, wer sind ihre Protagonisten, welche Diskurse pragen sie? AUe diese
Fragen und Herausforderungen meistert Klaus Kreimeier in seiner Kulturge
schichte des frühen Kinos mit Bravour und liefert ein langst falliges Buch,
das der Film- und Medienwissenschaft ebenso willkommen sein dürfte wie der
geschichts-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung. Dass das Buch
in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen
wurde, belegt seine gesellschaftliche Bedeutung schon jetzt.
Kreimeier lasst seine Kulturgeschichte nicht mit der vielstrapazierten Anek
dote von der ersten Filmvorstellung der Gebrüder Lumiere in París beginnen,
sondern dort, wo Technik, Geldstrome und Warenasthetik aufeinandertreffen
und schliesslich auch die Filmprojektion Einzug halt - auf den groEen Welt
ausstellungen. Besonders wichtig ist hier die Pariser Weltausstellung von 1900,
eine ,kinetische GroEveranstaltung", auf der die Wahrnehmung selbst zur At
traktion wird; ein Aspekt, den Kreimeier immer wieder diskutiert.
Kreimeier fühlt sich den Autoren der New Film History verpflichtet, vermei
det jedoch einen ausschliesslichen Fokus auf die nicht filmischen Faktoren
wie Produktionsbedingungen, Zensur und Sozialokonomie des frühen Kinos.
Stattdessen rückt er haufig die Filme selbst ins Zentrum seiner Analyse. Dabei
geht es ihm darum, neben der Qualitat vieler früher Filme auch den Fantasie
gehalt und die Schragheit und Experimentierfreude ihrer Macher aufzuzeigen.
Dies gelingt nicht, ohne die Beziehung von ,Medium und Wahrnehmung, das
jeweils Wahrgenommene und die Wahrnehmungsweisen" (S. 51) stets aufs Neue
zu thematisieren. So verknüpfen sich Filmbeschreibungen und Analysen auf
luzide Weise mit den von ihm nachgezeichneten Veranderungen der Wahrnehmungsgewohnheiten eines sich herausbildenden Filmpublikums.
·•
Gerahmt von einem Prolog und einem Epilog breitet Kreimeier in acht Kapi
teln auf über 400 Seiten seine Geschichte des frühen Kinos aus. Dem Kenner
wird hier Vertrautes auf originelle Weise dargeboten; für den interessierten
Laien ist die Lektüre eine wahre Fundgrube an Einsichten und Erkenntnis
sen. Kreimeier analysiert die Entwicklungen des Kinas diesseits und jenseits
des Atlantiks, wobei sich mit dem ausgepragten Fokus auf das amerikanische,
franzosische und deutsche Kino die Frage aufdrangt nach dem Anteil nicht
westlicher Lander an der Kulturgeschichte des frühen Kinas und ihrem Verlauf
etwa in Lateinamerika.
Mit der Fülle der vorhandenen Forschungserkenntnisse zum frühen Kino ist
es Kreimeier ein besonderes Anliegen, das cinema of attractions mit dem ei-
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Filmblatt 4812012
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nema of narrative integration zu verbinden: ,'s:teckt nicht bereits im one-shot
ly Cinema vor. Die englischsprachige Fortsetzung des verdienstvollen KINtop
take, in der einzelnen tableauartigen Kameraeinstellung die Keimzelle einer
Jahrbuchs widmet sich zunãchst keinem filmhistorischen Forschungsthema im
engeren Sinn, sondern der Prasentation von frühen Filmen in heutiger Zeit.
,Handlung', die nach weiterer Entfaltung drangt? Eine mõgliche Antwort liegt
Der Band tragt so dem in den letzten Jahren gewachsenen Interesse an re
im Phanomen der kinematografischen Bewegung und in der filmisch erzeugten
zeptionsasthetischen und performativen Aspekten des frühen Films (und des
lllusion der Bildtiefe und des Raumes." (S. 169)
Kinas im Allgemeinen) Rechnung. Damit verbunden ist die Frage, wie dieses
Beispielhaft für seine These, dass auch ein single-shot-Film auf eine weiter
Filmerbe in ganz praktischer Hinsicht für neue Generationen erlebbar gemacht
führende Geschichte verweist, einen imaginaren flow, erscheint COME ALONG,
DO! (GB
1898).
werden kann. Eine Frage, die das frühe Kino ganz besonders betrifft, weil sich
Der Film ist als single-shot-Film überliefert, bestand in seiner
ursprünglichen Form jedoch aus zwei Einstellungen. Das erhaltende Fragment
die kurzen Filme eigentlich nur innerhalb eines eigens zusammengestellten
bedeutet eine filmische Konstruktion, die ,weitergeht" (S. 171).
Nummernprogramms prasentieren lassen.
