Evelyn Ziegler Heinz Eickmans Ulrich Schmitz Hacı-Halil Uslucan
David H. Gehne Sebastian Kurtenbach Tirza Mühlan-Meyer Irmi Wachendorff
METROPOLENZEICHEN
Atlas zur visuellen Mehrsprachigkeit
der Metropole Ruhr
Dortmund
Nordstadt
Marxloh
Hörde
Hamme
Duisburg
Altendorf
Essen
Bochum
Rüttenscheid
Innenstadt
Langendreer
METROPOLENZEICHEN
METROPOLENZEICHEN
Atlas zur visuellen Mehrsprachigkeit
der Metropole Ruhr
Evelyn Ziegler Heinz Eickmans Ulrich Schmitz Hacı-Halil Uslucan David H. Gehne Sebastian Kurtenbach Tirza Mühlan-Meyer Irmi Wachendorff
Danksagung
Der vorliegende Atlas präsentiert die Ergebnisse eines Kooperationsprojekts, das von
Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern, Integrationsforschern und
Stadtsoziologen der Universität Duisburg-Essen und der Ruhr-Universität Bochum
unter der Leitung von Evelyn Ziegler durchgeführt wurde und ohne die großzügige
Förderung des Mercator Research Center Ruhr (MERCUR), eine Einrichtung der
Stiftung Mercator und der Universitätsallianz Ruhr, nicht möglich gewesen wäre (GZ:
Pr-2012-0045, Laufzeit: 01.08.2013 – 31.08.2018). Ein besonders herzlicher Dank
geht an Frank Lützenkirchen, Leiter der Digitalen Bibliothek der Universität Duisburg-Essen, der das Herzstück des Projekts, die digitale Bilddatenbank »Metropolenzeichen«, erstellt und mit viel Geduld und Humor unsere Probleme zu seinen Problemen gemacht und passgenaue Lösungen gefunden hat. Danken möchten wir auch der
Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, dem Zentrum
für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) und dem Landschaftsverband
Rheinland, ohne deren finanzielle Unterstützung der Atlas nicht hätte publiziert werden können. Zu großem Dank sind wir auch Eicke Riggers und Tim Meyersick verpflichtet, die die Grafikproduktion des Bandes übernommen haben. Bedanken möchten wir uns auch bei Dr. Ibrahim Cindark, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter,
und vor allen Dingen bei allen Hilfskräften, Praktikantinnen und Praktikanten sowie
Studierenden, die im Projekt mitgearbeitet haben bzw. mit ihren Qualifikationsarbeiten zum Gelingen des Projekts beigetragen haben. Dazu zählen: Vanessa Angenendt,
Nilgün Aykut, Alina Görke, Bernhard Hübers, Isabella Marowski, Sebastian Opara,
David Passig, Yvette Rode, Sissy Schneider, Jana Wegener, Jonas Weiler, Michael Wentker und – last, not least – Felicitas Clerehugh, die uns mit viel Akribie und Geduld bei
der Auswertung der Daten unterstützt und den Text formatiert hat.
Nicht nur Menschen haben eine Heimat, sondern auch Bücher. Wir freuen uns
sehr, dass unser Atlas im Universitätsverlag Rhein-Ruhr (UVRR) seine Heimat bekommen hat und mit Dr. Sabine Walther und Prof. Dr. Hermann Cölfen Verleger, die weit
über das normale Maß hinaus das Buchprojekt gefördert haben. Ihnen ist dieser Atlas
gewidmet.
Inhaltsverzeichnis
Danksagung – 5
Inhaltsverzeichnis – 6
1.
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
Einleitung – 9
Visuelle Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets – 10
Metropole Ruhr – 16
Migrationsgeschichte: Schichten der Vielfalt nach 1945 – 22
Vielfalt und demografischer Wandel – 30
Sprache und Beheimatung – 34
2.
2.1
2.2
2.3
Erhebungsgebiete – 37
Lage, Typ und Funktion der Erhebungsgebiete – 38
Bevölkerung und Vielfalt – 48
Migrationsprägung von Stadtteilen im Zeitvergleich am Beispiel der Stadt Bochum – 52
3.
3.1
3.1.1
3.1.2
3.1.3
Formen der sichtbaren Mehrsprachigkeit – 55
Die am häufigsten vorkommenden Sprachen – 56
Sichtbarkeit und Verteilung der Sprachen in den Stadtteilen – 62
Formen von Mehrsprachigkeit (mono-, bi-, tri- und multilingual) – 66
Informationsmanagement – 74
3.2
3.2.1
3.2.1.1
3.2.1.2
3.2.2
3.2.2.1
3.2.2.2
3.2.3
Sichtbare Diskurstypen im öffentlichen Raum – 78
Infrastruktureller und regulatorischer Diskurs – 82
Deutsch und andere Sprachen an vier Bahnhöfen – 86
Deutsch und andere Sprachen an Kitas, Bürgerbüros und Kulturstätten – 88
Kommerzieller Diskurs – 90
Vielfalt der Zeichen und Sprachen im kommerziellen Diskurs – 90
Kommerzielle Zeichen in ausgewählten Stadtteilen – 94
Transgressiver Diskurs – 100
3.3
3.3.1
3.3.2
3.3.3
Ethnische und sprachliche Diversität – 118
Stadtteilvergleich von Dortmund-Nordstadt und Duisburg-Marxloh – 120
Stadtteilvergleich von Essen-Rüttenscheid und Duisburg-Innenstadt – 124
Stadtteilvergleich von Essen-Altendorf und Bochum-Hamme – 128
3.4
3.4.1
3.4.2
3.4.3
3.4.4
3.4.5
3.4.6
3.4.6.1
3.4.6.2
3.4.6.3
Sprachgebrauch und sprachliche Gestaltung – 132
Deutsch in der Metropole Ruhr – 133
Englisch in der Metropole Ruhr – 142
Türkisch in der Metropole Ruhr – 152
Arabisch in der Metropole Ruhr – 156
Polnisch in der Metropole Ruhr – 160
Ruhrdeutsch – 166
Nonstandard-Deutsch in der Linguistic Landscape des Ruhrgebiets – 167
Ruhrdeutsch als Regionalsprache – 170
Ruhrdeutsch und Fußball – 172
3.4.6.4
3.4.6.5
3.4.7
3.4.8
Ruhrdeutsch in der Sprache der jugendlichen Subkultur – 174
Ruhrdeutsch in der Werbung – 176
Code-Switching – 178
Sprachliche Rebellion – 182
3.5
3.5.1
3.5.2
3.5.3
3.5.4
Namen als Teil der visuellen Sprachlandschaft – 192
Familiennamen – 194
Geschäftsnamen – 198
Gaststätten- und Restaurantnamen – 202
Straßennamen – 206
3.6
3.6.1
3.6.2
3.6.3
Sprache und Schrift – 212
Schriftsysteme – 213
Schriftarten – 216
Text und Bild in Symbiose – 228
4.
4.1
4.1.1
4.1.2
4.1.3
4.1.4
4.1.5
4.1.6
Sprachbewertungen und Einstellungen zu Mehrsprachigkeit – 235
Passantenbefragung – 236
Datenerhebung – 238
Einstellungen zu visueller Mehrsprachigkeit – 240
Einstellungen zu Sprachen – 252
Einstellung zur Funktion visueller Mehrsprachigkeit – 256
Einstellungen zu visueller Mehrsprachigkeit an öffentlichen Institutionen – 260
Strategien der Versprachlichung von Einstellungen zu Mehrsprachigkeit – 266
4.2
4.2.1
4.2.2
4.2.3
Telefonbefragung – 276
Datenerhebung CATI (Computer-Assisted Telephone Interview) – 277
Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit – 278
Akzeptanz von Mehrsprachigkeit – 282
4.3
4.3.1
4.3.2
Produzentenbefragung – 288
Datenerhebung – 289
Öffentliche Einrichtungen – Bürgerbüros und Hauptbahnhöfe in Duisburg,
Essen, Bochum und Dortmund – 290
Handel und Gewerbe – 296
4.3.3
5.
5.1
Zusammenführung der Ergebnisse und Fazit – 305
Andere Zeichen – andere Menschen: Zum Wert und Nutzen sichtbarer
Mehrsprachigkeit – 306
6.
Anhang – 313
Impressum – 320
1.
EINLEITUNG
1. Einleitung
1.1 Visuelle Mehrsprachigkeit im öffentlichen
Raum des Ruhrgebiets
1. Was springt im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets besonders ins Auge?
Jede Passantin und jeder Passant geht und fährt alltäglich durch viele Straßen, über
Plätze, durch Bahnhöfe und an Geschäften vorbei. Dabei sieht man sich von einer solchen Fülle von Schildern, Aufschriften, Plakaten, Aufklebern, Graffitis und anderen
Zeichen umgeben, dass man höchstens einen Bruchteil davon bewusst wahrnehmen
kann. Wir haben uns so daran gewöhnt, uns durch ungeheure Zeichenmassen zu bewegen, dass wir uns kaum Gedanken darüber machen. Dennoch beeinflussen sie, was
wir tun, woran wir denken und wie wir handeln.
Wenn man sich allerdings den Luxus gönnt und einmal innehält, die tägliche Eile
oder gar Hektik unterbricht, sich zum Beispiel in aller Ruhe auf eine Bank mitten in
der Stadt setzt, sich aufmerksam umschaut und genau auflistet, was es da alles zu sehen
gibt, wird man erstaunt sein und nachdenklich. Genau das haben wir mit Blick auf die
sichtbaren Bilder und Texte in vielen Sprachen getan, allerdings mit ganz viel Arbeitszeit und -kraft, theoretischem Hintergrundwissen, wissenschaftlicher Akribie und Systematik. Wie jeder besonnene Alltagspassant entdeckten wir eine Fülle großer und kleiner, wichtiger und scheinbar bedeutungsloser, hilfreicher und ärgerlicher,
zurückhaltender und aufdringlicher, schöner und hässlicher Bilder und Texte aller Art:
Verkehrszeichen, Wegweiser, technische Informationen, Namen von Straßen, Personen,
Geschäften und Restaurants, Reklametafeln, Aufkleber z. B. an Laternenpfählen, Graffitis und andere nicht-autorisierte Inszenierungen und Meinungsäußerungen, Erinnerungen an historische Ereignisse und wer weiß, was sonst noch alles.
All das haben wir systematisch gesammelt, sortiert und ausgewertet. An welchen
Stellen im Ruhrgebiet sieht man welche Sprachen, welche Art von Zeichen und warum?
10
1. EINLEITUNG
Abb. 1.1: Made in Marxloh
1.1 VISUELLE MEHRSPRACHIGKEIT IM ÖFFENTLICHEN RAUM DES RUHRGEBIETS
11
Abb. 1.2: THE NORD STADT
Abb. 1.3: SCHALKE ISS HEILBAR
12
1. EINLEITUNG
2. Warum interessiert sich die Wissenschaft dafür?
3. Was heißt »Linguistic Landscapes«?
Die Motivation, sichtbare Mehrsprachigkeit in der Metropolregion Ruhrgebiet zu erforschen, entspringt unterschiedlichen Quellen. Zunächst lässt sich festhalten, dass das
Thema »Sichtbarkeit« oder »Visibilität« kulturgeschichtlich
schon immer eine besondere Rolle gespielt hat: Das Auge als
menschliches Organ und dementsprechend Metaphern der
Sichtbarkeit prägen spätestens seit der Neuzeit unseren erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt; Begriffe wie »Klarheit, Einsicht, Einblick, Überblick« etc. sind nur eine kleine
Auswahl davon.
Auch im praktischen Alltag orientieren wir uns im
Raum über visuelle Zeichen; in modernen Gesellschaften
immer mehr über sichtbare Schilder. Wenn diese jedoch
nicht nur in der dominanten Sprache des Landes gehalten
sind, sondern mehrsprachig, dann sagen sie jenseits ihres denotativen Gehaltes, also ihrer faktischen Bedeutung, auch
etwas über die potenziellen und tatsächlichen Benutzer und
deren Sprachkompetenzen aus.
Sichtbarkeit ist nicht zuletzt auch für die Integrationsforschung eine wichtige Kategorie: Die Sichtbarkeit bzw.
Unsichtbarkeit ethnischer Minderheiten (»[in]visible minorities«) im Alltag sagt etwas über ihre gesellschaftliche Teilhabe aus. Mit der Analyse vor allem auch des Türkischen
und des Arabischen haben wir Sprachen von zwei wichtigen
und sichtbaren Minderheiten in der Metropole Ruhr analysiert. Leitend war dabei die Erkenntnis, dass Integrationsprozesse von Zugewanderten sich weitestgehend in Städten
bzw. Metropolen oder Metropolregionen abspielen. Das gab
der Wahl des Titels »Metropolenzeichen« eine weitere Begründung. In der Segregationsforschung, die der Frage nach
der Verteilung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in
städtischen Räumen nachgeht, gehört die Erforschung der
Konzentration bestimmter Gruppen mit Migrationshintergrund zum Standard. Oft werden Stadtviertel von Bewohnern und Besuchern auch etikettiert. Klassische Beispiele dafür sind Chinatown und Little Italy in New York. Bei diesen
alltäglichen Zuschreibungsprozessen spielt sichtbare Mehrsprachigkeit eine wichtige Rolle, ohne dass diese bisher häufig systematisch zusammen mit Bevölkerungsdaten erhoben
und ausgewertet wurde.
In gewisser Weise beansprucht der vorliegende Atlas, die
kulturelle Vielfalt in Deutschland auch in der Vielfalt der
Forschungsperspektiven und in der konsequenten Interdisziplinarität des Zugriffs – sozusagen als forschungspraktische
Entsprechung – abzubilden.
Die Linguistic-Landscape-Forschung beschäftigt sich mit der
Sichtbarkeit von Texten / Sprachen im öffentlichen Raum
und wird deshalb auch als »study of writing on display in
the public sphere« (Coulmas 2009: 14) definiert. Unter dem
Etikett »linguistic landscape« firmiert diese Forschungsrichtung seit der Arbeit von Landry / Bourhis (1997). Als Forschungsobjekte dienen Hinweisschilder, Straßenschilder,
Reklameschilder, Geschäftsschilder, Gedenktafeln, Aufkleber, Plakate, Graffitis u. Ä. Im Zentrum dieses neuen, alltagsweltlichen Zugangs zu Mehrsprachigkeit steht die Frage, in
welcher Weise sichtbare Mehrsprachigkeit den öffentlichen
Raum prägt und inwieweit sich ethnisch-kulturelle Diversität in sprachlich sichtbarer Diversität niederschlägt. Untersucht werden das Vorkommen, die Verteilung, Ausgestaltung und Funktion sichtbarer Sprachen. Dabei wird das Ziel
verfolgt, den Status und die Akzeptanz von Sprachen (z.B.
von internationalen Sprachen wie Englisch und Französisch,
regionalen Minderheitensprachen wie Baskisch und Katalanisch, Migrantensprachen wie Türkisch, Russisch und Chinesisch) bestimmen zu können, um so Hinweise auf Identitätsmarkierungen, Machtverhältnisse und die Kultur des
Zusammenlebens in einer von Diversität geprägten Gesellschaft zu erhalten.
Wie die Forschung zeigt, wird das Phänomen der
Linguistic Landscape als ein Urbanisierungsphänomen
begriffen. Dementsprechend beschäftigen sich die meisten
Studien mit Städten, wesentlich seltener mit ländlichen
Regionen. Untersuchungen zu offiziell mehrsprachigen
Städten liegen zu Jerusalem (Spolsky / Cooper 1991), Lira
Town / Uganda (Reh 2004), Brüssel (Wenzel 1998), Donostia-San Sebastián (Gorter et al. 2012) und Luxemburg
(Purschke 2017) vor; zu Städten mit migrationsbedingter
Mehrsprachigkeit sind die Studien zu Tokio (Backhaus
2007), Washington, D. C. (Lou 2016), Bangkok (Huebner
2006), Rom (Barni / Bagna 2010) und Manchester (Gaiser / Matras 2016) zu nennen. Für den deutschsprachigen
Raum wurden die Städte Berlin (Papen 2012), Hamburg
(Redder et al. 2013), Kiel und Rostock (Stoltmann 2016)
sowie die Innerschweiz (Petkova 2017) und die deutsch-belgische Grenzregion (van Mensel / Darquennes 2012) beforscht.
Das Projekt »Metropolenzeichen« unterscheidet sich
von all den genannten Untersuchungen darin, dass
es interdisziplinär und multiperspektivisch angelegt ist
und einen innovativen Mehrmethodenansatz verfolgt. Das
Forschungsdesign basiert auf dem Sprachenmanagementansatz von Spolsky (2009). Charakteristisch für diesen Ansatz
ist die integrative Erforschung von Sprachverwendungen,
metasprachlichen Aktivitäten, d. h. Entscheidungsprozessen,
und Wertorientierungen, die die Sprachverwendungen und
ihre Rezeption bestimmen. Dementsprechend umfasst die
städteübergreifende vergleichende Analyse nicht nur die
Vorkommen von visueller Mehrsprachigkeit, sondern auch
die Adressaten- und Produzentenperspektive, indem zum einen nach der Wahrnehmung und Bewertung von visueller
Mehrsprachigkeit gefragt wird und zum anderen die Motivlagen für die Sprachenwahlen aufgedeckt werden. Als
Grundlage dienen große Korpora von Bilddaten, metasprachlichen Daten und kleinräumigen Daten zur multi-ethnischen Bevölkerungsstruktur der Städte, die weit über
das hinausgehen, was bisher an Datenmaterial in der
Linguistic-Landscape-Forschung verwendet wurde. Die Datensammlungen im »Metropolenzeichen«-Projekt erlauben
so quantitative Analysen, um zu allgemeineren Aussagen zu
kommen, und qualitative Tiefenanalysen zu Besonderheiten
und Einzelphänomenen, um der Vielfalt der Daten Rechnung zu tragen. Beispielsweise gibt es charakteristische Unterschiede zwischen allen einzelnen Untersuchungsgebieten
in der Metropole Ruhr, noch auffälliger aber auch zwischen
den nördlichen und den südlichen Stadtbezirken insgesamt.
Auch unterscheiden sich Art und Ausmaß von Ein- bzw.
Mehrsprachigkeit sowie die sprachlichen und gestalterischen
Formen überhaupt auf offiziellen Schildern von denen auf
kommerziellen und die wiederum von denen auf unerlaubt
angebrachten Zeichen. Bemerkenswert sind auch die unterschiedlichen Haltungen verschiedener Bevölkerungsgruppen zur Sichtbarkeit nichtdeutscher Sprachen im öffentlichen Raum.
1.1 VISUELLE MEHRSPRACHIGKEIT IM ÖFFENTLICHEN RAUM DES RUHRGEBIETS
13
4. Welche Forschungsfragen sollen beantwortet werden?
5. Worum geht es in unserem Projekt?
• Inwieweit spiegelt sich die multi-ethnische Vielfalt in den einzelnen Stadtteilen
und deren Funktionsräumen in der Vielfalt und Verortung visueller Mehrsprachigkeit
wider? Welche Sprachen sind wo sichtbar, welche nicht und warum?
In diesem Atlas zeigen wir, mit welchen sichtbaren Zeichen
der öffentliche Raum des Ruhrgebiets (der »Metropole
Ruhr«) ausgestattet ist. Angesichts der internationalen Herkunft der Bevölkerung interessiert uns insbesondere, wo
welche Sprachen (z.B. Deutsch, Englisch, Türkisch, Arabisch) verwendet werden und warum. In welchem Maße
und in welcher Weise wird kulturelle Vielfalt (»Diversity«) in
Deutschland im öffentlichen Raum sichtbar?
Zum öffentlichen Raum zählen alle Straßen, Plätze und
Gegenden, die in öffentlichem (z.B. staatlichem) Eigentum
stehen. Sichtbare Zeichen befinden sich oft an der Grenze
zwischen öffentlichem und privatem Raum, weil private Interessenten sich hier besonders wirksam präsentieren können, also zum Beispiel an Schaufenstern und Hauswänden.
Wir berücksichtigen alle Zeichen, die im oder vom öffentlichen Raum aus zu sehen sind, allerdings nur ortsfeste Zeichen und nicht etwa solche an Fahrzeugen oder Personen.
Für unser Projekt haben wir innerstädtische Gegenden
ausgewählt, die jeweils sehr verschieden und in ihrer Gesamtheit charakteristisch für das Ruhrgebiet sind. Traditionell und bis heute sind die Mieten nördlich der A 40 niedriger und der Anteil an Migranten ist höher als in den
südlichen Stadtteilen. Nach bevölkerungssoziologischen Gesichtspunkten haben wir deshalb aus den vier größten Städten je ein eher nördliches und ein eher südliches Gebiet gewählt, nämlich Duisburg-Marxloh, Duisburg-Innenstadt,
Essen-Altendorf, Essen-Rüttenscheid, Bochum-Hamme,
Bochum-Langendreer, Dortmund-Nordstadt und Dortmund-Hörde. Außerdem haben wir die vier Hauptbahnhöfe, je Stadt eine touristische Attraktion (Landschaftspark
Nord, RuhrMuseum, Jahrhunderthalle, U-Turm), ein Bürgerbüro und zwei Kitas einbezogen.
Dort überall haben wir sämtliche Beschriftungen und
andere Zeichen vollständig fotografiert. Daraus wurde eine
Datenbank mit über 25 000 Fotos erstellt. Jedes einzelne
Foto wurde mit umfangreichen Informationen versehen und
bestimmten Kategorien zugeordnet (s. Infobox). Die vier
Städte und die acht Erhebungsgebiete des Projektes wurden
mit kleinräumigen amtlichen Daten zur Bevölkerungsstruktur vergleichend beschrieben, um den sozialstrukturellen
Kontext der sichtbaren Mehrsprachigkeit in die Analyse einfließen zu lassen. Außerdem haben wir 1000 repräsentativ
ausgewählte Personen telefonisch und weitere 120 Personen
in persönlichen Gesprächen danach befragt, wie sie sichtbare
Mehrsprachigkeit im Ruhrgebiet wahrnehmen und bewerten. Zusätzlich haben wir mit mehr als 60 Personen, z. B.
• Welche Funktionen werden mit dem Gebrauch einzelner Sprachen verbunden?
Wer wird angesprochen? Wie multilingual sind das offizielle und das private Sprachenmanagement, wie inklusiv oder exklusiv sind die Sprachenwahlen?
• Welche sprachlichen Besonderheiten kennzeichnen den Gebrauch einzelner Sprachen wie Deutsch, Englisch, Polnisch, Türkisch, Arabisch, und wo und wie kommt
Ruhrdeutsch, die gesprochene Sprache im Ruhrgebiet, vor?
• Wie wird sichtbare Mehrsprachigkeit wahrgenommen und bewertet, und inwieweit trägt die Sichtbarkeit von Migrantensprachen zum Gefühl der Beheimatung bei?
• Welche Selbst- und Fremdwahrnehmungsmuster sowie Diskursthemen (z.B. Integrations-, Solidaritäts-, Segregations-, Überfremdungs-, Bildungs- und Ökonomiediskurs) dominieren in der Wahrnehmung visueller Mehrsprachigkeit?
• Welche Motivlagen sind kennzeichnend für die Sprachenwahlen in öffentlichen
Einrichtungen und privater Akteure (Geschäftsinhaber, Restaurantbesitzer etc.)?
Folgende Kategorien wurden für die Beschreibung der Bilddaten
verwendet (vgl. Scollon / Scollon 2003, Backhaus 2007)
Ort:
Stadt und Stadtteil
Einrichtung:
z. B. Bahnhof, Bürgerbüro, Kita
Diskurstyp:
infrastrukturell, regulatorisch, kommerziell, kommemorativ, transgressiv,
künstlerisch
Sprache:
z. B. Deutsch, Englisch, Türkisch, Arabisch, Polnisch
Name:
Person, Geschäft, Firma, Gastronomie, Institution, Toponym, Verein
Informationsmanagement:
komplett, teilweise, erweitert
Erscheinungsform:
z. B. Aufkleber, Schild, gemalt, gesprüht...
Semiotische Kodierung:
Text, Bild, Text-Bild-Kombination
Größe:
-1 m2, -10 m2, -100 m2
Typografie:
z. B. Arabisch, Latein
Anzahl der Sprachen:
monolingual, bilingual, trilingual, multilingual
14
1. EINLEITUNG
Mitarbeitern von Kommunalen Integrationszentren und Besitzern von Geschäften und Restaurants, vertiefende Interviews geführt, um die Motive für die Sprachwahlentscheidungen aufzudecken.
Diese Daten haben wir umfangreich ausgewertet, und
zwar in einer Verknüpfung stadtsoziologischer, linguistischer,
semiotischer und integrationstheoretischer Gesichtspunkte.
Im Vergleich zur bisherigen Linguistic-Landscape-Forschung
ist unser Projekt sehr viel stärker interdisziplinär angelegt, es
beruht auf einer erheblich umfangreicheren Datenbasis, und
es nutzt unterschiedliche Datentypen (Bevölkerungsstatistik,
Fotos, Vor-Ort-Interviews, Telefoninterviews).
6. An wen richtet sich dieser Atlas?
Mit diesem Atlas präsentieren wir besonders interessante Ergebnisse eines mehrjährigen Forschungsprojekts, in dem
Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler, Migrationsforscher und Soziologen zusammenarbeiteten. Daraus sind zahlreiche wissenschaftliche Vorträge und Veröffentlichungen hervorgegangen, die sich vorrangig an ein
akademisches Publikum richten (und am Ende dieses Bandes genannt werden). Wissenschaft ist aber nicht nur für Insider da, sondern dient auch der gesamten Gesellschaft. Deshalb stützt sich dieser Band auf solide wissenschaftliche
Forschungen, stellt wichtige Ergebnisse aber auf eine Weise
dar, die auch einer breiteren Öffentlichkeit verständlich ist.
Sie, unsere Leserinnen und Leser, müssen also keinerlei Vorkenntnisse mitbringen, sondern nur Interesse am Thema.
7. Wie lässt sich dieses Buch nutzen?
Die verschiedenen Themen und Unterthemen werden in Kapiteln und Teilkapiteln auf je einer oder manchmal auch
mehreren Doppelseiten präsentiert. Dabei verweisen Texte,
Bilder, Grafiken, Tabellen und Karten wechselseitig aufeinander.
Zwar folgen die Kapitel einer logischen Reihenfolge.
Doch steht jedes auch für sich und kann unabhängig von
den anderen gelesen werden. So kann man den Band auch
einfach durchblättern, einzelne Doppelseiten betrachten
und in beliebiger Auswahl und Reihenfolge lesen und anschauen.
Das Inhaltsverzeichnis gibt einen detaillierten Überblick
über das Gesamtwerk und ermöglicht einen schnellen Einstieg in alle Kapitel und Teilkapitel.
Abb. 1.4: ADANA KEBAP HAUS
1.1 VISUELLE MEHRSPRACHIGKEIT IM ÖFFENTLICHEN RAUM DES RUHRGEBIETS
15
1.2 Metropole Ruhr
Die Metropole Ruhr ist mit über 5 Millionen Einwohnern nach der Île-de-France,
Moskau, Greater London und Istanbul die fünftgrößte Metropolregion in Europa. Sie
liegt im Westen Deutschlands im Zentrum von Nordrhein-Westfalen. Wenn in diesem
Atlas von der Metropole Ruhr oder vom Ruhrgebiet die Rede ist, dann sind aus pragmatischen Gründen die Städte und Kreise gemeint, die Mitglied im Regionalverband
Ruhr (RVR) sind.
Ende des Jahres 2013 war Dortmund mit 575 944 Einwohnern die größte kreisfreie Stadt, die kleinste Bottrop mit 116 055. In den vier Fallstudienstädten des Projektes »Metropolenzeichen« Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund wohnen zusammengenommen etwa 1,99 Millionen Einwohner, das sind knapp 40 Prozent der
Einwohner der Metropole Ruhr.
Anders als beispielsweise Greater London ist das Ruhrgebiet nicht auf ein Zentrum fokussiert, sondern polyzentrisch
strukturiert. Es besteht aus 11 kreisfreien Städten, 4 Kreisen
und 42 kreisangehörigen Städten und Gemeinden. Diese
kleinteilige Struktur schafft vielschichtige situative Identitäten der Bewohnerinnen und Bewohner des Ruhrgebietes, die
von Stadtteilverbundenheit (»Made in Marxloh«), über regionale Absetzungsbewegungen an den Rändern (»Dortmund,
die westfälische Metropole«, vgl. Münter / Prossek 2011:
207) bis hin zu einer durch »Historisierung und Ästhetisierung« geprägten Identifikation mit der Industriekultur reichen können (Schneider / Prossek 2009: 35).
Zentral im Ruhrgebiet liegen die vier kreisfreien Städte
Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund, die Forschungsgegenstand unseres Projektes sind. Sie reihen sich entlang
der A 40 bzw. B 1, dem früheren Hellweg, von West nach
Ost aneinander. Alle vier Städte wurden seit Mitte des 19.
Jahrhunderts von der Entwicklung der Montanindustrie
geprägt. Auch wenn die Zechen in diesen Städten schon
lange stillgelegt sind (vgl. Strohmeier et al. 2015), wurden
diese Städte in ähnlicher Weise von den Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels geprägt (Bogumil et al. 2012).
Dazu gehört auch eine starke Prägung der Bevölkerungsstruktur durch Zuwanderung, die schon beim sprunghaften
Wachstum der Bevölkerung im 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Dortmund
Dortmund
Bochum
Bochum
Duisburg
Duisburg
Essen
0
10
20
30
40 km
Abb. 1.2.1: Bevölkerung der kreisfreien Städte und Kreise im RVR
(31.12.2013) Fallstudienstädte hervorgehoben. Durchmesser der Kreise
proportional zur Einwohnerzahl. Quelle: Daten IT NRW
16
1. EINLEITUNG
Essen
0
10
20
30
Anteil der Deutschen
Anteil der Nichtdeutschen
40 km
Abb. 1.2.2: Anteile Deutsche und Nichtdeutsche der kreisfreien
Städte und Kreise im Ruhrgebiet (31.12.2013) Durchmesser der Torten
proportional zur Bevölkerungszahl. Quelle: Daten IT NRW
1.2 METROPOLE RUHR
17
Spanien 1,43 %
1,54 %
1,49 %
rlande
,8 6
1%
n1
%
2,
lg
2,6
ar
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%
17
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66 %
1,8
tio
o
Rum
sn
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tien
era
ov
Bo
Ukraine
Niede
Mar
a
Kro
d
Fö
s
Ko
• Staatsangehörige der Russischen Föderation und der Ukraine.
he
isc
• Staatsangehörige von EU-Mitgliedsländern (Niederlande, Rumänien und
Bulgarien) und
ss
• einige Länder bzw. deren Nachfolgestaaten, die mit der Bundesrepublik Anwerbeabkommen abgeschlossen hatten (z.B. Italien, Griechenland, Marokko, aber auch Serbien, Kosovo oder Mazedonien),
Bu
o 1,
Ab 1995 war bereits die 2013 vorliegende Reihung der Fallstädte des Projektes
»Metropolenzeichen« sichtbar: Duisburg ist, gemessen am Anteil der Nichtdeutschen
in der Bevölkerung, am stärksten migrationsgeprägt, gefolgt von Dortmund, Essen
und Bochum. Hinter der Sammelkategorie »Nichtdeutsche« verbirgt sich aber auch
auf Ebene der Metropole Ruhr eine vielfältige Zusammensetzung an Staatsangehörigkeiten aus aller Welt.
Darunter befinden sich zum Teil recht große Gruppen wie die türkischen Staatsangehörigen (35,6 % der Nichtdeutschen im RVR-Gebiet, 214 428 Einwohner Ende
2013) oder die polnischen Staatsangehörigen (8,4 % der Nichtdeutschen, 50 378 Einwohner), aber auch Kleinstgruppen mit zwei bis drei Personen aus Ländern wie Papua
Neuguinea oder Lesotho. Unter den 15 größten Gruppen finden sich außerdem:
Ru
Die Anteile der Nichtdeutschen unterscheiden sich
stark zwischen den Kommunen im Ruhrgebiet und liegen
zwischen 6 und 8 Prozent in Umlandkreisen, 14 und 16 Prozent in den kreisfreien Städten Duisburg und Gelsenkirchen.
Bei den Fallstudienstädten im Projekt »Metropolenzeichen«
liegt der Anteil der Nichtdeutschen zwischen knapp 9 Prozent in Bochum und knapp über 16 Prozent in Duisburg, so
dass die Auswahl gut das Spektrum der Migrationsprägung
der kreisfreien Städte des Ruhrgebiets abdeckt.
Der Anteil der Nichtdeutschen ist in allen vier Städten
2013 im Vergleich zu 1987 angestiegen. Der Anstieg lag zwischen drei Prozentpunkten in Bochum und knapp sechs in
Dortmund. In Duisburg lag der Anteil der Nichtdeutschen
allerdings schon 1995 bei 17,41 % der Bevölkerung und
ging danach zurück, was sich vermutlich auf einen Rückgang des Anteils der türkischen Bevölkerung zurückführen
lässt (vgl. Kap. 1.3).
2,
22
%
0%
35
n2
n 3,47
%
,57
So
nst
ige
,73
%
%
Griechenland 3,67 %
Kommune
Einwohner Staatsangehörigkeiten
Deutsche
Nichtdeutsche
Kreis Recklinghausen
613 878
156
91,9
8,1
Dortmund
575 944
171
86,8
13,2
Essen
569 884
170
88,8
11,2
486 855
160
84,0
16,1
457 033
148
93,3
6,7
Kreis Unna
391 622
141
92,9
7,1
Bochum
361 734
166
91,0
9,0
Ennepe-Ruhr-Kreis
322 731
144
92,4
7,6
Gelsenkirchen
257 850
150
85,3
14,7
Oberhausen
209 097
148
88,5
11,5
8
Hagen
185 996
139
86,9
13,1
Hamm
176 048
135
88,8
11,2
4
Mülheim an der Ruhr
166 640
145
88,6
11,4
Herne
154 417
129
87,4
12,6
Bottrop
116 055
116
91,9
8,1
16
12
0
Duisburg
1995
Essen
2002
2013
Bochum
Dortmund
Abb. 1.2.3: Entwicklung des Anteils der Nichtdeutschen in Duisburg,
Essen, Bochum und Dortmund 1987 – 2013 Quelle: Daten IT NRW (AZR
NRW).
18
1. EINLEITUNG
len
Po
8,3
6%
Türkei
1987
2%
n 4,7
24,69 %
Duisburg
Kreis Wesel
20
Italie
Abb. 1.2.4: Einwohnerzahl und Anteile Deutsche und Nichtdeutsche
der kreisfreien Städte und Kreise im Ruhrgebiet (31.12.2013) Quelle:
Daten IT NRW. Fortschreibung Zensus 2011.
Abb. 1.2.5: Die 15 größten Gruppen an Nichtdeutschen in der Metropole Ruhr 2013 (in % der Nichtdeutschen) Quelle: Daten IT NRW / AZR
NRW. Serbien ohne Kosovo (ab 1.5.2008)
1.2 METROPOLE RUHR
19
In allen Städten und Kreisen im RVR bilden die türkischen Staatsangehörigen die
größte Gruppe. Ihr Anteil liegt zwischen gut 2 Prozent der Bevölkerung im Ennepe-Ruhr-Kreis und bis zu knapp 8 Prozent der Bevölkerung in Gelsenkirchen und
Duisburg. Die Fallstudienstädte Dortmund, Bochum und Essen haben einen eher
mittleren bis niedrigen Anteil an türkischen Staatsangehörigen.
Neben der größten Gruppe interessiert uns aber auch die zweitgrößte Gruppe an
nichtdeutschen Staatsangehörigen. Überwiegend bilden polnische Staatsangehörige
diese Gruppe in den Kommunen. Ihre Bevölkerungsanteile sind in der Regel aber
deutlich kleiner als die der türkischen Staatsangehörigen. In Oberhausen, Hagen, dem
Ennepe-Ruhr-Kreis und im Kreis Unna bilden italienische Staatsangehörige die zweitgrößte Gruppe.
Der Anteilswert der zweitgrößten Gruppe an Nichtdeutschen an der Bevölkerung
liegt aber in der Regel deutlich unter dem der türkischen Staatsangehörigen. Dies
verweist mit Blick auf die hohe Anzahl an weiteren Nationalitäten auf die große Diversität in der Bevölkerung, auch wenn auf dieser Betrachtungsebene die deutschen
Staatsangehörigen immer noch die größte Gruppe stellen.
Polen
Polen
Polen
Polen
Italiener
Polen
Polen
Polen
Polen
Italiener
Polen
Polen
Polen
1,5–1,8 %
Dortmund
1,3–1,5 %
Bochum
Duisburg
Essen
Italiener
6,7–7,8 %
1,1–1,3 %
0,8–1,1 %
4,3–6,7 %
0,6–0,8 %
3,0–4,3 %
2,1–3,0 %
2,1–2,1 %
Abb. 1.2.6: Anteil der türkischen Staatsangehörigen an der
Bevölkerung in den kreisfreien Städten und Kreisen im Ruhrgebiet
(31.12.2013) Quelle: IT NRW – AZR.
20
1. EINLEITUNG
0
10
20
30
40 km
Abb. 1.2.7: Anteil der zweitgrößten Gruppe an nichtdeutschen Staatsangehörigen in der Bevölkerung der kreisfreien Städte und Kreise im Ruhrgebiet
(31.12.2013) Quelle: IT NRW – AZR.
1.2 METROPOLE RUHR
21
1.3 Migrationsgeschichte:
Schichten der Vielfalt nach 1945
Entstehung und Wachstum des Ruhrgebietes im 19. Jahrhundert waren stark geprägt
worden von zugewanderten Arbeitskräften und deren Familien.
In diesem Abschnitt wird die Entwicklung der Vielfalt der Bevölkerung in den vier
Fallstudienstädten Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund des Projektes »Metropolenzeichen« fokussiert und deren besonderes Profil, auch im Vergleich untereinander,
herausgearbeitet.
Die Zusammensetzung der Bevölkerung in den Fallstädten des Projektes »Metropolenzeichen« unterscheidet sich sowohl was den Anteil der Nichtdeutschen angeht (vgl. Kap.
1.2) als auch hinsichtlich der Größe von Gruppen zwischen
den Städten. Auf Basis der Daten aus dem Ausländerzentralregister (AZR) lässt sich die Zusammensetzung der Bevölkerung sehr differenziert nach Staatsangehörigkeiten beschreiben, bis zu 214 sind in dieser Datenquelle erfasst. Wie die
großen petrolblauen Flächen der Torten zeigen, haben in der
Regel etwa vier Fünftel eine deutsche Staatsangehörigkeit.
Die größte Gruppe unter den Nichtdeutschen bilden in allen
vier Städten die türkischen Staatsangehörigen. Weiterhin gibt
es in allen Städten eine relativ große Gruppe an Sonstigen,
die eine Vielzahl weiterer Staatsangehörigkeiten umfasst.
Das AZR erlaubt aber keine Aussagen über den Migrationshintergrund der Bevölkerung, vor allem nicht über Personen, die »nur« eine deutsche Staatsangehörigkeit haben
und trotzdem zugewandert sind. Im Rahmen des Zensus
2011 wurden Daten zum Migrationshintergrund der Bevölkerung erhoben. Einen Migrationshintergrund haben laut
Zensus alle zugewanderten und nicht zugewanderten Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit und alle nach 1955
auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Deutschen und alle Deutschen mit mindestens
einem nach 1955 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Elternteil.
Vergleicht man die Daten des Zensus 2011 im Ruhrgebiet, so liegt der Anteil an Personen, die selbst oder aufgrund
ihres familiären Hintergrunds Wanderungserfahrung haben,
zwischen etwa einem Fünftel im Kreis Wesel und knapp einem Drittel in Hagen.
Wie ist diese Vielfalt entstanden? Welche Gruppen sind
in den letzten 70 Jahren zugewandert und haben im Ruhrgebiet ihre Spuren hinterlassen?
20
35
17,83 %
15,55 %
16
25
12,26 %
12
10,19 %
20
Dortmund
15
8
10
Deutsch
4
Türkisch
0
10
20
30
40 km
Abb. 1.3.1: Vielfalt der Bevölkerung in Duisburg, Essen, Bochum und
Dortmund 2013 Quelle: IT NRW / AZR.
22
1. EINLEITUNG
Sonstige
Abb. 1.3.2: Ausgewählte Gruppen Nichtdeutscher in Duisburg, Essen,
Bochum und Dortmund (2013) Quelle: IT NRW (AZR 2013).
ag
en
g
H
ur
sb
ui
nk
se
G
el
D
am
irc
he
n
m
d
H
un
n
ne
tm
er
D
or
H
se
Es
ül
he
im
m
M
n
se
oc
hu
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rh
be
O
B
na
p
Un
is
is
en
us
tro
Kr
e
Anteil Nichtdeutscher
ot
Griechenland
B
Bulgarien
r-K
re
Sonstige
uh
Italien
-R
Rumänien
pe
Spanien
ne
Polen
ha
Türkei
el
Dortmund
ng
Bochum
W
es
Essen
En
Rumänisch
0
Duisburg
ck
li
Bulgarisch
0
is
Italienisch
Re
Polnisch
5
Kr
e
Essen
is
Duisburg
Kr
e
Bochum
30
Abb. 1.3.3: Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in
der Metropole Ruhr (Kreise und kreisfreie Städte) Fallstudienstädte
hervorgehoben. Quelle: Zensus 2011.
1.3 MIGRATIONSGESCHICHTE: SCHICHTEN DER VIELFALT NACH 1945
23
Nach 1945 lassen sich im Ruhrgebiet verschiedene Zuwanderungsphasen beschreiben, die unter sehr unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
sehr verschiedene Gruppen an neuen Einwohnern ins Ruhrgebiet geführt haben. Mit Hilfe von Querschnittsdaten zu
verschiedenen Zeitpunkten lassen sich einige dieser Schichten exemplarisch beschreiben, ohne dass sich daraus Aussagen über Verläufe von Wanderungsprozessen (Verbleib oder
Abwanderung ganzer Gruppen) oder die Aufenthaltsdauer
von Individuen ableiten lassen. Auch gibt es nicht für alle interessierenden Wanderungsbewegungen passende Daten, daher werden die Entwicklungen anhand einzelner Gruppen
stellvertretend beschrieben.
Gemeinsam ist diesen Phasen von Zuwanderung, dass
sie zu ihrer Zeit eine große Herausforderung an die Stadtgesellschaft darstellten und dass die Zuwanderer in irgendeiner
Weise vorübergehend oder dauerhaft Spuren in der sprachlichen Landschaft hinterlassen haben, und seien es nur die
Nachnamen ihrer assimilierten Nachkommen in den Telefonbüchern des Ruhrgebietes oder die Straßennamen der
Neubaugebiete der Nachkriegszeit.
Schicht 1: Zuwanderung von Gastarbeitern: Gekommen,
um zu bleiben?
Ab Mitte der 1950er Jahre wuchs die Arbeitskräftenachfrage
und konnte vor allem nach dem Bau der Mauer 1961 auch
nicht mehr nur durch DDR-Flüchtlinge gedeckt werden.
Schon 1955 wurde daher das erste Anwerbeabkommen
Westdeutschlands mit Italien geschlossen, das an die Anwerbepraxis der Zwischenkriegszeit anknüpfte. Danach folgten Abkommen mit Spanien und Griechenland (1960), der
Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien
(1965) und mit Jugoslawien (1968). Dies führte zu einem
starken Zuzug von Arbeitskräften nach Westdeutschland, allerdings bei einer erheblichen Fluktuation: zwischen 1955
und 1973 kamen etwa 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, etwa 11 Millionen kehrten wieder
zurück in die Herkunftsländer (Oltmer 2013: 38 f.). Die
Bundesregierung stoppte 1973 die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte infolge der Ölkrise und der daraus entstandenen Wirtschaftskrise. Der Aufenthalt ausländischer
Arbeitskräfte war ursprünglich nicht auf Dauer angelegt,
aber vor allem auch türkische Arbeitskräfte kehrten nicht zurück, sondern holten in den darauf folgenden Dekaden ihre
Familienmitglieder ins Ruhrgebiet nach.
Metropole Ruhr
1955
Anwerbeabkommen
u. a. mit Italien
2004 / 2007
EU-Erweiterungsrunden
u. a. mit Polen (2004);
Rumänien, Bulgarien (2007)
Mit Hilfe des Ausländerzentralregisters (AZR) lässt sich
die Zusammensetzung der nichtdeutschen Bevölkerung im
Zeitraum 1967 – 1970 analysieren. Der Anteil der Nichtdeutschen lag zwischen 4,3 % in Duisburg und 2,9 % in Bochum. In Duisburg bildeten auch schon zu Beginn der
1970er Jahre die türkischen Staatsangehörigen die größte
Gruppe, nicht aber in den anderen Städten. In Bochum waren dies die italienischen Staatsangehörigen, in Essen und
Dortmund die Jugoslawen. Neben weiteren Staatsangehörigen von Anwerbeländern (Griechenland und Spanien) gab
es in Duisburg noch eine relativ große Gruppe an Niederländern, wohl auch wegen der Nähe zur Grenze zum Nachbarland. Die Gruppe der Sonstigen lässt sich nicht weiter
differenzieren, auch über die Gesamtzahl der Staatsangehörigkeiten lässt sich mit diesen Daten keine Aussage machen.
15
10
5
0
1970
Duisburg
1995
1987
Essen
2002
Bochum
2013
Dortmund
Abb. 1.3.7: Anteil türkischer Staatsangehöriger an der Bevölkerung
in Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund (1970 – 2013) 1970
Gebietsstand vor der Gebietsreform 1976, Bochum und Wattenscheid
zusammengefasst. Quelle: AZR 1970 – 2013.
14
14
12
12
10
10
8
8
6
6
13,2 %
9,7 %
Sonstige
6,4 %
7,2 %
Spanien
Griechenland
Niederlande
4,3 %
4
3,3 %
3,7 %
2,9 %
2
1961
Anwerbeabkommen
mit der Türkei
2011
Beginn des Bürgerkriegs
in Syrien
Abb. 1.3.4: Schichten der Vielfalt
24
1. EINLEITUNG
0
4
Italien
2
Duisburg
Anteil Nichtdeutscher
Essen
Bochum
Dortmund
Abb. 1.3.5: Ausgewählte Gruppen Nichtdeutscher in Duisburg, Essen,
Bochum und Dortmund (1967 – 1970) Quelle: AZR, zusammengefasste
Werte 1967 – 1970, Gebietsstand vor der Gebietsreform 1976. Bochum
und Wattenscheid zusammengefasst.
0
Jugoslawien
Türkei
Duisburg
Essen
Bochum
Dortmund
Abb. 1.3.6: Ausgewählte Gruppen Nichtdeutscher in Duisburg, Essen,
Bochum und Dortmund (1987) Quelle: AZR 1987.
1.3 MIGRATIONSGESCHICHTE: SCHICHTEN DER VIELFALT NACH 1945
25
Im Vergleich der Städte wird wieder die besondere Stellung der Stadt Duisburg als Schwerpunkt türkischer Staatsangehöriger deutlich. In allen vier Städten lässt sich bis 1995
eine Zunahme des türkischen Bevölkerungsanteils beobachten, aber auch in diesem Zusammenhang hat Duisburg eine
Sonderstellung, denn hier wird der Höchstwert von zehn
Prozent der Bevölkerung erreicht. Ab 1995 sinken die Anteile mehr oder weniger deutlich. Die wichtigsten Ursachen
dafür dürften zunehmende Einbürgerungen und Rückwanderung von türkischen Staatsangehörigen sein. Die Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts in Deutschland ab dem
Jahr 2000 führte zusätzlich dazu, dass die Gruppe nicht weiter wuchs. In Deutschland geborene Kinder nichtdeutscher
Eltern erhielten seitdem die deutsche Staatsbürgerschaft und
tauchten im AZR im Gegensatz zu ihren Eltern nicht auf.
Die türkische Zuwanderungsgeschichte im Ruhrgebiet
lässt sich in vier Phasen einteilen (Ulusoy 2013), die ähnlich
wahrscheinlich auch bei anderen Gruppen an Arbeitsmigranten beobachtbar waren:
• Gastarbeiterphase (1961 – 1973)
• Hoffnung-auf-Rückkehr-Phase (1974 – 1985)
• Phase des Wurzelschlagens (1986 – 2005) und
• Transmigrationsphase (ab 2006).
Diese Phasen können nicht exakt voneinander abgegrenzt werden, aber jede wird von einer unterschiedlichen
Lebensorientierung und einer unterschiedlichen Dauerhaftigkeit des Migrationsprozesses geprägt (Ulusoy 2013: 67).
Die Transmigrationsphase unterscheidet sich von den anderen durch neue Formen zirkulärer Migration nicht nur der
Rentner der Gastarbeiter-Generation, die phasenweise in der
Türkei oder Deutschland leben, sondern auch der gut ausgebildeten und hochqualifizierten »Deutschtürken«, die abwechselnd in Deutschland und der Türkei leben und arbeiten (Ulusoy 2013: 74).
Vergleicht man im selben Zeitraum die Entwicklung der
Gruppe der italienischen Staatsangehörigen in den vier Städten, wird noch einmal der deutlich niedrigere Anteil der italienischen Staatsangehörigen an der Bevölkerung sichtbar,
der im gesamten Zeitraum in allen Städten unter 1 % lag.
In Duisburg und Dortmund stieg der Anteil bis 1987
an, um danach stufenweise zu sinken. In Bochum sank er
schon 1987 und 1995 im Vergleich zu 1970 deutlich, um
dann auf einem niedrigen Niveau stabil zu bleiben. In Essen
waren die Veränderungen im gesamten Zeitraum relativ unbedeutend. Italienische Gastarbeiter hatten bereits ab 1955
die Möglichkeit nach Deutschland zu kommen. Ab 1961
waren Italiener nicht mehr an Anwerbeabkommen gebunden, da die Staatsangehörigen des EWG-Mitglieds Italien ab
diesem Jahr Freizügigkeit im Binnenmarkt genossen. Wie
auch bei den türkischen Zuwanderern ebbte die Zuwanderung von Arbeitsmigranten ab Mitte der 1970er Jahre ab,
und der Familiennachzug nahm zu (Kolb 2013).
Die Arbeitsmigranten der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik und ihre Nachkommen prägen bis heute das Bild
der Diversität des Ruhrgebietes, insbesondere die türkische
Community ist besonders gut sichtbar, was visuelle Mehrsprachigkeit angeht. Viele Angehörige der ersten Gastarbeiter-Generation sind gekommen und geblieben, auch wenn
diese Entscheidung bei ihrer ersten Einreise noch nicht so
klar gewesen sein dürfte.
Schicht 2: Auswirkungen der EU-Erweiterungen 2004 und 2007: Polen, Bulgaren
und Rumänen in der Metropole Ruhr
2,0
2,0
1,8
1,8
1,6
1,6
1,4
1,4
1,2
1,2
1,0
1,0
0,8
0,8
0,6
0,6
0,4
0,4
0,2
0,2
0
1970
Duisburg
1995
1987
Essen
2002
Bochum
2013
Dortmund
Abb. 1.3.8: Italienische Staatsangehörige in Duisburg, Essen, Bochum
und Dortmund (1970 – 2013) 1970 Gebietsstand vor der Gebietsreform 1976. Bochum und Wattenscheid zusammengefasst. Quelle: AZR
1970 – 2013.
26
1. EINLEITUNG
Neben der vertraglich initiierten Arbeitsmigration waren die Erweiterungen der Europäischen Union nach Osten 2004 (Beitritt von Polen, den baltischen Staaten, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien) und Südosten 2007 (Beitritt von Rumänien
und Bulgarien) ein weiterer wichtiger Impuls für die Zuwanderung ins Ruhrgebiet.
Auch wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bürgerinnen und Bürger der neuen
EU-Länder bei beiden Erweiterungsrunden zunächst für einige Jahre beschränkt war,
prägen diese Gruppen zunehmend auch das Bild der Vielfalt der Bevölkerung im
Ruhrgebiet.
Die Zuwanderung der sog. Ruhrpolen war im 19. Jahrhundert ein entscheidender
Faktor für Wachstum und Entwicklung des Ruhrgebietes. Wie schon in Kapitel 1.2
gezeigt, stellen die polnischen Staatsangehörigen heute die zweitgrößte Migrantengruppe in der Metropole Ruhr und in den Fallstudienstädten des Projektes »Metropolenzeichen«. Damit sind nicht die vielen Spätaussiedler gemeint, die ab den 1980er
Jahren aus Polen nach Deutschland kamen, denn diese bekamen die deutsche Staatsangehörigkeit und tauchen, auch wenn sie zum Teil weiterhin eine polnische Staatsangehörigkeit haben, in unseren Daten nicht auf. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 trat am 17.06.1991 der Deutsch-Polnische Nachbarschaftsvertrag in Kraft,
der eine erste Grundlage für Austausch und Wanderung zwischen beiden Ländern
legte. Allerdings nahm erst nach dem EU-Beitritt Polens 2004 die Zuwanderung polnischer Staatsangehöriger nach Deutschland spürbar zu, noch einmal verstärkt nach
dem Wegfall aller Freizügigkeitsbeschränkungen ab 2011 (Kilgus 2013). Dies ist auch
im Vergleich der vier Fallstädte sichtbar, auch wenn die Erhebungsjahre nicht ganz
synchron zu den genannten Eckdaten liegen.
0
1995
2002
Duisburg
2006
2007
Essen
2008
2009
2010
Bochum
2011
2012
2013
Zunächst lag der Anteil polnischer Staatsangehöriger in
Duisburg deutlich über dem der anderen Städte, sank dann
bis 2002, um bis 2013 wie in den anderen Städten wieder
stark zuzunehmen. Den höchsten Anteil polnischer Staatsangehöriger gab es 2014 in Dortmund mit einem Anteil von
1,6 % an der Bevölkerung, den niedrigsten in Bochum mit
0,9 %. Dortmund war lange Zeit eine Art Hochburg polnischer Staatsangehöriger im Vergleich unserer Fallstädte, ab
2012 sinkt aber ihr Anteil an der Bevölkerung und nähert
sich wieder den anderen Städten an.
2014
Dortmund
Abb. 1.3.9: Polnische Staatsangehörige in Duisburg, Essen, Bochum
und Dortmund (1995 – 2014) Quelle: AZR 1995 – 2014.
1.3 MIGRATIONSGESCHICHTE: SCHICHTEN DER VIELFALT NACH 1945
27
Die polnischen Staatsangehörigen stellen in allen vier
Fallstudienstädten die zweitgrößte Gruppe an Nichtdeutschen, allerdings ohne dass sie hinsichtlich ihrer sprachlichen Präsenz das Bild der visuellen Mehrsprachigkeit besonders prägen würden (vgl. Kap. 3.4.5).
Zwei weitere Gruppen an EU-Zuwanderern wachsen in
den letzten Jahren deutlich in den untersuchten Städten des
Ruhrgebietes.
Ein Schwerpunkt der Zuwanderung von Rumänen liegt
seit 2012 in Duisburg mit einem Bevölkerungsanteil von
1,2 % 2014. Ab dem EU-Beitritt Rumäniens im Jahr 2007
steigt der Anteil der Staatsangehörigen zunächst vor allem in
Dortmund auf etwa 0,3 % der Bevölkerung, um 2014 nach
Erlangung der vollen Freizügigkeit für Rumänen sprunghaft
weiter anzusteigen. Dieser Effekt ist im Prinzip bei allen vier
Städten zu beobachten, wenn auch von einem jeweils unterschiedlichen Ausgangsniveau aus. Insbesondere in Essen und
Bochum ist die Dynamik zunächst gering, ab 2012 war aber
auch dort eine stärkere Zuwanderung zu beobachten.
Auch bei bulgarischen Staatsangehörigen war Duisburg
ein bevorzugtes Zielgebiet für Zuwanderung, stetig stieg seit
2007 der Anteil bis auf 1,3 % der Bevölkerung 2014. Einen
deutlich niedrigeren, aber relativ stabilen Anteil bulgarischer
Staatsangehöriger (0,3 %) gab es in Dortmund. In Essen und
Bochum ist die Entwicklung der Zuwanderung aus Südosteuropa insgesamt aber eher unauffällig.
Schicht 3: Globalisierung und Konflikt: Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien
2,0
1,8
1,6
1,4
1,2
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
0
2006
2007
Duisburg
2008
2009
Essen
2010
2011
Bochum
2012
2013
2014
Dortmund
Abb. 1.3.10: Rumänische Staatsangehörige in Duisburg, Essen,
Bochum und Dortmund (2006 – 2014) Quelle: AZR 2006 – 2014.
2,0
1,8
1,6
1,4
1,2
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
0
2006
2007
Duisburg
2008
Essen
2009
2010
2011
Bochum
Abb. 1.3.11: Bulgarische Staatsangehörige in Duisburg, Essen,
Bochum und Dortmund (2006 – 2014) Quelle: AZR 2006 – 2014.
28
1. EINLEITUNG
2012
Dortmund
2013
2014
Infolge von Demonstrationen gegen das Regime brach 2011
der Bürgerkrieg in Syrien aus. Laut Schätzung des UNHCR
haben von 22 Millionen Einwohnern des Landes ca.
5,5 Millionen das Land verlassen. Die meisten flüchteten in
die Nachbarländer Türkei, Jordanien und Libanon. Nicht
erst seit der verstärkten Zuwanderung von Flüchtlingen im
Jahr 2015 nimmt auch im Ruhrgebiet der Bevölkerungsanteil der Syrer stetig zu.
Nachdem die Anteile der syrischen Staatsangehörigen in
der Bevölkerung bis 2011 relativ konstant waren, stiegen sie
in allen vier Städten danach sprunghaft an. Im Vergleich zu
2014 haben sich die Zahlen der Syrer in den vier Städten
2015 noch einmal verdoppelt (ohne Abbildung), so dass die
Gruppe Ende 2015 beispielsweise in Bochum oder Dortmund bereits größer war als die der Rumänen und Bulgaren.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Schichten ist Duisburg für die syrischen Staatsangehörigen bisher kein Hauptzielgebiet, sondern eher Dortmund. Die Daten des AZR geben keine Auskunft über den rechtlichen Status der syrischen
Staatsangehörigen im Ruhrgebiet. Es ist aber davon auszugehen, dass sich darunter in großer Zahl antragstellende und
anerkannte Asylbewerber sowie Personen mit subsidiärem
Schutz befinden. Niemand kann zurzeit sagen, ob es noch
deutlich mehr werden, ob diese Menschen weiterziehen oder
bleiben, um hier zu leben und zu arbeiten.
Das Beispiel der Syrer zeigt eindrucksvoll, wie stark und
schnell die Vielfalt in der Metropole Ruhr auch von der Dynamik der weltpolitischen Entwicklung beeinflusst wird.
Sicher wird diese neue Gruppe auch bald ihre Spuren in der
visuellen Mehrsprachigkeit der Städte hinterlassen. Globalisierung und Konflikte in anderen Weltgegenden wirken sich
auch im Ruhrgebiet auf die Zusammensetzung der Bevölkerung aus. Aus einer regionalen Perspektive lässt sich diese
Zuwanderung nicht kontrollieren oder verhindern. Politische Entscheidungen, die Zuwanderung ermöglichen, werden auf anderen politischen Ebenen getroffen (Bund, Land,
EU), Kommunen haben darauf in der Regel keinen Einfluss.
Die Ortsgesellschaft im Ruhrgebiet ist wie auch in den letzten 70 Jahren immer wieder in ihrer Fähigkeit zur Integration gefragt.
2,0
1,8
1,6
1,4
1,2
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
0
2006
2007
Duisburg
2008
Essen
2009
2010
2011
Bochum
2012
2013
2014
Dortmund
Abb. 1.3.12: Syrische Staatsangehörige in Duisburg, Essen, Bochum
und Dortmund (2006 – 2014) Quelle: AZR 2006 – 2014.
1.3 MIGRATIONSGESCHICHTE: SCHICHTEN DER VIELFALT NACH 1945
29
1.4 Vielfalt und demografischer Wandel
Der demografische Wandel in der Gesellschaft führt nicht nur zu einer Alterung und
Schrumpfung der Bevölkerung in bestimmten Regionen Deutschlands, sondern in
den Ballungsräumen wie der Metropole Ruhr auch zu einer wachsenden Vielfalt der
Zusammensetzung besonders der jüngeren Jahrgänge, die aber oft unter Armutsbedingungen aufwachsen (Strohmeier 2008: 492 ff.). Besonders bei Kindern und Jugendlichen wächst in den Großstädten der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund.
Der Anteil an Personen in dieser Altersgruppe, die selbst oder aufgrund ihres familiären Hintergrunds Wanderungserfahrung haben, liegt am höchsten in Hagen und
am niedrigsten im Kreis Wesel. Im Vergleich der Fallstädte ergibt sich die bekannte
Reihenfolge der Migrationsprägung auch bei diesem Merkmal: an der Spitze Duisburg
(44,75 %), dann Dortmund (40,5 %) und Essen (38,3 %) und mit einem etwas niedrigeren Anteil Bochum (36,3 %).
50
45
40
35
30
25
20
15
10
Die relativ starke Migrationsprägung der unter 18jährigen in Duisburg lässt sich auch an der Verteilung der Vornamen für in den Jahren 2012 bis 2015 geborene Jungen und
Mädchen ablesen.
Bei der Namenswahl für Jungen und Mädchen ist das
Bild der Gesellschaft vielfältiger geworden. War bis Ende des
20. Jahrhunderts die Entwicklung der Namensgebung von
Säkularisierung und Individualisierung geprägt (Gerhards
2010), ist der häufigste Mädchenname in Duisburg der Jahrgänge 2012 bis 2015 Elif. Neben den vielen Mädchen mit
Namen wie Mia und Emma, die auch in dieser Zeit geboren
wurden, gibt es noch einige Mädchen, die Zeynep, Nisa und
Medina heißen. Auch wenn wir aufgrund der Namen der
Kinder noch gar nicht sicher wissen, ob die Eltern einen Migrationshintergrund haben, spricht bei bestimmten Vornamen doch vieles dafür.
Wer seinen Sohn Emir oder Yussuf oder seine Tochter
Elif oder Zeynep nennt, entscheidet sich gegen einen Namen, der in der Aufnahmegesellschaft verbreitet ist wie Maximilian oder Emma, und für einen Namen, der mit der
Herkunftsgesellschaft assoziiert ist, und das noch häufiger,
wenn Eltern segregiert leben, also in Wohngebieten mit einer ähnlichen Bevölkerungszusammensetzung. Eltern betrachten die Namensgebung ihrer Kinder also eher als Aufrechterhaltung ihrer Herkunft, als dass sie sich an die
Ankunftsgesellschaft anpassen würden (Gerhards / Hans
2009: 1124).
Gleichzeitig sind auch Namen ein Teil der visuellen
Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr, wenn sie auf
Schildern stehen (vgl. Kap. 3.5).
5
ag
en
n
nk
G
el
se
H
ur
irc
he
g
m
sb
ui
D
am
ne
er
un
H
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li
-R
pe
En
ne
Kr
e
is
uh
W
es
r-K
re
is
el
0
Abb. 1.4.1: Anteil der unter 18jährigen Kinder und Jugendlichen mit
Migrationshintergrund in der Metropole Ruhr Fallstudienstädte hervorgehoben. Quelle: Zensus 2011.
30
1. EINLEITUNG
1.4 VIELFALT UND DEMOGRAFISCHER WANDEL
31
Abb. 1.4.2: Die häufigsten Vornamen für Mädchen und Jungen in
Duisburg 2012–2015 Quelle: Angaben der Städte 2012–2015.
32
1. EINLEITUNG
1.4 VIELFALT UND DEMOGRAFISCHER WANDEL
33
1.5 Sprache und Beheimatung
Fragen der Integration von Zuwanderern, also der gleichberechtigten Teilhabe an den
zentralen gesellschaftlichen Ressourcen, fokussieren häufig den strukturellen Bereich
von Integration (d.h. Arbeitsmarkt, Bildung, politische Partizipation); hingegen werden die soziale und kulturelle Integration oft eher vernachlässigt. Auch wenn nicht geleugnet werden kann, dass die strukturelle Dimension die für die Daseinsbewältigung
bedeutendste ist, so ist doch festzuhalten, dass die Facetten gesellschaftlicher Integration nicht angemessen verstanden werden können, wenn kulturelle, soziale und identifikatorische Momente zu kurz kommen. Auf die unterschiedlich starken Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Dimensionen ist Hartmut Esser bereits 2001
eingegangen und hat sie anhand von SOEP-Daten (Sozio-ökonomische Panel-Daten)
empirisch belegt, so etwa den Zusammenhang von Sprachkenntnissen und Arbeitsmarktbeteiligung. Jedoch widmet sich der Großteil der empirischen Integrationsforschung, die die Mehrsprachigkeit von Zuwanderern untersucht, eher der funktionalen, alltagspragmatischen Dimension der Sprache (Bildungs- und Berufserfolg),
weniger aber der ästhetisch expressiven sowie der identifikatorischen Dimension. Und
wenn Mehrsprachigkeit thematisiert wird, so konzentriert man sich vorrangig auf den
familialen oder den Bildungskontext, weniger aber auf den öffentlichen Raum. Genau
auf diese Lücke wollen wir eingehen und zeigen, dass Konzepte wie »Zugehörigkeit«
und »Beheimatung« sowie ihre Symbolisierung in und mit Sprache im öffentlichen
Raum sowohl inhaltlich bedeutsam sind als auch sinnvoll analysiert werden können.
Denn (unterschiedliche) Sprachbeherrschung ist nicht allein für Bildungserfolg
zentral; grundlegender noch ist die Einsicht, dass Sprache das bevorzugte Mittel bildet,
mit dessen Hilfe sozialisierende Vorgänge eingeleitet und vermittelt sowie soziale Wirklichkeiten konstruiert und in sprachlichen Inhalten internalisiert werden. Insofern
spielt die Muttersprache bzw. die Erstsprache bereits eine entscheidende Rolle bei der
Identitätsbildung jedes einzelnen Menschen. Der primäre Spracherwerb geschieht zwar
stets in einem familialen-kulturellen Umfeld; diese sprachlichen Zeichen sind die ersten, die das Kind hört und sieht, doch erfahren diese in der Regel eine Fortsetzung im
öffentlichen Raum. Das Symbolsystem einer Sprache lässt sich nicht ohne die spezifischen Einstellungen des dazugehörigen sozialen Umfeldes übernehmen. Und die Muttersprache bzw. Erstsprache gilt sowohl in der Selbst- wie in der Fremdzuschreibung als
ein wichtiges Kennzeichen ethnischer bzw. kultureller Identität. Sie im Laufe der Sozialisation, so etwa in der Kita, in der Schule, im alltäglichen öffentlichen Raum, bewusst
abzulehnen, zu leugnen oder »unsichtbar« zu machen, hat negative Auswirkungen auf
das Selbstwertgefühl: Ein zentraler Aspekt der eigenen Identität erfährt eine Entwertung. Hingegen signalisiert die öffentliche Anerkennung und Sichtbarkeit der Erstsprache auch eine Anerkennung der jeweiligen kulturellen Bezugssysteme und ihrer Träger
und erleichtert die Beheimatung und Identifikation mit der Region und der Mehrheitsgesellschaft. Die Person erfährt ihre Umwelt als vertraut und heimisch, kann anknüpfen an biografisch bekannte Muster, erfährt sich als handlungsmächtig und die
Umwelt als kontrollierbar; insbesondere für Neuzuwanderer werden dadurch auch die
transnationalen Beziehungen (zwischen Herkunfts- und Ankunftskultur) gestärkt.
34
1. EINLEITuNG
Vor diesem Hintergrund erweist sich Mehrsprachigkeit
nicht als ein Makel (als eine zu vermeidende Andersheit),
sondern als eine Ressource, weil sie den Akkulturations-Stress von Minderheiten beträchtlich verringert.
Ferner ist eine wertgeschätzte und öffentlich artikulierte
Mehrsprachigkeit als ein besonderer Beitrag zur gesellschaftlichen Inklusion zu verstehen; denn mit der Akzeptanz von
Mehrsprachigkeit ist auch die kulturelle Praxis und Lebensform der »Anderen« impliziert (Hoffmann 2011).
Und umgekehrt zeigt sich: Anerkennungsverweigerung
bzw. erfahrene Diskriminierungen senken die Motivation
und die Bereitschaft, positive Einstellungen zur Mehrheitskultur zu bilden und die Sprache der Mehrheitskultur zu erwerben. Eine ausgeglichene Haltung zur eigenen wie zur
Zweitsprache hat z. B. bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte zugleich positive Auswirkungen auf den Zweitspracherwerb. Eine ablehnende Haltung zur Zweitsprache,
aber auch eine die eigene Sprache ablehnende oder eindeutig die Fremdsprache favorisierende Haltung mindert im
Schulkontext auch den Lernerfolg in der Zweitsprache bzw.
zeigt nicht den erwarteten Lernerfolg (Kuhs 1989).
Die Frage der Beheimatung durch die Präsenz der Sprache im öffentlichen Raum stellt sich natürlich auch aus der
Sicht der deutschen Muttersprachler als Sprecher der Sprache der Mehrheitskultur. Dabei müssen zwei Kontrastperspektiven unterschieden werden, die der äußeren Mehrsprachigkeit und die der inneren Mehrsprachigkeit. Je nachdem,
aus welcher Perspektive wir die Frage betrachten, haben wir
es mit einer anderen Form von Heimat zu tun.
Aus der Perspektive der äußeren Mehrsprachigkeit steht
das Deutsche als Standardsprache in einem Kontrast zu den
fremden Sprachen, d. h. Heimat als Bezugsgröße ist Deutschland (gegenüber dem »Ausland« bzw. den »Ausländern« im
eigenen Land). Da das Deutsche die sichtbare Sprachlandschaft in nahezu allen Vorkommensbereichen unserer Untersuchung eindeutig dominiert, könnte man von einer sprachlichen »Rundum-Beheimatung« sprechen. In einigen
Bereichen allerdings erreichen andere Sprachen – das Englische, das Türkische – einen Anteil, der der Dominanz des
Deutschen bedrohlich wird, was aus der Sicht der deutschen
Muttersprachler zu einer »Befremdung« führen könnte.
Aus der Perspektive der inneren Mehrsprachigkeit steht
die deutsche Standardsprache in einem Kontrast zu lokal
oder regional gebundenen Varietäten, in unserem Fall konkret zum Ruhrdeutschen, d. h. Heimat als Bezugsgröße ist in
diesem Fall das Ruhrgebiet (gegenüber Deutschland als
Ganzem). In der Forschung wird vielfach auf die Bedeutung
von Dialekten und Regiolekten für eine »sprachlich symbolisierte regionale Identität« (Löffler 1998: 79) als Gegengewicht zu einer nationalstaatlichen oder gar europäischen
Identität hingewiesen. Diese Bedeutung kommt aber wohl
hauptsächlich der gesprochenen Form dieser Nonstandard-Varietäten zu, deren Hörbarkeit zumindest im Ruhrgebiet mehr zur regionalen Beheimatung beiträgt als ihre
Sichtbarkeit, die überraschend gering ist, wie im Kapitel
zum Ruhrdeutschen (3.4.6) deutlich wird (vgl. auch
Ziegler / Schmitz / Eickmans 2017).
1.5 SPRACHE uND BEHEIMATuNG
35
2.
ERHEBUNGS GEBIETE
2.1 Lage, Typ und Funktion
der Erhebungsgebiete
Im Projekt »Metropolenzeichen« wurden aus vier Großstädten im Ruhrgebiet jeweils
zwei Stadtteile als Erhebungsgebiete zur fotografischen Dokumentation visueller
Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum ausgesucht. Je ein Stadtteil pro Stadt sollte
nördlich, der andere südlich des »Sozialäquators A 40« liegen (zum Begriff vgl. Kersting et al. 2009).
In diesem Kapitel werden die acht Erhebungsgebiete vorgestellt. In Kapitel 2.1
geht es um Lage, Typ und Funktion der Stadtteile im Zusammenhang der Stadt, also
um die Verortung der Erhebungsgebiete. In Kapitel 2.2 wird die Zusammensetzung
der Bevölkerung vorgestellt. Die Vielfalt der Bevölkerung ist ein wesentlicher Faktor
für die Struktur sichtbarer Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum. Kapitel 2.3 zeigt
am Beispiel der Stadt Bochum, dass Siedlungsstrukturen auch über einen Zeitraum
von fast 30 Jahren relativ konstant bleiben. Die Prägung von Stadtteilen durch Zuwanderung hat also eine lange Geschichte, die eng verbunden ist mit dem Auf- und Abstieg der Montanindustrie in diesem Raum.
Nordstadt
Marxloh
Hamme
Duisburg
Altendorf
Langendreer
Dortmund
Hörde
Bochum
Innenstadt
Rüttenscheid
Essen
0
10
20
30
40 km
Abb. 2.1.1: Alle Erhebungsgebiete im Überblick
38
2. ERHEBUNGS GEBIETE
2.1 LAGE, TYP UND FUNKTION DER ERHEBUNGSGEBIETE
39
Duisburg-Marxloh
Duisburg-Innenstadt
Der Stadtteil DU-Marxloh liegt einige Kilometer nördlich des Stadtzentrums und wird
durch das Gebiet des Binnenhafens vom Stadtzentrum getrennt. Der Stadtteil grenzt
im Westen an das ThyssenKrupp-Werksgelände. Abbildung 2.1.2 zeigt das Erhebungsgebiet der fotografischen Dokumentation von visueller Mehrsprachigkeit in DU-Marxloh. Jeder Punkt steht für ein Foto. Das Erhebungsgebiet zieht sich entlang der Weseler
Straße zwischen Dahlmannstraße im Südosten und der Schmelzerstraße im Nordwesten. Die Weseler Straße weist eine gemischte Struktur aus Wohnen, Einzelhandel
(kurzfristiger Bedarf ), Gastronomie und Dienstleistungen auf (Beckmann / Stein
2010a). Eine überlokal bekannte Besonderheit ist die hohe Dichte an Geschäften mit
Bezug zu türkischen Hochzeiten (Hochzeitsmode, Juweliere, Gastronomie). Der Stadtteil Marxloh erfüllt laut Einzelhandelsplan der Stadt Duisburg zusammen mit dem
südöstlich anschließenden Gebiet des Stadtteils Hamborn die Funktion eines zweiten
Hauptzentrums neben der Duisburger Innenstadt, d. h. die Geschäftsstruktur zieht
Kunden aus ganz Duisburg und regional angrenzenden Kommunen an.
Das Erhebungsgebiet Innenstadt liegt im Stadtzentrum von Duisburg und umfasst die
Haupteinkaufsstraße Königsstraße im Norden. Das Gebiet wird begrenzt von der Düsseldorfer Straße im Westen, der Mercatorstraße im Osten und der Friedrich-WilhelmStraße im Süden. Das Erhebungsgebiet ist geprägt von der zentralen Fußgängerzone
und der sich darum gruppierenden Einzelhandels-, Gewerbe-, Gastronomie- und
Dienstleistungsstruktur, die typisch für das Stadtzentrum einer Großstadt ist. Laut
dem Einzelhandels- und Zentrumskonzept ist die Innenstadt der größte wie auch
funktional bedeutendste Versorgungsbereich (Beckmann / Stein 2010b) in Duisburg.
Das Einzugsgebiet bildet die ganze Stadt, ggf. geht es sogar darüber hinaus, da die Innenstadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr gut zu erreichen ist.
Lage
Typ
Funktion
Fläche in km2
Einwohner
Bilder
Lage
Typ
Funktion
Fläche in km2
Einwohner
Bilder
Nördlich der
Innenstadt
altindustriell
Einzugsgebiet
Gesamtstadt
7,6
15 330
1236
Innenstadt
Stadtzentrum
Einzugsgebiet
Gesamtstadt
2,6
13 821
5624
Willy-Brandt-Ring
rb
Wa
kst
ruc
raß
Lan
e
dfe
rm
ann
stra
ße
59
e
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ors
59
Me
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t
Düsse
59
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ße
Wa
rb
ruc
kst
raß
e
59
Abb. 2.1.2: Erhebungsgebiet Duisburg-Marxloh – Weseler Straße Punkte markieren die Fundorte
von Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
40
2. ERHEBUNGS GEBIETE
Abb. 2.1.3: Erhebungsgebiet Duisburg-Innenstadt – Friedrich-Wilhelm-Straße Punkte markieren die
Fundorte von Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
2.1 LAGE, TYP UND FUNKTION DER ERHEBUNGSGEBIETE
41
Essen-Altendorf
Essen-Rüttenscheid
Der Stadtteil Altendorf liegt westlich des Stadtzentrums und wird durch das ehemalige Kruppgelände von der Stadtmitte getrennt. Das Erhebungsgebiet zieht sich entlang der Altendorfer Straße zwischen Haedenkampstraße im Osten und Wüstenhöferstraße im Westen. Die Altendorfer Straße weist eine gemischte Struktur aus Wohnen,
Einzelhandel (kurzfristiger Bedarf ), Gastronomie und Dienstleistungen auf (Amt für
Stadtplanung und Bauordnung Essen 2011). Die Altendorfer Straße erfüllt laut Masterplan Einzelhandel der Stadt Essen im Wesentlichen eine Versorgungsfunktion für
den Stadtbezirk.
Das Erhebungsgebiet Rüttenscheid liegt südlich der A 40 und zieht sich entlang der
Rüttenscheider Straße von der Bismarckstraße im Norden bis zur Wittekindstraße im
Süden. Das Erhebungsgebiet ist geprägt durch eine Mischung von Wohnen, Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen. Durch die Nähe zu wichtigen Kulturinstitutionen wie dem Museum Folkwang oder der Philharmonie sowie dem etwas
weiter südlich gelegenen Messegelände finden sich auch Galerien und hochwertige
Gastronomie (Cafés, Kneipen, Restaurants). Laut Masterplan Einzelhandel hat Rüttenscheid als sog. »B-Zentrum« stadtbezirksübergreifende bzw. gesamtstädtische Funktionen (Amt für Stadtplanung und Bauordnung Essen 2011).
Typ
Funktion
Fläche in km2
Einwohner
Bilder
Lage
Typ
Funktion
Fläche in km2
Einwohner
Bilder
Westlich der
Innenstadt
altindustriell
Bezirkszentrum
2,5
7026
2100
Südlich der
Innenstadt
Wohn- und Geschäftsviertel
Einzugsgebiet
Gesamtstadt
4,5
13 464
6057
Rüttens
ße
ra
ha
er
st
ol
Hirtsiefe
rstraße
Paulinen
straße
H
Hele
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us
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st
stra
Schölerp
ße
ad
224
cheide
r
Straße
Lage
Ob
o
erd
rfs
tra
ße
224
Abb. 2.1.4: Erhebungsgebiet Essen-Altendorf – Altendorfer Straße Punkte markieren die Fundorte
von Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
42
2. ERHEBUNGS GEBIETE
Abb. 2.1.5: Erhebungsgebiet Essen-Rüttenscheid – Rüttenscheider Straße Punkte markieren die
Fundorte von Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
2.1 LAGE, TYP UND FUNKTION DER ERHEBUNGSGEBIETE
43
Bochum-Hamme
Bochum-Langendreer
Der Stadtteil Hamme liegt nordwestlich des Bochumer Stadtzentrums. Das Erhebungsgebiet zieht sich entlang der Dorstener Straße zwischen Zechenstraße im Südosten und Berggate im Nordwesten. Nördlich des Erhebungsgebietes verläuft von Ost
nach West die Autobahn A 40. Die Dorstener Straße weist eine gemischte Struktur aus
Wohnen, Einzelhandel (kurzfristiger Bedarf ), Gastronomie und Dienstleistungen auf
(Hagemann / Kruse 2012). Der Bereich liegt am Innenstadtrand, Handel und Dienstleistungen dienen aber in erster Linie der Nahversorgung der Bevölkerung um das Erhebungsgebiet herum.
Der Stadtteil Langendreer liegt einige Kilometer östlich des Stadtzentrums an der
Stadtgrenze zu Dortmund. Das Erhebungsgebiet Langendreer liegt südlich der A 40
und in der Nähe der S-Bahnstation Bochum-Langendreer West, links und rechts der
Alten Bahnhofsstraße zwischen Ümminger Straße im Westen, Lünsender Straße im
Osten und Wittenbergstraße im Süden. Es wird geprägt durch einen zusammenhängenden gründerzeitlichen Baubestand. Die Alte Bahnhofsstraße weist eine gemischte
Struktur aus Wohnen, Einzelhandel (kurzfristiger Bedarf ), Gastronomie und Dienstleistungen auf (Hagemann / Kruse 2012). Die Geschäftsstraße erfüllt laut Masterplan
Einzelhandel eher eine Nahversorgungsfunktion für den umliegenden Stadtteil.
Lage
Typ
Funktion
Fläche in km2
Einwohner
Bilder
Lage
Typ
Funktion
Fläche in km2
Einwohner
Bilder
Nord-westlich der
Innenstadt
altindustriell
Nahversorgung
4,0
13 172
2007
Östlich der
Innenstadt
altindustriell
Nahversorgung
2,6
5639
1908
40
raße
ger
min
Üm
Gahle
nsche
Straß
e
Lünsender Straße
r St
aße
iepe
Str
s
Feld
Al
Abb. 2.1.6: Erhebungsgebiet Bochum-Hamme – Dorstener Straße Punkte markieren die Fundorte
von Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
44
2. ERHEBUNGS GEBIETE
te
Ba
hn
ho
fs
st
ra
ße
Abb. 2.1.7: Erhebungsgebiet Bochum-Langendreer – Alte Bahnhofsstraße Punkte markieren die
Fundorte von Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
2.1 LAGE, TYP UND FUNKTION DER ERHEBUNGSGEBIETE
45
Dortmund-Nordstadt
Dortmund-Hörde
Der Stadtteil Nordstadt liegt nördlich des Stadtzentrums, jenseits der Hauptbahnlinie,
die eine starke städteräumliche Trennwirkung hat. Das Erhebungsgebiet zieht sich entlang der Münsterstraße, von der Heiligegartenstraße im Süden bis zur U-Bahnhaltestelle Lortzingstraße im Norden. Der südliche Abschnitt der Münsterstraße bis zur
Mallinckrodtstraße ist verkehrsberuhigt und geprägt von einer gemischten Struktur
aus Wohnen, Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen. Der nördliche Teil der
Münsterstraße ist stark befahren und deutlich aufgelockert, was den Bestand an Geschäften etc. angeht. Der südliche Bereich Münsterstraße wird aufgrund seiner über
den Nahraum hinausgehenden Versorgungsfunktion als »Stadtbezirkszentrum Nordstadt« eingestuft. Ethnische Ökonomie hat eine sehr große Bedeutung (Kopischke / Kruse 2013).
Das Erhebungsgebiet Hörde liegt südlich der B1 und gehört zum zentralen Einkaufsbereich der Hörder Innenstadt. Es zieht sich entlang der Hermannstraße, Hörder Rathausstraße und der Hörder Semerteichstraße. Westlich des Erhebungsgebietes wurde
in den letzten Jahren auf dem Gelände eines ehemaligen Stahlwerkes der Phönixsee
neu angelegt und mit einer exklusiven Wohnbebauung umgeben, so dass davon auszugehen ist, dass es in den nächsten Jahren im räumlichen Umfeld zu Gentrifizierungsprozessen kommt. Das Erhebungsgebiet ist geprägt durch die zentrale Fußgängerzone
mit einer typischen Mischung von Wohnen, Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen. Laut Masterplan Einzelhandel der Stadt Dortmund wird dieser Bereich
aufgrund seiner über den Nahraum hinausgehenden Versorgungsfunktion als »Stadtbezirkszentrum Hörde« eingestuft (Kopischke / Kruse 2013).
Typ
Funktion
Fläche in km2
Einwohner
Bilder
Lage
Typ
Funktion
Fläche in km2
Einwohner
Bilder
Nördlich der
Innenstadt
altindustriell
Bezirkszentrum
3,2
17 182
2847
Süd-östlich der
Innenstadt
altindustriell
Bezirkszentrum
5,9
3567
1415
ß
Faßstra
ße
Schützenstra
e
Lage
Mallin
traße
Uhlandstra
54
Bornstraße
dtstraße
ße
Mallinckro
ts
ckrod
Hörde
Abb. 2.1.8: Erhebungsgebiet Dortmund-Nordstadt – Münsterstraße Punkte markieren die Fundorte
von Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
46
2. ERHEBUNGS GEBIETE
r Bahn
hofsstr
aße
Abb. 2.1.9: Erhebungsgebiet Dortmund-Hörde – Hermannstraße Punkte markieren die Fundorte
von Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
2.1 LAGE, TYP UND FUNKTION DER ERHEBUNGSGEBIETE
47
2.2 Bevölkerung und Vielfalt
Die Zusammensetzung der Bevölkerung der Erhebungsgebiete ist unterschiedlich
stark durch Migration und Vielfalt geprägt. Wir gehen davon aus, dass sich unterschiedliche Migrationsprägungen auch in unterschiedlichen Mustern visueller Mehrsprachigkeit widerspiegeln. Wie die folgende Karte zeigt, sind die Erhebungsgebiete
nördlich der A 40 / B 1 in allen vier Städten etwas stärker migrationsgeprägt als die Erhebungsgebiete südlich des sog. Sozialäquators. Die kleinen Tortendiagramme neben
den Namen zeigen die Zusammensetzung nach Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, Doppelstaatlern, also Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit und einer
weiteren Staatsangehörigkeit, und Nichtdeutschen, also Personen mit einer anderen
Staatsangehörigkeit.
In der unten stehenden Grafik lässt sich die Rangfolge der Erhebungsgebiete noch
etwas deutlicher erkennen. Die Erhebungsgebiete sind von links (Rüttenscheid) nach
rechts (Marxloh) absteigend nach dem Anteil der deutschen Staatsangehörigen angeordnet. Außerdem ist auf den Balken jeweils die Anzahl der vertretenen Staatsangehörigkeiten notiert.
Am niedrigsten ist der Anteil der Deutschen mit 27,2 % in DU-Marxloh, schon
deutlich höher in der Dortmunder Nordstadt mit 44,3 %. Diese beiden Erhebungsgebiete unterscheiden sich auch deutlich von den anderen sechs ausgewählten Gebieten
hinsichtlich der Zusammensetzung der Staatsangehörigkeiten der Bevölkerung, wie
später gezeigt wird. Der Anteil der Deutschen liegt in den anderen Stadtteilen deutlich über DU-Marxloh und der Dortmunder Nordstadt, am höchsten ist er mit 86,1 %
im Erhebungsgebiet E-Rüttenscheid, das am wenigsten von Migration geprägt ist. Die
Anzahl der Staatsangehörigkeiten schwankt ganz erheblich zwischen den Gebieten.
Am höchsten ist sie mit 78 in der Duisburger Innenstadt, am niedrigsten mit 23 in
BO-Langendreer. Die Mischung ist in der Regel sehr vielfältig, so dass in fast allen Gebieten alle Kontinente der Welt vertreten sind.
Die Zusammensetzung der Bevölkerung mit Blick auf ausgewählte Staatsangehörigkeiten (vgl. Kap. 1.3), die stellvertretend für verschiedene »Schichten der Vielfalt«
stehen, unterscheidet sich auch sehr stark zwischen den Gebieten.
100 %
90
78
90 %
80 %
DU-Marxloh
E-Altendorf
70
65
70 %
DO-Nordstadt
57
60 %
BO-Hamme
80
55
57
48
60
50
50 %
40
40 %
38
30
30 %
Anteil der Deutschen
10
0%
0
10
20
30
40 km
h
M
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dt
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In
Al
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Rü
0
r
Anteil Doppelstaatler
ns
E-Rüttenscheid
10 %
Anteil der Nichtdeutschen
La
DO-Hörde
id
BO-Langendreer
20
23
20 %
ch
e
DU-Innenstadt
% Deutsche
% Nichtdeutsche
% Doppelstaatler
Anzahl Staatsangehörigkeiten
Abb. 2.2.2: Vergleich der Erhebungsgebiete nach Migrationsprägung 2013
Quelle: Daten der Städte.
Abb. 2.2.1: Vergleich der Erhebungsgebiete nach Migrationsprägung
2013 Quelle: Daten der Städte.
48
2. ERHEBUNGS GEBIETE
2.2 BEVÖLKERUNG UND VIELFALT
49
In den Säulen dargestellt ist jeweils der Anteil von fünf ausgewählten Staatsangehörigkeiten an der Bevölkerung des Gebietes. Die größten Gruppen an Nichtdeutschen sind in der Regel die türkischen Staatsangehörigen, mit Ausnahme von E-Rüttenscheid (hier sind es die Italiener) und der Duisburger Innenstadt, wo die Gruppe
der Rumänen aber nur unwesentlich größer ist als die der Türken. Die größte türkische Community gibt es in DU-Marxloh, gut ein Fünftel der Bevölkerung hat einen
türkischen Pass. In allen Gebieten außer E-Rüttenscheid gibt es eine etwas größere
Gruppe polnischer Staatsangehöriger. Ebenso wird sichtbar, dass nicht in allen Erhebungsgebieten in den letzten Jahren verstärkt Rumänen und Bulgaren zugewandert
sind, sie sind eher in der Duisburger Innenstadt, in der Dortmunder Nordstadt und
in DU-Marxloh zu finden. Bemerkenswert bei allen Erhebungsgebieten ist der hohe
Anteil an sonstigen Staatsangehörigkeiten. Dieser liegt mit gut einem Fünftel am
höchsten in der Dortmunder Nordstadt, aber auch in der Duisburger Innenstadt, in
E-Altendorf und BO-Hamme finden sich höhere Anteile von Personen mit weiteren
Staatsangehörigen als den hier präsentierten.
Der Diversitäts-Index nach Simpson (Simpson 1949; vgl. auch Peukert 2013) ist
eine Maßzahl zur Bestimmung des Ausmaßes der Vielfalt der Bevölkerung von Gebieten. Er gibt uns eine Grundlage für einen Vergleich der Erhebungsgebiete. Der Diversitäts-Index nach Simpson wird berechnet, indem man von »1« die Quadratsumme der
Anteilswerte aller Staatsangehörigkeits-Gruppen sowie der Deutschen und der Doppelstaatler abzieht. Der Index-Wert liegt zwischen »0« (keine Diversität) und »1« (maximale Diversität).
Eine besonders große Vielfalt der Bevölkerung gibt es mit Blick auf den Diversitätsindex in DU-Marxloh und der Dortmunder Nordstadt, gleichzeitig sind das die
Gebiete mit dem höchsten Anteil an Nichtdeutschen. Geringe Vielfalt finden wir in
E-Rüttenscheid: Es gibt nur einen niedrigen Anteil an Nichtdeutschen und einen
niedrigen Wert des Diversitätsindex. Die restlichen Erhebungsgebiete bilden eine in
sich relativ heterogene Mittelgruppe, in der zwar die Indexwerte für Diversität mit
dem Anteil der Nichtdeutschen langsam ansteigt, aber die Mischung der Bevölkerung
wie gesehen recht unterschiedlich sein kann.
0,8
0,8
0,8
50
50
48,9
0,7
43,4
0,6
40
40
0,6
0,5
0,5
0,5
30
30
0,4
0,4
0,3
20
20
20,4
19,3
17,4
21,5
0,3
0,2
12,2
10
10
0,2
8,7
0,1
Polen
Rumänien
Italien
Bulgarien
Sonstige
Anteil an Nichtdeutschen
h
M
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dt
ta
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In
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dr
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ng
La
H
ee
r
id
ch
e
ns
tte
Rü
0
e
0
0
Diversitätsindex
Abb. 2.2.4: Vielfalt der Erhebungsgebiete: Anteil der Nichtdeutschen,
Anzahl der Staatsangehörigkeiten und Diversitätsindex 2013
Abb. 2.2.3: Zusammensetzung der Bevölkerung der Erhebungsgebiete
nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten 2013 Quelle: Daten der Städte.
50
2. ERHEBUNGS GEBIETE
2.2 BEVÖLKERUNG UND VIELFALT
51
2.3 Migrationsprägung von
Stadtteilen im Zeitvergleich am
Beispiel der Stadt Bochum
1987 lag der Anteil der Nichtdeutschen in Bochum bei 7,2 %, also um gut drei Prozentpunkte niedriger als 2013. Hamme und Langendreer gehörten auch schon 1987 zu
den Stadtteilen mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Nichtdeutschen. Die
Spannweite lag 1987 bei gut 15 Prozentpunkten. Die Migrationsprägung der Stadtteile
hat sich in gut 25 Jahren also etwas verstärkt, die Unterschiede zwischen den Stadtteilen
sind aber auffallend konstant geblieben.
Stadtteile sind aufgrund ihrer Lage und der Struktur des lokalen Wohnungsmarktes
mehr oder weniger stark von Migration geprägt (Strohmeier et al. 2015). Die Migrationsprägung von Stadtteilen ist über die Zeit relativ konstant. Migrationsprägung ist
also keine Momentaufnahme, sondern hat in manchen Stadtteilen schon eine lange
Geschichte, wie in diesem Kapitel anhand der Stadt Bochum im Längsschnittvergleich
gezeigt wird. Die folgenden Karten vermitteln einen Eindruck der räumlichen Verteilung der migrationsgeprägten Stadtteile in Bochum 2013 und 1987. Je dunkler die
Farbe, desto höher ist der Anteil der Nichtdeutschen.
Der Anteil der Nichtdeutschen an der Bevölkerung der Stadt Bochum lag 2013
bei 10,2 % (petrolblauer Balken). Auf der Stadtteilebene ist die Spannweite zwischen
dem niedrigsten und höchsten Anteil mit über 20 Prozentpunkten recht groß. In den
beiden Erhebungsgebieten Langendreer und Hamme liegt der Anteil der Nichtdeutschen über dem städtischen Anteil.
25
23,3
20
17,4
15
12,2
10,2
10
5
2,4
m
am
La
ng
H
en
dr
ee
r
e
0
Abb. 2.3.3: Anteil der Nichtdeutschen an der Bevölkerung in 30 Stadtteilen in Bochum 2013
Erhebungsgebiete hervorgehoben. Quelle: Daten der Stadt Bochum.