Dank Kreimeiers Eloquenz, Detailkenntnis und Neugier ist es eine Lesefreu
Versammelt sind vor allem Aufsatze, die herausragende Kuratierungspro
de, mit ihm die Geschichte zu entdecken, in der unzãhlige Zeitzeugen und
jekte der letzten zehn Jahre zum Gegenstand haben und zumeist von den
Kuratoren (etwa Mariann Lewinsky und Eric de Kuyper) selbst geschrieben
Protagonisten des frühen Kinas zu Wort kommen. Sein Gespür für illustrati
ve Anekd�i:en erõffnet immer wieder die Mõglichkeit, das komplexe Geflecht
sind. Ausnahmen sind zwei ,Au!Senansichten" von Tom Gunning und Dick
Tomasovic. Gerahmt werden diese Beitrage durch einen Text von Andrea
von Gesellschaftsgeschichte, veranderten Wahrnehmungsmodi und filmasthe
tischen Besonderheiten zu ergründen. So dient ihm der tragikomische Tod
des Generalleutnants Dietrich Graf von Hülsen-Haeseler, Chef des deutschen
Haller und Martin Loiperdinger zu Nummernprogrammen in den ersten orts
·
festen Kinos in Deutschland
(1906-1912) und
einem Fazit von Frank Kessler,
Militãrkabinetts, der in rasa Ballettrõckchen und Blumenkranz nach der letz
in dem er diverse Strategien und Problemstellungen bei der historischen Kon
ten Pirouette bei einem privaten Fest vor Kaiser und Hofstab tot umfiel, dazu,
textualisierung von frühen Filmen bei Vorführungen in Archiven und Museen
die sich abzeichnenden Risse in den Geschlechterverhãltnissen am Film zu
betrachtet. Die meisten Aufsatze zeichnet dabei eine frische Mischung aus
untersuchen. Die damit verbundenen anarchischen. Momente und Regelver
Sachverstand und Leidenschaft aus, die in der Fachliteratur derzeit leider nur
letzungen, Eskalationen und Entgrenzungen im Film bilden mit einer neuen
selten anzutreffen ist.
Schaulust und viel Amüsement die Koordinaten einer sich langsam heraus
bildenden Massenkultur.
Die vorgestellten Projekte basieren allesamt auf profunder Kenntnis der frü
hen Filmgeschichte, und so ist Early Cinema Today keinesfalls nur als schõn
Wie so oft bleibt beim Lesen über das frühe Kino ein Wermutstropfen. Dem
bebildertes Handbuch für (zukünftige) Kuratoren von Stummfilmprogrammen
langen Filmregister folgt zwar eine kurze Angabe der besuchten Filmarchive,
zu verstehen, sondern auch als wichtiger Beitrag zur Forschung. Claude Ber
doch hilfreich für den Leser ware ein Hinweis mit empfehlenswerten DVD
temes und Nicole Dahlen etwa systematisieren in ihrem Beitrag die diversen
Editionen gewesen. Zu gern würde man die Filme, die Kreimeier in seinem
Zuschauerhaltungen, die sie bei den Vorführungen des Crazy Cinématographe
Buch ausführlich beschreibt, auch mit eigenen Augen sehen. Jetzt, da eine
in Luxemburg beobachten konnten, und schlüsseln sie anhand von Begriffen
Kulturgeschichte des frühen Kinas geschrieben ist, ware eine reprasentative
wie ,Flânerie", ,Kontemplation" und ,Immersion" auf. Auch wenn sich ihre
DVD-Edition eine wunderbare Erganzung. Davon unbenommen ist Kreimeiers
Überlegungen auf das heutige Publikum beziehen, sind sie geeignet, histo
detailreiche Studie für jeden eine Pflichtlektüre, der zum frühen Kino arbeitet.
riographische Konzepte wie das des ,cinema of attractions" und der damit
Sie bietet zugleich eine hervorragende Einführung in die Kultur der Moderne.
verbundenen Schock-Ãsthetik des frühen Kinas neu zu hinterfragen oder zu
(Wolfgang Fuhrmann)
mindest genauer zu fassen.
Indem der Band zeigt, wie sich Filmgeschichtsschreibung und Filmprasenta
tion gegenseitig bedingen, macht er ernst mit der mittlerweile über
30
Jahre
11111 Martin Loiperdinger (Hg.): Early Cinema Today. The Art of Program
alten Forderung der New Film History, das frühe Kino als eigenstandige filmi
ming and Live Performance. New Barnet: John Libbey 2011 (= KINtop Sudies
sche Form zu begreifen und nicht als primitiven Vorlaufer des narrativen Ki
in Early Cinema;
1), 158 Seiten, Abb.
nos. Dass das frühe Kino noch heute als vollwertige Unterhaltungsform erlebt
ISBN 9780-86196-702-5, l 20,00
werden kann, selbst wenn diese für heutige Menschen so neu und andersartig
sein kann wie für das Publikum um
1900,
ist eine der Grundannahmen aller
Mit Early Cinema Today liegt der erste Band der von Frank Kessler, Sabine Lenk
im Band versammelten Texte und das praktische Ergebnis der vorgestellten
und Martin Loiperdinger neu herausgegebenen Reihe KINtop Studies in Ear-
Projekte. (Daniel Wiegand)
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