25
Hamme
Hamme
20
16,1
Langendreer
Langendreer
15
10,3
10
8,8
7,2
Abb. 2.3.1: Anteil der Nichtdeutschen im
Stadtteilvergleich in Bochum 1987
52
2. ERHEBUNGS GEBIETE
Abb. 2.3.2: Anteil der Nichtdeutschen im
Stadtteilvergleich in Bochum 2013
e
7,6 – 2,4
La
ng
m
4,9 – 1,2
am
12,9 – 7,6
H
8,6 – 4,9
1,2
0
r
18,1 – 12,9
ee
12,3 – 8,6
5
dr
23,3 – 18,1
en
16,1 – 12,3
Abb. 2.3.4: Anteil der Nichtdeutschen an der Bevölkerung in 30 Stadtteilen in Bochum 1987
Quelle: Daten der Volkszählung 1987.
2.3 MIGRATIONSPRÄGUNG VON STADTTEILEN IM ZEITVERGLEICH AM BEISPIEL DER STADT BOCHUM
53
3.
FORMEN DER
SICHTBAREN
MEHRSPRACHIGKEIT
3.1 Die am häufigsten
vorkommenden Sprachen
11 %
7
Arabisch
185
7%
8
Latein
157
6%
9
Polnisch
143
5%
10
Nonstandard
110
4%
11
Niederländisch
100
4%
12
Chinesisch
77
3%
13
Japanisch
76
3%
14
Russisch
64
2%
15
Griechisch
53
2%
Spanisch 1 %
286
Italienisch 1 %
Spanisch
%
6
sisch 2
15 %
Franzö
16 %
379
4%
429
Italienisch
isch
Französisch
Türk
4
6%
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
%
5
Abb. 3.1.1: Die häufigsten Sprachen (Platz 4 bis 15)
56
N
re
Sprache
de
Rang
Dabei ist daran zu denken, dass allein unter Essener
Grundschülern im Jahre 2002 über einhundert Muttersprachen vertreten waren (Baur et al. 2004: 98). Einerseits mag
der mit einem Drittel jedenfalls quantitativ recht hohe Anteil nichtdeutscher Textpassagen im öffentlichen Raum überraschen. Andererseits scheint angesichts des mit fast 20 %
ebenfalls hohen Anteils englischsprachiger Passagen intuitiv
ebenso klar, dass die Herkunftssprachen der Einwohner in
der Öffentlichkeit nicht so präsent sind, wie das ihrem Anteil an der Bevölkerung theoretisch entspräche.
An
Wer durchs Ruhrgebiet geht, sieht Wörter und Texte in zahlreichen Sprachen. Sie geben einen Einblick in die Sprachpraxis und damit in das tatsächliche Sprachenmanagement privater und öffentlicher Akteure. Wenn man das näher untersuchen will, muss
man nicht nur die jeweilige Sprachenwahl betrachten, sondern auch die Zwecke und
Funktionen, die damit verbunden sind, sowie sprachlich-formale Aspekte. Wir haben
In- und Aufschriften in mehr als 50 Sprachen gefunden. Meist handelt es sich um Ellipsen, Fragmente, einzelne Wörter oder Ansammlungen davon. Rund 250 Bilder enthalten auch Textstücke, die wir nicht eindeutig zuordnen konnten, meist Eigennamen,
Kunstwörter oder Abkürzungen.
Viele der gut 25 500 Fotos in unserer Datenbank zeigen Graffiti-Tags oder keinerlei Sprachanteile, andere mehrere Sprachen (z.B. auf einem mehrsprachigen Schild).
Knapp 60 % sind einsprachig, die übrigen (zwei- oder) mehrsprachig. So ergeben sich
27 265 verschiedene Sprachvorkommen (z.B. auf einem zweisprachigen Schild zwei).
Die zählen wir nun genau durch.
18 050 (66 %) sind (standard)deutsche Passagen, 5 479 (20 %) englische und
1 122 (4 %) türkische. Französisch ist 429 Mal vertreten (1,6 %), Italienisch 379 Mal
(1,4 %), Spanisch 286 Mal (1 %). Alle übrigen Sprachen weisen jeweils Anteile deutlich unter einem Prozent auf (vgl. Abb. 3.1.2).
Um den Maßstab für die selten vorkommenden Sprachen zu vergrößern, betrachten wir nun alle Fälle außer den drei häufigsten Sprachen (Deutsch, Englisch und Türkisch) als eigene Gruppe (N = 2 606, also knapp 10 % sämtlicher Fälle). Darin ergibt
sich folgende Rangfolge (Platz 4 bis 15; Nonstandard umfasst hauptsächlich regionaloder szenesprachliche Ausdrücke wie »Mudda«):
Alle übrigen Sprachen weisen hier Werte unter 2 %
(von N = 2 606) auf; das entspricht Anteilen von unter 0,2 %
sämtlicher Sprachvorkommen. Die Reihenfolge (Platz 16 bis
26) lautet hier Portugiesisch 44, Koreanisch 42, Persisch 29,
Dänisch 26, Tschechisch 22, Kurdisch 10, Hindi 16, Rumänisch 15, Tamil 13, Kroatisch 12, Schwedisch 10. Die übrigen Sprachen (von Albanisch über Hebräisch bis Swahili
und Thailändisch) kommen seltener als 10 Mal im öffentlichen Raum der untersuchten Gebiete vor.
Englisch 20 %
66 % Deutsch
Abb. 3.1.2: Die häufigsten Sprachen
3.1 DIE AM HÄUFIGSTEN VORKOMMENDEN SPRACHEN
57
Abb. 3.1.4: DU-Marxloh, einsprachig Türkisch
Abb. 3.1.5: E-Rüttenscheid, Deutsch &
Französisch
Abb. 3.1.6: DO-Hörde, einsprachig Deutsch
Abb. 3.1.7: DU-Marxloh, Deutsch & Türkisch
Abb. 3.1.8: DU-Innenstadt, einsprachig Spanisch
Abb. 3.1.9: E-Altendorf, einsprachig Arabisch
Abb. 3.1.10: DO-Nordstadt, Arabisch, Englisch
& Deutsch
Abb. 3.1.11: DO-Nordstadt, Russisch und andere
Abb. 3.1.3: DU-Marxloh, einsprachig Deutsch
58
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.1 DIE AM HÄUFIGSTEN VORKOMMENDEN SPRACHEN
59
Abb. 3.1.12: Die häufigsten Sprachen
in der Metropole Ruhr
Deutsch
Polnisch
Englisch
Nonstandard
Türkisch
Niederländisch
Französisch
Chinesisch
Italienisch
Japanisch
Spanisch
Russisch
Arabisch
Griechisch
Latein
Zu den Größenverhältnissen: 1mm entspricht 1%. Sprachen
mit einem Vorkommen unter oder gleich 1% sind als einheitlich
1mm große Kreise dargestellt.
Nordstadt
Dortmund
Marxloh
Duisburg
Hamme
Altendorf
Hörde
Essen
Langendreer
Bochum
Rüttenscheid
Innenstadt
60
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.1 DIE AM HÄUFIGSTEN VORKOMMENDEN SPRACHEN
61
3.1.1 Sichtbarkeit und Verteilung der
Sprachen in den Stadtteilen
Die acht untersuchten Stadtteile haben unterschiedlichen Charakter und sind auch bevölkerungssoziologisch verschieden geprägt (s. Kap. 2). Schlägt sich diese Verschiedenheit auch in der Beschriftung des öffentlichen Raums nieder?
Gesamtmenge
alle Stadtteile
Marxloh
Innenstadt
Altendorf
Rüttenscheid
Hamme
Langendreer
Nordstadt
Hörde
Fotos
23 195
1236
5624
2100
6058
2007
1908
2847
1415
Vorkommen
24 799
1615
5453
2489
6784
1961
1719
3273
1505
einsprachig
56,1
50,3
57,5
52,6
55,1
64,9
67,1
48,6
59,9
einsprachig deutsch
47,4
37,9
48,7
47,2
46,1
59,3
59,7
36,2
54,5
einsprachig englisch
6,4
2,3
7,0
3,2
7,3
47
5,3
10,1
4,5
einsprachig türkisch
1,0
1,0
0,4
1,1
0
0,2
0,1
0,9
0,1
Deutsch
66,1
59,6
66,2
66,4
64,8
75,1
74,6
58,0
72,0
Englisch
19,6
10,0
19,6
15,9
22,8
16,7
16,1
24,6
18,2
Türkisch
4,4
25,9
3,2
7,3
0,7
1,6
0,9
6,6
0,9
Französisch
1,5
0,8
2,0
1,1
2,6
0,7
1,1
0,9
1,2
Italienisch
1,5
0,6
1,8
0,7
1,9
1,5
1,3
1,4
1,4
Spanisch
1,1
0,2
1,5
0,4
1,3
0,4
0,5
1,4
1,5
Arabisch
0,7
0,4
0,4
1,6
0,2
0,1
0,2
2,9
0,3
Latein
0,6
0,4
1,0
0
0,5
0,5
0,7
0,6
1,1
Polnisch
0,5
0,4
0,7
0,6
0,5
0,4
0,6
0,4
0,5
Nonstandard
0,4
0,2
0,5
0,1
0,4
0,5
0,5
0,5
0,6
Niederländisch
0,4
0,1
0,5
0,2
0,4
0,2
0,6
0,5
0,1
Chinesisch
0,3
0
0,6
0,4
0,3
0,6
0
0
0
Japanisch
0,3
0,1
0,4
0,3
0,5
0,1
0,1
0,2
0,1
Russisch
0,2
0,5
0,3
0
0,2
0,2
0,5
0,2
0,2
Griechisch
0,2
0,1
0,2
0,4
0,1
0,2
0,3
0,4
0
Mehrsprachigkeiten in %
Sprachenanteile in %
Die Tabelle in Abb. 3.1.1.1 zeigt in der ersten Zeile
die Anzahl der in den acht Stadtvierteln aufgenommenen
Fotos, und zwar in der angegebenen (unvorhersehbar
ungleichen) Verteilung von West nach Ost in DU-Marxloh,
DU-Innenstadt, E-Altendorf, E-Rüttenscheid, BO-Hamme,
BO-Langendreer, DO-Nordstadt und DO-Hörde. (Die zusätzlichen 2 309 Fotos von Bahnhöfen etc. werden hier nicht
berücksichtigt.)
Viele Fotos enthalten keine erkennbaren Texte (sondern
z. B. nur Piktogramme, Tags oder nicht entzifferbare
Graffitis). Andere zeigen mehrsprachige Texte; hier wird das
Vorkommen jeder Sprache einzeln gezählt. So ergeben sich
24 799 Sprachvorkommen in den acht Stadtvierteln. Die
entsprechenden Zahlen in der zweiten Tabellenzeile sind die
absoluten Bezugswerte (= 100 Prozent) für die relativen Angaben (in Prozent) in allen folgenden Zeilen.
Die dritte Zeile von Tabelle 1 nennt die Anteile aller
einsprachigen Vorkommen je Spalte, die vierte bis sechste
Zeile diejenigen aller einsprachig deutschen, englischen bzw.
türkischen. Beispielsweise sind 37,9 % der Sprachvorkommen im untersuchten Gebiet von Marxloh einsprachig
deutsch (stehen also nicht zusammen mit anderen Sprachen
etwa auf einem Schild).
Die 15 restlichen Zeilen führen die Anteile der häufigsten Sprachen am Gesamtvorkommen der jeweiligen Spalte
an. Beispielsweise im Marxloher Untersuchungsgebiet sind
59,6 % aller Sprachvorkommen deutschsprachig (können
aber auch neben anderen Sprachen auf demselben Schild,
Aushang etc. stehen).
Marxloh, Altendorf und Nordstadt weisen deutlich weniger einsprachige Vorkommen auf als die übrigen fünf Bezirke, dennoch aber – trotz der niedrigen Zahlen – viel mehr
einsprachig türkische. Und Marxloh und Nordstadt haben
viel weniger einsprachig deutsche Fälle als die übrigen sechs.
Hier schlägt sich die spezifische Bevölkerungsstruktur der
Bezirke sichtbar nieder (s. Kap. 2 über Sprachvorkommen
und Staatsangehörigkeiten).
Ähnliche Tendenzen finden sich beim Vergleich der einzelnen Sprachen im unteren Teil der Tabelle. Deutsch ist insgesamt mit 66,1 % vertreten, ähnlich auch in der Duisburger Innenstadt und den beiden Essener Bezirken (Altendorf
und Rüttenscheid). Marxloh und Nordstadt bringen es hier
nur auf Werte von 59,6 % bzw. 58,0 %, während die drei übrigen Bezirke zwischen 70 % und 75 % liegen. Englisch ist
stark unterrepräsentiert in Marxloh und Altendorf, auffallend überrepräsentiert jedoch in Nordstadt, die von allen
Stadtteilen am stärksten multinational geprägt ist.
Dass es sich bei Marxloh um einen stark türkisch geprägten Stadtteil handelt, lässt sich schon daran ablesen, dass
über ein Viertel (25,9 %) aller öffentlich sichtbaren Sprachvorkommen hier Türkisch gehalten sind. In Altendorf und
in Nordstadt sind es immerhin noch jeweils um die 7 %, in
allen anderen Stadtteilen erheblich darunter.
Die überdurchschnittlich hohen Werte für Französisch,
Italienisch und Spanisch in der Duisburger Innenstadt und
in Rüttenscheid erklären sich großenteils durch entsprechend zahlreiche Restaurants.
Arabisch, mit absolut 183 Sprachvorkommen die siebthäufigste Sprache, fällt durch hohe Anteile in Altendorf und
Nordstadt auf; tatsächlich wohnen hier vergleichsweise viele
Migranten aus arabischsprachigen Ländern.
Abb. 3.1.1.1: Sichtbarkeit der häufigsten Sprachen in den acht Stadtvierteln
62
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.1.1 SICHTBARKEIT UND VERTEILUNG DER SPRACHEN IN DEN STADTTEILEN
63
Die Tabelle in Abb. 3.1.1.2 fasst die Werte der vier nördlichen Bezirke (Marxloh, Altendorf, Hamme, Nordstadt) zusammen und ebenso die der vier südlichen Bezirke (Innenstadt, Rüttenscheid, Langendreer, Hörde).
In den nördlichen Bezirken gibt es weniger einsprachige, weniger einsprachig deutsche und weniger einsprachig englische, jedoch mehr einsprachig türkische Texte als
in den südlichen Bezirken. Im Norden kommen auch
Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch seltener vor als im Süden; bei Türkisch und Arabisch hingegen
verhält es sich umgekehrt.
Schaut man die Diskurstypen und einzelnen Fälle näher
an (was hier nicht ausgeführt werden kann), so bestätigt sich
eine einfache Tendenz: Junge Migrantensprachen sind im
Norden stärker vertreten, Englisch und andere westeuropäische Sprachen im Süden. Natürlich bildet die Autobahn
A 40 keine Sprachgrenze. Doch trotz zunehmender Wanderungsbewegungen innerhalb des Ruhrgebiets trennt sie bis
heute Gebiete mit durchschnittlich höherem Zuwanderungsanteil im Norden von solchen mit mehr Menschen
ohne jüngeren Migrationshintergrund im Süden. Die unterschiedlichen Arten an Internationalität (Migration vs. Hochkultur) zeigen sich im öffentlichen Raum. Dessen völlig unterschiedliche Anmutung etwa in Marxloh und in
Rüttenscheid schlägt sich bis in kleine Details unserer Zahlen nieder.
Abb. 3.1.1.3: DO-Nordstadt
Gesamtmenge
alle
vier nördlich
vier südlich
Fotos
23 195
8190
15 005
Vorkommen
24 799
9338
15 461
einsprachig
56,1
53,4
57,7
einsprachig deutsch
47,4
44,3
49,3
einsprachig englisch
6,4
5,8
6,7
einsprachig türkisch
1,0
2,3
2
Deutsch
66,1
64,1
67,1
Englisch
19,6
18,1
20,5
Türkisch
4,4
9,1
1,6
Französisch
1,5
0, 9
1,9
Italienisch
1,5
1,1
1,7
Spanisch
1,1
0,7
1,3
Arabisch
0,7
1,5
0,3
Latein
0,6
0,4
0,7
Polnisch
0,5
0,4
0,6
Nonstandard
0,4
0,3
0,4
Niederländisch
0,4
0,3
0,4
Chinesisch
0,3
0,2
0,3
Japanisch
0,3
0,2
0,4
Russisch
0,2
0,2
0,3
Griechisch
0,2
0,3
0,2
Mehrsprachigkeiten in %
Sprachenanteile in %
Abb. 3.1.1.2: Sichtbarkeit der Sprachen in den nördlichen und
südlichen Stadtvierteln
64
Abb. 3.1.1.4: DO-Nordstadt, mehrsprachig
Abb. 3.1.1.5: E-Altendorf, Bulgarisch, Deutsch,
Englisch
Abb. 3.1.1.6: BO-Hamme, Deutsch
Abb. 3.1.1.7: BO-Langendreer, Deutsch
Abb. 3.1.1.8: BO-Langendreer, Englisch
Abb. 3.1.1.9: DU-Innenstadt, Chinesisch &
Deutsch
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.1.1 SICHTBARKEIT UND VERTEILUNG DER SPRACHEN IN DEN STADTTEILEN
65
3.1.2 Formen von Mehrsprachigkeit
(mono-, bi-, tri- und multilingual)
Rang
Sprache
N
%
1
Englisch
5479
61,8 %
2
Türkisch
1122
12,7 %
3
Französisch
429
4,8 %
4
Italienisch
379
4,3 %
5
Spanisch
286
3,2 %
6
Arabisch
185
2,1 %
7
Latein
157
1,8 %
8
Polnisch
143
1,6 %
9
Niederländisch
100
1,1 %
10
Chinesisch
77
0,9 %
sonstige
510
5,8 %
Gesamt
8867
100,0 %
Abb. 3.1.2.1: Anteil Fremdsprachen (Ruhrgebiet gesamt)
N
%
monolingual deutsch
11 760
63,0 %
monolingual nichtdeutsch
2055
11,0 %
bilingual
3973
21,3 %
trilingual
723
3,9 %
multilingual
147
0,8 %
Gesamt
18 658
100,0 %
Abb. 3.1.2.2: Anteil monolingual deutscher, monolingual nichtdeutscher, bi-, tri- und multilingualer Zeichen in den Stadtteilen der
Metropole Ruhr (gesamt)
Wie mehr- oder einsprachig ist die Metropole Ruhr? Welche Formen der Mehrsprachigkeit lassen sich in der Linguistic Landscape der Metropole Ruhr beobachten, und
wie verteilen sich diese Formen auf die einzelnen Stadtteile? Welche Sprachkombinationen dominieren? Inwieweit werden andere Sprachen als Deutsch genutzt, um je spezifische Bevölkerungsgruppen anzusprechen?
Die Auswertung aller 25 504 Bilddaten zeigt, dass die Linguistic Landscape des
Ruhrgebiets von mehr als 50 Sprachen geprägt wird, darunter Finnisch, Norwegisch,
Katalanisch, Lingala und Shona. Die Analyse der Vorkommen der sichtbaren Sprachen
gibt zu erkennen, dass die Linguistic Landscape des Ruhrgebiets eine dominant deutsche ist, denn Deutsch und Nonstandard-Deutsch bringen es auf insgesamt 66,5 % aller Belege. Dem stehen 33,5 % fremdsprachige Belege gegenüber. Dieser Befund kann
unterschiedlich bewertet werden. Einerseits, so ließe sich schlussfolgern, ist das Ruhrgebiet nach wie vor eine dominant deutsche Sprachlandschaft. Andererseits, so ließe
sich hervorheben, wird der öffentliche Raum des Ruhrgebiets durch einen nicht unerheblichen Teil fremdsprachiger Texte, Namen und Aufschriften geprägt. Unter diesen
fremdsprachigen Belegen nehmen die englischen Belege mit einem Anteil von 20,1 %
aller Vorkommen eine besondere Stellung ein. Um das quantitative Verhältnis der
Fremdsprachen zueinander deutlicher zu machen, ist es sinnvoll, die Rechnung auch
einmal ohne das Deutsche anzustellen, wie es in der Tabelle in Abb. 3.1.2.1 geschieht.
Zusammen genommen bestimmen das Englische und das Türkische die
Linguistic Landscape des Ruhrgebiets zu fast drei Vierteln, die Anteile der anderen
Sprachen liegen alle jeweils unter 5 %.
Es existiert also eine klare Fremdsprachenhierarchie, an deren Spitze Englisch
steht und das mit einem deutlichen Abstand zu den Rangplätzen der anderen Fremdsprachen. Daran schließt sich die Frage an, inwieweit die Bevölkerung und die Besucher des Ruhrgebiets von einer monolingual nichtdeutschen, bi-, tri- oder multilingualen Sprachlandschaft umgeben sind. Die Tabelle in Abb. 3.1.2.2 listet die Werte für
die acht untersuchten Stadtteile. Es zeigt sich, dass 11 % aller Zeichen monolingual
nichtdeutsch, d. h. ausschließlich in einer anderen Sprache als Deutsch verfasst sind.
Allerdings führt auch hier mit großem Abstand das Englische, und zwar in allen Stadtteilen mit Ausnahme von DU-Marxloh. Für eine detailliertere und präzisere Diskussion dieses Befundes sei auf die Kapitel zur Stadtteilanalyse (3.3) verwiesen. Monolinguale Zeichen – egal in welcher Sprache – dominieren damit zu drei Vierteln (74 %) die
Linguistic Landscape der Metropole Ruhr. Diesem »monolingualen Habitus« (Gogolin
2008) stehen 21,3 % bilinguale Zeichen (Abb. 3.1.2.3), 3,9 % trilinguale Zeichen
(Abb. 3.1.2.4) und 0,8 % multilinguale Zeichen (Abb. 3.1.2.5) gegenüber (vgl. Abb.
3.1.2.2).
Abb. 3.1.2.3: DO-Nordstadt, bilinguales Zeichen
Abb. 3.1.2.4: DU-Hauptbahnhof, trilinguales Zeichen
66
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.1.2.5: DO-Nordstadt, multilinguales Zeichen
3.1.2 FORMEN VON MEHRSPRACHIGKEIT (MONO-, BI-, TRI- UND MULTILINGUAL)
67
Bezogen auf die Verteilung der monolingual deutschen, monolingual nichtdeutschen, bi-, tri- und multilingualen Zeichen in den untersuchten Stadtteilen ergibt sich
folgendes Bild (vgl. Abb. 3.1.2.6 bzw. Abb. 3.1.2.8). Wie die Karte in Abb. 3.1.2.8
zeigt, gibt es in den Stadtteilen DO-Nordstadt und DU-Marxloh deutlich weniger einsprachig deutsche Zeichen, dafür aber mehr monolingual nichtdeutsche Zeichen. Der
höchste Anteil bilingualer Zeichen findet sich mit 26,4 % (N = 311 Zeichen) in
DU-Marxloh, während der Anteil trilingualer Zeichen mit 5,6 % (N = 101 Zeichen)
in E-Altendorf am höchsten ist. Multilinguale Zeichen kommen insgesamt selten vor
und wenn, dann vor allem in DU-Innenstadt, wo sich ihr Anteil auf 1,0 % (= 42 Zeichen) beläuft. Das bedeutet insgesamt, dass die Bevölkerung am häufigsten in den
nördlich gelegenen Stadtteilen zwei-, drei- und mehrsprachig angesprochen wird. Dabei gilt die Regel, dass je vielfältiger die Sprachenauswahl ist, desto mehr der Anteil der
entsprechenden Zeichen im öffentlichen Raum abnimmt.
Die Auswertung der Sprachenpaare für die (insgesamt 3 973) bilingualen Zeichen
liefert die Tabelle in Abb. 3.1.2.7. Berücksichtigt wurden die Sprachenpaare, deren
Anteil in mindestens einem Stadtteil bei mindestens 5 % liegt.
Zeichen
Marxloh
Innenstadt
Altendorf
Rüttenscheid
Hamme
Langendreer
Nordstadt
DU-Marxloh
Hörde
monolingual deutsch
610
51,7 %
2659
64,6 %
1172
64,6 %
3119
61,9 %
1165
73,2 %
1030
73,0 %
1188
50,8 %
817
69,7 %
monolingual nichtdeutsch
200
16,9 %
450
10,9 %
119
6,6 %
566
11,2 %
110
6,9 %
124
8,8 %
406
17,4 %
80
6,8 %
bilingual
311
26,4 %
790
19,2 %
403
22,2 %
1127
22,4 %
278
17,5 %
226
16,0 %
604
25,9 %
234
20,0 %
trilingual
52
4,4 %
175
4,3 %
101
5,6 %
190
3,8 %
33
2,1 %
22
1,6 %
115
4,9 %
35
3,0 %
multilingual
7
0,6 %
42
1,0 %
18
0,9 %
38
0,7 %
5
0,3 %
8
0,6 %
23
1,0 %
6
0,5 %
Gesamtzahl
1180
100 %
4116
100%
1813
100 %
5040
100 %
1591
100 %
1410
100 %
2336
100%
1172
100%
DO-Nordstadt
E-Altendorf
BO-Hamme
DU-Innenstadt
Abb. 3.1.2.6: Verteilung von monolingualen, bi-, tri- und multilingualen Zeichen in den Stadtteilen der
Metropole Ruhr (N = 18 658)
BO-Langendreer
E-Rüttenscheid
DO-Hörde
monolingual deutsch
monolingual nichtdeutsch
bilingual
trilingual
Sprachkombination
Marxloh
Innenstadt
Altendorf
Rüttenscheid
Hamme
Langendreer
Nordstadt
Hörde
Deutsch / Arabisch
0,9 %
1,1 %
3,9 %
0,4 %
0,3 %
0,8 %
8,1 %
0,4 %
Deutsch / Englisch
19,2 %
57,8 %
46,4 %
71,6 %
67,5 %
70,8 %
56,7 %
71,7 %
Deutsch / Französisch
0,9 %
5,0 %
2,4 %
4,9 %
0,7 %
3,1 %
0,6 %
2,5 %
Deutsch / Italienisch
1,9 %
5,3 %
1,9 %
3,4 %
5,0 %
5,7 %
1,3 %
5,9 %
Deutsch / Latein
0%
4,3 %
0%
1,4 %
2,8 %
3,5 %
1,9 %
5,9 %
Deutsch / Türkisch
4,1 %
1,6 %
4,2 %
0%
8,5 %
3,1 %
0,9 %
0,4 %
multilingual
0
10
20
30
40 km
Abb. 3.1.2.8: Verteilung der monolingual deutschen, monolingual
nichtdeutschen, bi-, tri- und multilingualen Zeichen in den untersuchten Stadtteilen der Metropole Ruhr
Abb. 3.1.2.7: Bilinguale Sprachkombinationen in den Stadtteilen der Metropole Ruhr (N = 3973)
68
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.1.2 FORMEN VON MEHRSPRACHIGKEIT (MONO-, BI-, TRI- UND MULTILINGUAL)
69
Bei den bilingualen Zeichen dominieren solche Sprachkombinationen, die
Deutsch enthalten. Von allen Kombinationen, in denen Deutsch vorkommt, sind solche mit Englisch mit Abstand die häufigsten. Allerdings schwanken die Anteile in den
Stadtteilen sehr stark: Während in DU-Marxloh bilinguale deutsch / englische Zeichen
nur einen Anteil von 19,2 % ausmachen, haben bilinguale deutsch / englische Zeichen
in DO-Hörde und in E-Rüttenscheid einen Anteil von 71,7 % bzw. 71,6 % und sind
auch in den anderen beiden südlich gelegenen Stadtteilen wesentlich präsenter als im
Norden. Erwähnenswert ist des Weiteren das Vorkommen bilingualer deutsch / arabischer Zeichen mit 8,1 % in DO-Nordstadt, wo auch der Anteil der arabischsprachigen
Bevölkerung höher ist als in den anderen Stadtteilen. Dagegen sind in DO-Hörde die
Vorkommen bilingualer deutsch / italienischer und deutsch / lateinischer Zeichen mit
jeweils 5,9 % am höchsten. Deutsch / türkische Zeichen sind – entgegen der Erwartung – nicht etwa in DU-Marxloh, sondern in BO-Hamme mit einem Anteil von
8,5 % am sichtbarsten. Bilinguale Zeichen, die kein Deutsch enthalten, sind dagegen
insgesamt selten: Ihr Anteil beträgt gerade einmal 4 % (= 162 Zeichen) und zeigt, dass
auch dort, wo primär eine ethnische Gruppe adressiert wird, die deutschsprachige Bevölkerung so gut wie immer mitberücksichtigt wird. Exklusive In-Group-Kommunikation kommt also in der Linguistic Landscape der Metropole Ruhr kaum vor und
kann insofern auch als ein Indiz für gelungene Integration gewertet werden.
Abb. 3.1.2.9 gibt die Verteilung der Sprachenkombinationen für die trilingualen
Zeichen an. Auch hier wurden nur die Sprachenkombinationen berücksichtigt, die in
mindestens einem Stadtteil einen Anteil von mindestens 5 % haben.
Sprachkombination
Marxloh
Innenstadt
Altendorf
Rüttensch.
Hamme
Langendr.
Nordstadt
Hörde
Deutsch / Englisch / Franzözisch
3,8 %
6,8 %
3,0 %
20,5 %
9,0 %
31,8 %
3,4 %
14,2 %
Deutsch / Englisch / Italienisch
0%
2,2 %
3,0 %
12,1 %
12,1 %
0%
18,2 %
5,7 %
Deutsch / Englisch / Spanisch
1,9 %
14,8 %
1,0 %
5,7 %
6,0 %
4,5 %
21,7 %
17,1 %
Deutsch / Englisch / Türkisch
69,2 %
33,1 %
37,6 %
7,3 %
12,1 %
4,5 %
24,3 %
5,7 %
Abb. 3.1.2.9: Trilinguale Sprachkombinationen in den Stadtteilen der Metropole Ruhr (N = 3973)
70
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Bei den dreisprachigen Zeichen dominieren Sprachkombinationen, die Deutsch und Englisch sowie eine weitere Fremdsprache, vorzugsweise Türkisch, enthalten. Die
trilinguale Sprachkombination mit Türkisch dominiert in
allen Stadtteilen nördlich der A 40. Die Kombination
Deutsch / Englisch / Französisch ist dagegen in den südlich
gelegenen Stadtteilen – insbesondere in E-Rüttenscheid
und BO-Langendreer – häufig, während die Kombination
Deutsch / Englisch / Spanisch mit einem Anteil von 21,7 %
und die Kombination Deutsch / Englisch / Italienisch mit einem Anteil von 18,2 % in DO-Nordstadt die höchsten
Werte aufweisen. Das deutet darauf hin, dass trilinguale Zeichen, die Französisch enthalten, wie auch bilinguale Zeichen
mit Französisch und monolingual französische Zeichen, in
den nördlich der A 40 gelegenen Stadtteilen im Gegensatz
zu mehrsprachigen Zeichen mit den Migrantensprachen
Spanisch und Italienisch kaum eine Rolle spielen: weder im
Kontext von Ethno-Marketing-Aktivitäten noch im Kontext
der Kommodifizierung, d. h. der Verwertung des Sprachprestiges des Französischen.
In den acht untersuchten Stadtteilen kommen 147 multilinguale Zeichen (mit mehr als drei Sprachen) vor. Sie enthalten ausnahmslos Deutsch. Insgesamt sind die Sprachkombinationen sehr heterogen und die prozentualen Anteile
(alle zwischen 0,3 % und 1 %) so klein, dass sich eine weitere
Aufschlüsselung und Diskussion dieser Daten erübrigen
würde, wäre da nicht der auffällige Befund, dass Migrantensprachen auf Aushängen an Geschäftsfronten, die potenzielle Einbrecher abschrecken sollen, deutlich überrepräsentiert sind (Abb. 3.1.2.10). Eine ähnliche Tendenz lässt sich
auch bei Hinweisschildern zum Verbot von Schwarzfahren
in öffentlichen Verkehrsmitteln beobachten. Auch hier sind
Migrantensprachen überrepräsentiert – während sie auf Hinweisen für die Benutzung von Fahrkartenautomaten deutlich unterrepräsentiert sind (Abb. 3.1.2.11).
Abb. 3.1.2.10: E-Rüttenscheid
Abb. 3.1.2.11: E-Altendorf
3.1.2 FORMEN VON MEHRSPRACHIGKEIT (MONO-, BI-, TRI- UND MULTILINGUAL)
71
Wie lassen sich die Ergebnisse zusammenfassen und interpretieren? Fünf Befunde sind festzuhalten:
• Bilinguale Zeichen kommen häufiger vor als monolingual nichtdeutsche Zeichen.
• Bei den zwei-, drei- und mehrsprachigen Zeichen dominieren durchweg Sprachkombinationen mit Deutsch.
• Englisch ist in allen Sprachkombinationen die mit Abstand am häufigsten gewählte andere Sprache als Deutsch.
• Türkisch ist bei trilingualen Zeichen die mit Abstand am
häufigsten gewählte Migrantensprache.
• Migrantensprachen sind bei Aushängen mit Diskriminierungspotenzial deutlich überrepräsentiert.
Abb. 3.1.2.12: BO-Hamme
Bis auf Englisch und Türkisch führen alle anderen
Fremdsprachen eine Randexistenz im öffentlichen Raum der
untersuchten Stadtteile. Der Gebrauch und damit auch der
Status der Sprachen unterscheiden sich auffällig. Insofern ist
von zwei Typen sprachlicher Diversität auszugehen: einem
dominanten Diversitätstyp, der die Sprachen Deutsch, Englisch und Türkisch umfasst, und einem subordinierten Diversitätstyp, zu dem alle anderen Sprachen gehören – und
zwar über sämtliche bi-, tri- und multilingualen Zeichen
hinweg. Interpretationswürdig ist auch der Befund, dass bilinguale Zeichen – insbesondere solche mit der Sprachkombination Deutsch / Englisch – häufiger vorkommen als monolinguale nichtdeutsche Zeichen. Eine Erklärung für dieses
Ergebnis ist, dass die Anteile von anderen Sprachen als
Deutsch (allen voran das Englische) häufig in Form von Namen (z.B. Geschäftsnamen, Namen von Restaurants, Cafés,
Vereinen etc.), Ritualia (Begrüßungen, Verabschiedungen)
und Claims (Werbesprüche) vorkommen, also nicht für vorrangig informationstragende Textteile verwendet werden. Im
Vordergrund dieser Sprachpraxis steht die emblematische,
d. h. sozialsymbolische Funktion von Sprache (Androutsopoulos / Ziegler i. Dr.). Dabei ist nicht so wichtig, was gesagt
wird, sondern welche Sprache verwendet wird und welche
Aspekte assoziativ mit der jeweiligen Sprache verbunden
werden. Insofern ist es auch nicht notwendig, dass die Textproduzenten die betreffenden Sprachen kompetent beherrschen, genauso wenig wie es notwendig ist, dass die Leser
verstehen müssen, was genau gemeint ist. Es reicht, wenn
das kulturelle Stereotyp (z. B. Internationalität, Luxus, Modernität etc.), das mit einem fremdsprachigen Namen,
Claim oder auch Ausdruck transportiert werden soll, erkannt wird (vgl. Abb. 3.1.2.12, Abb. 3.1.2.13). Kelly-Holmes (2014) spricht in diesem Zusammenhang, insbesondere
im Kontext von Marketing und Werbung, von einem »fetischisierten Sprachgebrauch«, weil die Sprachen bei dieser
Sprachpraxis ihren instrumentellen Charakter einbüßen.
Was zählt, ist weniger ihr kommunikativer Nutzen als viel
mehr ihr symbolischer Wert für die Fremdwahrnehmung.
Wie hoch der symbolische Wert des Englischen für den Anschein von Modernismus, Internationalität etc. ist, zeigen
die Daten und die festgestellte Sprachenhierarchie eindrücklich.
Schließlich ist auch der Befund zu kommentieren,
dass Migrantensprachen auf Verbotsschildern u. Ä. überrepräsentiert sind, eine Tendenz, die schon Hinnenkamp
(1989) beobachtet. Sie deutet auf spezifische Wahrnehmungsstrukturen und verdeckte Vorurteile in der Mehrheitsgesellschaft und betrifft insbesondere Migrantensprachen und Migranten aus Ost- und Südosteuropa, die auf
diese Art und Weise mehr oder weniger subtil diskriminiert
werden. Dass diese diskriminierende Haltung in der Geschäftswelt schon recht manifest ist, zeigt sich daran, dass
solche Aushänge relativ häufig begegnen und sehr oft dieses
spezifische Sprachenspektrum aufweisen.
Abb. 3.1.2.13: E-Rüttenscheid
72
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.1.2 FORMEN VON MEHRSPRACHIGKEIT (MONO-, BI-, TRI- UND MULTILINGUAL)
73
3.1.3 Informationsmanagement
Das Informationsmanagement, als eine Facette des Sprachenmanagements, beschäftigt
sich damit, ob auf einem mehrsprachigen Beleg-Bild eine Information komplett oder
teilweise übersetzt ist oder ob die Information in Sprache A und Sprache B verschieden ist (= erweitertes Informationsmanagement). Dadurch kann besser verstanden
werden, inwieweit Informationen allgemein zugänglich gemacht werden bzw. wer adressiert wird: Sind die Zielgruppe monolingual Deutsche, sind es mehrsprachige Personen, sind es Touristen, sind es Personen mit Migrationshintergrund usw.?
Im Rahmen der Verschlagwortung der Bilddaten wurde diese Kategorie fakultativ
vergeben, d. h. nur dann, wenn eine komplette, teilweise oder erweiterte Übersetzung
der Information des Textes der Ausgangssprache in eine andere Sprache bzw. in andere
Sprachen vorlag. In ihrer Systematik lehnt sich die Einteilung an Reh (2004) und
Backhaus (2007) an.
Von insgesamt 5 305 mehrsprachigen Schildern in unserer Datenbank wurden
1561 Beleg-Bilder mit der Kategorie »Informationsmanagement« verschlagwortet.
Von diesen Bildern sind 10 % komplett übersetzt, 21 % teilweise übersetzt, und 69 %
enthalten unterschiedliche Informationen in den Sprachen, die auf dem Schild verwendet werden.
a) Komplett übersetzte Informationen (160 Fälle)
Als komplett übersetzt werden solche Bilder verschlagwortet, die zwei oder mehr Sprachen und in den Sprachen die
gleiche Information enthalten. Die rechts stehenden Bilder
sind Beispiele für komplette Übersetzungen. So zeigt der
Text auf Abb. 3.1.3.2 in den Sprachen Deutsch, Englisch,
Türkisch, Italienisch und Griechisch an, dass es sich um ein
Büro handelt, in dem Sportwetten angenommen werden. In
Abb. 3.1.3.3 wird in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch mitgeteilt, dass an dem Automat
Fahrkarten zu kaufen sind.
Bei Schildern mit kompletten Übersetzungen handelt es
sich meistens um recht kurze Informationen, wie auch unsere Beispiele zeigen. In den meisten Fällen steht Deutsch an
erster Stelle – häufiger in einer größeren Schrift, gefolgt von
weiteren Sprachen wie Englisch oder Türkisch.
Die meisten komplett übersetzten Schilder sind zweisprachig (66 %), 14 % sind dreisprachig, und 20 % enthalten mehr als drei Sprachen.
60 % der komplett übersetzten Schilder kommen im
kommerziellen Diskurs vor (Abb. 3.1.3.2, Abb. 3.1.3.4).
30 % der Schilder lassen sich dem infrastrukturellen Bereich
zuordnen (Abb. 3.1.3.3). So befinden sich viele dieser Schilder an einem Hauptbahnhof (Abb. 3.1.3.5) oder an kulturellen Einrichtungen (Abb. 3.1.3.6, Abb. 3.1.3.8), wo Informationen für Gäste und Touristen in mehreren Sprachen,
meistens Deutsch und Englisch, angezeigt werden.
Komplett übersetzte Informationen
160
%
bilingual
106
66
Anzahl
Sprachen
Diskurstypen
trilingual
22
14
multilingual
32
20
infrastrukturell
56
34
regulatorisch
7
4
kommerziell
95
57
transgressiv
5
3
künstlerisch
2
1
kommemorativ
2
1
anderer Diskurstyp
0
0
Abb. 3.1.3.2: DO-Nordstadt
Abb. 3.1.3.3: E-Hauptbahnhof
Abb. 3.1.3.4: DU-Innenstadt
Abb. 3.1.3.5: E-Hauptbahnhof
Abb. 3.1.3.6: Dortmunder U
Abb. 3.1.3.7: DU-Marxloh
Abb. 3.1.3.8: E-Zollverein
Abb. 3.1.3.1: Anzahl der Sprachen und Diskurstypen bei Schildern mit
komplett übersetzten Informationen
74
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.1.3 INFORMATIONSMANAGEMENT
75
b) Teilweise übersetzte Informationen (321 Fälle)
Abb. 3.1.3.9: BO-Hamme
Abb. 3.1.3.10: E-Hbf
Abb. 3.1.3.11: DU-Marxloh
Abb. 3.1.3.12: DU-Marxloh
Bei den als teilweise übersetzt eingeordneten Bild-Belegen
handelt es sich um zwei- oder mehrsprachige Schilder, bei
denen nur ein Teil der Information aus Sprache A auch in
Sprache B wiedergegeben oder sinngemäß wiederholt wird.
Typische Beispiele für teilweise übersetzte Schilder sind
die Abb. 3.1.3.9 und Abb. 3.1.3.10 der Deutschen Bahn, die
sich an einem Bahnhof befinden. Während die Informationen im Deutschen sehr ausführlich sind, werden im Englischen nur wesentliche Inhalte wie »Non-Smoking Station«
oder eine knappe Zusammenfassung des deutschen Inhalts
angegeben. Ebenso wird in den anderen Bild-Beispielen die
deutsche Information nur zum Teil in die andere Sprache
übersetzt oder inhaltlich zusammengefasst. Personen, die
kein Deutsch verstehen, sollen durch solche Schilder mindestens den wesentlichen Inhalt der Information erfassen
können.
Auch bei den teilweise übersetzten Informationen sind
die meisten der Belege zweisprachig (68 %), gefolgt von dreisprachigen Belegen (19 %) und solchen, die ihre Inhalte in
mehr als drei Sprachen teilweise wiedergeben (13 %). Am
häufigsten kommen die Belege im kommerziellen Diskurs
vor (63 %; Abb. 3.1.3.11, Abb. 3.1.3.12 und Abb. 3.1.3.13),
gefolgt vom infrastrukturellen Diskurs (17 %; z. B. die schon
erwähnten Abb. 3.1.3.9 und Abb. 3.1.3.10).
c) Erweitert = unterschiedliche Informationen in Sprache A
und B (1 080 Fälle)
Die mit »erweitert« verschlagworteten Bild-Belege haben auf
ihren Schildern zwei oder mehrere Sprachen mit jeweils verschiedenem Informationsgehalt. Auf dem Plakat Abb.
3.1.3.16 wird zu einem Wohltätigkeitsbasar (»Kermes«) eingeladen, und zwar in den Sprachen Türkisch und Deutsch:
Während auf Türkisch »Kermesimize hepiniz davetlisiniz«
(»Sie sind herzlich auf unsere Kermez eingeladen«) steht,
wird auf Deutsch mitgeteilt, dass sich die Veranstalter auf ein
unterhaltsames Miteinander freuen. Die Informationen unterscheiden sich also deutlich, indem im Türkischen der Veranstaltungszweck und im Deutschen die kulturelle Begegnung betont wird. Der komplette Text auf dem Plakat kann
also nur von Personen verstanden werden, die beide Sprachen beherrschen. Ähnlich verhält es sich bei dem Text auf
der Abb. 3.1.3.17, die im Kapitel »Code-Switching« (vgl.
Kap. 3.4.7) näher besprochen wird.
Die meisten der Bild-Belege mit erweiterter Information sind zweisprachig (79 %), gefolgt von dreisprachigen
Schildern (19 %) und solchen, die mehr als drei Sprachen
enthalten (2 %). Am häufigsten findet man solche Belege im
kommerziellen Bereich (65 %), gefolgt vom transgressiven
(35 %) und infrastrukturellen Bereich (2 %).
Abb. 3.1.3.13: DO-Nordstadt
Teilweise übersetzte Informationen
321
%
bilingual
219
68
Diskurstypen
Erweiterte Informationen
1080
%
bilingual
851
79
Anzahl
Sprachen
trilingual
62
19
trilingual
204
19
multilingual
40
13
multilingual
25
2
infrastrukturell
54
17
infrastrukturell
17
2
regulatorisch
29
9
regulatorisch
0
0
kommerziell
202
62
kommerziell
698
64
transgressiv
35
11
transgressiv
378
34
künstlerisch
0
0
künstlerisch
1
0,2
kommemorativ
0
0
kommemorativ
3
0,5
anderer Diskurstyp
3
1
anderer Diskurstyp
2
0,3
Abb. 3.1.3.14: Anzahl der Sprachen und Diskurstypen bei Schildern mit
teilweise übersetzten Informationen
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.1.3.17: E-Altendorf
Abb. 3.1.3.18: E-Rüttenscheid
Abb. 3.1.3.19: DO-Nordstadt
Abb. 3.1.3.20: DO-Nordstadt
Anzahl
Sprachen
76
Abb. 3.1.3.16: DO-Nordstadt
Diskurstypen
Abb. 3.1.3.15: Anzahl der Sprachen und Diskurstypen bei Schildern mit
erweiterten Informationen
3.1.3 INFORMATIONSMANAGEMENT
77
3.2 Sichtbare Diskurstypen
im öffentlichen Raum
Wer durch Straßen einer beliebigen Stadt geht, sieht sich von einer Fülle unterschiedlicher Zeichen umgeben, die gelesen werden wollen. Das Spektrum reicht von Straßenschildern und Firmennamen über Werbeplakate bis zu Aufklebern und Graffitis.
Auch wenn viele einzelne davon überall auf der Welt, in Europa oder mindestens in
Deutschland zu sehen sind, so prägen sie in ihrer jeweils speziellen Mischung doch das
charakteristische Erscheinungsbild einer Straße, eines Platzes oder eines ganzen Viertels – manchmal mindestens so stark wie die Architektur oder die Platzierung der verschiedenen Gebäude.
Mit Scollon / Scollon (2003: 167) unterscheiden wir zunächst vier Diskurstypen in öffentlichen Räumen. »Infrastrukturelle« Zeichen informieren über Merkmale und besondere Einrichtungen des öffentlichen Raums. So gibt es z. B.
Wegweiser, Schilder für Straßennamen, Namen und Informationen an Haltestellen, Fahrradstationen, Schulen, Behörden
und Kirchen. »Regulatorische« Zeichen schreiben vor, wie
man sich an den verschiedenen Stellen zu verhalten hat. Dazu
zählen insbesondere Verkehrs- und Verbotsschilder. Zu »kommerziellen« Zeichen gehören Eigennamen von Geschäften,
Informationen über deren Angebot sowie Werbung. Als
»transgressiv« gelten Zeichen, die unautorisiert angebracht
wurden, insbesondere Aufkleber und Graffitis aller Art.
Den Löwenanteil sämtlicher gut 25 000 dokumentierten Zeichen in unserer Datenbank stellen die kommerziellen
(knapp 49 %) und die transgressiven (knapp 39 %). Mit großem Abstand folgen infrastrukturelle (knapp 7 %) und regulatorische Zeichen (knapp 5 %). In unserem Material kommen außerdem noch »kommemorative« (z.B. Gedenktafeln),
nicht-transgressive »künstlerische« (z.B. folierte Gedichte an
einem Baum) sowie »andere« Botschaften (z.B. Wahlkampf-Plakate) vor; sie machen zusammen weniger als
1 Prozent aus.
Infrastrukturelle und regulatorische Zeichen zusammen
bilden 11,6 % offizielle Zeichen – gegenüber 48,8 % kommerziellen und 38,7 % transgressiven Zeichen. Auf den ersten Blick könnte so der Eindruck entstehen, dass Privatwirtschaft und Subkultur (mit zusammen sieben Achteln) die
Zeichenwelt öffentlicher Räume unter sich aufteilten, während dem Staat gerade einmal ein gutes Neuntel verbleibt.
Dieser Eindruck scheint sich mit einem zusätzlich starken Gewicht zugunsten kommerzieller Zeichen zu bestätigen, wenn man die Größe der Zeichen betrachtet: 25 all der
34 Zeichen, die mehr als 10 Quadratmeter Fläche einnehmen, sind kommerziell – gegenüber lediglich 4 offiziellen
Zeichen (und 3 transgressiven). Und ganz ähnlich 76 % der
gut 1400 Zeichen von über ein bis 10 Quadratmetern Fläche sind kommerziell – gegenüber lediglich 11 % offiziellen
Zeichen (und 12 % transgressiven).
Allerdings hängen Rezeptionshäufigkeit und -intensität
und damit die Wirkung von Zeichen keineswegs allein von
ihrer Menge und Größe ab (s. Abb. 3.2.1). Ein vergleichsweise kleines Stoppschild wird sicher öfter und wirkungsvoller wahrgenommen als ein ungleich größeres Namensschild
über einem Ladeneingang. Um die Zeichen im Hinblick darauf zu gewichten, wie oft und wie sehr sie ins Auge springen, müsste man einen Auffälligkeitsfaktor einführen, der
beispielsweise noch die Relevanz und Frequentierung des
Ortes, die Prägnanz der Gestaltung und die tatsächliche
Wirkung auf unterschiedliche Personengruppen (z.B.
Autofahrer vs. Fußgänger) berücksichtigte. Außerdem spielt
die Lebensdauer der Zeichen eine Rolle, also wie fest
installiert und wie lange haltbar sie sind (z.B. Ortsschild vs.
Wahlplakat).
Angesichts teilweise subjektiver Kriterien und des gewaltigen Aufwandes (etwa durch Passantenbefragungen)
wäre das für wissenschaftliche Untersuchungen allerdings
ein aussichtsloses Unterfangen.
Abb. 3.2.1: BO-Hauptbahnhof
78
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.2 SICHTBARE DISKURSTYPEN IM ÖFFENTLICHEN RAUM
79
Unterschiedliche regionale Verteilung der Diskurstypen
Die untersuchten Bezirke sind unterschiedlich geprägt (vgl.
Kap. 2). Zum Teil kann man das auch an der unterschiedlichen regionalen Verteilung der Diskurstypen ablesen (Abb.
3.2.2).
In der zusammenfassenden ersten Zeile von Abb. 3.2.2
werden die Werte der beiden folgenden Zeilen aufaddiert. Es
liegt auf der Hand, dass in den Hauptbahnhöfen (letzte
Spalte) ganz erheblich mehr offizielle, nämlich sowohl orientierende als auch regulierende Zeichen verwendet werden als
andernorts. Denn hier geht es ja vorrangig darum, dass sich
sehr viele Menschen möglichst effizient von einem Ort zu einem anderen begeben wollen. Dass in Rüttenscheid erheblich mehr infrastrukturelle Zeichen stehen, in der multikulturell geprägten Nordstadt dagegen erheblich weniger als
anderswo, könnte darauf schließen lassen, dass in dem bürgerlich geprägten Vorort mehr öffentliche Einrichtungen
vorgehalten werden als in der multikulturellen Nordstadt.
Das verkehrsintensive Altendorf braucht mehr regulierende
Zeichen als das ruhigere Hörde.
Besonders interessant wirken Verteilung und Verhältnis
der beiden am häufigsten vertretenen Diskurstypen: kommerziell und transgressiv. Beide sind in den verschiedenen
Bezirken nämlich sehr unterschiedlich stark vertreten, addieren sich jedoch jeweils zu etwa gleich großen Anteilen: je
mehr kommerzielle Zeichen, desto weniger transgressive
und umgekehrt. Die Tabelle in Abb. 3.2.3 zeigt das deutlicher.
Die erste Zeile von Abb. 3.2.3 addiert die Werte für
kommerziellen und transgressiven Diskurs aus Abb. 3.2.2.
Die zweite Zeile drückt deren jeweilige Anteile als Quotient
»kommerziell durch transgressiv« aus: Insgesamt kommen
also 1,3 Mal so viele kommerzielle Zeichen vor wie transgressive. In Marxloh und Altendorf allerdings, zwei Stadtteilen mit überdurchschnittlich vielen Einwohnern ohne deutsche oder mit doppelter Staatsbürgerschaft (s. Kap. 2) und
auch entsprechend zahlreichen Geschäften mit nichtdeutschen Aufschriften, gibt es gleich vier bis fünf Mal so viele
kommerzielle wie transgressive Zeichen. In Rüttenscheid
hingegen kommen sogar mehr transgressive als kommerzielle Zeichen vor – vielleicht deshalb, weil einerseits die eher
bürgerlichen Restaurants und Geschäfte dort zurückhaltender beschriftet sind und weil andererseits hier besonders
viele Aufkleber um die Aufmerksamkeit des einkaufenden
Publikums buhlen. In Nordstadt freilich, von allen Bezirken
der multikulturellste, sieht man relativ noch weniger
alle
Diskurs
Mar
Inn
Alt
Rüt
Ham
Lan
Nor
Hör
HBFs
11,6 %
infrastrukturell &
regulatorisch
8,4 %
6,6 %
10,3 %
10,0 %
11,8 %
8,1 %
6,8 %
5,8 %
37,0 %
6,6 %
infrastrukturell
4,6 %
4,0 %
4,4 %
5,2 %
5,3 %
4,1 %
3,4 %
3,7 %
23,1 %
4,9 %
regulatorisch
3,9 %
2,7 %
6,0 %
4,8 %
6,5 %
4,0 %
3,4 %
2,2 %
13,9 %
48,8 %
kommerziell
75,2 %
51,9 %
71,8 %
42,3 %
47,3 %
49,1 %
38,1 %
67,5 %
29,7 %
38,7 %
transgressiv
15,8 %
41,3 %
17,0 %
45,5 %
40,5 %
42,3 %
54,3 %
26,0 %
33,1 %
0,9 %
sonstige
0,5 %
0,1 %
0,9 %
2,2 %
0,4 %
0,5 %
0,8 %
0,6 %
0,2 %
100 %
gesamt
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
Abb. 3.2.2: Anteile der Diskurstypen in den verschiedenen Bezirken
kommerzielle und noch mehr transgressive Zeichen. Hier
liegt das daran, dass der öffentliche Raum noch sehr viel intensiver von Graffitis und Aufklebern in Beschlag genommen wird. Bei den Bahnhöfen wiederum finden sich insgesamt weniger kommerzielle und weniger transgressive
Zeichen, und für kommerzielle wird weniger Platz zur Verfügung gestellt als an Straßen.
In der folgenden Abb. 3.2.4 lassen wir die Bahnhöfe einmal außer Acht und vergleichen nur die vier nördlichen Bezirke (Marxloh, Altendorf, Hamme, Nordstadt) zusammen
mit den vier südlichen (DU-Innenstadt, Rüttenscheid, Langendreer, Hörde).
Trotz der beschriebenen Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtteilen fällt auf, dass alle nördlichen zusammen
relativ mehr regulatorische und mehr kommerzielle, jedoch
weniger transgressive Zeichen aufweisen als die südlichen.
Wir vermuten, dass transgressive Zeichen (Graffitis und Aufkleber) vor allem von jungen Deutschen ohne Migrationsbiographie platziert werden, und zwar vorzugsweise in den
(eher südlichen) Revieren, in denen sie selbst wohnen
und / oder sich am meisten Aufmerksamkeit erhoffen.
acht Bezirke
vier nördliche
vier südliche
infrastrukturell &
regulatorisch
8,5 %
9,2 %
8,1 %
infrastrukturell
4,4 %
4,3 %
4,4 %
regulatorisch
4,1 %
4,9 %
3,7 %
kommerziell
51,1 %
54,6 %
49,1 %
transgressiv
39,5 %
35,6 %
41,7 %
sonstige
0,9 %
0,7 %
1,1 %
gesamt
100 %
100 %
100 %
Abb. 3.2.4: Anteile der Diskurstypen in den nördlichen und südlichen
Bezirken
alle
Diskurs
Mar
Inn
Alt
Rüt
Ham
Lan
Nor
Hör
HBFs
87,5
komm. & transgr.
91,0
93,2
88,8
87,8
87,8
91,4
92,4
93,5
62,8
1,3
komm. / transgr.
4,8
1,3
4,2
0,9
1,2
1,2
0,7
2,6
0,9
Abb. 3.2.3: Kommerziell und transgressiv in den verschiedenen Bezirken
80
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.2 SICHTBARE DISKURSTYPEN IM ÖFFENTLICHEN RAUM
81
3.2.1 Infrastruktureller und
regulatorischer Diskurs
Gut jedes neunte Zeichen in den untersuchten Bezirken des Ruhrgebiets wurde von
einer staatlichen Stelle angebracht, hat also »offiziellen« Charakter und gibt damit einen Einblick in das Sprachenmanagement »von oben« (Shohamy / Waksman 2012).
Knapp drei Fünftel davon informieren »infrastrukturell« über Merkmale und besondere Einrichtungen des öffentlichen Raums (z.B. Wegweiser). Gut zwei Fünftel schreiben »regulatorisch« vor, wie man sich zu verhalten hat (z.B. Verkehrsschilder).
Betrachten wir zunächst die 1708 »infrastrukturellen« Zeichen (s. Tabelle in Abb.
3.2.1.1). 111 davon zeigen nur ein Bild oder Ziffern (z.B. ein Blitz-, Rollstuhl- oder
Papierkorb-Icon; Abb. 3.2.1.4 und Abb. 3.2.1.8). Mit einsprachigem Text kommen
1388 Zeichen aus: fast alle in Deutsch (Abb. 3.2.1.7), nur drei in Englisch (»TicketLine«, »P+R«).
Zeichen infrastrukturell
%
regulatorisch
%
∑ offiziell
%
Fotos
1708
100
1265
100
2973
100
davon ohne Text
111
6,5
361
28,5
472
15,9
einsprachig
1597
100
904
100
2501
100
einsprachig Deutsch
1385
86,7
855
94,6
2240
89,6
einsprachig Englisch
3
0,2
1
0,1
4
0,2
Deutsch + Englisch
137
8,6
36
4,0
173
6,9
Deutsch + Türkisch
7
0,4
2
0,2
9
0,4
Deutsch + Französisch
4
0,3
-
-
4
0,2
Deutsch + Arabisch
2
0,1
-
-
2
0,1
Deutsch + Italienisch
1
-
1
0,1
2
0,1
Deutsch + Spanisch
1
-
-
-
1
-
Deutsch + Niederländ.
1
-
-
-
1
-
Deutsch + Polnisch
1
-
-
-
1
-
Deutsch + Schwedisch
1
-
-
-
1
-
Deutsch + Koreanisch
1
-
-
-
1
-
Dt. + Engl. + Franz.
30
1,9
7
0,8
37
1,5
Dt. + Engl. + Lat.
3
0,2
1
0,1
4
0,2
Dt. + zweite + dritte
8
0,5
-
-
8
0,3
mehr als drei Sprachen
12
0,8
1
0,1
13
0,5
Summe (mit Text)
1597
100
904
100
2501
100
Abb. 3.2.1.1: Mehrsprachigkeit im infrastrukturellen und regulatorischen Diskurs
82
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Weitere 156 Belege nutzen außer Deutsch nur eine zweite Sprache: 137 × Englisch,
7 × Türkisch (fünf in der Nordstadt, zwei in Marxloh; Abb. 3.2.1.5), 4 × Französisch,
2 × Arabisch und je einmal Italienisch, Spanisch, Niederländisch, Polnisch, Schwedisch und Koreanisch. Außer bei Englisch handelt es sich fast immer um Eigennamen.
Sodann gibt es 30 Belege mit Deutsch, Englisch und Französisch sowie je einen
mit Deutsch und Englisch sowie Niederländisch, Dänisch bzw. Türkisch. 8 weitere zeigen andere Kombinationen dreier Sprachen. Außer bei Englisch und Französisch handelt es sich bei den nichtdeutschen Texten stets um Eigennamen – außer bei zwei Müllcontainern mit deutscher, türkischer und russischer Aufschrift (Abb. 3.2.1.3).
Die restlichen 12 Objekte verwenden jeweils mehr als drei Sprachen: manchmal
mit Eigennamen, manchmal mit Gebrauchshinweisen für Mülltonnen oder Automaten.
Nun zu den 1265 »regulatorischen« Zeichen (s. wieder Tabelle in Abb. 3.2.1.1).
361 davon kommen ganz ohne Text aus. Es sind Verkehrsschilder wie in Abb. 3.2.1.6
oder Abb. 3.2.1.10. Eine einzige Sprache verwenden 856 Belege, und zwar mit einer
Ausnahme (»No Smoking«) immer Deutsch (Abb. 3.2.1.11). Zweisprachig deutsch
und englisch sind 36 Fälle, drei Mal steht ein türkischer oder italienischer Eigenname
bei einem deutschen Text.
Ausschließlich an Bahnhöfen gibt es dann sieben kurze deutsch-englisch-französische Hinweise, einen deutsch-englischen samt lateinischem Eigennamen und ein viersprachiges (deutsch-englisch-französisch-italienisches) Schild. Andere Sprachen kommen gar nicht vor.
Sprache infrastrukturell
%
regulatorisch
%
∑ offiziell
%
Deutsch
1589
85,2
903
93,7
2492
88,1
Englisch
183
9,8
46
4,8
229
8,1
Französisch
41
2,2
8
0,8
49
1,7
Türkisch
15
0,8
2
0,2
17
0,6
Italienisch
7
0,4
2
0,2
9
0,3
Niederländisch
5
0,3
-
-
5
0,2
Russisch
5
0,3
-
-
5
0,2
Arabisch
3
0,2
-
-
3
0,1
Koreanisch
3
0,2
-
-
3
0,1
Spanisch
3
0,2
-
-
3
0,1
Latein
1
0,1
1
-
2
0,1
Sonstige
10
0,5
-
-
10
0,3
Summe
1865
100
962
100
2827
100
Alles in allem verwenden also fast alle »offiziellen« Schilder im öffentlichen Raum, die überhaupt Text enthalten,
Deutsch und fast 90 % nur Deutsch (s. die letzte Spalte der
Tabelle in Abb. 3.2.1.1). Englisch und Französisch treten
meist als Übersetzung deutscher Wörter oder kurzer Texte
auf demselben Schild in Erscheinung (vor allem an Bahnhöfen und Kultureinrichtungen), während aus anderen Sprachen häufig nur Eigennamen zu sehen sind (Abb. 3.2.1.9).
Die fast überwältigende deutsche Einsprachigkeit offizieller (regulatorischer noch mehr als infrastruktureller) Aufund Inschriften zeigt auch die Tabelle in Abb. 3.2.1.2. Hier
werden nicht Schilder gezählt wie in der Tabelle in Abb.
3.2.1.1, sondern Sprachvorkommen. Auf einem dreisprachigen Schild wie etwa in Abb. 3.2.1.3 wird hier also jede Sprache einmal gezählt. Deutsche Passagen machen wieder fast
neun Zehntel aus, englische und französische zusammen fast
ein Zehntel; alle übrigen Sprachen zusammen gerade einmal
zwei Prozent. Von nichtdeutschen Muttersprachlerinnen
und Muttersprachlern wird also erwartet, dass sie mindestens kurze deutsche Texte lesen können.
Abb. 3.2.1.2: Sprachen im infrastrukturellen und regulatorischen Diskurs
3.2.1 INFRASTRUKTURELLER UND REGULATORISCHER DISKURS
83
Abb. 3.2.1.3: Müllcontainer in BO-Langendreer
Abb. 3.2.1.4: Blitz-Icon in BO-Langendreer
Abb. 3.2.1.5: Türschild in DU-Marxloh
Abb. 3.2.1.7: Wegweiser in DU-Innenstadt
Abb. 3.2.1.6: Verkehrsschild in BO-Langendreer
Abb. 3.2.1.8: Papierkorb-Icon in BO-Hamme
Abb. 3.2.1.10: Verkehrsschild in BO-Hamme
Abb. 3.2.1.11: Parkschild in DO-Hörde
Abb. 3.2.1.9: Aufkleber in DO-Nordstadt
84
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.2.1 INFRASTRUKTURELLER UND REGULATORISCHER DISKURS
85
3.2.1.1 Deutsch und andere
Sprachen an vier Bahnhöfen
Wie sehr ein Ort als international erlebt wird oder werden soll, dürfte an Bahnhöfen
besonders gut zu erkennen sein. Denn hier verkehren sehr viele Menschen, zum Teil
auch aus aller Welt, kommen an und fahren ab. Welche Sprachen sieht man an Bahnhöfen? Wir lassen kommerzielle und transgressive Zeichen außer Betracht und kümmern uns nur um den offiziellen Diskurs, der also von staatlichen Stellen verantwortet
wird. Wie immer haben wir nur öffentlich zugängliche Außenbereiche dokumentiert,
keine Innenräume.
An den vier Hauptbahnhöfen in Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund gibt es
575 offizielle Schilder und Aufkleber mit Text. 469 davon (82 %) sind einsprachig
deutsch gehalten (Abb. 3.2.1.1.1 und Abb. 3.2.1.1.2). 67 kommen (partiell) zweisprachig in Deutsch und Englisch vor (Abb. 3.2.1.1.3), 33 weitere dreisprachig in Deutsch,
Englisch und Französisch (Abb. 3.2.1.1.4). Vier weitere nutzen außer diesen drei noch
eine oder drei weitere Sprachen (Italienisch, Spanisch, Polnisch) (Abb. 3.2.1.1.5) und
zwei überhaupt nur Englisch (Abb. 3.2.1.1.6). Andere Sprachen kommen gar nicht vor.
86
Warum wann welche Sprachen neben Deutsch verwendet werden, bleibt unklar. Die unterschiedlichen Sprachkombinationen scheinen von Fall zu Fall zufällig gewählt, jedenfalls nicht systematisch etwa nach bestimmten Orten
oder für bestimmte Zwecke. Beispielsweise zeigt Abb.
3.2.1.1.7 einen einsprachigen Hinweis für Notfälle, Abb.
3.2.1.1.8 aber einen viersprachigen.
Bei den fremdsprachigen Passagen handelt es sich fast
immer um Übersetzungen einzelner Wörter (»Non-Smoking
Station; Welcome / Bienvenue; Entrance / Entrée; Pull / Tirez; Tickets / Billets / Biglietti; Waste / Dechets«) oder kurzer
Texte (Buy your tickets here / Retirer le billet ici) (Abb.
3.2.1.1.9, Abb. 3.2.1.1.10 bzw. Abb. 3.2.1.1.4).
Einige der englischen Passagen richten sich eigentlich
nur ein an deutschsprachiges Publikum oder verwenden
(mutmaßlich oder tatsächlich) international gebräuchliche
Anglizismen wie »Service Point, Off – On« oder »P+R« für
»Park and Ride« (Abb. 3.2.1.1.6). Besonders witzig oder
wunderlich kommt Abb. 3.2.1.1.11 daher: Der Wortlaut
»Kiss & ride frei« muss durch eine Illustration erklärt werden.
Oft hat man den Eindruck, dass eher wahllos vereinzelte
englische oder französische Wörter deutschen Texten hinzugefügt wurden, um sich wenigstens einen gewissen Anschein
von Internationalität zu geben. Besonders funktionslos steht
zum Beispiel in Abb. 3.2.1.1.12 rechts oben die Zeile »Münzen / Coins / Monnaies« neben sehr langen ausschließlich
deutschen Gebrauchsanweisungen an einem Parkautomaten. Am selben Bahnhof konsequenter lesen wir das knappe
»Hier Münzen einwerfen« vollständig in fünf weiteren Sprachen (Abb. 3.2.1.1.5).
Ein einziges Mal finden wir einen echten viersprachigen
Text vor, nämlich am Nothalt einer Rolltreppe (Abb.
3.2.1.1.8).
Wo überhaupt nichtdeutsche Beschriftungen auftauchen, handelt es sich meistens um einzelne Wörter, die an
den meisten Bahnhöfen der Welt vorkommen und so einfach sind, dass jedenfalls Touristen auch die deutschen Entsprechungen verstehen. Oft werden diese Texte von international gebräuchlichen stilisierten Bildern (Icons) begleitet,
die eigentlich auch die deutsche Fassung entbehrlich machen. Hier geht es wohl mehr darum, ein Image von Internationalität zu erzeugen, als um eine wirkliche Hilfe für Ausländer. Wirklich funktionale mehrsprachige Texte kommen
nur sehr selten vor und fast gar nicht in anderen Sprachen als
Englisch und Deutsch.
Abb. 3.2.1.1.1: Verbot, E-Hauptbahnof
Abb. 3.2.1.1.2: Gebot, E-Hauptbahnof
Abb. 3.2.1.1.3: Hinweis, E-Hauptbahnhof
Abb. 3.2.1.1.7: Warnung,
BO-Hauptbahnhof
Abb. 3.2.1.1.8: Hinweis, E-Hauptbahnhof
Abb. 3.2.1.1.9: Hinweis,
BO-Hauptbahnhof
Abb. 3.2.1.1.4: Schild, E-Hauptbahnhof
Abb. 3.2.1.1.5: Hinweis,
DO-Hauptbahnhof
Abb. 3.2.1.1.6: Park & Ride,
DO-Hauptbahnhof
Abb. 3.2.1.1.10: Hinweis,
DO-Hauptbahnhof
Abb. 3.2.1.1.11: Verkehrsschild,
E-Hauptbahnhof
Abb. 3.2.1.1.12: Parkautomat,
DO-Hauptbahnhof
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.2.1.1 DEUTSCH UND ANDERE SPRACHEN AN VIER BAHNHÖFEN
87
3.2.1.2 Deutsch und andere Sprachen
an Kitas, Bürgerbüros und Kulturstätten
Abb. 3.2.1.2.1: Information an einer Kita,
DO-Nordstadt
Abb. 3.2.1.2.2: Schild an einer Kita,
DO-Hörde
Abb. 3.2.1.2.3: Aufkleber auf dem Briefkasten einer KiTa, Dortmund-Hörde
88
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Kindertagesstätten im Ruhrgebiet werden von Kindern und Eltern mit zahlreichen
verschiedenen Muttersprachen genutzt. Diese Vielsprachigkeit schlägt sich allerdings
nicht in den Texten an diesen Kitas nieder. In jedem der untersuchten acht Stadtteile
haben wir die Texte und andere sichtbaren Zeichen auf dem Gelände einer Kita (nicht
innen) ausgewertet.
Neben 13 Graffiti-Tags und textlosen Bildern gibt es an allen acht Kitas zusammen 131 In- und Aufschriften. 115 davon (88 %) sind einsprachig deutsch, darunter
mit einer einzigen Ausnahme (Abb. 3.2.1.2.4) sämtliche 86 offiziellen. Wenn andere
Sprachen vorkommen, dann fast immer nur als englischer, spanischer oder chinesischer Eigenname in sonst deutschsprachigem Kontext.
Selbst Informationen und Warnhinweise sind stets nur einsprachig deutsch gehalten (Abb. 3.2.1.2.1 und Abb. 3.2.1.2.2). Der einzige echt zweisprachige Text (in dem
also nicht nur ein nichtdeutscher Eigenname vorkommt) steht auf dem gemeinwohlorientierten Aufkleber einer türkischen Bank in DO-Hörde (Abb. 3.2.1.2.3). Die einzigen Aufschriften mit mehr als zwei Sprachen sind Info-Aufkleber an einem Müllcontainer in DO-Hörde (Abb. 3.2.1.2.4) und »Herzlich Willkommen«-Aufkleber an zwei
Fenstern einer Kita in E-Altendorf (Abb. 3.2.1.2.5).
Konsequent einsprachig deutsch geben sich auch die zentralen Bürgerbüros der
vier Städte. An deren Eingangsbereichen finden sich zusammen 88 Schilder oder Aufkleber. 20 davon zeigen nur Bilder (z.B. Rauchverbotszeichen). Von den übrigen 68
mit Text verwenden nur drei wenigstens ein fremdsprachiges Wort: Eines verweist neben deutschen Ämtern auch auf eine Firma mit englischem Namen; ein weiteres erklärt dem deutschsprachigen Publikum die Bedeutung des neu eingeführten Anglizismus »Speed Capture Station« (Abb. 3.2.1.2.6); und nur an einer automatischen
Fahrradausleihe, die mit dem Bürgerbüro nichts zu tun hat, gibt es lange Gebrauchshinweise in deutscher und englischer Sprache.
Etwas anders verhält es sich bei Kulturstätten als touristischen Attraktionen. Für
Duisburg haben wir den Landschaftspark Nord ausgewählt, für Essen das RuhrMuseum auf Zollverein, für Bochum die Jahrhunderthalle und für Dortmund den
U-Turm. In den Außenbereichen finden wir hier zusammen 431 Belege. Ohne die 69
reinen Bilder und Graffiti-Tags gibt es 362 Schilder und Aufkleber mit Text. Davon
sind 237 (65 %) einsprachig deutsch und 103 (28 %) zweisprachig deutsch und englisch, 19 weitere (5 %) nur englisch. Diese Zahlen müssen etwas genauer betrachtet
werden:
Konzentrieren wir uns zunächst auf die 227 offiziellen (von staatlichen Stellen verantworteten) Zeichen; das sind 63 % aller Belege, die Text enthalten. 144 (63 %) dieser offiziellen Zeichen sind einsprachig deutsch, 80 (35 %) enthalten außer deutschen
auch englische Wörter. Es gibt nur einen rein englischen Text; dafür ist der Anteil der
deutsch-englischen Belege höher als bei den nicht offiziellen Zeichen. Der Grund dafür liegt darin, dass hier auch Touristen aus dem Ausland angesprochen werden sollen,
wie wir gleich noch sehen werden.
Die zweitgrößte Gruppe mit 20 % stellen die 71 kommerziellen Zeichen. 58 davon sind rein deutsch abgefasst,
die restlichen 13 enthalten außer deutschen auch englische
Wörter. Außerdem gibt es 57 (16 %) transgressive Zeichen
mit Text: 29 nur deutsch, 9 deutsch und englisch, 18 nur
englisch und ein Aufkleber mit einem türkischen politischen
Slogan. Die restlichen 7 Belege sind künstlerischer Art: sechs
deutsch, einer deutsch und englisch.
Schaut man genauer hin, entpuppen sich über 54 aller
124 englischen Passagen entweder als kurze Einsprengsel
(vor allem Eigennamen oder Werktitel) innerhalb deutscher
Texte oder aber als englischsprachige Kurzgraffitis wie
»2Bad«. Außerdem entdecken wir 19 Mal einen Hinweis
auf das »Ruhr.VisitorCenter« (Abb. 3.2.1.2.7) sowie 13
Mal lediglich ganz kurze zweisprachige Aufschriften wie
»Entrance« (Abb. 3.2.1.2.8), »Opening Hours«, »Guided
Tours« oder »events«. So bleiben an allen vier touristischen
Attraktionen zusammen gerade einmal 36 zweisprachige
plus zwei mehrsprachige Texte, die mehr als nur ein, zwei
oder höchstens fünf Wörter (»International Festival of the
Arts«) umfassen.
An diesen vier Orten wird Zweisprachigkeit (und nur
zwei Mal Mehrsprachigkeit) mehr oder weniger zufällig gepflegt. Ein einheitliches Zwei- oder Mehrsprachigkeits-Konzept wird nicht erkennbar. Besonders hervorzuheben sind allerdings die 15 ausführlichen deutsch-englischen Erklärtexte
im Landschaftspark Duisburg; ein weiterer dort ist sogar
viersprachig deutsch, englisch, französisch und niederländisch gehalten (Abb. 3.2.1.2.9).
Wie angestrengt Zwei- oder Mehrsprachigkeit hier und
da angestrebt wird, belegt das einzige fünfsprachige Schild,
zugleich das einzige an den vier Kulturstätten mit wenigstens
einem türkischen Wort (Abb. 3.2.1.2.10). Abb. 3.2.1.2.11
zeigt, dass geplante Vorgaben vor Ort kaum gelebt werden.
Kurzum: Mit im öffentlichen Raum sichtbarer Internationalität ist es in der Metropole Ruhr nicht weit her.
Abb. 3.2.1.2.4: Aufkleber an einem Müllcontainer, DO-Hörde
Abb. 3.2.1.2.5: Aufkleber an einer Kita,
E-Altendorf
Abb. 3.2.1.2.6: Plakat am Bürgeramt
Gildenhof, Essen
Abb. 3.2.1.2.7: : Schild am Dortmunder
U-Turm
Abb. 3.2.1.2.8: Eingang am Dortmunder
U-Turm
Abb. 3.2.1.2.9: Viersprachige Infotafel im
Landschaftspark Nord, Duisburg
Abb. 3.2.1.2.10: Willkommens-Schild am
RuhrMuseum, Essen
Abb. 3.2.1.2.11: Eingangstür am Dortmunder U-Turm
3.2.1.2 DEUTSCH UND ANDERE SPRACHEN AN KITAS, BÜRGERBÜROS UND KULTURSTÄTTEN
89
3.2.2 Kommerzieller Diskurs
3.2.2.1 Vielfalt der Zeichen und
Sprachen im kommerziellen Diskurs
Fast die Hälfte (49 %) aller Zeichen in den von uns untersuchten öffentlichen Räumen
des Ruhrgebiets erfüllen kommerzielle Zwecke. Dabei handelt es sich um Werbeplakate, Schilder, Aushänge und andere Informationen im Straßenbild, an Geschäften
und in Schaufenstern. Teils dienen sie der Werbung für Waren und Dienstleistungen,
teils der Information z. B. über Öffnungszeiten; häufig sind beide Funktionen miteinander verbunden, etwa im Ladenschild.
Die gesamte Vielfalt wird auch schon in kleinen Räumen sichtbar. Nehmen wir
beispielsweise unser Untersuchungsgebiet südlich des Bahnhofs Bochum-Langendreer
West. Es umfasst etwa fünf Hektar, nämlich 600 Meter entlang des nördlichen Teils
der Alten Bahnhofstraße mit einigen Nebenstraßen. 939 sämtlicher 1908 Zeichen in
diesem Bereich sind kommerziell. Das Spektrum reicht von einfachen Logos (Abb.
3.2.2.1.1), Telefonnummern (Abb. 3.2.2.1.2) und Warengattungen (»Mode« Abb.
3.2.2.1.3) über Branchen- oder Geschäftsbezeichnungen ohne (»Grill – Stube – Pizza«
Abb. 3.2.2.1.4) und mit Eigennamen (»Blumen Risse« Abb. 3.2.2.1.5) oder auch mit
zusätzlich angedeuteter Werbung (»Wulf Optik... wir schaffen Durchblick« Abb.
3.2.2.1.6), weiter dann über kurze Angebote (»Nackenhörnchen 12.90« Abb.
3.2.2.1.7), Preislisten (Abb. 3.2.2.1.8), Öffnungszeiten (Abb. 3.2.2.1.9), Wegweiser
(Abb. 3.2.2.1.10) und Warnhinweise »Diese Geschäftsräume sind durch Alarm gesichert!!!« Abb. 3.2.2.1.11) bis zu langen Informationsblättern (Abb. 3.2.2.1.12) sowie
kleinen und großen Werbeplakaten (Abb. 3.2.2.1.14, Abb. 3.2.2.1.15).
Meist handelt es sich um Aufkleber (34 % im gesamten Material), gedruckte Plakate und Aushänge (33 %) oder um fest montierte Schilder (26 %); es gibt aber auch
manuell angefertigte (4 %), gravierte (1 %), elektrische, gesprühte und weitere Zeichen. Die allermeisten davon (91 % im gesamten Material) nehmen weniger als einen
Quadratmeter ein, und nur 25 Plakate oder Schilder sind größer als 10 Quadratmeter.
90
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.2.2.1.1: Einfaches Logo
Abb. 3.2.2.1.2: Telefonnummer
Abb. 3.2.2.1.3: Warengattung
Abb. 3.2.2.1.4: Branchenbezeichnung,
ohne Eigenname
Abb. 3.2.2.1.5: Branchenbezeichnung,
mit Eigenname
Abb. 3.2.2.1.6: Branchenbezeichnung,
angedeutete Werbung
Abb. 3.2.2.1.7: Angebot
Abb. 3.2.2.1.8: Preisliste
Abb. 3.2.2.1.9: Öffnungszeiten
Abb. 3.2.2.1.10: Wegweiser
Abb. 3.2.2.1.11: Warnhinweis
Abb. 3.2.2.1.12: Informationsblatt
3.2.2 KOMMERZIELLER DISKURS
91
Abb. 3.2.2.1.13: Sprachkombinationen
auf den einzelnen Zeichen im kommerziellen Diskurs
92
Zeichen
kommerziell
%
Anzahl
12 556
100,0
davon ohne Text
251
1,7
Belege mit Text
12 305
100,0
einsprachig Deutsch
7838
63,4
einsprachig Englisch
471
3,8
einsprachig andere
338
2,7
Deutsch + Englisch
1607
13,1
Deutsch + Englisch
456
3,7
Deutsch + Italienisch
123
1,0
Deutsch + Französisch
107
0,9
Deutsch + Latein
90
0,7
Deutsch + Arabisch
85
0,7
Deutsch + Polnisch
74
0,6
Deutsch + Spanisch
55
0,4
Deutsch + Niederländ.
30
0,2
Deutsch + Griechisch
29
0,2
Deutsch + Chinesisch
29
0,2
Deutsch + Japanisch
25
0,2
Deutsch + Persisch
19
0,2
Deutsch + Nonstandard
13
0,1
Deutsch + Russisch
13
0,1
Deutsch + Hindi
9
0,1
Deutsch + Tschechisch
8
0,1
Deutsch + Portugiesisch
7
0,1
Deutsch + Kroatisch
6
0,0
0,0
Deutsch + Koreanisch
5
Deutsch + Slowenisch
5
0,0
Deutsch + andere zweite
42
0,3
Englisch + Englisch
49
0,4
Englisch + Italienisch
20
0,2
Englisch + Französisch
12
0,1
Englisch + Spanisch
11
0,1
Englisch + Chinesisch
5
0,0
Englisch + andere zweite
131
1,1
Arabisch + Englisch
1
0,0
Arabisch + Kurdisch
1
0,0
Dt. + Engl. + Frz.
62
0,5
Dt. + Englisch + Latein
21
0,2
Dt. + zweite + dritte
458
3,7
mehr als drei Sprachen
126
1,0
Summe (mit Text)
12 305
100,0
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Wie steht es nun um die Sprachen der meist kurzen
Texte auf all diesen kommerziellen Zeichen? Die linke Tabelle (Abb. 3.2.2.1.13) gibt einen Überblick über Sprachkombinationen auf den einzelnen Zeichen im kommerziellen Diskurs (Schildern, Aufklebern usw.).
Auf weniger als einem Drittel (29,1 %) dieser Zeichen
erscheinen zwei oder mehrere Sprachen nebeneinander, die
wir dann als jeweils zwei bzw. entsprechend mehr Sprachvorkommen zählen. So finden wir auf allen kommerziellen Zeichen zusammen 16 869 einzelne Sprachvorkommen. Das
sind 61,9 % sämtlicher 27 265 Sprachvorkommen in unserem gesamten Material (vgl. Kap. 3.1.1). Der vergleichsweise hohe Anteil (denn nur knapp die Hälfte aller Zeichen
sind kommerziell) erklärt sich vor allem dadurch, dass viele
der anderen Zeichen (z.B. Verkehrsschilder, Graffiti, Bildaufkleber) ganz ohne Text auskommen.
Die Häufigkeit der Sprachvorkommen auf kommerziellen Zeichen unterscheidet sich nur in wenigen Punkten von
der im Gesamtkorpus (s. Kap. 3.1.1). Allerdings findet man
Englisch auf kommerziellen Zeichen seltener als sonst: Im
Gesamtkorpus ist jedes fünfte Sprachvorkommen englisch
(20,1 %), bei den kommerziellen Zeichen nur fast jedes
sechste (16,4 %). Dafür ist Deutsch etwas stärker vertreten
(67,4 % gegenüber 66,2 %); in absoluten Zahlen gleicht das
deutsche Mehr ein Drittel des englischen Weniger aus. Dementsprechend kommen auf kommerziellen Zeichen auch die
hinter Deutsch und Englisch 13 nächsthäufigen Sprachen
(außer Nonstandard) überdurchschnittlich oft vor, am deutlichsten Türkisch (5,4 % statt 4,1 %), Französisch (1,9 %
statt 1,6 %), Italienisch (1,7% statt 1,4 %) und Arabisch
(1,0 % statt 0,7 %).
Umgekehrt betrachtet erscheint nur die Hälfte (50,3 %)
aller englischen Sprachvorkommen auf kommerziellen Zeichen, jedoch 81,3 % aller türkischen Texte. Besonders hoch
liegt der Anteil kommerzieller Texte auch beim Arabischen
(92 %), Lateinischen (91 %), Polnischen (85 %) und Griechischen (94 %). Vor allem die seltenen Sprachen treten oft
nur oder fast nur im kommerziellen Bereich auf: Persisch,
Rumänisch, Albanisch, Armenisch, Bulgarisch und Slowenisch zu jeweils 100 % bzw. Tschechisch, Kroatisch und
Hindi zu jeweils über 90 %.
Alles in allem verwendet der kommerzielle Diskurs also ein
leicht ausgewogeneres Sprachenportfolio. Englisch spielt eine
etwas geringere Rolle als im Gesamtmaterial, während viele
seltene Sprachen hier überhaupt erst zur Geltung kommen.
Auch neigt der kommerzielle Diskurs ein wenig mehr zu
zwei- und mehrsprachigen Zeichen. Das zeigen die folgenden Zahlen:
69 % aller kommerziellen Zeichen sind einsprachig (darunter 63 % deutsch, 4 % englisch, 1,5 % türkisch) – verglichen mit immerhin 74 % einsprachigen Zeichen im Gesamtkorpus (darunter ebenfalls 63 % deutsch, 8,5 %
englisch, 1 % türkisch).
24 % der kommerziellen Zeichen sind zweisprachig (darunter 23 % in Kombination mit Deutsch, und zwar 13 %
deutsch & englisch sowie 4 % deutsch & türkisch) – wieder
verglichen mit nur 21 % zweisprachigen Zeichen im Gesamtkorpus (darunter 16 % in Kombination mit deutsch,
und zwar 11 % deutsch & englisch sowie 2 % deutsch &
türkisch).
Weitere 4 % kommerzielle Zeichen sind dreisprachig
(im Gesamtkorpus nur 3 %) und ein weiteres Prozent multilingual (im Gesamtkorpus 0,6 %). Auch in diesen Verbindungen ist Deutsch fast immer vertreten, danach folgen
Englisch und mit ähnlichem Abstand Türkisch.
Arg pointiert: Kommerzielle Zeichen nutzen sprachliche Vielfalt etwas mehr als andere Zeichen. Großenteils liegt
das an den Herkunftssprachen nichtdeutscher Ladenbesitzer.
Abb. 3.2.2.1.14: Kleines Werbeplakat
Abb. 3.2.2.1.15: Großes Werbeplakat
3.2.2 KOMMERZIELLER DISKURS
93
3.2.2.2 Kommerzielle Zeichen in
ausgewählten Stadtteilen
Widmen wir uns nun etwas näher der räumlichen Dichte und sprachlichen Vielfalt
kommerzieller Zeichen. Dafür vergleichen wir drei Stadtteile mit besonders prägnanter Charakteristik. DU-Marxloh ist stark türkisch geprägt; außerdem sind ungewöhnlich viele (drei Viertel) der Zeichen in unserem Untersuchungsgebiet dort kommerziell. In DO-Nordstadt wohnen Menschen aus zahlreichen verschiedenen
Herkunftsländern; und nur 38 % der Zeichen sind kommerziell. Im Zentrum von
E-Rüttenscheid schließlich gibt vor allem ein gehobenes deutsches Publikum sein Geld
in Fachgeschäften und Restaurants aus; der Anteil an kommerziellen Zeichen liegt hier
mit 42 % ebenfalls unter dem Durchschnitt von 49 %.
stra
ße
59
raß
e
Mallin
traße
dtstraße
Uhlandstra
ße
Wa
rb
ruc
kst
Mallinckro
ts
ckrod
54
Bornstraße
uck
ße
Schützenstra
Willy-Brandt-Ring
rbr
Wa
Die Abb. 3.2.2.2.1, Abb. 3.2.2.2.2 und Abb. 3.2.2.2.3
zeigen die Verteilung kommerzieller Zeichen in den drei Untersuchungsgebieten. Jeweils mit kleinen Abstechern in Nebenstraßen findet man in Marxloh entlang der Weseler
Straße 936 Zeichen auf einer Strecke von etwa 1,6 km, in
Nordstadt entlang der Münsterstraße 1 091 Zeichen auf
etwa 1,2 km und in Rüttenscheid entlang der Rüttenscheider Straße 2 612 Zeichen auf etwa 1,7 km. Bei einer durchschnittlichen Schrittlänge von etwa 60 cm trifft man in
Marxloh also nach fast jedem dritten Schritt auf ein kommerzielles Zeichen, in Nordstadt nach fast jedem zweiten
Schritt und in Rüttenscheid bei jedem Schritt.
59
Abb. 3.2.2.2.1: 936 kommerzielle Zeichen in Marxloh Punkte markieren die Fundorte von Fotos.
Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
94
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.2.2.2.2: 1091 kommerzielle Zeichen in der Nordstadt Punkte markieren die Fundorte von Fotos.
Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
3.2.2.2 KOMMERZIELLE ZEICHEN IN AUSGEWÄHLTEN STADTTEILEN
95
Paulinen
straße
H
ol
st
er
ha
us
er
st
ra
Rüttens
ße
224
cheide
r
Straße
Die Sprachen auf kommerziellen Zeichen sind in den
drei Stadtteilen auf charakteristische Weise unterschiedlich
verteilt. Die Tabelle in Abb. 3.2.2.2.4 zeigt die relativen Anteile all dieser Sprachvorkommen (drei verschiedene Sprachen auf einem Schild gelten als drei Vorkommen).
Auf den ersten Blick fällt auf, dass sowohl Deutsch als
auch Englisch in Marxloh seltener vorkommen als in der
Nordstadt und dort seltener als in Rüttenscheid, während
umgekehrt Türkisch in Marxloh (Abb. 3.2.2.2.5 und Abb.
3.2.2.2.6) mehr als ein Viertel, in der Nordstadt aber nur
ein Neuntel aller Sprachvorkommen ausmacht und in
Rüttenscheid kaum zu sehen ist. Marxloh ist stark auf diese
drei (auch im gesamtem Material) häufigsten Sprachen
konzentriert; zusammen machen sie hier 95,8 % aller
224
Abb. 3.2.2.2.3: 2612 kommerzielle Zeichen in Rüttenscheid Punkte markieren die Fundorte von Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen
wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
96
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Sprachvorkommen aus – gegenüber 85,1 % in der Nordstadt
und 87,6 % in Rüttenscheid. So gesehen ist Marxloh also der
mit drei Hauptsprachen sprachlich homogenste Stadtteil
und Nordstadt der vielfältigste. Letzteres hängt zum Teil mit
dem außergewöhnlich häufigen Vorkommen arabischer
(5,5 %) (3.2.2.2.7), aber auch niederländischer (3.2.2.2.8),
griechischer und portugiesischer Texte in Nordstadt zusammen: Zusammen stellen diese vier Sprachen hier 7,6 % aller
Sprachvorkommen (gegenüber 0,7 % in Marxloh und 1,0 %
in Rüttenscheid).
Sodann springt der vergleichsweise hohe Anteil von
Französisch, Italienisch und Spanisch in Rüttenscheid ins
Auge (3.2.2.2.9). Diese drei westeuropäischen Sprachen genießen in Deutschland als wichtige Bildungs- und Schulsprachen ein hohes Ansehen. Zusammen stellen sie in Rüttenscheid 7,1 % (gegenüber 2,9 % in Nordstadt und lediglich
1,4 % in Marxloh). Man kann das als Symptom gutbürgerlicher Atmosphäre in Rüttenscheid verstehen. Auch als Gastronomie-Sprachen spielen sie in diesem Ausgeh-Vorort eine
große Rolle, ähnlich wie Chinesisch und Japanisch (zusammen 0,8 % in Rüttenscheid – gegenüber 0,4 % in der Nordstadt und 0,1 % in Marxloh, wo Chinesisch jeweils überhaupt nicht vertreten ist) (3.2.2.2.10 und 3.2.2.2.11).
Auch von den sehr seltenen Sprachen (unter zehn Belege
im gesamten Material; s. Kap. 3.1.1) findet sich in Marxloh
keine einzige. In der Nordstadt gibt es je zwei albanische,
bulgarische und serbische Belege sowie einen bosnischen; in
Rüttenscheid je drei hebräische und ungarische sowie je einen serbischen, slowakischen, swahili und thailändischen.
Vor allem bei den kleinen Werten (auch in 3.2.2.2.4) sollte
allerdings nicht vergessen werden, dass die einzelnen Sprachvorkommen manchmal nur aus einem Wort (z.B. einem Eigennamen) bestehen. Dennoch zeigt ihre Anwesenheit einen
gewissen Grad an Internationalität an.
Rang
Marxloh
Nordstadt
Rüttensch.
Sprache
N = 1314
N = 1573
N = 3572
1
Deutsch
59,1 %
62,5 %
67,2 %
2
Englisch
9,4 %
11,5 %
19,6 %
3
Türkisch
27,3 %
11,1 %
0,7 %
4
Französisch
0,8 %
1,1 %
3,0 %
5
Italienisch
0,5 %
1,3 %
2,4 %
6
Spanisch
0,2 %
0,6 %
1,7 %
7
Arabisch
0,5 %
5,5 %
0,3 %
8
Latein
0,5 %
1,1 %
0,9 %
9
Polnisch
0,3 %
0,7 %
0,8 %
10
Nonstandard
0,2 %
0,1 %
0,1 %
11
Niederländisch
0,1 %
0,9 %
0,4 %
12
Chinesisch
–
–
0,4 %
13
Japanisch
0,1 %
0,4 %
0,4 %
14
Russisch
0,5 %
0,5 %
0,2 %
15
Griechisch
0,1 %
0,7 %
0,1 %
16
Portugiesisch
0,1 %
0,5 %
0,2 %
17
Koreanisch
–
0,1 %
0,3 %
18
Persisch
–
0,3 %
0,3 %
19
Dänisch
–
–
0,1 %
20
Tschechisch
–
0,1 %
0,2 %
21
Kurdisch
0,2 %
0,2 %
–
22
Hindi
0,2 %
–
0,0 %
23
Rumänisch
–
0,3 %
0,2 %
24
Tamil
–
–
0,0 %
25
Kroatisch
0,1 %
0,2 %
0,1 %
26
Schwedisch
0,1 %
–
0,0 %
Abb. 3.2.2.2.4: Anteile der Sprachvorkommen auf kommerziellen
Zeichen in drei Stadtteilen (in der Rangfolge sämtlicher Sprachvorkommen im gesamten Material; s. Kap. 3.1)
3.2.2.2 KOMMERZIELLE ZEICHEN IN AUSGEWÄHLTEN STADTTEILEN
97
Der hohe Anteil türkischer Geschäfte und Bevölkerung
in Marxloh, die sehr internationale Vielfalt der Läden und
Einwohner in der Nordstadt und das gutbürgerlich deutsche
Publikum samt entsprechender Gastronomie in Rüttenscheid schlagen sich also spürbar in der sprachlichen Abfassung kommerzieller Zeichen in diesen drei Stadtteilen nieder.
Dieser Befund wird bestätigt, wenn man diese Zeichen
auf Ein- und Mehrsprachigkeit hin untersucht (Tabelle in
Abb. 3.2.2.2.12).Der Anteil einsprachiger Zeichen steigt
von Marxloh über Nordstadt nach Rüttenscheid leicht an,
der Anteil einsprachig deutscher Zeichen sogar sehr stark.
Erwartungsgemäß finden wir die relativ meisten einsprachig
englischen Belege in Rüttenscheid und die meisten einsprachig türkischen in Marxloh (Abb. 3.2.2.2.5). Ein ähnlich
umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen Englisch in
Rüttenscheid und Türkisch in Marxloh sehen wir auch bei
den zweisprachigen Schildern; auch bei den dreisprachigen
spielt Türkisch in Rüttenscheid keine Rolle. Im Übrigen ist
Deutsch, als in jeder Hinsicht die klar dominante Sprache,
bei den zweisprachigen Zeichen meistens, bei drei und
mehrsprachigen fast immer dabei.
Marxloh
Nordstadt
Rüttensch.
N = 936
N = 1091
N = 2612
einsprachig
64,6 %
65,0 %
66,8 %
einsprachig deutsch
49,8 %
58,2 %
61,3 %
einsprachig englisch
1,4 %
2,5 %
3,6 %
einsprachig türkisch
13,0 %
2,2 %
0,1 %
zweisprachig
29,6 %
27,8 %
27,5 %
zweisprachig D + x
27,9 %
26,6 %
26,6 %
zweisprachig E + x
7,1 %
9,6 %
18,8 %
zweisprachig T + x
20,7 %
9,3 %
0,5 %
dreisprachig
5,2 %
5,6 %
4,7 %
dreisprachig D + x + y
5,0 %
5,3 %
4,6 %
dreisprachig E + x + y
4,2 %
3,5 %
3,9 %
dreisprachig T + x + y
4,4 %
3,5 %
0,2 %
mehrsprachig
0,6 %
1,7 %
1,0 %
mehrsprachig incl. D
0,6 %
1,7 %
1,0 %
Abb. 3.2.2.2.5: Einsprachig türkisches
Schaufenster, DU-Marxloh
Abb. 3.2.2.2.6: Dreisprachiges Apothekenschild, DU-Marxloh
Abb. 3.2.2.2.7: Einsprachig arabischer
Aufkleber, DO-Nordstadt
Abb. 3.2.2.2.8: Niederl.-engl.-deut.-franz.
Schild, DO-Nordstadt
Abb. 3.2.2.2.9: Deutsch-italienisches
Ladenschild, E-Rüttenscheid
Abb. 3.2.2.2.10: Mehrsprachige japanische Gastronomie, E-Rüttenscheid
Abb. 3.2.2.2.11: Englisch-chinesisches
Firmenschild, E-Rüttenscheid
Abb. 3.2.2.2.12: Anteile der ein- und mehrsprachigen
kommerziellen Zeichen in drei Stadtteilen
98
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.2.2.2 KOMMERZIELLE ZEICHEN IN AUSGEWÄHLTEN STADTTEILEN
99
3.2.3 Transgressiver Diskurs
a) Menge und Verteilung
Fast vier von zehn (39,0 %) aller Zeichen in den von uns untersuchten Gebieten wurden unerlaubt angebracht. In der Forschung zu sprachlichen Landschaften nennt man
sie transgressiv (Scollon / Scollon 2003: 167). Dazu zählen insbesondere Aufkleber,
Tags (also Signaturkürzel von Writern) und Graffitis. Unsere Untersuchungsgebiete
liegen in der Mitte von Stadtvierteln und sind auch nachts vergleichsweise belebt, jedenfalls mehr als Hinterhöfe und Bahndämme. Wer unerlaubt Botschaften anbringen
will, hat also wenig Zeit, wenn er nicht erwischt werden will. Vorgefertigte Sticker sind
schnell geklebt. Wenn sie leicht entfernt werden können, gelten sie nicht als Sachbeschädigung. Auch einfache Tags brauchen nicht viel Zeit, sind aber grundsätzlich strafbar. Wer Writings oder noch aufwendigere Graffitis malt oder sprüht, geht ein noch
größeres Risiko ein.
Dementsprechend und erwartungsgemäß sind über die Hälfte (51,7 %) der 9 952
transgressiven Objekte (fast immer industriell gefertigte) Aufkleber, gelegentlich noch
von Hand übermalt. Eine knappe weitere Hälfte (47,0 %) sind gemalte oder gesprühte
Tags (also Signaturkürzel von Writern). Und nur die restlichen 122 Belege (= 1,2 %)
zeigen aufwendigere Graffiti-Pieces (die also über einfache Tags hinausgehen).
Transgressiven Zeichen begegnet man vor allem an Stromverteilerkästen, Papierkörben, Laternenpfählen, Verkehrsschildern, Hauswänden, Säulen, freistehenden
Mauern, seltener auch an Toren und Türen. Ähnlich wie auch Verkehrsschilder oder
kommerzielle Zeichen konzentrieren sie sich oft an bestimmten Stellen. Häufig finden
sich mehrere oder zahlreiche unmittelbar neben- oder übereinander, ohne dass sie deswegen in einem thematischen Zusammenhang stünden (vgl. Abb. 3.2.3.1 bis Abb.
3.2.3.4). Da geht es darum, Präsenz zu zeigen, um schriftbildliches Alltagsgeplauder
oder um Marktschreierei: Hier bin ich, das meine ich, das sollst du tun! Je nach Standpunkt unterwandern, bereichern oder stören diese Zeichenkobolde mit ihren kleinen
Botschaften die legale Zeichenwelt des öffentlichen Raums, der ja sonst vor allem
durch Werbung, Geschäftsschilder und Verkehrszeichen geprägt ist.
In den acht untersuchten Bezirken (also ohne Hauptbahnhöfe etc.) zusammen
sind 39,5 % aller gut 23 000 Zeichen transgressiv. Dabei fallen der mit 54,3 % sehr
hohe Anteil transgressiver an sämtlichen Botschaften in DO-Nordstadt ebenso aus
dem Rahmen wie die sehr niedrigen Anteile in DU-Marxloh (15,8 %), E-Altendorf
(17,0 %) und DO-Hörde (26,0 %). Alles in allem weisen die vier nördlichen Bezirke
zusammen etwas weniger transgressive Zeichen auf (35,6 %) als die vier südlichen Bezirke (41,7 %). Abb. 3.2.3.5 visualisiert die absoluten Werte. Hier fallen die Unterschiede noch stärker ins Auge, weil in den jeweils etwa gleich großen Bezirken überhaupt unterschiedlich viele Zeichen gefunden wurden: in Rüttenscheid und in
DU-Innenstadt besonders viele, in Hörde und in Marxloh besonders wenige.
100
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.2.3.1: DO-Nordstadt
Abb. 3.2.3.2: E-Rüttenscheid
Abb. 3.2.3.3: DO-Nordstadt
Abb. 3.2.3.4: DO-Nordstadt
3.2.3 TRANSGRESSIVER DISKURS
101
Abb. 3.2.3.5: Geovisualisierung aller transgressiven Zeichen in absoluten Zahlen
Aufkleber – gedruckt (Anzahl: 5150)
Graffiti-Tags (Anzahl: 4153)
Aufkleber – handbeschrieben (Anzahl: 372)
Graffiti-Pieces / Style-Writings (Anzahl: 61)
Nordstadt
Dortmund
Marxloh
Verhältnis: 1mm entspricht 1%. Sprachen mit einem
Vorkommen unter oder gleich 1% sind als einheitlich
1mm große Kreise dargestellt.
Hamme
Hörde
Duisburg
Altendorf
Essen
Langendreer
Bochum
Rüttenscheid
Innenstadt
102
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.2.3 TRANSGRESSIVER DISKURS
103
Abb. 3.2.3.6: Geovisualisierung der GraffitiPieces und manuell gestalteten Aufkleber
Text-Graffitis
Nonstandard
Graffiti-Pieces + Style-Writings
Deutsch
Aufkleber, individuell von Hand gestaltet
Englisch
Bild-Graffitis + Zeichnungen + Characters
Dänisch
Türkisch
Dortmund
Nordstadt
Marxloh
Hamme
Duisburg
Altendorf
Langendreer
Hörde
Essen
Bochum
Rüttenscheid
Innenstadt
104
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.2.3 TRANSGRESSIVER DISKURS
105
Die Karte in Abb. 3.2.3.6 verdeutlicht die regionale Verteilung der 227 komplexer gestalteten Graffitis samt manuell gestalteten Aufklebern. Offensichtlich ziehen die
multikulturelle Dortmunder Nordstadt und das bürgerlich-geschäftige E-Rüttenscheid die fleißigsten Writer an, an
dritter Stelle auch BO-Langendreer, hingegen die Fußgängerzone in DO-Hörde und das türkisch geprägte DU-Marxloh gar nicht. Soweit einzelne Sprachen identifiziert werden
können (nicht zum Beispiel bei Writings aus Akronymen
wie in Abb. 3.2.3.7), überwiegt insgesamt Deutsch, in
DO-Nordstadt jedoch Englisch. Andere Sprachen kommen
nur sehr vereinzelt vor. Abb. 3.2.3.8 gibt einen lokalen Überblick über die Verwendung sämtlicher Graffiti-Tags und
Text-Graffitis in DO-Nordstadt.
Abb. 3.2.3.7: Writing mit Tag in Dortmund-Nordstadt
106
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.2.3.8: Geovisualisierung der Graffiti-Tags und Text-Graffitis in DO-Nordstadt
3.2.3 TRANSGRESSIVER DISKURS
107
b) Merkmale und Untergruppen
Die weitaus meisten (über 99 %) der illegitimen Zeichen in unserem Material lassen
sich in zehn Gruppen einteilen. 4 289 Exemplare (43 %) zeigen Tags, das sind Signaturkürzel von Writern. Je ungefähr zur Hälfte erscheinen sie entweder (Gruppe 1) als
zu Hause in Ruhe vorbereitete Aufkleber. Ihre Verwendung gilt nicht als Sachbeschädigung. Wer sie klebt, zeigt damit seine mehr oder weniger ästhetische Präsenz in einem bestimmten Gebiet. So konkurrieren in E-Rüttenscheid vor allem LEX (vgl. Abb.
3.2.3.9 bis Abb. 3.2.3.14) und EKR (vgl. Abb. 3.2.3.15 bis Abb. 3.2.3.20) in fünfzehn
bzw. achtzehn handgefertigten Variationen um Aufmerksamkeit.
Abb. 3.2.3.9
Abb. 3.2.3.11
Abb. 3.2.3.13
108
Abb. 3.2.3.10
Abb. 3.2.3.12
Abb. 3.2.3.14
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.2.3.15
Abb. 3.2.3.17
Abb. 3.2.3.19
Abb. 3.2.3.16
Abb. 3.2.3.18
Oder aber (Gruppe 2) Tags werden direkt an Ort und
Stelle gemalt oder gesprüht (Abb. 3.2.3.21). Das kann strafund zivilrechtliche Folgen haben. Deshalb legen Writer ihren Ehrgeiz darein, ihre Tags möglichst schnell und dennoch
gewandt zu schreiben. BO-Langendreer ist übersät mit OMSund OMSER-Tags; Y’S markiert in der Duisburger Innenstadt
sein (oder ihr?) Revier.
Gruppe 3 umfasst 68 Style-Writings, also aufwendig gestaltete Buchstaben-Graffitis mit ähnlicher Funktion wie die
einfachen Tags (vgl. Abb. 3.2.3.22 bis Abb. 3.2.3.25). Es
sind deshalb so wenig, weil man ungleich mehr Zeit für ihre
Herstellung braucht als für Tags und in den von uns dokumentierten, auch nachts nicht ganz unbelebten Gebieten
leicht erwischt werden kann.
Es gibt nur sieben Graffitis mit politischen Inhalten
(Gruppe 4; vgl. aber unten Gruppe 10). Abbildung 3.2.3.26
zeigt einen außergewöhnlich drastischen Fall. Wer dem Boykott-Aufruf lesend folgte, fand das letzte »t« rechts um die
Ecke gleich vor dem Eingang in die Bank. Schon am nächsten Tag war die Fassade wieder sauber.
Gesprühte, gar geklebte Tags, Writings und politische
Graffitis (Gruppen 1 bis 4) findet man fast gar nicht im stark
türkisch geprägten DU-Marxloh. Das ist ein Indiz dafür,
dass Graffitis (incl. Writings und Tags) aus westlichen Kulturen mit christlicher Geschichte stammen. Manchmal sind
die Akteure in kleinen Crews (aus etwa drei bis fünf Sprayern) unterwegs; gelegentlich schließen sie sich auch zu größeren organisierten Urban-Art-Gruppen mit eigener Webseite zusammen – im Rhein-Ruhr-Gebiet z. B. zu 247style
(Abb. 3.2.3.27), in Bochum zur A.S.E.K. crew (Abb.
3.2.3.28).
Abb. 3.2.3.21
Abb. 3.2.3.22
Abb. 3.2.3.23
Abb. 3.2.3.24
Abb. 3.2.3.25
Abb. 3.2.3.26
Abb. 3.2.3.27
Abb. 3.2.3.28
Abb. 3.2.3.20
3.2.3 TRANSGRESSIVER DISKURS
109
Abb. 3.2.3.29
Abb. 3.2.3.30
Abb. 3.2.3.31
Abb. 3.2.3.32
Abb. 3.2.3.33
Abb. 3.2.3.35
110
Die übrigen 5588 Belege verteilen sich auf sechs Gruppen von jeweils etwa 600 bis 1200 Aufklebern und kleinen
Plakaten. Aufkleber bedecken (wie schon in Gruppe 2) meist
eine Fläche von etwa zwei Fingern bis zur Größe einer
menschlichen Hand; Plakate sind etwa so groß wie DIN A5
oder A4, selten bis höchstens A3.
Zunächst (Gruppe 5) sind knapp sechshundert textlose
Bildchen zu nennen. Meist kommen sie als gedruckte oder
manuell vorbereitete Aufkleber vor (vgl. Abb. 3.2.3.29 bis
Abb. 3.2.3.36); selten werden sie auch an Ort und Stelle direkt auf den Untergrund gemalt (Abb. 3.2.3.37).
Sodann gibt es (Gruppe 6) Aufkleber, die lediglich einen
Eigennamen enthalten (Abb. 3.2.3.38 und Abb. 3.2.3.29),
(Gruppe 7) Aufkleber, die nur einen als Logo gestalteten Eigennamen zeigen (z.B. die Musikgruppe »Supakool«) (Abb.
3.2.3.40), sowie (Gruppe 8) Aufkleber, die außer einem Eigennamen noch ein Logo, eine Adresse und / oder einen werbenden Slogan nennen (Abb. 3.2.3.41 und Abb. 3.2.3.42),
oft z. B. für einen Fußballclub (Abb. 3.2.3.43 bis Abb.
3.2.3.46).
In die neunte Gruppe gehören kleine Werbeplakate
(z.B. für ein Restaurant: Abb. 3.2.3.47) und Hinweise auf
eine Veranstaltung (z.B. für eine Clubnacht: Abb. 3.2.3.48).
Abb. 3.2.3.37
Abb. 3.2.3.38
Abb. 3.2.3.39
Abb. 3.2.3.40
Abb. 3.2.3.41
Abb. 3.2.3.42
Abb. 3.2.3.34
Abb. 3.2.3.43
Abb. 3.2.3.44
Abb. 3.2.3.45
Abb. 3.2.3.36
Abb. 3.2.3.46
Abb. 3.2.3.47
Abb. 3.2.3.48
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.2.3 TRANSGRESSIVER DISKURS
111
Abb. 3.2.3.49
Abb. 3.2.3.51
Abb. 3.2.3.53
Abb. 3.2.3.55
112
Abb. 3.2.3.50
Abb. 3.2.3.52
Abb. 3.2.3.54
Die zehnte und letzte Gruppe schließlich umfasst 597
Aufkleber (selten Aufschriften, sehr selten kleine Plakate)
mit politischen Positionierungen oder Forderungen (Abb.
3.2.3.49). Am häufigsten verbreitet sind »No Nazis« und
»Gegen Nazis« (Abb. 3.2.3.50). 113 Mal liest man »Antifa«
(Abb. 3.2.3.51), »Antifaschistische Aktion«, »Support your
local antifa«, »Antifa heißt Angriff!« oder (längst nicht mehr
aktuell) »Bundesweites Antifacamp Dortmund 24.08.02.09.2012« (Abb. 3.2.3.52). Acht gleichartige Aufkleber in
der Duisburger Innenstadt wollen »Die Verhältnisse zum
Tanzen bringen« (Abb. 3.2.3.53). Selten stößt man auf etwas
präzisere (und meist dann auch illustrierte) politische Forderungen oder Erklärungen, so etwa zwei Mal »Free Syria from
Assad« (Abb. 3.2.3.54) und acht Mal »Good night white
pride« (Abb. 3.2.3.55). Sechs Mal (in Altendorf und Rüttenscheid) werden »Refugees welcome« geheißen (Abb.
3.2.3.56). Drei Mal wird in Marxloh gefordert: »Baggert uns
ja nich an! Kein Häuserabriss für das FOC. Wir bleiben
hier!« (Abb. 3.2.3.57).
Zu den wenigen restlichen Fällen zählen etwa Kreideaufschriften auf dem Boden (Abb. 3.2.3.58), ein privates
Verkaufsangebot für Zwergkaninchen (Abb. 3.2.3.59), hingekritzelte Kindersprüche (Abb. 3.2.3.60) oder einige der
besonders originellen Exemplare, die im folgenden Abschnitt vorgestellt werden.
Letzten Endes folgen die allermeisten transgressiven
Zeichen aber doch wenigen Zwecken und Mustern. So chaotisch sie erscheinen und so subversiv sie sich auch geben
mögen – transgressive Zeichen schöpfen fast immer aus einem überschaubaren Repertoire von Buchstabenkombinationen, kurzen Textstücken, Bildern, gestalterischen und technischen Möglichkeiten.
Dabei konzentrieren sich gleiche Motive oft auf einen
oder zwei eng umzirkelte Gebiete und wurden vermutlich
von derselben Person platziert. Ein Beispiel dafür ist die
LOL-Katze (Abb. 3.2.3.61): Gleich 27 Mal sieht man diesen
Aufkleber, doch nur in Rüttenscheid. Bedenkt man Produktionsweise, Inhalte und örtliche Verteilung der transgressiven Zeichen, so dürften in den von uns untersuchten Gebieten nicht viel mehr als etwa dreihundert (u.a. auch
kommerzielle) Urheber und Akteure unterwegs sein.
Wo man – jenseits von Tags und Writings – eine Sprache
erkennen kann, handelt es sich in der Regel um Deutsch,
sehr viel seltener um Englisch. Andere Sprachen kommen
fast gar nicht vor.
Abb. 3.2.3.57
Abb. 3.2.3.58
Abb. 3.2.3.59
Abb. 3.2.3.60
Abb. 3.2.3.61
Abb. 3.2.3.56
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.2.3 TRANSGRESSIVER DISKURS
113
c) Besonders originelle transgressive Zeichen
Selbstreferentielles:
Man kann natürlich darüber streiten, welche transgressiven
Zeichen am originellsten oder witzigsten sind. Unsere TOP
40 verteilen sich über das gesamte Gebiet, die relativ meisten (11) kommen aus der Dortmunder Nordstadt. Darunter
sind hübsche und weniger hübsche Bilder, selbstbezügliche
Texte (»Achtung frisch geklebt«), Wortspiele und Witze, ernste und ironische politische Positionierungen, andere Regionalbezüge, Beschimpfungen und sinnarme Kurztexte.
Abb. 3.2.3.72
Hübsche und weniger hübsche Bilder:
Abb. 3.2.3.62
Abb. 3.2.3.63
Abb. 3.2.3.64
Abb. 3.2.3.65
Abb. 3.2.3.73
Abb. 3.2.3.74
Abb. 3.2.3.75
Abb. 3.2.3.78
Abb. 3.2.3.79
Abb. 3.2.3.80
Abb. 3.2.3.76
Wortspiele:
Abb. 3.2.3.66
Abb. 3.2.3.67
Abb. 3.2.3.68
Abb. 3.2.3.69
Abb. 3.2.3.77
Andere Witze:
Abb. 3.2.3.70
Abb. 3.2.3.71
Abb. 3.2.3.81
114
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.2.3.82
3.2.3 TRANSGRESSIVER DISKURS
115
Ernste und ironische politische Positionierungen:
Abb. 3.2.3.83
Abb. 3.2.3.84
Sinnarme Kurztexte:
Abb. 3.2.3.85
Abb. 3.2.3.86
Abb. 3.2.3.94
Abb. 3.2.3.95
Andere:
Abb. 3.2.3.87
Abb. 3.2.3.88
Abb. 3.2.3.89
Beschimpfungen:
Abb. 3.2.3.96
Abb. 3.2.3.90
116
Abb. 3.2.3.91
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.2.3.92
Abb. 3.2.3.97
Abb. 3.2.3.98
Abb. 3.2.3.99
Abb. 3.2.3.93
3.2.3 TRANSGRESSIVER DISKURS
117
Die Migrationsforschung hat sich in den letzten Jahren vermehrt mit Fragen der ethnischen und kulturellen Diversität in städtischen Räumen beschäftigt. Ausgangspunkt
ist die Beobachtung, dass gegenüber den 1970er Jahren die Zuwanderung insgesamt
zugenommen und eine graduelle Diversifizierung erfahren hat, indem nicht mehr
große Herkunftsgruppen aus bestimmten Regionen einwandern, sondern viele kleine
Herkunftsgruppen aus vielen Regionen. Die von Migration bestimmte Diversität ist
damit komplexer geworden. Vertovec (2007) bezeichnet dieses Phänomen als
»super-diversity«. Diese Entwicklung führt dazu, dass in von Zuwanderung geprägten
Städten auch die Diversität der Bevölkerung wächst. Die Diversität der Bevölkerung
kann an der Anzahl und der Zusammensetzung der vertretenen Nationalitäten gemessen werden, wie schon in Kapitel 2.2 anhand der Erhebungsgebiete gezeigt wurde. Der
ethnische Mix und das Ausmaß der Diversität der Bevölkerung können dabei nicht
nur von Stadt zu Stadt variieren, sondern auch zwischen den Stadtteilen einer Stadt.
Eine der zentralen forschungsleitenden Fragestellungen des Projektes »Metropolenzeichen« war, ob die Diversität der sichtbaren Mehrsprachigkeit die Diversität der
Bevölkerung eines Erhebungsgebietes widerspiegelt. Die Analyse der Daten basiert auf
der Annahme, dass die sprachliche Diversität dort hoch ist, wo auch die Diversität der
Bevölkerung hoch ist.
In der folgenden explorativen Analyse werden nun die Diversität der Bevölkerung
und die Diversität der Sprachen in den acht Erhebungsgebieten in Beziehung gesetzt.
Dazu wird wie auch schon in Kapitel 2 der Diversitäts-Index nach Simpson (Simpson
1949; vgl. auch Peukert 2013) verwendet. Die Diversität der sichtbaren Sprachen wird
analog zur Diversität der Bevölkerung auf Basis der relativen Häufigkeiten aller sichtbaren Sprachen in den Erhebungsgebieten berechnet. Dazu wird vom Wert »1« die
Quadratsumme der Anteilswerte aller vorkommenden Sprachen inklusive des Deutschen abgezogen. Der Index-Wert liegt zwischen »0« (keine Diversität) und »1« (maximale Diversität).
Erhebungsgebiet
Diversität Bevölkerung
Diversität sichtbare Sprache
DU-Marxloh
0,81
0,56
DO-Nordstadt
0,79
0,59
DU-Innenstadt
0,61
0,51
DO-Hörde
0,48
0,44
E-Altendorf
0,47
0,50
BO-Hamme
0,44
0,39
BO-Langendreer
0,34
0,41
E-Rüttenscheid
0,22
0,51
Abb. 3.3.1: Diversität der Bevölkerung und Diversität der sichtbaren
Sprache in den Erhebungsgebieten Quelle: Daten der Städte
118
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Die Diversität der Bevölkerung streut im Vergleich der Erhebungsgebiete zwischen einer geringen Diversität von 0,22 (Rüttenscheid) und einer ausgeprägten Diversität von 0,81 (Marxloh). Die Diversität der sichtbaren Sprachen hat im Vergleich
eine deutlich geringere Streuung, die Werte bewegen sich alle im Bereich einer mittleren Diversität. Der niedrigste Wert liegt bei 0,39 (Hamme), der höchste bei 0,59 in
der Nordstadt.
Im folgenden Streudiagramm werden die beiden Diversitätswerte in Beziehung
gesetzt. Auf der waagerechten Achse sind die Werte der Diversität der Bevölkerung abgetragen, auf der senkrechten Achse die der Sprache. Die Punkte repräsentieren die Erhebungsgebiete, ihre räumliche Position steht für die spezifische Kombination der beiden Werte je Erhebungsgebiet und erlaubt einen Vergleich der Erhebungsgebiete
untereinander. Die waagerechte und die senkrechte Linie im Diagramm (Fadenkreuz)
markieren die beiden Mittelwerte der Diversitätsindices.
Auf den ersten Blick ist Rüttenscheid als Ausreißer zu identifizieren. Die Diversität der Sprache ist hier leicht überdurchschnittlich, die Diversität der Bevölkerung dagegen stark unterdurchschnittlich. Alle anderen Erhebungsgebiete sind locker entlang
einer gedachten Diagonalen angeordnet. Dies bedeutet, dass für diese sieben Fälle zunächst die Hypothese gelten kann, dass bei einer höheren Diversität der Bevölkerung
auch die Diversität der sichtbaren Sprache zunimmt.
Aus der Lage der Punkte (Erhebungsgebiete) im Streudiagramm lassen sich für die weiteren Analysen also grob
vier Gruppen bilden:
• Rüttenscheid als Ausreißer: überdurchschnittliche Diversität sichtbarer Mehrsprachigkeit, unterdurchschnittliche
Diversität der Bevölkerung.
• Hörde, Langendreer, Hamme: eher unterdurchschnittliche Diversität von Bevölkerung und sichtbarer Mehrsprachigkeit.
• Altendorf und Innenstadt: mittlere Diversität von Bevölkerung und sichtbarer Mehrsprachigkeit.
• Nordstadt und Marxloh: ausgeprägte Diversität von Bevölkerung und sichtbarer Mehrsprachigkeit.
Um diese Zusammenhänge auf Stadtteilebene genauer zu
betrachten, sollen im folgenden Kapitel einzelne Stadtteile
verglichen werden.
Nordstadt
0,6
Marxloh
Anzahl der Staatsangehörigkeiten
23
0,6
38
Innenstadt
Diversität Sprachen
3.3 Ethnische und sprachliche Diversität
Rüttenscheid
48
Altendorf
55
0,5
57
65
0,5
78
Hörde
Abb. 3.3.2: Diversität von Bevölkerung und Sprache
im Vergleich der Erhebungsgebiete
Langendreer
Hamme
0,4
0,4
0,2
0,4
0,6
0,8
Diversität Bevölkerung
3.3 ETHNISCHE UND SPRACHLICHE DIVERSITÄT
119
Jug
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Serbien 1,4 %
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19
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
eg
120
erz
Den Auftakt bildet ein Vergleich zwischen den Stadtteilen DO-Nordstadt und
DU-Marxloh. Ein solcher Vergleich bietet sich an, da in beiden Erhebungsgebieten der
Anteil der deutschen Bevölkerung mit 44,3 % für DO-Nordstadt und 27,2 % für
DU-Marxloh am niedrigsten ist. Beide Stadtteile haben dementsprechend eine vergleichsweise stark ausgeprägte Diversität, aber eine andere Zusammensetzung mit
Blick auf die ethnische Vielfalt der Bevölkerung (vgl. auch Kapitel 2.2).
Der Stadtteil DO-Nordstadt liegt nördlich der B1. Die Hauptbahnlinie durchs
Ruhrgebiet trennt DO-Nordstadt vom südlich daran anschließenden Stadtzentrum.
Das dicht bewohnte Erhebungsgebiet entlang der Münsterstraße reicht von der Lortzingstraße im Norden bis zur Heiligegartenstraße im Süden; Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen vor allem im verkehrsberuhigten südlichen Teil ziehen auch
Kunden und Gäste aus einigen anderen Stadtteilen an (Kopischke / Kruse 2013). Im
Vergleich der Erhebungsgebiete weist der Stadtteil Nordstadt mit 44,3 % den zweitniedrigsten Anteil an Einwohnern mit deutscher Staatsangehörigkeit auf (Daten des
Statistischen Amtes der Stadt Dortmund, Stand 31.12.2013). Die Diversität der Bevölkerung ist sehr ausgeprägt mit einem Wert des Diversitätsindex von 0,79. Die Zusammensetzung der nichtdeutschen Bevölkerung stellt sich wie folgt dar:
Türkische Staatsangehörige bilden mit 28,9 % die größte Gruppe an Nichtdeutschen in der Nordstadt, gefolgt von Personen aus Rumänien (6,8 %), Polen (6,1 %),
Marokko (5,9 %), Bulgarien (5,5 %) und Mazedonien (4,2 %). Insgesamt leben Personen aus 57 Ländern in der Nordstadt.
dH
• E-Altendorf und BO-Hamme
un
• E-Rüttenscheid und DU-Innenstadt
ien
• DO-Nordstadt und DU-Marxloh
sn
Im Folgenden sollen einzelne Stadtteile miteinander verglichen werden, die sich entweder hinsichtlich ihrer Bevölkerungsstruktur und / oder ihrer Funktion ähneln. Unter dieser Perspektive bieten sich sechs Stadtteile für einen Vergleich an:
Der Stadtteil DU-Marxloh liegt nördlich des Stadtzentrums und des Gebietes des Binnenhafens, das eine starke
stadträumliche Trennwirkung hat. Das Erhebungsgebiet
zieht sich entlang der Weseler Straße zwischen Dahlmannstraße im Südosten und der Schmelzerstraße im Nordwesten. Die Weseler Straße weist eine gemischte Struktur aus
Wohnen, Einzelhandel (kurzfristiger Bedarf ), Gastronomie
und Dienstleistungen auf (vgl. Beckmann / Stein 2010).
Eine überlokal bekannte Besonderheit ist die hohe Dichte an
Geschäften mit Bezug zu türkischen Hochzeiten (Hochzeitsmode, Juweliere, Gastronomie). Der Stadtteil Marxloh erfüllt laut Einzelhandelsplan der Stadt Duisburg zusammen
mit dem südöstlich anschließenden Gebiet des Stadtteils
Hamborn die Funktion eines zweiten Hauptzentrums neben
der Duisburger Innenstadt. Das Erhebungsgebiet Marxloh
weist eine Ausstrahlung auf, die weit über das unmittelbare
Umfeld hinausreicht, so dass auch für die Analyse der visuellen Mehrsprachigkeit des Erhebungsgebietes ein weiterer
Einzugsbereich angenommen werden kann. Der Anteil der
deutschen Staatsbürger in Marxloh liegt nur bei gut einem
Viertel, damit ist Marxloh das am stärksten migrationsgeprägte Erhebungsgebiet im Projekt. Der Diversitätsindex für
Marxloh liegt bei 0,81, sodass auch von einer sehr ausgeprägten Diversität der Bevölkerung ausgegangen werden
kann.
Türkische Staatsangehörige bilden mit 44,0 % die
größte Gruppe an Nichtdeutschen in Marxloh, gefolgt von
Personen aus Bulgarien (16,3 %), Rumänien (13,2 %) und
Polen (5,2 %). Die Auswahl der 15 größten Gruppen setzt
sich wie auch in den anderen Erhebungsgebieten aus Personen aus früheren Anwerbeländern (v. a. auch Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien) und aus neuen sowie alten
EU-Staaten (z.B. Ungarn, Griechenland) zusammen. Insgesamt leben Personen aus 55 Ländern in Marxloh.
Inwieweit spiegelt sich diese je spezifische Bevölkerungsstruktur auch in der Linguistic Landscape von DO-Nordstadt
und DU-Marxloh wider? Die Auswertung der Bilddaten ergibt folgendes Bild, vgl. Abbildung 3.3.1.3.
Obwohl sich die Gesamtzahl der Zeichen und damit
auch die der Sprachen in den zwei Stadtteilen stark unterscheiden (vgl. Abb. 3.3.1.3), geben die Daten zum Sprachvorkommen verglichen mit den Anteilen der jeweiligen
Bevölkerungsgruppe eine auffällige Übereinstimmung zu
Bo
3.3.1 Stadtteilvergleich von
Dortmund-Nordstadt und
Duisburg-Marxloh
Abb. 3.3.1.1: Die fünfzehn größten Gruppen von Nichtdeutschen in
DO-Nordstadt in % der Nichtdeutschen Quelle: Daten Stadt Dortmund,
Stand 31.12.2013.
3.3.1 STADTTEILVERGLEICH VON DORTMUND-NORDSTADT UND DUISBURG-MARXLOH
121
%
0%
%
3,
Irak 0,6 %
Ungarn 0,6 %
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Türkei
Sonstige 6,7%
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Bulgarie
n 16,3 %
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Ru
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Abb. 3.3.1.2: Die fünfzehn größten Gruppen von Nichtdeutschen in DU-Marxloh in % der Nichtdeutschen Quelle: Daten Stadt Duisburg, Stand 31.12.2013.
Sprache
Nord. (N = 3277)
Sprache
Marxloh (N = 1617)
Deutsch
1898 (57,9 %)
Deutsch
961 (59,4 %)
Englisch
804 (24,5 %)
Türkisch
420 (26,0 %)
Englisch
165 (10,2 %)
Türkisch
217 (6,6 %)
Arabisch
95 (2,9 %)
Französisch
12 (0,7 %)
Italienisch
47 (1,4 %)
Italienisch
10 (0,6 %)
Spanisch
46 (1,4 %)
Russisch
8 (0,5 %)
Französisch
29 (0,9 %)
Arabisch
7 (0,4 %)
141 (4,3 %)
Sonstige
34 (2,1 %)
Sonstige
Abb. 3.3.1.3: Anteil der Sprachen in DO-Nordstadt und DU-Marxloh
122
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
erkennen. So sind die prozentualen Vorkommen des Deutschen in beiden Stadtteilen mit 57,9 % für die Nordstadt und
59,4 % für Marxloh mehr oder weniger identisch. Jedoch ist
der Anteil der deutschen Bevölkerung in der Nordstadt deutlich höher als der in Marxloh. Unterschiedliche Tendenzen
zeigen sich dagegen mit Blick auf das Türkische. So ist der
Anteil des Türkischen in Marxloh – wie zu erwarten – deutlich höher als in der Nordstadt. Dieser Unterschied korrespondiert mit dem jeweiligen Anteil der türkischen Bevölkerung. Dieser ist in Marxloh deutlich höher als in der
Nordstadt. Umgekehrt ist das Vorkommen des Arabischen in
der Nordstadt höher als in Marxloh, wo es praktisch nicht
vorkommt. Auch dieser Unterschied lässt sich mit den unterschiedlichen Anteilen der arabischsprachigen Bevölkerungsgruppe erklären. So ist der Anteil von Bewohnern mit marokkanischer Nationalität in der Nordstadt höher als in Marxloh.
Hinzu kommt, dass in der Bevölkerungsstatistik für die
Nordstadt in der Kategorie »Sonstige« auch Zuwanderergruppen aus anderen arabischsprachigen Ländern zusammengefasst sind, sodass sich der Anteil der arabischsprachigen Bevölkerung insgesamt noch erhöht. Schließlich zeigt die
Tabelle in Abbildung 3.3.1.3, dass sich die Anteile des Englischen in Marxloh und in der Nordstadt deutlich unterscheiden: In der Nordstadt beläuft sich der Anteil auf 24,5 %, in
Marxloh dagegen nur auf 10,2 %. Damit liegt das Englische
deutlich hinter der Migrantensprache Türkisch auf Platz 3.
Dieser Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass das Englische oft im transgressiven Diskurs, d. h. auf Stickern und in
Graffitis vorkommt. Da diese Zeichen wesentlich häufiger in
der Dortmunder Nordstadt (54,3 % aller Zeichen) als in
DU-Marxloh (15,8 % aller Zeichen) zu finden sind, erhöht
dies auch die Vorkommen des Englischen in der Nordstadt.
Beispiele für das Vorkommen von Englisch im transgressiven
Diskurs in der Nordstadt sind: »Slayer« (Abb. 3.3.1.5), »I
love« (Abb. 3.3.1.6), »Tiger« (Abb. 3.3.1.7), »Still ♥’ing Antifa!« (Abb. 3.3.1.8), »we wrestle nazis« (Abb. 3.3.1.9) sowie
»All the time« (Abb. 3.3.1.4). Es entsteht der Eindruck einer
bewussten »Raumaneignung« durch die Verwendung von Stickern und Graffitis durch bestimmte Jugendgruppen (Braun
et al. 2014). Eine Ursache für die stärkere Verbreitung von
Stickern und Graffitis in der Nordstadt könnte darin liegen,
dass der Stadtteil in den letzten Jahren durch Gastronomie,
Kneipen und ein Programmkino in der Münsterstraße sowie
durch die Nähe zur Innenstadt attraktiver für linke und alternative Jugendliche ist als DU-Marxloh. Ein Indiz dafür sind
auch die in den transgressiven Zeichen zu findenden eher
links-autonomen politischen Botschaften.
Abb. 3.3.1.5
Abb. 3.3.1.6
Abb. 3.3.1.4
Abb. 3.3.1.8
Abb. 3.3.1.9
Abb. 3.3.1.7
3.3.1 STADTTEILVERGLEICH VON DORTMUND-NORDSTADT UND DUISBURG-MARXLOH
123
Iran 2,3 %
,3 %
2,3 %
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3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
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124
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Abb. 3.3.2.4
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Abb. 3.3.2.3
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Abb. 3.3.2.2
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Abb. 3.3.2.1
Ein Vergleich der Erhebungsgebiete E-Rüttenscheid und DU-Innenstadt bietet sich
an, weil beide Stadtteile nah am bzw. im Zentrum liegen und ihr Funktionsprofil aus
Einzelhandels-, Gastronomie- und Dienstleistungsstruktur sehr ähnlich ist.
Das Erhebungsgebiet Rüttenscheid liegt südlich der A 40 und zieht sich entlang
der Rüttenscheider Straße von der Bismarckstraße im Norden bis zur Wittekindstraße
im Süden. Das Erhebungsgebiet ist geprägt durch eine Mischung von Wohnen, Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen. Durch die Nähe zu wichtigen Kulturinstitutionen wie dem Museum Folkwang und der Philharmonie finden sich auch Galerien und hochwertige Gastronomie (Cafés, Kneipen, Restaurants). Laut Masterplan
Einzelhandel hat Rüttenscheid als sog. »B-Zentrum« stadtbezirksübergreifende bzw.
gesamtstädtische Funktionen (Amt für Stadtplanung und Bauordnung Essen 2011).
Das Einzugsgebiet für die Analyse visueller Mehrsprachigkeit ist daher auch nicht nur
auf den unmittelbaren Bereich des Erhebungsgebiets begrenzt. Der Anteil der Nichtdeutschen (8,7 % der Bevölkerung) liegt im Erhebungsgebiet knapp drei Prozentpunkte unter dem der Gesamtstadt. Der Diversitätsindex in Rüttenscheid liegt bei
0,22, sodass von einer sehr geringen Diversität ausgegangen werden kann. Damit ist
Rüttenscheid das am wenigsten migrationsgeprägte Erhebungsgebiet im Projekt.
Im Unterschied zu fast allen anderen Gebieten ist die Gruppe der Nichtdeutschen
mit türkischer Staatsangehörigkeit (7,8 %) nur knapp nicht die größte, sondern die der
Italiener (8,0 %). Insgesamt ist die Zusammensetzung sehr kleinteilig, es gibt keine
Gruppe, die mit deutlichem Abstand vor den anderen den Stadtteil dominiert. Auch
der Anteil der Sonstigen ist mit knapp 35 % sehr groß. Wie auch in den anderen Erhebungsgebieten finden sich außerdem Personen aus früheren Anwerbeländern (Kroatien, Spanien, Griechenland, neuere (Polen, Rumänien) und ältere EU-Länder (Niederlande, Vereinigtes Königreich, Österreich) sowie Personen aus China, der Russischen
Föderation, Südkorea, den USA und dem Iran. Insgesamt leben Personen aus 65 Ländern im Bereich Rüttenscheid.
Das Erhebungsgebiet DU-Innenstadt liegt im Stadtzentrum von Duisburg und
wird grob begrenzt von der Haupteinkaufsstraße Königsstraße im Norden, der Düsseldorfer Straße im Westen, der Mercatorstraße im Osten und der Friedrich-Wilhelm-Straße im Süden. Das Erhebungsgebiet ist geprägt von der zentralen Fußgängerzone und die sich darum gruppierende Einzelhandels-, Gewerbe-, Gastronomie- und
Dienstleistungsstruktur, die typisch für das Stadtzentrum einer Großstadt ist. Laut
dem Einzelhandels- und Zentrumskonzept stellt die Innenstadt den größten wie auch
funktional bedeutendsten Versorgungsbereich in Duisburg (Beckmann / Stein 2010)
dar. Das Einzugsgebiet bildet die ganze Stadt, ggf. sogar darüber hinaus, da die Innenstadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr gut zu erreichen ist.
Der Anteil der Nichtdeutschen (21,5 %) liegt im Erhebungsgebiet etwa fünf Prozentpunkte höher als in der Gesamtstadt. Der Diversitätsindex in Innenstadt liegt bei 0,61,
sodass von einer ausgeprägten Diversität ausgegangen werden kann.
Wie in Rüttenscheid ist die Gruppe der Nichtdeutschen
mit türkischer Staatsangehörigkeit (13,3 %) nur sehr knapp
nicht die größte, sondern die der Rumänen (13,4 %). Insgesamt ist die Zusammensetzung sehr kleinteilig. Es gibt keine
Gruppe, die mit deutlichem Abstand vor den anderen den
Stadtteil dominiert. Wie auch in den anderen Erhebungsgebieten finden sich weiterhin Personen aus früheren Anwerbeländern, neueren (Polen, Bulgarien und Rumänien) und
älteren EU-Ländern (Niederlande) sowie Personen aus
China und der Russischen Föderation. Insgesamt leben Personen aus 78 Ländern im Bereich Innenstadt.
Inwieweit spiegeln sich die Ähnlichkeiten (Funktion der
Stadtteile) und die Unterschiede (unterschiedlich diverse Bevölkerungsstruktur) in der Linguistic Landscape der Stadtteile E-Rüttenscheid und DU-Innenstadt wider? Die Auswertung der Bilddaten ergibt folgendes Bild für die sieben
häufigsten Sprachen, vgl. Abb. 3.3.2.6.
Auch bei diesem Stadtteilvergleich zeigen sich deutliche
Übereinstimmungen zwischen Sprachenverteilung, Bevölkerungsstruktur und Funktion der Stadtteile. In beiden Stadtteilen dominiert das Deutsche, gefolgt vom Englischen. Die
Migrantensprachen Türkisch und Polnisch sind in E-Rüttenscheid kaum sichtbar, in DU-Innenstadt ist das Türkische
die Migrantensprache mit den meisten Vorkommen. Die
Anteile von Französisch, Italienisch und Spanisch sind in
beiden Stadtteilen vergleichbar. Sie begegnen im kommerziellen Diskurs häufig in Form von Geschäftsnamen oder in
der Werbung, wo sie als Prestigesprachen fungieren bzw.
Prestige symbolisieren sollen.
Ni
3.3.2 Stadtteilvergleich von
Essen-Rüttenscheid und
Duisburg-Innenstadt
Abb. 3.3.2.5: Die fünfzehn größten Gruppen von Nichtdeutschen in E-Rüttenscheid in % der Nichtdeutschen Quelle: Daten Stadt Essen, Stand 31.12.2013.
Sprache
Innenstadt (N = 5461)
Sprache
Rüttenscheid (N = 6801)
Deutsch
3611 (66,1%)
Deutsch
4400 (64,7 %)
Englisch
1074 (19,7%)
Englisch
1564 (23,0 %)
Türkisch
172 (3,1 %)
Französisch
149 (2,2 %)
Französisch
105 (1,9 %)
Italienisch
126 (1,9 %)
Italienisch
98 (1,8 %)
Spanisch
91 (1,3 %)
Spanisch
83 (1,5 %)
Türkisch
48 (0,7 %)
Latein
52 (1,0 %)
Polnisch
37 (0,5 %)
266 (4,9 %)
Sonstige
386 (5,7 %)
Sonstige
Abb. 3.3.2.6: Anteil der Sprachen in E-Rüttenscheid und DU-Innenstadt
3.3.2 STADTTEILVERGLEICH VON ESSEN-RÜTTENSCHEID UND DUISBURG-INNENSTADT
125
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5,5
Abb. 3.3.2.7: Die fünfzehn größten Gruppen von Nichtdeutschen in DU-Innenstadt in % der Nichtdeutschen Quelle: Daten Stadt Duisburg, Stand 31.12.2013.
Abb. 3.3.2.8
126
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.3.2.9
nie
n
Dies gilt insbesondere für das Französische: So nennt
sich ein Antiquitäten-Geschäft »Petit Palais« (Abb. 3.3.2.1)
und ein Kinderbekleidungsgeschäft »La Petite« (Abb.
3.3.2.2). Eine Sprachschule gibt sich den französischen Namen »école nicole« (Abb. 3.3.2.3), ein Bastelgeschäft nennt
sich »Lucy de luxe. Magasin creatif« (Abb. 3.3.2.4) und
ein Restaurant wirbt mit der Auszeichnung seines Chefkochs
durch die »UNION EUROPEENNE DES CUISINERS« (Abb.
3.3.2.8) für seine Gerichte. Das Spanische begegnet vor allen Dingen in Gastronomienamen wie »Del Prado« (Abb.
3.3.2.9) und »Vetono« (Abb. 3.3.2.10). Das Italienische
tritt gleichfalls am häufigsten in Gastronomienamen auf, wie
die Belege »Olivia« (Abb. 3.3.2.11), »zucca« (Abb. 3.3.2.12),
»Bistecca« (Abb. 3.3.2.13) und »Pizzeria Picco Bello II«
(Abb. 3.3.2.14) zeigen. Ebenfalls Italienisch ist der Name
des Fanclubs des Fußballvereins Rot-Weiss Essen, der »Fierezza Nostra« / »unser Stolz« (Abb. 3.3.2.15) lautet. Sticker mit italienischen Fanclubnamen sind allerdings sehr selten im Ruhrgebiet zu finden.
In welchen Kontexten tritt das Türkische in DU-Innenstadt auf? Die 172 Belege verteilen sich mehrheitlich mit
127 Zeichen auf den kommerziellen und mit 43 Zeichen auf
den transgressiven Diskurs. Im kommerziellen Diskurs
kommt das Türkische vor allen Dingen auf der Ebene der
Namen vor: »Dönmez Tours« (Abb. 3.3.2.16), »Öger Türk
Tur« (Abb. 3.3.2.17), »Zahnarztpraxis Dr. med dent. M.
Ayna« (Abb. 3.3.2.19), »Ziraat Bank International AG«
(Abb. 3.3.2.19), »Erol Keskin Rechtsanwalt« (Abb. 3.3.1.20).
Auch in Grußformeln wie »Hoşgeldin in unserer Welt«
(Abb. 3.3.2.21) begegnet das Türkische. Im transgressiven
Diskurs sind es ebenfalls die Namen, die einen Großteil der
Belege ausmachen: »BUCA« (der Name einer Stadt in der türkischen Provinz Izmir, Abb. 3.3.2.22), »Ali ♥Mira ♥Ali«
(Abb. 3.3.2.23) und »Seb Hasan 31.03.16« (Abb. 3.3.2.24).
Aber auch eine an niemanden adressierte Liebeserklärung
»Seni Seviyorum« / »Ich liebe dich« (Abb. 3.3.2.25) findet
sich auf einem Schildpfosten in DU-Innenstadt.
Insgesamt geben die Vorkommen des Türkischen in
DU-Innenstadt einen Einblick in das Unternehmertum von
türkeistämmigen Migranten und in die Bandbreite der
Dienstleistungen, die für die türkische Community (aber
auch für andere Gruppen) angeboten werden. Die große
Präsenz des Türkischen in der Innenstadt passt auch zu Duisburg: In Duisburg lebten Ende 2013 36 100 Einwohner mit
einer türkischen Staatsangehörigkeit, die in der Innenstadt
Dienstleistungen nachfragen.
Abb. 3.3.2.10
Abb. 3.3.2.11
Abb. 3.3.2.12
Abb. 3.3.2.13
Abb. 3.3.2.14
Abb. 3.3.2.15
Abb. 3.3.2.16
Abb. 3.3.2.17
Abb. 3.3.2.18
Abb. 3.3.2.19
Abb. 3.3.2.20
Abb. 3.3.2.21
Abb. 3.3.2.22
Abb. 3.3.2.23
Abb. 3.3.2.24
Abb. 3.3.2.25
3.3.2 STADTTEILVERGLEICH VON ESSEN-RÜTTENSCHEID UND DUISBURG-INNENSTADT
127
3.3.3 Stadtteilvergleich von
Essen-Altendorf und Bochum-Hamme
Der Stadtteilvergleich bietet sich an, weil sich beide Stadtteile durch eine mittlere Diversität der lokalen Bewohner auszeichnen. Darüber hinaus ist für beide Stadtteile charakteristisch, dass sie eine Nahversorgungsfunktion ausüben (Binnenbezug) und keine
Ausstrahlung darüber hinaus haben.
Der Stadtteil E-Altendorf liegt westlich des Stadtzentrums. Das Erhebungsgebiet
zieht sich entlang der Altendorfer Straße zwischen Haedenkampstraße im Osten und
Wüstenhöferstraße im Westen. Die Altendorfer Straße weist eine gemischte Struktur
aus Wohnen, Einzelhandel (kurzfristiger Bedarf ), Gastronomie und Dienstleistungen
auf (Amt für Stadtplanung und Bauordnung Essen 2011). Die Altendorfer Straße erfüllt laut Masterplan Einzelhandel der Stadt Essen im Wesentlichen eine Versorgungsfunktion für den Stadtbezirk.
Der Anteil der Nichtdeutschen (19,3 %) lag im Erhebungsgebiet knapp acht Prozentpunkte höher als in der Gesamtstadt. Der Diversitätsindex in Altendorf liegt bei
0,5, so dass auch von einer ausgeprägten Diversität der Bevölkerung ausgegangen werden kann.
Türkische Staatsangehörige bilden mit 20,5 % die größte Gruppe an Nichtdeutschen in Altendorf, gefolgt von Personen aus Polen (8,8 %) und China (7,4 %). Die
Auswahl der 15 größten Gruppen setzt sich wie auch in anderen Erhebungsgebieten
aus Personen aus früheren Anwerbeländern (v. A. auch Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, Italien, Griechenland), neuen EU-Staaten (Rumänien, Bulgarien) sowie Sri Lanka und Ghana zusammen. Insgesamt leben Personen aus 57 Staaten in Altendorf.
Der Stadtteil BO-Hamme liegt nordwestlich des Stadtzentrums. Das Erhebungsgebiet zieht sich entlang der Dorstener Straße zwischen Zechenstraße im Südosten und
Berggate im Nordwesten. Die Dorstener Straße weist eine gemischte Struktur aus
Wohnen, Einzelhandel (kurzfristiger Bedarf ), Gastronomie und Dienstleistungen auf
(Hagemann / Kruse 2012: 66).
Die Geschäftsstraße erfüllt laut Masterplan Einzelhandel die Nahversorgungsfunktion für den Stadtteil Hamme, hat aber keine Ausstrahlung darüber hinaus, so
dass auch für die Analyse der visuellen Mehrsprachigkeit des Erhebungsgebietes von
einem Einzugsbereich des Erhebungsgebietes ausgegangen werden kann, das nicht
über den Stadtteil hinausreicht.
Der Anteil der Nichtdeutschen (17,4 %) liegt im Erhebungsgebiet knapp 5 Prozentpunkte höher als in der Gesamtstadt. Der Diversitätsindex in Hamme liegt bei 0,4.
128
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Türkische Staatsangehörige bilden mit 30,6 % die
größte Gruppe an Nichtdeutschen in Hamme, gefolgt von
Personen aus Serbien und Montenegro mit gut 9 Prozent.
Die Zusammensetzung der 15 größten Gruppen wird bestimmt von Personen aus früheren Anwerbeländern (v. A.
auch Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien) und
neuen sowie alten EU-Staaten (Bulgarien, Frankreich). Insgesamt leben Personen aus 48 Staaten in Hamme.
Inwieweit spiegelt sich die Struktur der Bewohner in
den je spezifischen Linguistic Landscape wider, und was sagt
die Sichtbarkeit der Sprachen in den untersuchten Stadtteilen über die Bewohner der Stadtteile aus? Die Auswertung
der Bilddaten liefert Abb. 3.3.3.1, die die sieben häufigsten
Sprachen listet.
Der Vergleich der Sprachvorkommen zeigt, dass in BOHamme das Deutsche mit 75,1 % deutlich sichtbarer ist als
in E-Altendorf mit 66,3 %. Während das Englische in beiden Stadtteilen etwa gleich hohe Werte aufweist, unterscheiden sich die Vorkommen für die Migrantensprachen deutlich. So sind Türkisch (7,3 %) und Arabisch (1,6 %) die
Migrantensprachen mit den höchsten Anteilen in E-Altendorf, gefolgt von Französisch (1,1 %), Italienisch (0,7 %)
und Polnisch (0,6 %), wobei die Werte für diese Sprachen
insgesamt sehr niedrig liegen. Der Stadtteil BO-Hamme
weist eine deutlich geringere migrantensprachliche Prägung
auf, da keine Migrantensprache in einem nennenswerten
Umfang vorkommt, selbst das Türkische ist nur mit 1,8 %
vertreten – und das, obwohl die Bewohner mit türkischer
Staatsangehörigkeit fast ein Drittel der ausländischen Bevölkerung in diesem Stadtteil ausmachen. Die »alte« Migrantensprache Polnisch sowie die »neue« Migrantensprache Arabisch sind in Hamme mehr oder weniger unsichtbar.
Hamme weist insofern die geringste sprachliche Diversität – insbesondere migrantensprachlich geprägte Diversität – auf. Altendorf ist dagegen der nördlich der A 40 liegende Stadtteil, der neben der Dortmunder Nordstadt am
stärksten migrantensprachlich geprägt ist und die deutlichsten sprachlich sichtbaren Hinweise auf die jüngste Zuwandererwelle gibt.
Insgesamt zeigt der Vergleich der Stadtteile E-Altendorf
und BO-Hamme, dass trotz einer vergleichbaren mittleren
Diversität der Bevölkerung die sprachliche Diversität sehr
unterschiedlich ausfällt – sowohl mit Blick auf das Sprachenprofil als auch das Vorkommen der einzelnen Sprachen.
Sprache
Altendorf (N = 2492)
Sprache
Hamme (N = 1960)
Deutsch
1653 (66,3 %)
Deutsch
1472 (75,1 %)
Englisch
397 (15,9 %)
Englisch
326 (16,6 %)
Türkisch
182 (7,3 %)
Türkisch
35 (1,8 %)
Arabisch
41 (1,6 %)
Italienisch
26 (1,3 %)
Französisch
27 (1,1 %)
Französisch
13 (0,7 %)
Italienisch
17 (0,7 %)
Chinesisch
12 (0,6 %)
Polnisch
14 (0,6 %)
Sonstige
161 (6,5 %)
Latein
12 (0,6 %)
Sonstige
64 (3,3 %)
Abb. 3.3.3.1: Anteil der Sprachen in E-Altendorf und BO-Hamme
3.3.3 STADTTEILVERGLEICH VON ESSEN-ALTENDORF UND BOCHUM-HAMME
129
Kamerun 1,0 %
Ukraine 1,0 %
%
1,3 %
3,3
1,4%
land
h 1,3
kreic
che
n
3,2
n
Kroatie
Fran
Grie
,6 %
ien
ien
4%
%
on
2,
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%
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30
Ma
1,5
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%
So
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e
tig
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4%
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s
Ko
un
2,
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ien
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Ser
Bo
Mazedonien 2,1 %
ov
%
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Bu
2,4
arien
lan
2,5
2,1 %
,2 %
ka
Bulg
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,2 %
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Gr
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Gha
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Sr
Ko
s
2,
5%
30
%
,6 %
rk
Tü
ei
%
3,8 %
Italien 4
,1 %
Rumänien 4,4 %
,5
Polen 6
Irak
%
6,0 %
C
hin
a
7,4
%
M
So
rk
Tü
%
%
ns
ei
Abb. 3.3.3.2: Die fünfzehn größten Gruppen von Nichtdeutschen in E-Altendorf in % der
Nichtdeutschen Quelle: Daten Stadt Essen, Stand 31.12.2013.
130
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
e
Pole
n
tig
8,8
d
ne
2%
,8 %
,5
rb
un
te
9,
28
20
Se
ien
on
o
gr
Abb. 3.3.3.3: Die fünfzehn größten Gruppen von Nichtdeutschen in BO-Hamme in % der
Nichtdeutschen Quelle: Daten Stadt Bochum, Stand 31.12.2013.
3.3.3 STADTTEILVERGLEICH VON ESSEN-ALTENDORF UND BOCHUM-HAMME
131
3.4 Sprachgebrauch und
sprachliche Gestaltung
In welchen Formen kommen sichtbare Sprachen im öffentlichen Raum vor? Welche
sprachlichen Praktiken sind kennzeichnend für die einzelnen Diskurstypen, und wie
unterscheiden sie sich? Da Schilder, Aushänge, Anzeigetafeln, Aufsteller, Werbeflächen, Graffitis und dergleichen immer nur einen begrenzten Raum für die sprachliche
Ausgestaltung von Hinweisen, Aufforderungen, Verboten, Botschaften etc. bieten, ist
die Frage nach den charakteristischen Merkmalen und Formen »ortsgebundener
Schriftlichkeit« (Domke 2013), d. h. von Texten, die durch ihre Medialität und Materialität sowie Anbringung mehr oder weniger fest an ihre Orte (z.B. Rohrpfosten,
Wände, Fensterscheiben, Laternenpfähle, Brückenpfeiler und -geländer etc.) gebunden sind, von besonderem Interesse. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Muster,
die sich in der öffentlich wahrnehmbaren Schriftlichkeit einzelner Sprachen erkennen
lassen. Untersuchungen in diesem Bereich haben gezeigt (vgl. Auer 2010; Huebner
2009; Tophinke 2017), dass diese Verwendungen von Schriftlichkeit häufig – und das
gilt vor allen Dingen für den infrastrukturellen und regulatorischen Diskurs – mit sehr
wenig Text auskommen, d. h. dem Gebot der sprachlichen Kürze folgen und durch
spezifische sprachliche Konstruktionen gekennzeichnet sind. Als »Minitexte« (Schmitz
2016: 240) unterstützen sie so die Wahrnehmung, Lesbarkeit und kognitive Verarbeitung von Handlungsanleitungen und Verboten sowie Hinweisen im öffentlichen
Raum. Ihre Semantik ergibt sich dabei aus ihrer räumlichen Kontextgebundenheit.
Andererseits begegnen im öffentlichen Raum auch solche schriftsprachlichen Belege, die textlastiger sind und Formen der sprachlichen Kreativität (Sprachspiel, Intertextualität, Abweichungen von der orthografischen Wortgestalt) aufweisen können.
Diese Texte finden sich vorrangig im kommerziellen Diskurs, etwa in der Werbung,
aber auch im transgressiven Diskurs, d. h. in Graffitis und Aufklebern, und zwar dort,
wo Botschaften und Meinungsäußerungen transportiert werden. Die sprachliche Ausgestaltung vieler dieser Werbeinformationen und Botschaften zeigt darüber hinaus,
dass die Vorstellung, man könne immer klar zwischen einzelnen Sprachen trennen, der
Komplexität des Sprachgebrauchs in vielen Fällen nicht gerecht wird. Oft lässt sich,
z. B. bei Sprachspielen (aber nicht nur dort), nicht ohne weiteres bestimmen, ob ein
Beleg Sprache A oder Sprache B zuzuordnen ist, da er Formen beider Sprachen aufweist. Des Weiteren lassen sich im kommerziellen und transgressiven Diskurstyp auch
solche Formulierungen finden, die typisch für die Mündlichkeit sind. Dies kann einzelne Sprachmerkmale betreffen (vgl. Kap. 3.4.6 zum Ruhrdeutschen), aber auch
Kommunikationspraktiken, die für zwei- und mehrsprachige Sprecher typisch sind,
wie etwa Code-Switching, d. h. den Wechsel von einer Sprache in eine andere Sprache
innerhalb einer Äußerung (vgl. Kap. 3.4.7).
Im Folgenden werden in linguistischen Mikroanalysen die schriftsprachlichen Belege für die Sprachen Deutsch, Englisch, Türkisch, Arabisch, Polnisch und Ruhrdeutsch beschrieben. Die Reihenfolge orientiert sich dabei am Vorkommen dieser
Sprachen im öffentlichen Raum der Metropole Ruhr.
132
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.1 Deutsch in der Metropole Ruhr
Die quantitative Auswertung der in den Untersuchungsstädten sichtbaren Sprachen
hat gezeigt, dass Deutsch mit einem Gesamtvorkommen von 66,5 % die mit Abstand
am stärksten vertretene Sprache ist. Zwar schwanken die Anteile des Deutschen in den
einzelnen Stadtteilen (vgl. Kap. 3.3), doch das Ruhrgebiet ist aufs Ganze gesehen eine
dominant deutsche Linguistic Landscape.
Welche sprachlichen Praktiken sind in den Vorkommen des Deutschen eingeschrieben? Studien von Auer (2010), Hennig (2010), Wilk (2012) und Schmitz (2017)
zeigen, dass für öffentlich sichtbare Schriftlichkeit folgende Vertextungsstrategien typisch sind: Einfachheit (reduzierte syntaktische Strukturen), Formelhaftigkeit (z.B.
schematisch abgefasste Texte wie Fahrpläne, Preislisten, Öffnungszeiten) und eine begrenzte Zahl von Propositionen (häufig nur eine einzige Aussage / Information). Diese
bestehen oft aus nicht mehr als einem Wort (z. B. »Stopp«, »Eingang«, »Ziehen«), einer Mehr-Wort-Kombination (z.B. »Rettungsweg für Feuerwehr und Krankenwagen
freihalten«; »Currywurst mit Pommes nur 4.- €«) oder einem Spruch (z.B. »Boah ey,
Boah ey, Borussia geh’ nie vorbei« aus dem gleichnamigen Borussen-Lied: Boah Ey Borussia oder »So geht Bank heute«).
Welche Wörter kommen am häufigsten in deutschen Textpassagen auf Schildern
vor? Um diese Frage zu beantworten, wurden die Bilddaten für die Vorkommen des
Deutschen korpuslinguistisch ausgewertet. Die Auswertung erfolgte mit der Software
»Google Cloud Vision API«. Für die softwaregestützte Datenanalyse möchten wir uns
ganz herzlich bei Prof. Dr. Peter Gilles (Universität Luxemburg) bedanken.
Google Cloud Vision API
Die Software ist ein Online Service von Google zur Objekt- und Texterkennung in Bildern (https://cloud.
google.com / vision) und eignet sich besonders für die Analyse großer Datenmengen. Die Software bietet
folgende Erkennungstypen: Wahrzeichen, Logos, Kennzeichen (dominante Objekte), Farben und Text. Darüber hinaus liefert sie auch Metadaten, d. h. Angaben zum Schildertyp (z. B. Straßenschild, Werbeplakat etc.)
und zur Sprache.
Um die Bilddaten textlinguistisch auswerten zu können, musste das Bilddatenkorpus bereinigt werden. Dafür
wurden alle Bilder, die handgeschriebene Zeichen (dies betrifft vor allen Dingen transgressive Zeichen wie
Graffitis und Tags) und Zeichen, die stilisierte und gebrochene Schriften enthalten, aus der Analyse ausgeklammert, da die genannte Software solche Zeichen nicht erkennen kann. Das so reduzierte Bilddatenkorpus
umfasst ca. 14.000 Bilddaten und 350.000 Wörter.
3.4.1 DEUTSCH IN DER METROPOLE RUHR
133
1.
Uhr (2918)
16. Samstag (361)
2.
www (1710)
17. Service (357)
3.
Tel. (1067)
18. med. (297)
4.
Essen (1022)
19. Apotheke (290)
5.
Duisburg (707)
20. Vereinbarung (265)
6.
Dortmund (690)
21. Kinder (252)
7.
Bochum (642)
22. Bank (251)
8.
Dr. (538)
23. Fax (239)
9.
bitte (514)
24. Ruhr (237)
10. Freitag (458)
25. Tag (218)
11. GmbH (447)
26. Stadt (214)
12. Montag (444)
27. Mittwoch (209)
13. Telefon (421)
28. AG (208)
14. Euro (393)
29. Donnerstag (208)
15. Öffnungszeiten (380)
Abb. 3.4.1.1: Häufigkeit von Inhaltswörtern
Abb. 3.4.1.2: BO-Langendreer
Abb. 3.4.1.3: BO-Hamme
Abb. 3.4.1.4: BO-Hamme
Abb. 3.4.1.5: DO-Hauptbahnhof
134
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Die Auswertung der am häufigsten vorkommenden
deutschen Inhaltswörter ergibt folgende Rangliste (Abb.
3.4.1.1), die nebenbei auch zeigt, dass nominale Strukturen
insgesamt klar dominieren. Platz 1 belegt das Wort »Uhr«
mit 2 918 Vorkommen, die Plätze 4 – 7 belegen die Städtenamen Essen, Duisburg, Dortmund, Bochum, und die Höflichkeitspartikel »bitte« belegt mit immerhin 514 Vorkommen Platz 9. Von den Wochentagen weist der Freitag die
meisten Belege auf (458 Belege), gefolgt vom Montag (444
Belege), Samstag (361 Belege), Mittwoch (209 Belege) und
Donnerstag (208 Belege). Aber auch Abkürzungen wie www
(world wide web), Tel. (Telefon), Dr. (Doktor), GmbH (Gesellschaft mit beschränkter Haftung), med. (medicinae) und
AG (Aktiengesellschaft) sind frequent und werden in den
Fällen, in denen auch Vollformen vorliegen, gegenüber diesen bevorzugt. So kommt die Abkürzung »Tel.« mit 1067
Belegen wesentlich häufiger im Korpus vor als die entsprechende Vollform »Telefon« mit 421 Belegen.
Die Konzentration auf Inhaltswörter und der tendenzielle Verzicht auf Flexionsformen zeigt sich vor allen Dingen
im regulatorischen und infrastrukturellen Diskurs (Abb.
3.4.1.2, Abb. 3.4.1.3 und Abb. 3.4.1.4). Zuweilen führt der
Verzicht auf Flexionsformen auch zu nicht-autorisierten
Korrekturen (Abb. 3.4.1.5).
Während viele der Zeichen im regulatorischen und
infrastrukturellen Diskurs dadurch bestimmt sind, dass sie
als »kommunikative Minimaleinheiten« (Zifonun et al.
1997: 85 – 92) keine vollständigen Sätze aufweisen, begegnen im kommemorativen Diskurs auf Erinnerungstafeln
(Abb. 3.4.1.7) und im infrastrukturellen Diskurs im Kontext von Erläuterungen auch solche Texte, die normgrammatisch formuliert sind, d. h. keine Wort- und Flexionsauslassungen sowie Satzzeichenauslassungen aufweisen. Typische
Beispiele hierfür sind Schilder mit Hinweisen auf Industriedenkmäler und ihre Geschichte (Abb. 3.4.1.8) oder auch
Aushänge, die über Aktivitäten informieren (Abb. 3.4.1.9,
Kita-Aushang), und Schilder, die Handlungsaufforderungen
begründen (Abb. 3.4.1.10, Aufsteller des Bürgerbüros
Bochum Mitte).
Um einen Einblick in die bevorzugten Wortfolgen
(sogenannte N-Gramme) zu erhalten, wurde eine
4-Gramm-Analyse durchgeführt. Die häufigsten 4-Gramme
sind in Abb. 3.4.1.6 dargestellt.
Mit 43 Belegen kommt das 4-Gramm »Bank an Ihrer
Seite« am häufigsten vor, gefolgt von der Warnung »Fahrzeuge werden kostenpflichtig abgeschleppt«, der Angabe von
Öffnungszeiten und der Dankeshandlung »vielen Dank für
Ihr«. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die häufigsten
4-Gramme vor allen Dingen im kommerziellen und regulatorischen Diskurs begegnen, also in solchen Kontexten, in
denen es um Werbung und im weitesten Sinn um Handlungsanweisungen bzw. Handlungsunterlassungen (s. Öffnungszeiten und die Hinweise auf »rauchfreier Bahnhof«)
geht.
Schilder können unterschiedlichen Funktionen dienen
(z.B. benennen, Wege weisen, charakterisieren, Zugehörigkeit markieren und gedenken; vgl. Auer 2010). Oft fordern
Schilder im öffentlichen Raum – wie auch die 4-Gramme zeigen – zu Handlungen auf oder verbieten Handlungen. Die
Verteilung von Verbotslexemen zeigt die Karte in Abbildung
3.4.1.11. Die Analyse wurde für die Wörter »verboten«, »Polizei« und »beachten« durchgeführt. Auffällig ist, dass in
Dortmund der Nord-Süd-Unterschied am größten ist, d. h.
dass in der Nordstadt wesentlich mehr Verbotslexeme vorkommen als in Hörde und im restlichen Ruhrgebiet.
1.
bank an ihrer seite (43)
2.
fahrzeuge werden kostenpflichtig abgeschleppt (40)
3.
von x:xx uhr bis x:xx uhr (39)
4.
vielen dank für ihr (34)
5.
dienstag mittwoch donnerstag freitag (28)
6.
wir freuen uns auf (28)
7.
bahnhof non smoking station (27)
8.
termine nach vereinbarung tel (27)
9.
bewohner mit parkausweis museum (25)
10. rauchfreier bahnhof non smoking (25)
11. nutzung ist rechtswidrig und (24)
12. lesbar hinter die windschutzscheibe (23)
13. dank für ihr verständnis (21)
Abb. 3.4.1.6: Häufigkeit von Vier-Grammen
Abb. 3.4.1.7: BO-Langendreer
Abb. 3.4.1.8: BO-Hamme
Abb. 3.4.1.9: BO-Hamme
Abb. 3.4.1.10: BO-Bürgerbüro
3.4.1 DEUTSCH IN DER METROPOLE RUHR
135
Abb. 3.4.1.11: Verteilung von »verboten«,
»Polizei« und »beachten«
Verbotslexeme (Anzahl: 216)
Verhältnis: 1mm Radius entspricht einem Verbotslexem.
Nordstadt
Dortmund
Marxloh
Hamme
Hörde
Duisburg
Altendorf
Essen
Langendreer
Bochum
Rüttenscheid
Innenstadt
136
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.1 DEUTSCH IN DER METROPOLE RUHR
137
Abb. 3.4.1.12: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.13: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.1.14: DO-Hörde
Abb. 3.4.1.15: DO-Hauptbahnhof
Abb. 3.4.1.16: E-Altendorf
Abb. 3.4.1.17: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.18: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.19: E-Rüttenscheid
138
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Im regulatorischen Diskurs überwiegen Zeichen mit
»deontischen Infinitiven«, d. h. Infinitivkonstruktionen, die
ohne die Partikel »zu« gebildet werden (Deppermann 2007),
wie in »Ein- u. Ausfahrt freihalten« (Abb. 3.4.1.12), »Parken
verboten!« (Abb. 3.4.1.13), »Bei entgegenlaufender Fahrtreppe bitte vor der Ampelsäule warten« (Abb. 3.4.1.14).
Deontische Infinitive charakterisieren Handlungen als geboten oder verboten. Sie erlauben es, Handlungsanweisungen
und -aufforderungen auf höfliche Art und Weise auszudrücken. Der höfliche Gestus wird durch Höflichkeitsmarker
wie »bitte« (Abb. 3.4.1.14) oder »danke« (Abb. 3.4.1.15) unterstrichen. Dadurch wird der imperative Charakter der
Handlungsanweisungen bzw. -aufforderungen abgeschwächt. Auch die Ausrufezeichen, die oft fehlen, tragen zur
Rahmung als Bitte bei. Charakteristisch für diese Konstruktionen ist auch, dass die syntaktische Kategorie, die sich auf
diejenigen bezieht, die den Handlungsanweisungen folgen
sollen, nicht realisiert wird. Dies hat den sprachökonomischen Vorteil, dass so prinzipiell alle adressiert werden.
Gleichzeitig wird dadurch die Handlung, die das Verb ausdrückt, betont.
Völlig untypisch ist das Schild in einer Grünanlage mit
der Aufforderung »Diese Wiese darf jeder nutzen. Auch
Hunde dürfen hier unangeleint laufen [...]« (Abb. 3.4.1.16).
Im kommerziellen Diskurs sind solche Konstruktionen
häufig, in denen der Nutznießer einer Dienstleistung oder
eines Produktes genannt und auf diese Weise adressiert wird.
Dies geschieht häufig in Form von für-Phrasen wie »Wir
sind für Sie da!« (Abb. 3.4.1.17) und »Rosenmontag haben
wir für Sie von 9.00–12.00 Uhr geöffnet« (Abb. 3.4.1.20).
Neben Adressierungen (»Lieber Kunde«, Abb. 3.4.1.18) und
Personalisierungen (»Vielen Dank für Ihren Einkauf!«, Abb.
3.4.1.21) sind auch Grußformeln wie »Willkommen« und
»Auf Wiedersehen« im kommerziellen Diskurs häufig (vgl.
E-Rüttenscheid Abb. 3.4.1.19, Abb. 3.4.1.21).
Rhetorisch-stilistische Figuren wie inszenierte
Dialogizität (Abb. 3.4.1.22, Abb. 3.4.1.23) bzw. Einladungen
zum Dialog (Abb. 3.4.1.24), Alliterationen wie in dem
Werbeslogan »Perfektes Paar Perfekter Preis« (Abb. 3.4.1.25)
und »Feines von FINE« (Abb. 3.4.1.26) sowie Sprachspiele
wie in »Offizielle Rüttenschirm Leihstation« (Abb.
3.4.1.27), »Lieber Lasertherapie als Zahnwars« (Abb.
3.4.1.28), »Wir verändern das Land zum Leckeren«
(Abb. 3.4.1.29) sind charakteristisch für den kommerziellen
Diskurs. Der Appell auf einem transgressiv angebrachten
Abb. 3.4.1.20: BO-Langendreer
Abb. 3.4.1.21: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.22: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.1.23: DO-Hörde
Abb. 3.4.1.24: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.25: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.26: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.27: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.28: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.29: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.30: DO-Hamme
Abb. 3.4.1.31: DO-Nordstadt
3.4.1 DEUTSCH IN DER METROPOLE RUHR
139
Abb. 3.4.1.32: DO-Hauptbahnhof
Abb. 3.4.1.33: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.1.34: BO-Hamme
Sticker »Abschiebungen verhindern du musst« (Abb.
3.4.1.30) ist in seiner syntaktischen Konstruktion (Inversion
des Subjekts, Verbend- statt Verbzweitstellung) eine Anspielung auf den Sprachgebrauch des Jedi-Ritters Yoda aus dem
Film Star Wars. Eine syntaktische Anspielung ist auch die
Feststellung »Wir sind Dortmund. Nazis sind es nicht.
Nordstadt« (Abb. 3.4.1.31), die in Analogie zu der berühmten Bild-Schlagzeile »Wir sind Papst« zur Wahl von Joseph
Kardinal Ratzinger gebildet wurde.
Schreibungen mit Großbuchstaben im Wortinnern stellen absichtliche orthografische Abweichungen, d. h. eine
Form der graphischen Variation, dar. Sie sind ein gestalterisches Mittel, das im kommerziellen Diskurs bei Wortzusammensetzungen verwendet wird, die Namen, Dienstleistungen oder Produkte bezeichnen (vgl. Abb. 3.4.1.32 bis
3.4.1.36). Das Hinweisschild »DeutscheFußballRoute«
(Abb. 3.4.1.37) ist ein Sonderfall, weil es sich hier um zwei
Wörter (»deutsch«, »Fußballroute«) handelt, die zusammengeschrieben sind und nicht durch ein Leerzeichen getrennt
werden.
Pluralschreibungen wie Croissant’s, Snack’s und Cafe’s
sind auch in unserem Korpus belegt (vgl. »Handy’s«, Abb.
3.4.1.38). Diese Schreibungen sind häufig Gegenstand
sprachkritischer Äußerungen. Viele Sprachkritiker sehen in
diesen Schreibungen ein Indiz für den Verfall der deutschen
Sprache. Wie unser Bildmaterial zeigt (und auch andere Untersuchungen belegen), treten diese Pluralschreibungen
nicht spontan und willkürlich auf. Vielmehr sind sie in bestimmten Kontexten gebräuchlich, insbesondere in Texten
im öffentlichen Raum und hier vorzugsweise im kommerziellen Diskurs in syntaktisch reduzierter Umgebung. In der
Regel wird die Pluralapostrophschreibung in Wörtern verwendet, deren Plural mit »s« gebildet wird. Die aktuelle Praxis der Pluralapostrophschreibung ist nicht neu. Sie lässt sich
als Renaissance einer alten, schon im 18./19. Jahrhundert
ausgebildeten Praxis der Hilfszeichenschreibung begreifen.
So stellt der Sprachkundler Heyse in seiner Grammatik 1838
fest: »für solche Wörter, welche ihrer äußeren Gestalt, oder
auch ihrer Bedeutung wegen sich in keine regelmäßige deutsche Declination fügen wollen, das s (mit vorangestelltem
Apostroph) die einzig angemessene Mehrheitsendung (ist),
für welche sich auch der Gebrauch der besten Schriftsteller
in solchen Fällen entschieden hat« (Heyse 1838: 467).
Abb. 3.4.1.36: DO-Hauptbahnhof
Abb. 3.4.1.37: BO-Hauptbahnhof
Abb. 3.4.1.38: DU-Innenstadt
Abb. 3.4.1.35: BO-Langendreer
140
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.1 DEUTSCH IN DER METROPOLE RUHR
141
3.4.2 Englisch in der Metropole Ruhr
Abb. 3.4.2.1: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.2.2: E-Rüttenscheid
Englisch stellt in allen Stadtteilen – außer in dem stark türkisch geprägten DU-Marxloh – die zweithäufigste Sprache nach Deutsch dar. Sieht man sich die Stadtteile genauer an, in denen Englisch relativ betrachtet am häufigsten vorkommt, dann fallen
die Stadtteile DO-Nordstadt und E-Rüttenscheid auf, vgl. die Tabelle in Abb. 3.4.2.5.
Englisch kommt in DO-Nordstadt vor allem im transgressiven Diskurs vor, also in
Graffitis und auf Stickern. Der Anteil des Englischen beträgt hier 76,8 %. Sowohl
Graffitis als auch Sticker sind jugendkulturelle Ausdrucksformen, die stark angloamerikanisch geprägt sind und insofern auch häufig in Englisch verfasst oder mit englischsprachigen Versatzstücken versehen sind, wie die selbstreflexiven Botschaften
»FIRSTLOVEGRAFFITI« (Abb. 3.4.2.1) und »I ♥ STICKERS!« (Abb. 3.4.2.2) beispielhaft illustrieren. DO-Nordstadt ist bei jungen Erwachsenen besonders beliebt wegen seiner
kulturellen Vielfalt, attraktiven Kneipenszene, günstigen Mieten, vielen Altbauten und
seiner Nähe zur Innenstadt (vgl. Kapitel 3.3.1).
In E-Rüttenscheid ist das Englische außer im transgressiven Diskurs mit einem Anteil
von 55,3 % auch im kommerziellen Diskurs mit einem Anteil von 43,3 % dominanter. Viele Gastronomie-, Geschäfts- und Firmennamen sowie Namen von Dienstleistern sind auf Englisch: »SAILOR’S PUB« (Abb. 3.4.2.3), »KALA KUTA SOUL RECORDS«
(Abb. 3.4.2.4), »HAIRWORKS« (Abb. 3.4.2.6), »chilli house« (Abb. 3.4.2.7), »happy
play« (Abb. 3.4.2.8) und »fresh nails« (Abb. 3.4.2.9). Ebenso häufig werden Dienstleistungen oft auf Englisch angegeben: »Brasilian bodywaxing« (Abb. 3.4.2.10),
»Bleaching« (Abb. 3.4.2.11), »Repair-Service« (Abb. 3.4.2.12). Auch Werbeslogans
wie »FINEST LIFESTYLE« (Abb. 3.4.2.13) sind vorzugsweise auf Englisch verfasst.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass der Gebrauch des
Englischen nicht ethnisch motiviert ist (Stichwort: Ethno-Marketing). Es geht hier nicht primär darum, englischsprachige Kundinnen und Kunden anzusprechen (auch
wenn 5 % der Bevölkerung in E-Rüttenscheid eine britische
oder US-amerikanische Staatsangehörigkeit besitzen). Vielmehr werden das Prestige und der Symbolwert des Englischen genutzt, um ein Produkt, ein Geschäft oder auch eine
Kneipe als sexy, cool, jung, modern etc. erscheinen zu lassen.
Diese Tendenz gilt auch für andere nicht-englischsprachige
Länder:
»When English is used in advertising in non-English
speaking countries, it rarely is intended to connote an
ethno-cultural stereotype and much more often a social stereotype where bilingualism in English and the national language is used to index modern, cosmopolitan, professional
and successful identities« (Piller 2011: 108 – 109).
In diesem Sinne stellt das Englische eine Ressource dar,
deren expressiver Mehrwert ein Produkt in spezifischer
Weise aufwertet und sozial konnotiert, sei es durch Benennung oder Bewerbung.
Sowohl im transgressiven als auch im kommerziellen
Diskurs werden häufig kreative Sprachformen produziert
und standardsprachliche Normen unterlaufen. Beide Diskurse bieten Spielräume, in denen die sprachlichen Möglichkeiten und Grenzen ausgelotet werden können. Dies betrifft
grundsätzlich alle Sprachebenen, d. h. sowohl den Bereich
der Orthographie als auch die Bereiche Grammatik, Semantik und Wortbildung.
Abb. 3.4.2.6: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.7: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.8: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.9: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.10: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.11: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.12: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.13: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.3: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.4: E-Rüttenscheid
142
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Stadtteile nördlich der A 40
Stadtteile südlich der A 40
Duisburg-Marxloh 165 (13.3 %)
Duisburg-Innenstadt 1074 (19,1 %)
Essen-Altendorf 397 (15,9 %)
Essen-Rüttenscheid 1564 (23,2 %)
Bochum-Hamme 326 (16,2 %)
Bochum-Langendreer 276 (14,4 %)
Dortmund-Nordstadt 804 (28,2 %)
Dortmund-Hörde 277 (19,5 %)
Abb. 3.4.2.5: Vorkommen von Englisch in den nördlich und südlich der A 40 gelegenen Stadtteilen
3.4.2 ENGLISCH IN DER METROPOLE RUHR
143
Graphische Variation
Abb. 3.4.2.14: E-Hauptbahnhof
Abb. 3.4.2.15: DU-Hauptbahnhof
Abb. 3.4.2.16: E-RuhrMuseum
Schreibungen, die intendierte Abweichungen darstellen,
werden in der Linguistik als »Andersschreibungen« (Maas
1992: 360) bezeichnet. Sie sind typisch für die private, interaktive digitale Kommunikation, für Werbung und für Graffitis. Häufig werden Andersschreibungen von Laienlinguisten kritisiert, und es wird dann nicht unterschieden zwischen
solchen Bereichen, die sich an den Rechtschreibregeln orientieren müssen (z.B. Schule und Verwaltung), und solchen
Bereichen, die sich an den Rechtschreibregeln orientieren
können (z. B. Literatur, WhatsApp-Kommunikation, Werbung). Diese Differenzierung bildet die Grundlage des Modells der »orthographic spaces« von Sebba (2007: 43 – 44).
Es trägt den je spezifischen Kontexten und sozialen Praktiken in den verschiedenen orthographischen Räumen Rechnung, indem es von einem Kontinuum zwischen »fully regulated spaces« und »unregulated spaces« ausgeht. Zentrale
Annahme dabei ist, dass die graphischen Varianten als kreative und unkonventionelle Andersschreibungen der üblichen
orthographischen Wortgestalten erkennbar sind und selbst
einer Systematik folgen: »While [...] they do not conform to
the standard norm, they may nevertheless conform to some
norm« (Sebba 2003: 157, Kursivierung im Original). Die
von Sebba diagnostizierte »Spelling Rebellion« (2003) ist insofern keine Rebellion im strengen Sinn, sondern eine geordnete Rebellion, da es in den weniger regulierten orthographischen Räumen zur Ausbildung und Fokussierung
eigener graphischer Varianten und damit Normen kommt.
Diese Fokussierung unterscheidet Andersschreibungen von
fehlerhaften Schreibungen wie z. B. dem Auslassen des Genitivapostrophs im Englischen oder Wortzusammenschreibungen, die im Deutschen, nicht aber im Englischen korrekt
sind und auch auf offiziellen Schildern und Plakaten wie
dem Hinweis auf das Besucherzentrum Ruhr vorkommen.
• »IN ORWELLS REALITY« (Abb. 3.4.2.14)
• »Livepics«, »Bandpics« (Abb. 3.4.2.15)
• »Ruhr.Visitorcenter / Besucherzentrum Ruhr«
(Abb. 3.4.2.16)
144
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Nach Tophinke (2002: 171 – 177) können verschiedene
Verfahren der Andersschreibung unterschieden werden: Abwandlungen der orthographischen Wortgestalt, Wiedergabe
gesprochensprachlicher Formen und Adaptionen aus anderen Genres oder Stilen. Diese Variationen entfalten je nach
Kontext unterschiedliche Gebrauchswerte als Identifikationssymbol, Aufmerksamkeits- und Verfremdungssignal. Sie
lassen sich nicht nur in den deutschen Textpassagen in unseren Daten feststellen, sondern auch in englischen Textpassagen, wie im Folgenden illustriert wird.
Abwandlungen der orthographischen Wortgestalt
Im Englischen werden Namen (Personenamen, Geschäftsnamen, Ortsnamen etc.) wie im Deutschen am Wortanfang
großgeschrieben. Zur Hervorhebung von Geschäftsnamen
und Namen von Restaurants etc. sowie bei Graffitis wird
häufig von dieser Regel abgewichen und entweder Versalschrift, d. h. eine Schrift, die nur aus Großbuchstaben besteht (1., 2. Beispiel) oder Kleinschrift (3. Beispiel) verwendet. Eine Mischung von Groß- und Kleinbuchstaben ist ein
typisches Merkmal für die Schreibung von Crewnamen (Beispiel 4). Daneben werden auch Verfahren wie die Auszeichnung von Anfangsbuchstaben durch einen größeren Schriftgrad und das Hochstellen von Buchstaben (5. Beispiel)
gewählt. Im 6. Beispiel, einer selbstreflexiven Äußerung, die
sich auf die Praxis des Anbringens von Graffitis bezieht, werden nicht nur Versalien verwendet, sondern auch die Leerzeichen und Zeilen-Enden zur Markierung einer Wortgrenze
ausgelassen, sodass der Verfremdungseffekt verstärkt wird.
Abb. 3.4.2.17: BO-Langendreer
1. Bsp.: »CUT« (Abb. 3.4.2.17)
2. Bsp.: »LET’S GO!« (Abb. 3.4.2.18)
Abb. 3.4.2.18: BO-Langendreer
Abb. 3.4.2.19: BO-Langendreer
3. Bsp.: »chilli house« (Abb. 3.4.2.7)
4. Bsp.: »THE BrEH« (Abb. 3.4.2.19)
5. Bsp.: »SAILOR’s PUB« (Abb. 3.4.2.3)
6. Bsp.: »FIRSTLOVEGRAFFITI« (Abb. 3.4.2.1)
3.4.2 ENGLISCH IN DER METROPOLE RUHR
145
Abb. 3.4.2.20: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.22: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.21: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.2.23: DO-Hörde
Einzelne Buchstaben oder Buchstabenketten können
auf verschiedene Art und Weise ersetzt werden, wie die Beispiele 7 und 8 zeigen. Im 7. Beispiel wird das Wort »boys«
statt mit »y« mit »i« und statt mit wortfinalem »s« mit »z« geschrieben. Im 8. Beispiel wird der Verbstamm des Verbs
»love« durch ein Herz-Symbol ersetzt, das für »Liebe« (eigentlich also ein Substantiv) steht. Dieses Herz-Symbol
wurde zum ersten Mal 1977 in einem für New York entwickelten Slogan »I ♥ NY« verwendet. Weitere Varianten der Abwandlung von Wortschreibungen illustrieren die Beispiele 9
bis 11. Im 9. Beispiel wird die Präposition »to« durch die
Zahl 2 ersetzt, mit der sie homophon ist. Homophonie ist
auch im 10. Beispiel die Grundlage für die Ersetzung der
Wortschreibungen für die Präposition »for« und das Personalpronomen »you«. Eine weitere Form der Abwandlung der
graphischen Wortgestalt besteht im Auslassen von Buchstaben (11. Beispiel). Diese Verfahren sind aus der Leetspeak
bekannt. Unter dem Begriff Leetspeak werden solche
Schreibweisen zusammengefasst, bei denen ein Buchstabe,
eine Ziffer oder auch ein Sonderzeichen zur Verfremdung einer Wortschreibung oder zur Abkürzung für ein Wort verwendet wird, das gleich oder ähnlich ausgesprochen wird.
Leetspeak wurde in den 1980er Jahren als Geheimcode von
Hackern entwickelt, um zu verhindern, dass ihre E-Mails
oder Online-Dokumente automatisch von Computerprogrammen entziffert werden konnten. Hier dagegen wird
Leetspeak eingesetzt, um die Schreibung von Geschäftsnamen, Slogans, Stickerbotschaften etc. zu individualisieren
und interessanter, unkonventioneller, cooler oder auch aggressiver wirken zu lassen.
7. Bsp.: »POTT BOIZ« (Abb. 3.4.2.20)
8. Bsp.: »STILL ♥’ING Antifa« (Abb. 3.4.2.21)
Abb. 3.4.2.24: DO-Hörde
9. Bsp.: »health2beauty« (Abb. 3.4.2.22)
10. Bsp.: »4U!« (Abb. 3.4.2.23)
11. Bsp.: »FCK CPS« (Abb. 3.4.2.24)
Wie einige der diskutierten Beispiele zeigen, wird bei
der Abwandlung der orthographischen Wortgestalt häufig
nicht nur auf ein Verfahren, sondern auf mehrere Verfahren
zurückgegriffen. Ein besonders komplexes Beispiel bietet die
Botschaft auf einem Sticker (12. Beispiel). Mit dem Sticker
wird eine Tanzschule für Videoclip-Dancing beworben, die
sich an Jugendliche bzw. junge Erwachsene richtet. Vier Verfremdungsverfahren kommen hier gleichzeitig zur Anwendung: (a) Versalschrift, (b) Verwendung der Zahl 4 zur Re-
146
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
präsentation der Präposition »for«, mit der sie homophon
ist, (c) Gesperrtschreibung des Wortes »C.L.U.B«, wobei (d)
die Sperrung nicht durch Leerzeichen, sondern durch
Punkte erfolgt.
12. Bsp.:»DANCE 4 FANS C. L.U.B« (Abb. 3.4.2.25)
Wiedergabe gesprochensprachlicher Eigenschaften
Die Wiedergabe gesprochensprachlicher Eigenschaften findet sich in unserem Material selten. Der Schluss liegt daher
nahe, dass sie vermieden wird. Dafür mag es zwei Gründe
geben: Entweder verfügen die Textproduzenten, die in den
meisten Fällen keine englischen Muttersprachler sind, über
keine entsprechenden Sprachkenntnisse, und / oder die Textproduzenten gehen davon aus, dass der damit verbundene
Verfremdungseffekt zu stark sein könnte und die Lesbarkeit
deshalb gefährdet wäre. Für die Hypothese der fehlenden
Sprachkompetenzen bei Nicht-Muttersprachlern würde
sprechen, dass auch für die Wiedergabe gesprochensprachlicher Formen des Deutschen bei nichtdeutschen Muttersprachlern Belege fehlen, wie die Analysen zum Vorkommen
nonstandardsprachlicher Merkmale zeigen (vgl. Kapitel
3.4.6). Gleichwohl gibt es ein Merkmal, das sich häufiger in
unseren Daten beobachten lässt. Dieses Merkmal betrifft die
alveolare Realisierung des Nasals [n] in der Endung –ing
(= Realisierung mit der Zunge am oberen Zahndamm) anstelle der standardsprachlichen velaren Aussprache [ŋ] (= Realisierung als Verschlusslaut). Die [ŋ]-Aussprachevariante ist
ein Merkmal des gesprochenen American English. In der
Schriftlichkeit wird diese Aussprachevariante durch das Auslassen des Buchstabens »g« markiert. Wie die Beispiele 13 bis
16 belegen, kommt die Auslassung des Buchstabens »g« vorzugsweise in solchen Kontexten vor, in denen entweder eine
Protesthaltung (13., 14. Beispiel) oder ein popkulturelles
Genre wie Hip-Hop (15., 16. Beispiel) indexikalisiert werden soll.
Abb. 3.4.2.25: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.26: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.2.27: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.2.28: DO U-Turm
Abb. 3.4.2.29: E-Rüttenscheid
13. Bsp.: »DON’T LIKE THE SOCIETY … IT’S SO
FUCKIN STUPID« (Abb. 3.4.2.26)
14. Bsp.: »still ♥’ in vandalism« (Abb. 3.4.2.27)
15. Bsp.: »SOUL TRIPPIN« (Abb. 3.4.2.28)
16. Bsp.: »Body Movin« (Abb. 3.4.2.29)
3.4.2 ENGLISCH IN DER METROPOLE RUHR
147
Die phonetische Schreibung »a« für die Wiedergabe der
Vokalisierung von / r / in der Endung -er ist in unserem Material nur zweimal zu finden (17., 18. Beispiel). Die »a« – Graphie (= Schreibweise) stammt aus dem Hip-Hop-Kontext
und gilt als »Genreindikator« (Spitzmüller 2013: 393) ähnlich wie die »z« – Schreibung für wortfinales »s« und die Ersetzung von »c« durch »k«.
17. Bsp.: »SUPA KOOL« (Abb. 3.4.2.30)
Abb. 3.4.2.30: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.31: DO-Nordstadt
18. Bsp.: »R.D.S. Ruthless Dope Smokaz« (Abb. 3.4.2.31)
Adaptionen aus anderen Genres oder Stilen
Abb. 3.4.2.32: BO-Langendreer
Abb. 3.4.2.34: E-Altendorf
Abb. 3.4.2.33: BO-Langendreer
Abb. 3.4.2.35: E-Altendorf
Die auf die Leetspeak zurückgehende Praxis der Ersetzung
von Wörtern durch Zahlen oder Buchstaben oder das Auslassen von Buchstaben illustrieren die Beispiele 9, 10 und 11
(S. 156). Diese Beispiele lassen sich linguistisch als »graphematisches Crossing« (Spitzmüller 2007) fassen. Mit Spitzmüller (2007: 400 – 401) ist darunter die »Verwendung von
Zeichen zu verstehen, die nicht zum üblichen Grapheminventar der Sprache, in der geschrieben wird, gezählt werden
oder aber in einer spezifischen Verwendung einen mit einer
»fremden« Kultur oder sozialen Gruppe assoziierten Zeichengebrauch indizieren«. Das bedeutet, dass eine spezifische graphische Praxis nicht mehr an ihren ursprünglichen
Kontext, z. B. die digitale Kommunikation von Hackern, gebunden ist, sondern von anderen sozialen Gruppierungen in
anderen Kontexten mit anderen Funktionen verwendet
wird. Diese Formen des graphematischen Crossing zeigen
sich auch in den Beispielen 19 und 20, in denen einzelne
Buchstaben bzw. Silben ersetzt werden. Im 19. Beispiel ersetzt der Großbuchstabe »X« die Silbe »ex« in dem Wort »Expert«. Gleichzeitig wird mit der Binnengroßschreibung die
Morphemgrenze gekennzeichnet und die Andersschreibung
so doppelt markiert, denn die englische Orthographie kennt
keine Kompositaschreibung, d. h. Wortzusammenschreibung. Im 20. Beispiel wird die Hip-Hop-Graphie »z« für
wortfinales »s« für den Slogan der Kindernothilfe adaptiert,
vermutlich um jünger und cooler und damit adressatenorientierter zu erscheinen.
Sprachspiele
Sprachspiele stellen »Formen beabsichtigter spielerischer
Veränderung oder Kombination sprachlichen Materials« dar
(Bußmann 2002: 755 – 756). Zu den bevorzugten Verfahren
zählen die Verwendung homophoner und homographer
Wörter und Ausdrücke, Veränderungen der lautlichen und
graphischen Gestalt sowie rhetorische Figuren (Reime, Anspielungen u. Ä.), die zeigen, wie weit die Regeln der Sprache ausgereizt werden können. Sprachspiele begegnen häufig in der Werbung und in Graffitis. Dabei können auch die
Sprachgrenzen überschritten, d. h. Merkmale aus verschiedenen Sprachen miteinander verbunden werden (vgl. Knospe
et al. 2017).
Bezogen auf die Verwendung der englischen Sprache lassen
sich folgende Formen des Sprachspiels in unserem Datenmaterial beobachten. Sie kommen vor allem im Kontext von
Geschäftsnamen, Handlungsaufforderungen, Begrüßungen,
Einstellungsbekundungen u. Ä. vor.
Reim:
Abb. 3.4.2.36: E-Hauptbahnhof
Abb. 3.4.2.37: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.38: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.2.39: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.40: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.41: E-Altendorf
Abb. 3.4.2.42: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.2.43: DU-Innenstadt
• »Curry in a hurry« (Abb. 3.4.2.34)
• »GOOD NIGHT WHITE PRIDE« (Abb. 3.4.2.35)
Wortwitz:
• »KISS & RIDE FREI« (Abb. 3.4.2.36)
Wortspiele, die auf der Homophonie von Englisch und
Deutsch beruhen:
• »SCHUTING STAR« (Abb. 3.4.2.37)
• »YES! VE GAN« (Abb. 3.4.2.38)
• »FOURGRUPPE« (Abb. 3.4.2.39)
Wortspiele, die auf der Nutzung wortsemantischer
Spielräume beruhen:
• »you are welcome!« (»Willkommen« statt »gerne
geschehen«) (Abb. 3.4.2.40)
19. Bsp.: »colorXpert« (Abb. 3.4.2.32)
• »Heart your gender! Fight homophobia«
(Abb. 3.4.2.41)
20. Bsp.: »ACTION!KIDZ« (Abb. 3.4.2.33)
Spiel mit Graphien
• »ACAB« wird zu »a cab« (Abb. 3.4.2.42)
• »FUCK YOU« wird zu dem Anagramm »YUCK FOU«
(Abb. 3.4.2.43)
148
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.2 ENGLISCH IN DER METROPOLE RUHR
149
Abb. 3.4.2.44: BO-Langendreer
Abb. 3.4.2.45: BO-Hauptbahnhof
Mit Blick auf die Kontexte fällt auf, dass das Englische
überdurchschnittlich häufig in Botschaften verwendet wird,
die eine Positionierung gegen rechts – insbesondere gegen
Deutschtümelei und Ultra-Kultur im Fußball – ausdrücken.
Die Wahl des Englischen dient hier als »Kontextualisierungshinweis« (Auer 1992: 4). Kontextualisierungshinweise
sind sprachliche Mittel zum Verständnis einer Äußerung. Sie
signalisieren kommunikative Absichten. Prinzipiell können
alle (schrift)sprachlichen, non- und paraverbalen Merkmale
als Kontextualisierungshinweise fungieren. Ihre Bedeutung
hängt vom jeweiligen Kontext und Hintergrundwissen der
Interaktanten und Adressaten ab. In den Kontexten, um die
es in den folgenden Beispielen geht, wird mit der Wahl der
englischen Sprache eine spezifische Haltung, nämlich eine
antifaschistische, antirassistische und gelegentlich antideutsche Einstellung kontextualisiert.
• »SUPPORT YOUR LOCAL ANTIFA« (Abb. 3.4.2.44)
Abb. 3.4.2.46: E-Altendorf
Abb. 3.4.2.47: DU-Innenstadt
• »MAYBE NEVER STOPPED THE NAZIS« (Abb. 3.4.2.45)
• »FOLLOW YOUR LEADER« (Abb. 3.4.2.46)
• »IF YOU ARE RACIST, SEXIST, HOMOPHOBIC, OR ANOTHER
ASSHOLE DON’T COME IN!« (Abb. 3.4.2.47)
• »MUSIC AGAINST RACISM« (Abb. 3.4.2.48)
• »LOVE BORUSSIA HATE FASCISM« (Abb. 3.4.2.49)
• »DO IT LIKE BOATENG« (Abb. 3.4.2.50)
• »KICK RACISM OUT« (Abb. 3.4.2.51)
Abb. 3.4.2.48: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.2.49: DO-Nordstadt
• »LOVE FOOTBALL. HATE GERMANY« (Abb. 3.4.2.53)
• »STILL NOT ♥’ING GERMANY« (Abb. 3.4.2.54)
Abb. 3.4.2.50: DO-Nordstadt
Die Analysen zu den Praktiken des Gebrauchs des Englischen im Kontext des kommerziellen und transgressiven
Diskurses verdeutlichen insgesamt, dass die Verwendungsweisen je spezifisch motiviert sind. Während im kommerziellen Diskurs vor allen Dingen der expressive Mehrwert des
Englischen als Symbol für Internationalität, Modernität, Jugendlichkeit etc. genutzt wird, wird im transgressiven Diskurs das Englische entweder als subkultureller »Genreindikator« (Spitzmüller 2013) oder zur Versprachlichung von
Protesthaltungen, insbesondere solchen, die sich gegen
rechtspopulistische Tendenzen wenden, eingesetzt. Interessant ist dabei, dass einzelne subkulturelle Graphien wie die
Ersetzung von »s« durch »z« oder die Substitution von Wörtern durch Zahlen einen Popularisierungsprozess durchlaufen, im Rahmen dessen sie durch verschiedene Formen der
»Rekontextualisierung« (vgl. Linell 1998: 154), d. h. Verwendung in neuen Kontexten, ihre subkulturelle Markierung und damit Exklusivität verlieren und allmählich allgemein gebräuchlich werden. Da die Bedeutung von Zeichen
immer auch von ihrem Kontext abhängt, ändern sich folglich auch die Bedeutung und Funktion dieser Graphien,
wenn sie nicht mehr in ihrem Ursprungskontext, sondern in
neuen Kontexten verwendet werden. So können sich aus
subkulturellen Genreindikatoren nach und nach Indikatoren für Unkonventionalität, Individualität oder Modernität
entwickeln.
Die beschriebenen Verwendungsformen und Tendenzen
sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass in vielen Fällen
das Englische in unmarkierter Form verwendet wird. So
etwa, wenn es rein informative Funktion hat, sei es als »community language« für eine spezifische Nationalitätengruppe
(Abb. 3.4.2.55) oder als Lingua franca (Abb. 3.4.2.52) für
Adressaten aus unterschiedlichen Ländern.
Abb. 3.4.2.52: E RuhrMuseum
Abb. 3.4.2.53: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.2.54: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.2.51: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.2.55: E-Altendorf
150
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.2 ENGLISCH IN DER METROPOLE RUHR
151
3.4.3 Türkisch in der Metropole Ruhr
Insgesamt enthält das Bilddatenkorpus 1122 Zeichen mit türkischen Textpassagen.
Davon entfallen 420 Zeichen, also mehr als ein Drittel, auf den Stadtteil DU-Marxloh. Unter diesen 420 Zeichen sind 155 monolingual türkische Zeichen. Der bei weitem größte Teil der türkischen Zeichen – unabhängig davon, ob sie mono-, bi-, trioder multilingual sind – ist dem kommerziellen Diskurs zuzuordnen (insg. gut 350
Zeichen). Insofern ist es sinnvoll, die Analyse der türkischen Belege auf den kommerziellen Diskurstyp in DU-Marxloh zu begrenzen.
Im Folgenden sollen einige Beobachtungen vorgestellt werden, die sich mit den
Vorkommenskontexten, der standardsprachlichen Normorientierung und der Übersetzungspraxis beschäftigen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass das Türkische – wie
Schröder / Simsek (2010: 57) feststellen – in Deutschland einerseits »eine Sprache mit
einer lebendigen Schriftlichkeit« ist, die in »Presse- und Druckerzeugnissen, in den
Neuen Medien, in der gesellschaftlichen Kommunikation« usw. praktiziert wird. Andererseits wird das Türkische in Deutschland unter anderen Bedingungen als in der
Türkei erworben. Dabei sind folgende Spracherwerbsszenarien für den Türkischerwerb
zu unterscheiden:
»Er geschieht in der Regel parallel zu oder nach dem Erwerb der deutschen Schriftsprache, kann autodidaktisch oder auch im Elternhaus, nicht selten aber auch im schulischen oder außerschulischen Mutter- oder Herkunftssprachenunterricht oder in einem bilingualen Schulprojekt erfolgen.« (Schröder / Simsek 2010: 57)
Diese unterschiedlichen Spracherwerbsszenarien spiegeln sich auch in unseren
Daten wider, die zeigen, dass die Verfasserinnen und Verfasser der türkischen Textpassagen recht unterschiedliche Türkischkompetenzen besitzen (vgl. Cindark / Ziegler
2016).
So fällt bei einigen Bildern auf, dass die standardsprachliche Korrektheit der Angaben und Botschaften je nach Textproduzent und Adressatenkreis variiert. Das betrifft insbesondere die orthografische Ebene. Das Türkeitürkische wird seit der Sprachreform Kemal Atatürks in lateinischer Schrift geschrieben. Im türkeitürkischen
Schriftsystem gibt es zwar keine vom Lateinischen abweichenden Buchstaben, jedoch
einige Grapheme mit kleinen Zusatzzeichen, sogenannte Diakritika, wie z. B. Häkchen
und Punkte. Diese an den Graphemen angebrachten Zeichen dienen dazu, eine von
der unmarkierten Form der Schriftzeichen abweichende Aussprache anzuzeigen. Abgesehen von diesen Besonderheiten weist das türkeitürkische Schriftsystem aber eine
große Nähe zum deutschen Schriftsystem auf.
Schreibungen, die vom Schriftstandard des Türkischen
abweichen, zeigen sich beispielsweise auf einem Plakat, das
eine Silvesterfeier bewirbt und nur an Türkeistämmige adressiert ist. Gleich zweimal wird die fehlerhafte Schreibung
»süpriz« statt »sürpriz« (Überraschung) und »tombala«
statt »tombola« (Tombola, wie im Deutschen) (Abb.
3.4.3.1) verwendet. Die Werbung des Versicherungskonzerns Allianz (Abb. 3.4.3.2) ist dagegen durchweg in standardsprachlichem Türkisch gehalten und auch orthografisch
korrekt mit den türkischen Buchstaben, die im Deutschen
fehlen, geschrieben (z.B. mit einem »i« ohne Punkt in
»aynı«): »Merhaba – Allianz sizinle aynı dili konuşuyor.«
(wörtlich übersetzt: »Guten Tag – Allianz spricht dieselbe
Sprache wie Sie«). Während der Text auf dem Werbeplakat
für die Silvesterfeier offensichtlich nicht Korrektur gelesen
wurde, zeigt der Werbeslogan der Allianz, dass auf sprachliche Korrektheit sehr viel Wert gelegt wurde, indem für die
Textproduktion die Computer-Tastatur auf Türkisch eingestellt wurde.
Das Problem, dass das Türkische Schriftzeichen kennt,
die auf der deutschen Computer-Tastatur nicht zur Verfügung stehen, zeigt sich in einigen Fällen sehr deutlich: so
etwa beim Namensschild des Rechtsanwalts »MIKAIL
KARADAS«, auf dem der Nachname orthografisch abweichend mit »S« statt mit »Ş« geschrieben steht (Abb. 3.4.3.3).
Am Eingang zur Kanzlei findet sich dagegen die korrekte
Namensschreibung »KARADAŞ« (Abb. 3.4.3.4), wobei die
wortfinale »Ş« - Schreibung verdeutlichen soll, dass der
s-Laut palatal (z.B. wie in dem deutschen Wort »Spiel«) ausgesprochen wird. Die Variation der Namensschreibung kann
auch als Hinweis auf die Eindeutschung des türkischen Namens gedeutet werden, eine Tendenz, die im Migrationskontext häufig zu beobachten ist.
Konsequent zweisprachig, zweifarbig (grün für Deutsch,
rosa für Türkisch) und in vertikaler Reihenfolge (oben
deutsch, unten türkisch) verfährt ein Brautwarenladen (Abb.
3.4.3.5). Die Auswertung der Belege für türkische Personennamen zeigt, dass türkische Personennamen auch auf einsprachig deutschen Items vorkommen (z.B. Abb. 3.4.3.6,
3.4.3.7), in DU-Marxloh allerdings wesentlich seltener als in
DO-Nordstadt.
Abb. 3.4.3.1: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.2: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.3: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.4: DU-Marxloh
152
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.3 TÜRKISCH IN DER METROPOLE RUHR
153
Abb. 3.4.3.5: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.6: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.7: DU-Marxloh
154
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
In einem anderen Fall (Abb. 3.4.3.8) wird der Text zwar
konsequent auf Deutsch gehalten »Fahrschule Nazar«,
aber die dazugehörige Emblematik, und zwar das »blaue
Auge«, dem türkisch / islamischen Kulturraum entnommen.
Nazar meint so viel wie neidvoller Blick, der durch einen
entsprechenden »Abwehrzauber«, und zwar das »blaue
Auge«, abgewendet werden kann.
Direkt an Muslime wendet sich Abb. 3.4.3.9. Auf einer
Tafel im Innenraum eines Schaufensters stehen handschriftlich und mit Kreide die Gebetszeiten für das Feiertagsgebet
(9.10 h) und das Morgengebet (7.30 h).
Ein recht eigenwilliges Spiel mit semantischen Überlappungen stellt das Plakat in Abb. 3.4.3.10 dar, mit dem auf
eine Veranstaltung eines Clubs namens »Maxat« hingewiesen wird. Das Türkische kennt eigentlich kein »x«; in der Regel wird »x« mit »ks« umschrieben, wie bei »Taksi« für
Deutsch »Taxi«. »Maksat« bedeutet jedoch »Intention«, »Absicht«; und der darunter folgende Satz verleiht dann der
Werbung die entsprechende Bedeutung: »Maxat eğlence olsun« bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie »Absicht ist, zu
vergnügen bzw. Euch zu vergnügen«.
Mit Witz und einem verlockendem Angebot bewirbt
ein Friseurladen seine Dienste: Die spezifische Brautfrisur
kostet 99 €, aber für die Schwiegermutter sind diese Dienste
kostenlos »Gelin saci € 99,-«, »Kaynana bedava«. Damit
wird auf das im Türkischen recht stark ausgeprägte Konkurrenz- und Spannungsverhältnis zwischen der Braut und der
Schwiegermutter (Abb. 3.4.3.11) angespielt.
Dass die deutsche Sprache für Türkeistämmige nicht einfach
ist, illustriert Abb. 3.4.3.12 recht deutlich: »ÖZFNUNGS
ZEITEN« ist auch für Türken nicht auf einen Blick gut lesbar;
auch der Hinweis auf den Inhaber mit »IN HABER« entspricht
nicht der deutschen Orthographie, sondern der Aussprache.
Abschließend ist auf ein politisches Bild einzugehen, das
konsequent auf Kurdisch und Deutsch, aber nicht auf Türkisch gehalten ist; denn es wirbt für die Solidarität mit Kurdistan bzw. Kurden und für eine Freilassung des Kurdenführers Abdullah Öcalan. Anzunehmen ist, dass als
Adressatenkreis hier nur Deutsche und Kurden in Frage
kommen, Türken jedoch explizit ausgeschlossen werden,
weil diese in diesem spezifischen politischen Kontext als
Gegner / Feinde wahrgenommen werden, von denen keine
Solidarität zu erwarten ist (Abb. 3.4.3.13, 3.4.3.14,
3.4.3.15).
Abb. 3.4.3.8: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.9: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.10: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.11: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.12: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.13: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.14: DU-Marxloh
Abb. 3.4.3.15: DU-Marxloh
3.4.3 TÜRKISCH IN DER METROPOLE RUHR
155
3.4.4 Arabisch in der Metropole Ruhr
Abb. 3.4.4.1: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.2: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.3: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.4: DO-Nordstadt
156
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Das Arabische kommt insgesamt auf 185 Aushängen, Aufklebern, Hinweisen etc. vor
und belegt damit Rang 7. Die meisten Belege, nämlich 95, finden sich in DO-Nordstadt. Allerdings sind nur 19 dieser Belege monolingual arabisch. Das deutet darauf
hin, dass die arabischsprachige Bevölkerungsgruppe als Zieladressat zum Zeitpunkt
der Datensammlung im Jahr 2013 noch verhältnismäßig klein gewesen ist. Da die Datensammlung vor der Flüchtlingszuwanderung im Jahr 2015 erfolgte, im Zuge derer
sehr viele Geflüchtete aus Syrien und anderen arabischsprachigen Ländern nach
Deutschland gekommen sind, kann davon ausgegangen werden, dass sich die Effekte
der Flüchtlingszuwanderung im Jahr 2015 mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung
auch in einer größeren Sichtbarkeit der Sprachen der Zuwanderinnen und Zuwanderer im öffentlichen Raum zeigen werden – was in einer Follow-up-Studie zu untersuchen wäre.
Die meisten arabischen Textpassagen finden sich im kommerziellen Diskurs, wesentlich seltener im regulatorischen und transgressiven Diskurs, wie die Beispiele illustrieren. Bemerkenswert ist, dass 79 Belege auf Namen entfallen, d. h. auf Geschäftsnamen (z.B. Abb. 3.4.4.1), Namen von Ärzten (z. B. Abb. 3.4.4.2), Namen von
Buchhandlungen (z. B. Abb. 3.4.4.3), Namen von Friseuren (Abb. 3.4.4.4) und Namen von Taggern, die ihre Tags (= Pseudonyme) unautorisiert im Stadtraum anbringen (Abb. 3.4.4.5).
Arabisch wird von rechts nach links geschrieben und gelesen. Dies hat zur Folge,
dass sich auf bi, tri- und multilingualen Schildern, Aushängen, Aufklebern etc. die
Frage nach der Anordnung der verschiedenen Textelemente stellt. In einigen Fällen
wird dieses Problem dadurch gelöst, dass die einzelnen Textpassagen in lateinischer
und arabischer Schrift zentriert, also nicht rechts- und linksbündig angeordnet werden. Die Zentrierung führt zu einem harmonischeren Gesamteindruck (z.B. Abb.
3.4.4.6, 3.4.4.7). Ähnliche Tendenzen wurden auch von Spolsky / Cooper(1991) und
Shohamy (2006) mit Blick auf die Verwendung von Hebräisch, Arabisch und Englisch
in der Bottom-up- wie auch Top-down-Beschilderung in Israel festgestellt.
Hinweise zur Mülltrennung werden typischerweise
durch einen langen und detaillierten deutschsprachigen Text
gegeben, der von ikonischen Darstellungen begleitet wird.
Darüber hinaus findet sich etwa in Abb. 3.4.4.8 lediglich jeweils ein kurzer einzeiliger Satz in vier anderen Sprachen
(Türkisch, Polnisch, Russisch, Arabisch), darunter die letzten beiden offenbar wegen der nicht-lateinischen Schriften
in handschriftlicher Form. Damit wird ganz deutlich die Irrelevanz der entsprechenden Adressaten signalisiert.
Durchweg sind bei einer Vielzahl von Bildern mit arabischer Beschriftung grammatische und orthografische Fehler,
wie etwa fehlende oder überflüssige Buchstaben, zu erkennen. Gelegentlich werden Texte und Ausdrücke direkt übersetzt – so etwa bei »translations« in Abb. 3.4.4.9, obwohl das
auf Arabisch nicht im Plural übersetzt werden würde. Dass
dies hier von einem Übersetzerbüro gemacht wird, ist besonders pikant. Der Übersetzer lehnt sich dabei eher an Dialekt
als an das Hocharabische an. Denkbar ist als Erklärung, dass
dadurch die Kundennähe eher gegeben ist; denn solche Büros wenden sich ja nicht explizit an eine hochgebildete arabische Kundschaft, die möglicherweise diese Dienste gar
nicht in Anspruch nehmen würde.
Manchmal wird das Arabische nur durch eine islamische
Kalligraphie angedeutet, die mit dem Inhalt nichts zu tun
hat. So heißt etwa ein türkischer Juwelierladen »Altin
TUĞRA Kuyumcusu« (Abb. 3.4.4.10). Der Text wird begleitet von arabischen Zeichen, die nur die religiöse Eröffnungsformel »Bismillahirrahmanirrahim« (Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen) wiedergeben.
Ebenso bezuglos steht beispielsweise in Abb. 3.4.4.11
unter dem deutschen und türkischen Text »Holzkohlengrill
Restaurant – Döner Izgara ve Corba Salonu« (Döner Grill
und Suppensalon) ein Schild mit einem Text in arabischen
und lateinischen Buchstaben »Layali Al-Scham«. Wörtlich
übersetzt heißt das »Damaskus-Nächte«, wird aber rechts
und links von einer Fahne des Libanon (!) begleitet.
Abb. 3.4.4.5: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.6: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.7: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.8: BO-Langendreer
Abb. 3.4.4.9: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.10: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.11: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.12: DO-Nordstadt
3.4.4 ARABISCH IN DER METROPOLE RUHR
157
Abb. 3.4.4.13: DO-Nordstadt
Ausgesprochen interessant ist die Ankündigung der »11.
Konferenz der Palästinenser in Europa« (Abb. 3.4.4.12).
Während die überwiegenden Textpassagen in arabischer
Schrift gehalten sind, wird bei »Brüssel - Belgien« der Name
der Stadt und des Landes in lateinischen und arabischen
Buchstaben geschrieben, das Bundesland NRW aber nur in
lateinischen. Möglicherweise könnte die Schreibung in arabischen Buchstaben (und die Ausschreibung in Vollversion)
eher verwirren, weil diese Abkürzung auch für Zuwanderer
nunmehr als Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs etabliert
ist.
Höchst problematisch aus religiöser Sicht, ja fast gotteslästerlich, erscheint die Darstellung einer koranischen Sure
(in Kufi-Schrift, einem altarabischen kalligrafischen Schrifttyp), und zwar der Eröffnungssure Fatiha in Abb. 3.4.4.13.
Hier fehlt ein Buchstabe (der Buchstabe Elif ); für hochreligiöse Personen stellt das eine »große Sünde«, eine Verfälschung des Koran, dar.
Gerade Verbote bzw. eindeutige negierende Botschaften
müssten eigentlich sehr klar in ihrer Botschaft sein. Schaut
man sich jedoch Abb. 3.4.4.14 an (»Kein Bargeldzugriff
durch Mitarbeiter möglich«), so gilt das für den arabischen
Adressatenkreis offensichtlich nicht. Während auf Deutsch,
Türkisch, Russisch, Englisch, Französisch und Polnisch die
Aussage durchaus klar ist und piktografisch unterstützt wird,
ist der arabische Text völlig unverständlich und grammatisch
fehlerhaft; die Verbindungen zwischen den Wörtern sind
nicht nachvollziehbar.
Hin und wieder erschließen sich Namen von Läden nur
für Eingeweihte bzw. Muslime in ihrer Bedeutung. So bezeichnet sich beispielsweise ein marokkanischer Lebensmittelladen als »Zamzam«, was für geweihtes Wasser aus Mekka
steht und dem man Heilwirkungen zuschreibt (Abb.
3.4.4.15).
Schließlich fällt auf, dass ein Großteil der Bilder mit arabischen Texten auch türkische Texte aufführt. Deutlich wird
hier, dass diese Schilder an eine Klientel adressiert sind, die
ähnliche Vorlieben und Bedürfnisse (Halal-Lebensmittel, religiöse Orte wie Moscheen) sowie kulturelle Praktiken (Beschneidung etc.) haben.
Abb. 3.4.4.15: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.4.14: DO-Innenstadt
158
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.4 ARABISCH IN DER METROPOLE RUHR
159
3.4.5 Polnisch in der Metropole Ruhr
Für das Polnische liegen in der Datenbank insgesamt 143 Items vor (das sind 0,6 %
des Korpus). In der Rangliste der 15 häufigsten Sprachen in der Metropole Ruhr steht
Polnisch an neunter Stelle.
Die doch sehr geringe Menge an polnischsprachigem Bildmaterial in der Datenbank im Vergleich zu der hohen Zahl an polnischen Staatsangehörigen in allen vier
Fallstudienstädten hat anfangs sehr überrascht. Die türkischsprachigen Zuwanderer
sind im Gegensatz dazu mit 1122 Bilddaten (4,4 % des Korpus) fast zehn Mal so häufig vertreten und prägen das visuelle Bild des Ruhrgebietes vor allem in den nördlichen
Stadtteilen umso mehr (vgl. Kap. 3.3.1, 3.3.2 und 3.3.3). Dort wird (allerdings mit einigen Ausnahmen) die These bestätigt, dass je größer eine Migrantengruppe ist, desto
sichtbarer auch ihre Sprache in der Öffentlichkeit ist. Die geringe Fallzahl polnischer
Texte im öffentlichen Raum deckt sich mit der lang andauernden Migrationsgeschichte der polnischen Zuwanderer und ihrem Ruf als »unsichtbare und unauffällige«
(Nagel 2009: 8) Migranten. Nicht ohne Grund wird die Integrationsgeschichte der
Ruhrpolen oft als eine »integration success story of the American kind« (Bachem-Rehm
2013: 106) beschrieben. Nagel (2009: 10) sieht »die geografische Nähe Polens, das
Fehlen einer intellektuellen Polonia-Elite, die Heterogenität der Polonia wie auch die
ökonomische Motivation der Migration nach Deutschland« als Ursachen des Zustands
der kaum sichtbaren, jedoch sehr großen Migrationsgruppe der polnischsprachigen
Zuwanderer. Der Begriff »Polonia« umfasst in Nagels Studie »sämtliche Auslandspolen, die polnische Diaspora oder Emigration, unter Einbeziehung des gesamten Personenkreises, der sich zur polnischen Kultur bekennt« (Nagel 2009: 14).
Die Karte in Abbildung 3.4.5.3 stellt die Verteilung der 143 polnischen Items in
den vier Fallstädten visuell dar und zeigt die recht heterogene Verteilung der polnischen Items in den Städten und Stadtteilen.
In welchen Diskurstypen, d. h. kommunikativen Zusammenhängen, wird das Polnische im öffentlichen Raum
der Ruhrmetropole verwendet? Für den infrastrukturellen
Diskurs liegen sechs Items vor, die Polnisch enthalten. Innerhalb der polnischen Daten bildet das einen Anteil von
4 %. Abb. 3.4.5.1 gibt ein Beispiel für den infrastrukturellen
Diskurstyp und zeigt die Beschriftung eines Fahrkartenautomaten am Dortmunder Hauptbahnhof. In sechs Sprachen
(Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch und
Polnisch) wird gebeten, die Münzen in den Schlitz einzuwerfen. Polnisch steht dabei an letzter Stelle. Wie so häufig fehlen die diakritischen Zeichen, und auch orthographisch
weist die Aufforderung eine Abweichung auf: Das Substantiv müsste »bilon« lauten.
Regulatorische und kommemorative Schilder in polnischer Sprache gibt es keine, der künstlerische Diskurs ist mit
einem Item vertreten. Häufiger begegnen transgressive Zeichen. Sie bilden mit knapp 10 % den zweitgrößten Bereich
innerhalb der mit Polnisch verschlagworteten Items. Als Beispiel mag Abb. 3.4.5.2 dienen. In BO-Hamme bietet eine
Frisörin ihre Dienste in einer in polnischer Sprache verfassten Anzeige an. Der Aushang ist transgressiv an einer Straßenlaterne angebracht. Er hat sozialsymbolische Bedeutung,
denn die Verfasserin bestimmt durch die Sprachwahl von
monolingual Polnisch eine feste Adressatengruppe. Die Anzeige erhält einen informellen Charakter durch die Wahl der
Du-Form und die Nennung lediglich des Vornamens Magda
zum Abschluss. Diese Elemente können als Ausdruck einer
starken Identifikation mit der polnischsprachigen Bevölkerung verstanden werden und auf ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Bevölkerungsgruppe hinweisen.
Abb. 3.4.5.1: Infrastrukturelles Zeichen
Abb. 3.4.5.2: Transgressives Zeichen
160
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.5 POLNISCH IN DER METROPOLE RUHR
161
Abb. 3.4.5.3: Polnische Zeichen
in der Metropole Ruhr
kommerziell (122)
Polnisch
transgressiv (15)
Deutsch
infrastrukturell (6)
Englisch
künstlerisch (1)
Arabisch
Mehrsprachigkeit
Dortmund
Nordstadt
Marxloh
Essen
Duisburg
Innenstadt
162
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Hamme
Langendreer
Hörde
Altendorf
Bochum
Rüttenscheid
3.4.5 POLNISCH IN DER METROPOLE RUHR
163
Kommerzieller Diskurs
Anzahl der Items (N = 122)
in %
Personennamen
82
67 %
Kommerzielle Information (z.B. Werbung)
16
13 %
Kommerzielle Infrastruktur
12
10 %
Kommerzielle Regulation
11
9%
Sonstiges
1
1%
Abb. 3.4.5.4: Vorkommenskontexte innerhalb des kommerziellen Diskurses
Abb. 3.4.5.5: Kommerzieller Diskurs
Abb. 3.4.5.6: Kommerziell-infrastrukturelles
Zeichen
Abb. 3.4.5.7: Kommerziell-regulatorische
Zeichen
Abb. 3.4.5.8: Kommerziell-regulatorische
Zeichen
164
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Der kommerzielle Diskurstyp ist mit 85 % am stärksten
vertreten. Die Tabelle in Abb. 3.4.5.4 zeigt, in welchen Kontexten das Polnische innerhalb des kommerziellen Diskurses
in der Öffentlichkeit gebraucht wird.
Abb. 3.4.5.4 zeigt, dass zwei Drittel der Belege aus polnischen Personennamen bestehen, die wiederum in unterschiedlichen Kontexten (an Arztpraxen, Anwaltskanzleien
usw.) vorkommen. 13 % der Belege entfallen auf den kommerziellen Diskurstyp. Abbildung 3.4.5.5 zeigt ein Werbeplakat der polnischen Biermarke »Tyskie«, aufgenommen in
DU-Marxloh, das mit der Schlagzeile: »Schmeckt wie Urlop
in der Heimat!« wirbt. Die Schlagzeile spricht – neben inhaltlichen Aspekten – durch die Verwendung des polnischen
Substantivs »Urlop« (eine assimilierte Entlehnung aus dem
Deutschen) die Adressatengruppe der Polnischsprachigen im
Ruhrgebiet an. Sie spielt auf den Heimatbesuch vieler Polenstämmigen in den Ferien an und wirbt mit der Konklusion,
dass mit dem Konsum von Tyskie-Bier das Heimatgefühl ins
Ruhrgebiet geholt werden könne. Auf diese Weise wird eine
»emotionale Gestimmtheit und eine Verbindung des Produkts mit […] positiven Werten« hergestellt (Janich 2013:
145). Ebenso spricht der deutschsprachige Slogan »Polnisch
für Kenner« explizit diese (zweisprachige) Konsumentengruppe an. Als Bildelement und wichtiger Blickfang wird die
polnische Nationalflagge (weiß, rot) gewählt; invers wurden
die Flaggenfarben rot und weiß als Schriftfarbe der Schlagzeile, des Slogans und des Produktnamens verwendet. Die
Funktion des Polnischen in dieser Werbung liegt also in erster Linie in kultureller Authentizität sowie einer wirksamen
Zielgruppenansprache.
Bei den kommerziell-infrastrukturellen Items (10 %)
dominieren vor allem Schilder privater Busunternehmen,
die Fahrten nach Polen anbieten. Dabei handelt es sich meistens um Fahrplanaushänge, die an den Hauptbahnhöfen angebracht sind (Abb. 3.4.5.6) und durch die Wahl der polnischen Sprache eine explizite Adressatengruppe ansprechen
sollen.
Unter kommerziell-regulatorischen Schildern (9 %)
sind solche Zeichen zu verstehen, die das Handeln im kommerziellen Bereich, wie zum Beispiel in Geschäften, regulieren, z. B. durch Verbotsschilder oder Warnhinweise. Bei unserem polnischen Material besteht dieser Bereich
ausschließlich aus Aushängen mit einem mehrsprachigen
Warnhinweis für potentielle Einbrecher, wie beispielsweise
in Abbildung 3.4.5.7 und 3.4.5.8. Dabei wurde der deutsche Ausgangstext in die anderen Sprachen (u.a. Polnisch)
komplett übersetzt. Interessant sind die Auswahl und die
Reihenfolge der Sprachen. Neben Englisch (jeweils an zweiter Stelle), Französisch und Spanisch (die hier vermutlich als
Brückensprachen fungieren) kommen die Migrantensprachen Polnisch, Türkisch, Tschechisch, Russisch, Ungarisch,
Italienisch, Griechisch, Portugiesisch und Rumänisch vor.
Die Frage ist, warum gerade diese spezifische Sprachenwahl
getroffen wurde und wieso die Sprachen nicht in alphabetischer Reihenfolge genannt werden.
Auch Namen sind Teil der visuellen Sprachenlandschaft
und Indikatoren für die Mehrsprachigkeit einer Stadt oder
Region (vgl. Edelmann 2009). Familiennamen polnischer
Herkunft werden wegen der schon seit über einem Jahrhundert andauernden Migrationsgeschichte als eine spezifische
Besonderheit des Ruhrgebiets angesehen. Nicht ohne Grund
hieß der Duisburger »Tatort«-Kommissar Horst Schimanski.
Die Endung mit dem Suffix »ski« gilt im Ruhrgebiet als typisch (Menge 2000: 121). Bekannt ist, dass es bei den Familiennamen polnischer Herkunft recht unterschiedliche
Schreibweisen gibt, da manche dieser Namen eingedeutscht
oder an die deutsche Sprache angeglichen wurden. So wurde
aus »Szymański« beispielsweise »Schimanski«. Einige der
Gründe für einen Antrag auf Namensänderung – dazu gehört sowohl der Namenswechsel als auch die bloße Abänderung des bisherigen Namens in Laut oder Schrift – waren neben dem Wunsch nach Integration und Anpassung die
Schwierigkeit der deutschen Umgebung mit der Schreibung
bzw. Aussprache. Namensänderungen fanden aber auch
nicht selten als Reaktion auf die Stigmatisierung und Diskriminierung von Seiten der Umgebung statt.
Polnische Familiennamen leiten sich zumeist von Gattungsnamen, Vornamen oder geografischen Namen ab und
können sich durch Suffixe von den Ableitungsbasen unterscheiden, z. B. »ic«, »ewicz«, »ski«, »ek« etc. (Rymut 2006).
Rund ein Drittel (28 Vorkommen) der in unseren Daten enthaltenen Familiennamen polnischer Herkunft enden
mit dem slawischen Suffix »ski« bzw. »sky«, »zky« oder »zki«.
Die Familiennamen »Kaminski« und »Kowalski« beispielsweise gehörten zu den fünf häufigsten Familiennamen polnischer Herkunft im Ruhrgebiet (Kunze / Nübling 2012).
Unsere Datenbank deckt Namen wie »Kopinski«, »Wojciechowski«, »Zurawski«, »Marcinowski« oder »Ratynski« ab.
Die Zugehörigkeit bestimmter Namen oder Namentypen zu
mehr oder weniger eng begrenzten Regionen kann einen Effekt der Identifikation bewirken.
Weitere, häufig auftauchende Suffixe in unserer Datenbank sind »ek« (6 Vorkommen) wie in den Familiennamen
»Stanek«, »Motzek« oder »Michalek«, »icz« (5 Vorkommen)
wie in den Familiennamen »Jaskiewicz«, »Witkiewicz« oder
»Samulewicz« und »zyk« (3 Vorkommen) wie in den Familiennamen »Sniezyk« oder »Marusczyk«.
Abb. 3.4.5.9: Familiennamen polnischer Herkunft am Anwaltsbüro
Abb. 3.4.5.10: Familiennamen polnischer Herkunft an einer Arztpraxis
3.4.5 POLNISCH IN DER METROPOLE RUHR
165
3.4.6 Ruhrdeutsch
Unsere Untersuchung der visuellen Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr beschränkt sich nicht nur auf das Nebeneinander von Deutsch und Fremdsprachen, die
so genannte »äußere Mehrsprachigkeit«, sie umfasst auch die »innere Mehrsprachigkeit« (Wandruszka 1975) des Deutschen, d. h. das Vorkommen nicht-standardsprachlicher Varietäten. Hierzu zählen regional gebundene Sprachformen wie Dialekt und
Regiolekt, aber auch gruppenspezifische Verwendungsformen wie die Jugend- und
Szenesprache (Ziegler / Schmitz / Eickmans 2017).
Unser Hauptinteresse gilt in diesem Zusammenhang dem Ruhrdeutschen, das in
der Sprachlandschaft des Ruhrgebiets in erster Linie als hörbare – also gesprochene – Sprache lebt, daneben aber auch sichtbar ist, vor allem dort, wo es um Fußball
geht, aber auch in der Szenesprache der Ruhrpott-Jugendlichen und, wenn auch in geringerem Maße, in der kommerziellen Werbung.
Einleitend sollen zunächst die Grunddaten für die Verbreitung der Nonstandard-Belege in der Linguistic Landscape des Ruhrgebietes kurz veranschaulicht werden.
3.4.6.1 Nonstandard-Deutsch in der
Linguistic Landscape des Ruhrgebiets
Die Karte (3.4.6.1.1) macht deutlich, dass die insgesamt nur 110 Nonstandard-Belege
(= 0,4 %) sehr ungleichmäßig verteilt sind. Das fast völlige Fehlen in DU-Marxloh und
E-Altendorf und die Konzentration auf die Stadtviertel südlich der A 40 – einzige Ausnahme ist DO-Nordstadt – spricht dafür, dass geschriebener Nonstandard vorwiegend
(oder nur) von deutschen Muttersprachlern eingesetzt wird. Teile der alteingesessenen
Ruhrgebietler pflegen augenscheinlich einen selbst-ironisierenden Lokalstolz, indem
sie Fragmente aus der Regionalsprache des Ruhrgebiets in spielerischer Weise visuell
sichtbar werden lassen. Ähnlich wie die fremdsprachigen Texte ihren Sprecherinnen
und Sprechern ein Gefühl der Beheimatung geben, vermitteln auch die Nonstandard-Texte ihren jeweiligen Urhebern und Lesern ein Gefühl, hier zu Hause zu sein.
Die relativ starke Präsenz in der Dortmunder Nordstadt widerspricht dem nicht. Sie
erklärt sich leicht aus der Tatsache, dass hier rund um den Borsigplatz die Heimat des
BVB Borussia ist, dem mehr als die Hälfte der hier zu lokalisierenden Nonstandardbelege thematisch zugeordnet werden können.
Der vorwiegend emotional-spielerische Bezug wird auch in der Verteilung der
Nonstandardformen nach Diskurstypen deutlich. Wie nicht anders zu erwarten, findet sich die Mehrheit – 86 der 110 Belege – auf Stickern und in Graffitis, d. h. im transgressiven Diskurstyp. Die übrigen Belege entfallen bis auf wenige Ausnahmen auf den
kommerziellen Diskurs, da auch die Werbung ihren Figuren gelegentlich gern Ruhrdeutsch in den Mund legt.
Auf den ersten Blick mag die niedrige Gesamtzahl überraschen, da zumindest das
Ruhrdeutsche gefühlt im Alltag stärker präsent zu sein scheint. Denkt man genauer
darüber nach, relativiert sich dieser Eindruck jedoch. Denn Regional- und Gruppensprachen beschränken sich meistens auf den mündlichen Gebrauch, so dass ihr schriftliches Vorkommen im öffentlichen Raum aus dem Rahmen des Erwarteten fällt.
Abb. 3.4.6.1: DO-Nordstadt
166
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.6.1 NONSTANDARD-DEUTSCH IN DER LINGUISTIC LANDSCAPE DES RUHRGEBIETS
167
Abb. 3.4.6.1.1: Verteilung nonstandardsprachlicher Formen in der Linguistic Landscape der
Metropole Ruhr
transgressiv (86)
kommerziell (19)
infrastrukturell (4)
anderer Diskurstyp (1)
Dortmund
Nordstadt
Marxloh
Hörde
Hamme
Duisburg
Altendorf
Langendreer
Essen
Bochum
Rüttenscheid
Innenstadt
168
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.6.1 NONSTANDARD-DEUTSCH IN DER LINGUISTIC LANDSCAPE DES RUHRGEBIETS
169
3.4.6.2 Ruhrdeutsch als
Regionalsprache
Man begegnet einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Benennungen für die dem
Ruhrgebiet eigene Alltagssprache. Während sich der Volksmund gern emotional ansprechender Formen wie »Ruhrdialekt, Ruhrpöttisch oder Revierdeutsch« bedient, gebraucht die Sprachwissenschaft eher die Begriffe »Ruhrdeutsch oder Regionalsprache
Ruhr« (Menge 2013).
Die »Regionalsprache Ruhr« ist eine regional markierte Form der standardnahen Alltagssprache, ein Regiolekt, der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der
Basis der alten Dialekte der Region entwickelt und diese inzwischen vollständig verdrängt hat. Als Dialektlandschaft wurde das Ruhrgebiet durch eine markante Sprachgrenze geteilt. Der Westen mit den Städten Duisburg, Oberhausen, Mülheim gehört
Niederrheinisch
Westfälisch
Hamm
Recklinghausen
Gelsenkirchen
Oberhausen
Bottrop
Herne
Dortmund
Duisburg
Essen
Bochum
Mülheim
a. d. Ruhr
Hagen
Abb. 3.4.6.2.1: Die dialektgeografische Gliederung des Ruhrgebiets
170
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
zum niederrheinischen (niederfränkischen) Sprachraum, der
Osten mit den Städten Essen, Bochum, Dortmund zum
westfälischen (niederdeutschen) Sprachraum (vgl. Abb.
3.4.6.2.1).
Viele der sprachlichen Besonderheiten, die für die heutige gesprochene Sprache des Reviers charakteristisch sind,
lassen sich als Relikte dieser alten Basisdialekte erklären (vgl.
Mihm 1997, Becker 2002, Menge 2003). Im Alltag des
Ruhrgebiets spielen die ursprünglichen Dialekte heute keine
Rolle mehr, weder als gesprochene Sprache noch als Teil der
visuellen Sprachlandschaft noch im Bewusstsein der Bevölkerung. »In der jüngeren Generation ist mittlerweile oftmals
kein Bewusstsein mehr davon vorhanden, dass im Ruhrgebiet einmal Niederdeutsch gesprochen wurde – »Plattdeutsch« wird als Sprache weit entfernter Küstenregionen
angesehen.« (Elmentaler / Rosenberg, 2015: 28) In der Datenbank des Projekts »Metropolenzeichen« findet sich denn
auch nur ein Beispiel für die ursprüngliche Mundart der Region, und zwar in Form eines Vereinsnamens, in dem der
alte Dialekt gleichsam konserviert wurde: Die 1872 in der
Bauernschaft Dilldorf (heute Essen-Kupferdreh) gegründete
Karnevalsgesellschaft trägt den Namen »Lot gohn as et geht«
(»Lass gehen wie es geht«) (Abb. 3.4.6.2.2).
Was für das Nonstandarddeutsche insgesamt gilt, gilt in
noch höherem Maße für das Ruhrdeutsche: Im öffentlichen
Raum des Ruhrgebiets tritt es visuell kaum in Erscheinung.
Von der Zahl der Belege her ist es kaum vorhanden, von der
Größe her kaum wahrnehmbar. Selbst bei großzügiger Auslegung können höchstens 70 der über 25.000 Bildbelege
dem Ruhrdeutschen zugeordnet werden, was einem prozentualen Anteil von 0,3 % entspricht. Mehr als zwei Drittel
dieser Belege sind Sticker oder andere Aufkleber an Hauswänden oder Laternenpfählen, die im Format zwischen einer Postkarte und einem DIN-A 4 Blatt variieren, also allein
wegen ihrer geringen Größe nicht zu den prominent wahrgenommenen visuellen Sprachvorkommen gerechnet werden können. Ausnahmen sind saisonal vorkommende großformatige Werbekampagnen.
Die geringe Sichtbarkeit der Regionalsprache drückt
sich auch in der Tatsache aus, dass die Einstellung der Ruhrgebietsbewohner zur Sichtbarkeit des Ruhrdeutschen in der
Metropole Ruhr nur in zwei der 120 Passantenbefragungen
zur Sprache kommt. Auffällig ist zudem, dass diese spontanen Bewertungen ausschließlich von älteren Informanten,
d. h. männlichen Informanten, die über 50 Jahre alt sind,
stammen. Beide, der eine aus Bochum, der andere aus Essen,
assoziieren mit der Sichtbarkeit des Ruhrdeutschen ein
Gefühl der Beheimatung. Der Bochumer Informant antwortet auf die Frage, warum er die sichtbare Präsenz des Ruhrdeutschen gut findet: »Ich fühl mich hier als Heimischer, ich
bin hier geboren und ich finde das ist eine tolle Heimat.«
Der Essener Interviewpartner bemerkt »diesen spielerischen
Umgang der Ruhris mit ihrem Dialekt« und verweist als Beispiel auf T-Shirts mit dem Spruch des Bochumer Autors
Frank Goosen »Woanders is auch scheiße«. Damit wird eine
ambivalente Einstellung zum Ruhrgebiet erkennbar. Im Gegensatz zum ersten Informanten, der eine ungebrochen positive Einstellung zum Ruhrdeutschen und zum Ruhrgebiet
zu erkennen gibt, zeigt der Essener Informant eine selbstironische Einstellung gegenüber dem Ruhrdeutschen und dem
Ruhrgebiet.
Eine ähnlich selbstironische Einstellung offenbart auch
der Sticker mit der Aufschrift »THE NORDSTADT Dem Spießer sein Alptraum« (Abb. 3.4.6.2.3). Der Aufkleber spielt
auf das Image der Dortmunder Nordstadt als Stadtteil von
ausgeprägter Diversität mit einem niedrigen Anteil deutscher Bevölkerung an. In Anlehnung an das Firmenlogo des
kalifornischen Sportartikelherstellers »THE NORTH FACE«
gibt er sich mit dem englischen Auftakt weltläufig-internationalistisch, um dann mit dem Zusatz » Dem Spießer sein
Alptraum« eine gemeinhin als falsches Deutsch stigmatisierte Possessivkonstruktion folgen zu lassen, die als ein typisches – wenn auch nicht exklusives – Merkmal des Ruhrdeutschen gilt.
Thematisch lassen sich die meisten Verwendungsbeispiele
des Ruhrdeutschen den Bereichen Freizeitkultur – insbesondere Fußball – und Werbung zuordnen. Einen besonderen Aspekt stellt die Verwendung regionalsprachlicher Elemente in
der Szenesprache der jugendlichen Subkultur dar.
Abb. 3.4.6.2.2: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.6.2.3: DO-Nordstadt
3.4.6.2 RUHRDEUTSCH ALS REGIONALSPRACHE
171
3.4.6.3 Ruhrdeutsch und Fußball
Im Bereich der Freizeitkultur spielt neben Musik, Kabarett und ähnlichen Events der
Ruhrgebietsfußball eine Hauptrolle. Am stärksten sind dabei die beiden Spitzenclubs
des Reviers, Borussia Dortmund und Schalke 04, präsent; aber auch die Fans des VfL
Bochum und von Rot Weiß Essen thematisieren sich im transgressiven Diskurs. Die
entsprechenden Aufkleber werden einerseits von den Anhängern der Vereine produziert und gehören somit zur Fankultur, andererseits greifen Kabarettisten und Comedians das Thema in ihren Texten und Liedern auf, für die sie mit Aufklebern im transgressiven Bereich geschickt Werbung betreiben.
Beispiele für Sticker und Aufschriften von Fangruppen sind die Abbildungen
3.4.6.3.1 bis 3.4.6.3.3, auf denen sich die Ultra-Fangruppen von Borussia Dortmund,
VfL Bochum und Schalke 04 zu Wort melden, in allen Fällen mit Einbeziehung der
Regionalsprache – sei es durch die Wahl emotional geladener Wörter des Ruhrdeutschen wie »Kumpel und Malocher« (Abb. 3.4.6.3.1 »Kumpel- und Malocherclub
Gelsenkirchen«), mit denen die besondere Volksnähe beschworen werden soll, sei es
durch die Schreibweise des Wortes »Pott« in MELTING POTT, mit der das Ruhrgebiet
(der »Pott«) zu einem ganz besonderen Schmelztiegel wird (3.4.6.3.2 »MELTING POTT
ULTRAS VFL«), sei es durch die Ansprache mit der sprechsprachlichen Form »HÖMMA«
für »Hör mal« (3.4.6.3.3, »HÖMMA mein Name ist – ULTRAS DO«). Die professionell betriebene Fanpage von RWE lockt schließlich mit einem Sticker (Abb. 3.4.6.3.4) auf ihre
Website »www.jawattdenn.de«, wo es weitere Rubriken gibt mit Titeln wie »Ich sach
ma, Weißte noch? oder »Jawattlachstedenn?«. Darüber hinaus finden sich vereinsübergreifende Fan-Botschaften an den Laternenpfählen wie die Forderung »Kein
Zwanni – Fussball muss bezahlbar« sein, wobei der Ruhrgebietsbezug in diesem Fall
noch durch das Bild des Kabarettisten Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier verstärkt wird (Abb. 3.4.6.3.5).
Auch aktuell greifen Kabarettisten und Comedians gern beim Thema Fußball
zum Ruhrdeutschen. Der in unserer Datenbank vielfach vertretene Sticker mit der
Aufschrift »Boah ey, boah ey, Borussia geh‘ nie vorbei!« (Abb. 3.4.6.3.6) gibt den
Beginn des Refrains eines inzwischen in die offizielle Liste der BVB-Gesänge aufgenommenen Liedes wieder, das aus der Feder des Kabarettduos »Die zwei vonne Südtribüne« (Lollo und Immi alias Franziska Mense-Moritz und Martin Eickmann)
stammt. Der komplette Refrain des vollständig in Ruhrdeutsch abgefassten Liedes lautet: »Boah ey, Boah ey Borussia geh‘ nie vorbei. Datt Schwatte unterm Nagel und datt
Gelbe von Ei.« Auch der Aufkleber »SCHALKE ISS HEILBAR« (Abb. 3.4.6.3.7) kommt
aus der Dortmunder Kabarettszene. Er wirbt für das gleichnamige Programm des Kabarettisten Bruno »Günna« Knust – und die so beschrifteten Merchandiseartikel.
172
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.4.6.3.1: BO-Hamme
Abb. 3.4.6.3.2: BO Hauptbahnhof
Abb. 3.4.6.3.3: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.3.4: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.6.3.5: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.3.6: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.3.7: DO-Hörde
3.4.6.3 RUHRDEUTSCH UND FUSSBALL
173
3.4.6.4 Ruhrdeutsch in der Sprache
der jugendlichen Subkultur
Abb. 3.6.4.1: DO-Hörde
Abb. 3.4.6.2: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.3: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.4: DO-Nordstadt
174
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Die Sprache der jugendlichen Subkultur, auch Szenesprache genannt, macht vielfältigen Gebrauch von nichtstandardsprachlichen Elementen (Scholten 1988). Besonders
die Regionalsprache spielt dabei eine wichtige Rolle, indem sie den vermittelten Botschaften oft eine emotional-wertende Aussage hinzufügt. Es handelt sich dabei zumeist
um kleinformatige Sticker mit Werbebotschaften aus der Musik-, Graffiti- und Tattooszene.
In der Musikszene zielen die lokalen Punk- und Hip-Hop-Bands mit ruhrdeutschen Elementen auf eine als positiv wahrgenommene bzw. vermittelte regionale Identität der angesprochenen Jugendlichen. Beispiele sind die Essener Punk-Bands Polly
Rocket Shows, die mit der affirmativen Aussage »Punk is datt Geilste« für sich wirbt
(Abb. 3.6.4.1), und Pervert People mit dem Songtitel »Deine Mudda« (Abb. 3.6.4.2).
Die weit verbreiteten »Deine Mudda«-Sprüche gehen zurück auf Praktiken ritualisierter verbaler Duelle, die ihren Ursprung in der afro-amerikanischen Jugendkultur in
den 1960er Jahren haben. Diese Praktik fand in den späten 1990er Jahren über die
Hamburger Hip-Hop-Szene Eingang in die deutsche Jugendkultur. Mit dem auf das
Niederdeutsche zurückgehenden Ersatz von »t« durch »d« und der Endung -a statt -er
fügt sich die Form problemlos in das Ruhrdeutsche ein. Inzwischen haben die »Deine
Mudda«-Sprüche den Hip-Hop-Kontext längst verlassen und werden auch in anderen
Bereichen benutzt wie etwa in der Werbung.
Gerade der Ersatz der Endung »-er« durch »-a« im Schriftbild kann als ein vielfach
verwendetes Merkmal für die bewusste Wiedergabe gesprochener Alltagssprache gelten. Weitere Beispiele hierfür sind etwa die Namen der beiden Hip-Hop-Bands
»Supakool« aus Essen und »Ligakriega« aus Dortmund (Abb. 3.6.4.3 & 3.6.4.4). Eine
Kneipe in der Dortmunder Nordstadt bietet auf ihrem Angebotsschild die in der Region gern getrunkene Mischung aus Altbier und Cola unter dem Namen »KREFELDA«
an (Abb. 3.6.4.5).
Sticker aus dem Umfeld der Graffiti- und Tattoo-Shops
markieren zwei andere Geschäftsbereiche der jugendlichen
Subkultur, in denen ruhrdeutsche Elemente häufig für die
Schaffung eines emotionalen Bezugs zur Region sorgen.
Der Tattoo-Shop »POTT BOIZ« (Abb. 3.6.4.6) spielt mit
seinem Namen und der gewählten Wild-West-Schriftform
auf das Ruhrgebiet, den »Pott«, als den »Wilden Westen«
Deutschlands an. Name und Form beinhalten neben der regionalen auch eine soziale Markierung als »wild« bzw. nonkonformistisch, die durch die Hip-Hop-Grafie »BOIZ« für
»boys« noch verstärkt wird.
Weit verbreitet sind auch die von verschiedenen Graffiti-Stores vertriebenen Sticker, die die Leser mit den Formeln
»HÖMMA mein Name ist« bzw. »Tach mein Name« ist ansprechen und darunter Platz für weitere kreative Aufschriften
bieten (Abb. 3.6.4.7 & 3.6.4.8). Die in der Schreibung
»Tach« statt »Tag« zum Ausdruck gebrachte Spirantisierung
des [g] im Auslaut und kontrahierte Formen wie »HÖMMA«
sind (auch) ruhrdeutsche Merkmale, die als regionalsprachliche Adressierungsformen fungieren. Als Alternative zu dem
nur im Auftakt ruhrdeutschen »HÖMMA mein Name ist« werden inzwischen auch Sticker mit der vollständig ruhrdeutschen Form »HÖMMA! Dat is« angeboten.
Auch für freie Textaufschriften mit ruhrdeutschen Elementen gibt es eine Reihe von Beispielen. Sie sprechen den
Leser oft mit der auch über das Ruhrdeutsche hinaus verbreiteten Interjektion »ey« an, die eine unpersönlichen Anrede darstellt: »Ey Bulle mach ma Platz da« oder »Ey wieso
is hier `ne Säule« (Abb. 3.6.4.9 & 3.6.4.10). Ein Laden in
Bochum, der unter dem Motto »Wir sticken nach IHREN
Vorstellungen« Aufnäher anbietet, wirbt in seinem Schaufenster u. a. mit einem Aufnäher »BO EY JAU EY WA EY«, der
den inflationären Gebrauch dieses »ey« ironisiert (Abb.
3.6.4.11 und Abb. 3.6.4.12).
Abb. 3.4.6.5: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.6: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.7: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.8: BO-Langendreer
Abb. 3.4.6.9: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.10: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.11: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.6.12: DO-Nordstadt
3.4.6.4 RUHRDEUTSCH IN DER SPRACHE DER JUGENDLICHEN SUBKULTUR
175
3.4.6.5 Ruhrdeutsch in der Werbung
Abb. 3.4.6.5.1: BO-Hamme
Abb. 3.4.6.5.2: BO-Langendreer
Abb. 3.4.6.5.3: E-Altendorf
176
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Werbung, die in spezieller Form auf die Region zielt, bedient sich häufig auch der Regionalsprache, um eine positive Identifizierung bei den Rezipienten der Werbung zu
bewirken. Nicht selten sind es saisonale Kampagnen, die mit großflächiger Werbung
auf die beworbenen Produkte hinweisen. Ein Beispiel aus der Projektdatenbank ist die
Plakataktion der Deutschen Bahn: »Mit der Bahn zum Karneval – dat is prima!« (Abb.
3.4.6.5.1), wobei »dat is prima« nicht nur als Ruhrdeutsch, sondern allgemein als
nordwestdeutsche Alltagssprache gelten kann.
Die eigentlich aus der jugendlichen Subkultur stammenden »Deine Mudda«-Sprüche (siehe oben) werden inzwischen auch in anderen Zusammenhängen verwendet,
etwa in der Werbung für Dienstleistungen und in der Parteienwerbung. So warb der
Online-Bestelldienst Lieferando mit dem Spruch: »Deine Mudda kocht! Du bestellst
online…« (Abb. 3.4.6.5.2). Die Partei Bündnis90 / Die Grünen irritierte im Wahlkampf 2013 mit dem Plakatslogan »Meine Mudda wird Chef«, der »in Richtung Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Frauenquote zielt«, wie die Partei seinerzeit erläuternd hinzufügte (Abb. 3.4.6.5.3).
Spezifischer auf das Ruhrgebiet zielte die – saisonal außerhalb unseres Erhebungszeitraums – über mehrere Jahre von der Ruhr Tourismus GmbH in allen Revierstädten
durchgeführte Kampagne für die Ruhr.Topcard, mit der man bei vielen Freizeit- und
Kultureinrichtungen freien oder ermäßigten Eintritt bekommt. Den Figuren der großflächigen Plakate wurden dabei ruhrdeutsche Sätze in den Mund gelegt wie »Ker, der
Oppa is ’n echten Weichspüler…!« (Abb. 3.4.6.5.4). Vielen Essenern wird auch die gigantische Werbekampagne noch in Erinnerung sein, bei der die Deutsche Telekom
dem Kabarettisten Herbert Knebel 2010 ruhrdeutsche Sätze in den Mund legte wie
»Boh glaubse Essen, getz gibt’s dat Fernsehen vonne Zukunft mit ohne Aufpreis. Ab
nache Telekom!« (Abb. 3.4.6.5.6)
Beispiel für eine lokale, mittelständische Werbeaktion ist der Aufsteller eines Duisburger Bäckers für die neue Brotkreation »Ruhrpottler« (Abb. 3.4.6.5.5). Die Schrift,
die an alte Schildermalerei erinnert, weckt Assoziationen wie traditionell, heimatlich
und handgemacht, wobei die Assoziation »Heimat« durch die Abbildung bekannter
Industriedenkmäler des Ruhrgebiets im Hintergrund verstärkt wird.
Abb. 3.4.6.5.4: Großflächige Plakatwerbung
der Ruhr Tourismus GmbH 2015
Abb. 3.4.6.5.5: DU-Innenstadt
Abb. 3.4.6.5.6: Großflächige Plakatwerbung der Deutschen Telekom 2010
3.4.6.5 RUHRDEUTSCH IN DER WERBUNG
177
3.4.7 Code-Switching
Mit Code-Switching wird eine Sprachpraxis bezeichnet, bei der innerhalb eines Gesprächs oder auch innerhalb eines Satzes die Sprache gewechselt wird (vgl. Riehl 2016:
25). Es handelt sich dabei um eine alltägliche Praxis von mehrsprachigen Sprecherinnen und Sprechern, die situativ bedingt sein kann, etwa wenn sich die Beteiligtenkonstellation in einem Gespräch ändert, oder kommunikativ-strategisch bedingt ist, etwa
wenn ein Modalitätswechsel, d. h. ein Wechsel von der ernsten Kommunikation in die
Scherzkommunikation, markiert werden soll. In der Forschung wird Code-Switching
in der Regel im gesprochensprachlichen Kontext untersucht (vgl. Blom / Gumperz
1972), da es ein typisches Phänomen der Mündlichkeit ist. Unsere Daten zeigen jedoch, dass der Wechsel zwischen einer Sprache A und einer Sprache B auch in der geschriebenen Sprache vorkommt, zum Beispiel in der Werbung, da diese oft
konzeptionell mündlich verfasst ist bzw. die Inszenierung mündlicher Kommunikationspraktiken bewusst einsetzt (vgl. Janich 2013: 40 – 44), um Assoziationen zu einer
Bevölkerungsgruppe und ihrem Sprachgebrauch oder auch zu einer spezifischen Region bzw. zu einem spezifischen Land herzustellen.
Bei der linguistischen Beschreibung lassen sich verschiedene Arten von Code-Switching unterscheiden. Sie werden im Folgenden kurz vorgestellt.
a) Code-Switching an Satz- oder Teilsatzgrenzen
(intersententiales Code-Switching)
Typisch für den Sprachwechsel an Teilsatzgrenzen ist die
Werbung des Telekommunikationsunternehmens Ay Yildiz,
das günstige Handytarife insbesondere für Telefonate in die
Türkei anbietet. Das Telekommunikationsunternehmen Ay
Yildiz ist in seinem Angebot speziell auf die Zielgruppe der
Türkeistämmigen in Deutschland ausgerichtet, indem günstige Tarife in türkische und deutsche Netze beworben werden. Da die Adressatinnen und Adressaten meistens zweisprachig sind, d. h. Deutsch und Türkisch beherrschen, setzt
auch die Werbung in Form von Ethnomarketing beide Sprachen ein. Die Werbung können also nur diejenigen verstehen, die Deutsch und Türkisch beherrschen. Der Werbeslogan von Ay Yildiz arbeitet mit beiden Sprachen, indem vom
Deutschen ins Türkische gewechselt wird, und zwar an der
Teilsatzgrenze. Durch den Wechsel vom Deutschen ins Türkische werden beide Identitätsfacetten – die deutsche und
die türkische – markiert. Gleichzeitig wird der für die gruppeninterne Kommunikation der türkeistämmigen Migranten typische bilinguale Sprachgebrauch hervorgehoben (vgl.
Cindark 2010, Cindark / Ziegler 2016, Keim 2008). Die
Werbeplakate befinden sich in E-Altendorf (Abb. 3.4.7.1)
einem Stadtvietel mit einem hohen Anteil türkeistämmiger
Bevölkerung, und E-Rüttenscheid (Abb. 3.4.7.2), das als
Einkaufs- und Szeneviertel auch viele türkeistämmige Besucher anzieht.
Auch die nächsten Beispiele (Abb. 3.4.7.3 bis 3.4.7.7)
zeigen intersententiales Code-Switching und sind typische
Belege dafür, dass Code-Switching an Satzgrenzen sehr häufig in der Werbung beim Gebrauch englischer Slogans
verwendet wird. Die Slogans umfassen meistens englischsprachige Bezeichnungen für Produkteigenschaften und
Werte (vgl. Janich a. a.O.: 159). Dabei werden nicht nur
Substantive aus dem Englischen übernommen (Entlehnungen, s. u.), sondern ganze Sätze und / oder Teilsätze. Das
Englische hat dann die Funktion, Internationalität und Modernität zu vermitteln oder einen Überraschungseffekt zu
erzielen (vgl. Janich a. a.O.).
Abb. 3.4.7.2: E-Rüttenscheid Übersetzung: »..., kann dich keiner aufhalten«
Abb. 3.4.7.3: DO-Hörde
Abb. 3.4.7.4: DO-Hörde
Abb. 3.4.7.5: DO-Hörde
Abb. 3.4.7.6: DU-Innenstadt
Abb. 3.4.7.7: DU-Innenstadt
Abb. 3.4.7.1: E-Altendorf Übersetzung: »Rede, mit wem du willst, und zwar ausgiebig«
178
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.7 CODE-SWITCHING
179
b) Code-Switching innerhalb eines Satzes
(intrasententiales Code-Switching)
Abb. 3.4.7.8: DU-Innenstadt Übersetzung:
»Willkommen in unserer Welt«
Abb. 3.4.7.9: BO-Langendreer
Abb. 3.4.7.10: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.7.11: DU-Innenstadt
Abb. 3.4.7.12: BO-Hamme
Abb. 3.4.7.13: DO-Hörde
Code-Switching kann nicht nur an Satz- und Teilsatzgrenzen, sondern auch innerhalb eines Satzes erfolgen. Bei dieser
Art von Code-Switching wird mitten im Satz die Sprache gewechselt, wie die Werbung der Telefongesellschaft Al Yidiz
zeigt (Abb. 3.4.7.8). Der Wechsel betrifft hier nur ein einziges Wort, und zwar die türkische Begrüßungsform
»Hoşgeldin«, die in den ansonsten deutsch formulierten Slogan eingefügt wurde.
Intrasententiales Code-Switching liegt auch im Fall des
TUI-Werbeslogans vor. Hier werden Elemente aus den Sprachen Deutsch und Englisch verwendet. Der Werbeslogan
beginnt auf Deutsch und wechselt an der Stelle von »designed« ins Englische, wobei der Wechsel typografisch durch
den Wechsel von der Groß- zur Kleinschreibung und die
Änderung der Schriftgröße ausgezeichnet wird: »MEIN URLAUB designed by TUI« (Abb. 3.4.7.9).
c) Funktionales Code-Switching
Code-Switching in der Schriftlichkeit kann auch funktional
motiviert sein. Blom / Gumperz (1972) zufolge hat Code-Switching vor allen Dingen eine Kontextualisierungsfunktion. Danach verwenden Mehrsprachige Code-Switching als eine wichtige Strategie, mit der Interpretationshilfen
zum Verständnis einer Äußerung gegeben werden können.
Das Werbeplakat der Grünen (Abb. 3.4.7.10) ist ein Beispiel
für funktionales Code-Switching: Es soll gezeigt werden,
dass das Kind auf dem Plakat nicht nur Deutsch, sondern
auch Englisch beherrscht, indem es den Inhalt der direkten
Rede zum Teil auf Englisch, zum Teil auf Deutsch (»Hello
Kita«) wiedergibt und dabei die englische Begrüßungsform
»hello« verwendet. Der vorangestellte Begleitsatz »Ich sag«
und der Fragesatz »Und du?« sind dagegen ausschließlich auf
Deutsch realisiert. Mit dem Code-Switching soll das Thema
»Mehrsprachigkeit« markiert und deutlich gemacht werden,
dass unter der Regierung der Grünen Kinder in der Kita
mehrsprachig erzogen werden würden.
d) Entlehnungen
Abb. 3.4.7.14: BO-Hamme
180
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.4.7.15: DO-Hörde
In der Linguistik wird diskutiert, ob es sich bereits um Code-Switching handelt, wenn nur ein Wort aus einer anderen
Sprache (= Entlehnung) übernommen wird (vgl. Riehl 2016:
27). Dabei lässt sich zwischen nicht etablierten Entlehnungen (z.B. Abb. 3.4.7.11: englisch »winterwonderland«,
Abb. 3.4.7.12: italienisch »rustica«, »Fantastico«) und etablierten bzw. integrierten Entlehnungen (z.B. Abb. 3.4.7.13:
»surfen«, Abb. 3.4.7.14: »Stylings«, Abb. 3.4.7.15: »Party«,
»Service«, Abb. 3.4.7.16: »Link«, »Newsletter«, »Code«,
»Smartphone«, »scannen«) unterscheiden. Häufig wird die
lautliche Einpassung der Wörter der einen Sprache in die
Äußerung der anderen Sprache als entscheidendes Merkmal
herangezogen (vgl. z. B. Grosjean 2008). Wird das betreffende Wort gemäß der Aussprache der Gastsprache ausgesprochen, dann handelt es sich um Code-Switching. Wird es
entsprechend der Lautung der Basissprache artikuliert, dann
handelt es sich um eine Ad-hoc-Entlehnung. Diese Unterscheidung ist aber oft sehr unklar und bei geschriebener
Sprache schwierig. Ein weiterer Unterscheidungsfaktor
könnte deshalb sein, ob das betreffende Wort bereits morphologisch in das System der Basissprache integriert ist (z.B.
Abb. 3.4.7.13: »surfen«, Abb. 3.4.7.16: »scannen«) oder wie
gebräuchlich es bereits in der Basissprache ist (Gebrauchsfrequenz, vgl. Riehl 2004: 31). Bei englischen Übernahmen
kann man sich daran orientieren – so hat es unsere Projektgruppe gemacht –, ob das Wort im Duden aufgeführt wird:
Wird das Wort im Duden genannt, so handelt es sich um ein
bereits in der deutschen Sprache etabliertes Wort, und die
Verwendung wird deshalb nicht als Code-Switching aufgefasst (z.B. Abb. 3.4.7.13, Abb. 3.4.7.14, Abb. 3.4.7.15, Abb.
3.4.7.16).
Abb. 3.4.7.16: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.7.17: BO-Langendreer
Abb. 3.4.7.18: E-Hauptbahnhof
Abb. 3.4.7.19: E-Hauptbahnhof
e) Code-Switching im Wort
Schließlich gibt es noch den wortinternen Sprachwechsel
wie in den Beispielen Abb. 3.4.7.17, Abb. 3.4.7.19 und Abb.
3.4.7.20. Alle Beispiele zeigen die kreative Bildung gemischter Wortformen mit der Funktion, durch Wortspiel mit
fremdsprachigem Material originell und ansprechend zu
sein, eine Voraussetzung für erfolgreiche Werbung. So fordert beispielsweise ein Friseur in BO-Langendreer seine
Gäste zum Eintritt in den Salon mit »Haireinspaziert« auf
(Abb. 3.4.7.17). Am Essener Hauptbahnhof wirbt der öffentliche Verkehrsanbieter EVAG mit der deutsch-italienischen Sprachmischung »fahrtissimo« (Abb. 3.4.7.18) und
»expresso« (Abb. 3.4.7.19). Abbildung 3.4.7.20 zeigt ein
Café in E-Rüttenscheid, das sich (französisch-englisch) »cafélicious« nennt. In der neueren soziolinguistischen Forschung werden solche Fälle sprachlicher Hybridität auch als
»polylanguaging« (Jørgensen et al. 2011) bezeichnet, um zu
betonen, dass die Kombination sprachlichen Materials auch
Sprachgrenzen überschreiten kann, und zwar so, dass sich
die neu gebildeten Wortformen – wie die Beispiele zeigen – nicht mehr eindeutig einer Sprache zuordnen lassen.
Abb. 3.4.7.20: E-Rüttenscheid
3.4.7 CODE-SWITCHING
181
3.4.8 Sprachliche Rebellion
a) Aufkleber auf Verkehrsschildern
Urbane öffentliche Räume in westlichen Industriegesellschaften wimmeln nur so von
kleinen unerlaubt angebrachten Aufklebern mit Botschaften aller Art. Kaum ein Laternenpfahl, Stromverteilerkasten oder Papierkorb bleibt davon verschont. Vermeintlich unscheinbar, doch allgegenwärtig machen sie aufmerksam auf kleine Läden, Kneipen, Musikbands, Veranstaltungen, Fußballclubs, politische Gruppierungen und
Einzelpersonen. In unserem Material gibt es 5 150 solche Aufkleber, das sind 52 % aller transgressiven (= unerlaubt angebrachten) Zeichen und damit ein Fünftel sämtlicher Belege. Wie in Kap. 3.1.6.1 dargestellt finden sich darunter gut 2 000 Tags einzelner Writer (Abb. 3.4.8.1), über 500 textlose Bildchen (Abb. 3.4.8.2) und rund 600
politische Aufkleber (Abb. 3.4.8.3). Die restlichen rund 2 000 Belege verteilen sich zu
jeweils etwa einem Drittel auf Aufkleber, die lediglich einen schlichten Eigennamen
zeigen (Abb. 3.4.8.4), solche, die nur einen als Logo gestalteten Eigennamen zeigen
(Abb. 3.4.8.5), und solche, die außer Eigennamen und Logo noch eine Adresse
und / oder einen werbenden Slogan zeigen (Abb. 3.4.8.6).
182
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Die meisten Aufkleber sind kaum handtellergroß oder
kleiner und gehen im Zeichengetümmel der Straßen und
Plätze unter; sie bilden sozusagen das stets anwesende und
deshalb kaum noch wahrgenommene optische Hintergrundrauschen öffentlicher Räume. Ein Teil dieser Aufkleber – so
auch die hier abgebildeten – mischt sich aber subversiv in
den offiziellen Diskurs der Straßenverkehrsregelung ein und
nutzt Verkehrsschilder parasitär, um mehr Aufmerksamkeit
zu gewinnen. Unsere Datenbank dokumentiert 569 Aufkleber auf Verkehrsschildern; das sind 11 % aller 5 150 transgressiven Aufkleber. 233 davon (41 %) wurden auf die Vorderseite der Schilder geklebt, der Rest auf die Rückseite. Wo
man Sprachen erkennen kann, handelt es sich fast ausschließlich um Deutsch und / oder Englisch.
Wie alle transgressiven Zeichen konzentrieren sie sich
an bestimmten Stellen: Ein Aufkleber kommt selten allein,
sondern zieht andere an. Allein in Rüttenscheid und DUInnenstadt kommen zusammen zwei Drittel aller Aufkleber
auf Verkehrsschildern vor. Die dort besonders hohen Anteile
an transgressiven Zeichen überhaupt (45,5 % bzw. 41,3 %
gegenüber durchschnittlich 38,7 %; s. Kap. 3.1.4) schlagen
sich hier auch in besonders hohen Anteilen an Aufklebern
auf Verkehrsschildern nieder (28,4 % bzw. 35,2 % gegenüber
durchschnittlich 22,8 %). In Nordstadt verhält sich das anders: Dem mit 54,3 % höchsten Anteil an transgressiven
Zeichen steht mit 21,1 % ein leicht unterdurchschnittlicher
Anteil an Verkehrsschilder-Aufklebern gegenüber. Umgekehrt weisen Marxloh und Altendorf, die besonders wenig
transgressive Zeichen haben (15,8 % bzw. 17,0 %), relativ
noch sehr viel weniger Aufkleber auf Verkehrsschildern auf
(nämlich 2,4 % bzw. 6,2 %).
Abb. 3.4.8.1: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.2: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.8.3: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.8.4: DU-Innenstadt
Abb. 3.4.8.5: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.8.6: DU-Innenstadt
3.4.8 SPRACHLICHE REBELLION
183
In den zuletzt genannten drei Bezirken Nordstadt,
Marxloh und Altendorf wohnen besonders viele Menschen
mit Migrationshintergrund. Hier greift man offensichtlich
sehr viel weniger stark in den offiziellen Diskurs ein als andernorts, inbesondere in Rüttenscheid und DU-Innenstadt,
also zwei Bezirken, die stark von bürgerlichen Einkaufsmöglichkeiten und Restaurants geprägt sind.
In Rüttenscheid und DU-Innenstadt konzentrieren sich
auch – wie in der ebenfalls überdurchschnittlich verkehrsreichen Dortmunder Nordstadt – besonders viele der 233 Aufkleber, die offensiv auf die Vorderseite von Verkehrsschildern
geklebt wurden (Abb. 3.4.8.7). Fast keine findet man in
Marxloh und Hörde, wo offenbar wenig für Aufkleber offenes Publikum erwartet wird. Auch Menge und Orte der Aufkleber prägen also das Stadtbild einzelner Bezirke in jeweils
charakteristischer Weise.
b) Graffiti als subversive Gegenmacht?
An den vielen kleinen Aufklebern stören sich Passanten
kaum. Es scheint mehr Müll in der Landschaft zu liegen, als
dass Aufkleber den Blick überhaupt auf sich zögen. Doch an
Graffitis scheiden sich die Geister: Ist das Vandalismus,
Kunst oder politische Aktion?
Kathrin Schneider (2012: 154 f.) meint, dass Writer sich
»klar gegen eine Reglementierung des öffentlichen Raumes«
positionieren, um ihn sozusagen wiederzubeleben; und »mit
ihren Handlungen stellen sie ein Gefühl der Zugehörigkeit
sogar im anonymen, kommerzialisierten Stadtraum her.« So
seien Graffitis »nicht nur Raumaneignung im Sinne eines
territorialen Anspruches«, sondern sie verändern den Raum
(S. 147). Oder, mit den Worten von Doris Tophinke (2016:
411): »Graffiti-Herstellen ist eine urbane Praktik, die die
Stadt nicht nur als Aktionsraum nutzt, sondern die zur Konstruktion des städtischen Raumes selbst wesentlich beiträgt.«
184
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.4.8.7: Verortung von 233 Aufklebern
auf der Vorderseite von Verkehrsschildern
Bilder (Anzahl: 233)
Punkte markieren die Fundorte von Fotos. Je dunkler die Farbe,
desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen Umkreis gemacht.
Nordstadt
Dortmund
Marxloh
Duisburg
Innenstadt
Essen
Altendorf
Hamme
Hörde
Langendreer
Bochum
Rüttenscheid
3.4.8 SPRACHLICHE REBELLION
185
Dabei hat sich die Rolle der Graffiti-Kultur geändert. In
ihrer frühen Phase (nach den jugendlichen Revolten der
1960er / 70er Jahre) deutet Jean Baudrillard (1978: 25) Graffiti so: »Ein neuer Typ der Intervention in die Stadt, nicht
mehr als Ort der ökonomischen und politischen Macht,
sondern als Zeit / Raum der terroristischen Macht der Medien, der Zeichen und der herrschenden Kultur.« Graffiti-Buchstaben/-Wörter, meint er damals, bedeuteten nichts,
seien nicht einmal Eigennamen, »sondern symbolische Matrikel, gemacht, um das gewöhnliche Benennungssystem aus
der Fassung zu bringen« – »als Einwurf, als Anti-Diskurs, als
Absage an jede syntaktische, poetische und politische Elaboriertheit, als kleinstes, radikales, durch keinerlei organisierten Diskurs einnehmbares Element« (S. 26). »Es ist diese
Leere, die ihre Kraft ausmacht.« (S. 29 f.). »Sie allein sind
wild, denn ihre Botschaft ist gleich Null.« (S. 37) »Ihre Revolte ist zugleich Auflehnung gegen bürgerliche Identität
und Anonymität.« (S. 38)
Zumindest für die jüngere Gegenwart (also die 2010er
Jahre) gilt das aber nicht mehr. Vor allem auf der Grundlage
von Writer Storys, also schriftlichen Äußerungen von Graffiti-Schreibern, diagnostiziert Tophinke (2016: 425), das
Herstellen von Graffiti ziele nicht (wie Baudrillard es sah)
»auf eine kämpferische Aneignung des urbanen Raums«,
sondern: »Hier dominiert eher das Selbstverständnis einer
kreativen, dynamischen urbanen Spaßkultur« (S. 426). Auch
wenn sich Hauseigentümer über die Verunzierung ihrer Immobilie ärgern (Abb. 3.4.8.9), dürfte die große Mehrheit der
transgressiven Zeichen eher spielerisch und selbstexpressiv
als kämpferisch gemeint sein (Abb. 3.4.8.10 – 3.4.8.13).
»Das Bild einer aggressiv-destruktiven Graffiti-Kultur,
die in gepflegte städtische Zonen einbricht, ist in diesem
Sinne überzeichnet.« (Tophinke 2016: 426) Nichtsdestoweniger beanspruchen die Schreiber, Maler, Sprayer und Kleber transgressiver Zeichen eine große Zahl meist kleiner Flächen im öffentlichen Raum für sich, die in ihrer Gesamtheit
ein deutliches Gegengewicht gegenüber den noch häufigeren
und meist größeren kommerziellen Zeichen bilden. Zumindest die Aufmerksamkeit der Passantinnen und Passanten im
öffentlichen Raum wird heftig umkämpft. Manche zahlen
für die beanspruchten Flächen, andere nicht.
Und ein kleiner Teil der transgressiven Zeichen drückt
auch inhaltlich Macht aus, umkämpft sie oder fordert sie
ein, wie die übereinander geschriebenen Parolen in Abb.
3.4.8.14 zeigen.
186
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.4.8.7: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.8: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.9: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.8.10: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.8.11: E-Rüttenscheid
Abb. 3.4.8.12: DU-Innenstadt
Abb. 3.4.8.13: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.14: DO-Nordstadt
3.4.8 SPRACHLICHE REBELLION
187
c) Überall ACAB? – Ein Spaziergang durch die
Slogan-Landschaft
188
Abb. 3.4.8.15: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.16: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.8.17 DO-Nordstadt
Abb. 3.4.8.18: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.8.19: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.8.20: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.21: DO-Hauptbahnhof
Abb. 3.4.8.22: DO-Nordstadt
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Viele Graffitis, Tags und Aufkleber richten sich nur an eine
bestimmte Szene und sind für Außenstehende kaum verständlich. Das häufigste Beispiel (und dadurch doch allgemeiner bekannt) ist die Losung »A.C.A.B.« mit oder ohne Abkürzungspunkte für »All Cops Are Bastards«. Dieser Slogan
geht möglicherweise auf die britische Gefängniskultur der
1920er Jahre zurück; jedenfalls findet sich die Abkürzung oft
in Tätowierungen britischer Gefangener. Seit den späten
1970er Jahren wurde sie von zahlreichen Jugendsubkulturen
übernommen, später auch von Neonazis (lt. deutscher und
englischer Wikipedia, eingesehen am 31.3.2017).
Vielerlei Abwandlungen und Ironisierungen sind üblich, bei jedem zweiten Fall auch in Graffitis und Aufklebern
in der Metropole Ruhr. Mal erscheint er mit Frage- oder
Ausrufzeichen versehen (z.B. Abb. 3.4.8.15), mal davor und
dahinter mit »SS« verstärkt (Abb. 3.4.8.16), mal mit einem
Polizeiauto illustriert (z.B. Abb. 3.4.8.17). Oft wird »ACAB«
auch in die Ziffernfolge »1.3.1.2« übersetzt (Abb. 3.4.8.18),
die wiederum in einen fiktiven Anruf »110? 1312!« eingebaut (z.B. Abb. 3.4.8.19). Mal wird die Abkürzung als »Acht
Cola Acht Bier« aufgelöst (Abb. 3.4.8.20), öfter als »a cab«
neben gelbem Taxi ironisiert (z.B. Abb. 3.4.8.21). Ein Aufkleber wendet die witzige Auflösung »All Colours Are Beautiful« erneut ins Politische um, indem das zugehörige Foto
Polizisten hinter Schutzschilden zeigt, auf die offenbar Farbbeutel geworfen wurden (z.B. Abb. 3.4.8.22).
Unsere Untersuchungsgebiete nehmen zusammen gut
einen halben Quadratkilometer Fläche ein. »ACAB« finden
wir hier genau 87 Mal, rein rechnerisch also drei Mal pro
zwei Hektar. Eingeweihte erkennen außerdem 25 Mal die
kontextlose Ziffernfolge »1312« und einmal falsch »1213« in
diesem Sinne. Fast alle 113 Belege sind recht klein: meist
zwischen dem Format eines Smartphones und dem eines
Schulheftes, manchmal auch zwischen allerlei anderen Zeichen versteckt; nur einer füllt gut zwei Quadratmeter.
Ein normaler Passant muss also eine Weile laufen und
die Augen gut aufhalten, um ein »ACAB« zu entdecken. Wenn
dieses Akronym dennoch oft als allgegenwärtig empfunden
wird, dann wohl deshalb, weil es im öffentlichen Raum die
am häufigsten wiederholte illegitime Buchstabenfolge ist.
Außerhalb unseres Materials findet man sie oft sehr viel
größer und meist gemalt oder gesprüht an Autobahnen, Brücken und Schallschutzwänden. In unseren auch durch Fußgänger stark belebten innerstädtischen Gegenden kleben an
Masten, Schildern, Stromverteilerkästen usw. 46 dafür vorgedruckte Aufkleber und 7 mit »ACAB« handbeschriebene
Postformulare; die anderen Fälle wurden auf leere oder beschriftete Flächen aller Art gesprüht (7), mit Stift geschrieben (12) oder mit Pinsel gemalt (15) – und zwar meist
schwarz, sonst weiß, blau und selten rot.
Auffälligerweise konzentrieren sich alle in Dortmund
(43) und Bochum (29). Am Dortmunder Hauptbahnhof
liest man »ACAB« zwei Mal, in DO-Nordstadt 41 Mal, etwa
fünfzehn Kilometer südwestlich davon in BO-Langendreer
15 Mal, weitere acht Kilometer westlich am Bochumer
Hauptbahnhof 8 Mal, weitere zwei Kilometer nordwestlich
in BO-Hamme 6 Mal. Fünf Fälle finden sich in E-Rüttenscheid, drei in E-Altendorf, zwei in DU-Innenstadt, einer in
DU-Hauptbahnhof, keiner in DO-Hörde und DU-Marxloh. Das mag Zufall sein. Vermutlich jedoch ist dieser angelsächsische Slogan unter türkischen Migranten weniger bekannt und kommt deshalb in E-Altendorf und DU-Marxloh,
wo es ohnehin ausgesprochen wenige transgressive Zeichen
gibt, kaum bzw. gar nicht vor. Vor allem aber: Wenn man
erstens bemerkt, dass 20 der 24 eben noch nicht berücksichtigten »1312«-Zeichen an einem einen Kilometer langen
Fußweg entlang der Dorstener Straße in BO-Hamme stehen
(und zwar fast alle in ähnlicher Schrift handgemalt), und
wenn man zweitens berücksichtigt, wie auch andere Zeichen
(z.B. Tags) im Raum verteilt sind, dann spricht viel für die
Annahme, dass transgressive Zeichen sich epidemisch ausbreiten: Ein Zeichen zieht in der Nähe gleichartige nach
sich – sei es, dass ein und derselbe Urheber sein Revier durchstreift, sei es, dass er Konkurrenten oder Nachahmer anregt.
Steigen wir einmal am S-Bahnhof BO-Langendreer
West aus. Hellrot gesprüht auf dunkelroter Wand leuchtet
uns »ACAB« entgegen, versehen mit einem Fragezeichen (Abb.
3.4.15 und Abb. 3.4.23). 120 Meter weiter auf der Ümminger Straße stoßen wir auf ein mit »ACAB« übermaltes Notariatsschild (Abb. 3.4.8.24).
Wir gehen ein paar Schritte zurück und biegen rechts
in die Alte Bahnhofstraße ein. Nach 70 Metern an der Ecke
Leifacker lesen wir auf einem blauweißschwarzen Aufkleber an einem Laternenmast in der oberen Zeile »Gegen
Abb. 3.4.8.23: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.24: BO-Langendreer
3.4.8 SPRACHLICHE REBELLION
189
Polizeigewalt«, in der Mitte das Akronym und darunter die
Auflösung »All cops are bastards« (Abb. 3.4.8.26). Wiederum jeweils 70 Meter weiter gegenüber den nächsten beiden Straßenecken klebt jeweils der gleiche Zettel auch an solchen Masten (Abb. 3.4.8.27 und Abb. 3.4.8.28). Ein paar
Schritte weiter gegenüber bei Hausnummer 188 steht »ACAB«
samt Tags auf einem Stromverteilerkasten (Abb. 3.4.8.29).
Jeweils 30 Meter weiter folgen dann wiederum an Laternenmasten der vierte und fünfte schon bekannte Aufkleber (Abb. 3.4.8.30 und Abb. 3.4.8.31). Gut 50 Meter weiter bei Hausnummer 177 klebt ein schon etwas verwitterter
A.C.A.B.-Aufkleber samt Internet-Adresse, bei der man allerlei
antifaschistisches Material kaufen kann (Abb. 3.4.8.32). Am
gleichen Platz gegenüber hängen zwei weitere einschlägige
Aufkleber (Abb. 3.4.8.33 und Abb. 3.4.8.34). Auf einem
530 Meter langen Fußweg ist uns ACAB also elf Mal begegnet. 150 Meter weiter in der Wittenbergstraße finden wir
noch einen ACAB-Aufkleber mit der zusätzlichen Aufschrift
»No justice no peace / fight the police« (Abb. 3.4.8.35).
Wenn wir jetzt noch einmal links abbiegen, sehen wir in
180 Metern das dreizehnte ACAB in Langendreer, nämlich
das zehnte Exemplar des schon bekannten Aufklebers, diesmal auf der Rückseite eines Schildes (Abb. 3.4.8.36), und auf
dem Rückweg zum S-Bahnhof dann rechter Hand noch ein
nicht vollendetes »ACA« (Abb. 3.4.8.37).
Ganz ähnliche ACAB-Spaziergänge könnten wir auch am
Bochumer Hauptbahnhof unternehmen oder in Bochum-Hamme (fünf von sechs Belegen auf 300 Metern der
Dorstener Straße), reichhaltiger noch in Dortmund-Nordstadt. Allein die 17 gelben »a cab«-Taxis dort (Abb. 3.4.8.38)
begleiten einen 600 Meter langen Fußweg an der Münsterstraße. Und 20 der 26 »1312«-Zeichen finden sich in Bochum-Hamme.
Kurzum: Ein ACAB kommt selten allein, doch in der
Masse innerstädtischer Zeichen geht der Spruch auch schnell
unter.
Abb. 3.4.8.26: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.27: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.28 BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.29: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.30: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.31: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.32: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.33: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.34: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.35: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.36 BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.37: BO-Langendreer
Abb. 3.4.8.37
Straß
e
Abb. 3.4.8.23
nder
Abb. 3.4.8.24
Lünse
Abb. 3.4.8.26
Abb. 3.4.8.27
Üm
min
ger
Str
aße
Abb. 3.4.8.36
Abb. 3.4.8.29
Abb. 3.4.8.30
Abb. 3.4.8.28
Abb. 3.4.8.31
Abb. 3.4.8.32
Abb. 3.4.8.33
Abb. 3.4.8.34
Abb. 3.4.8.38: DO-Nordstadt
Abb. 3.4.8.35
Witte
gs
nber
traße
Al
te
Ba
hn
ho
fs
st
ra
ße
Abb. 3.4.8.25: Weg durch BO-Langendreer
190
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.4.8 SPRACHLICHE REBELLION
191
3.5 Namen als Teil der visuellen
Sprachlandschaft
Abb. 3.5.1: DO-Nordstadt
Abb. 3.5.2: DO-Nordstadt
Wer bei einem Gang durch die Stadt einmal bewusst darauf achtet, erkennt schnell,
wie groß der Anteil der Eigennamen an der visuellen Sprachlandschaft ist. Namen begegnen uns in der Linguistic Landscape in einer Vielzahl von Typen: »Firmen- und
Geschäftsnamen« in den Einkaufszonen informieren über und werben für Waren und
Dienstleistungen, »Restaurant- und Gaststättennamen« laden zur Einkehr ein, »Vorund Familiennamen« auf Klingelschildern dienen der Orientierung, sagen aber auch
etwas über die Herkunft eines Bewohners oder seiner Vorfahren. »Straßennamen«
schließlich orientieren nicht nur, sondern erinnern in den meisten Fällen auch an Personen, Orte oder historische Ereignisse.
In ihrer Gesamtheit sind die Eigennamen (lat. »nomina propria«) ein wichtiger
Bestandteil unserer Sprache; sie bilden zusammen mit den Appellativen oder
Gattungsbezeichnungen (lat. »nomina appellativa«) den substantivischen Wortschatz.
Während Appellative wie Mensch, Hund oder Tisch sich auf eine ganze Gattung oder
Klasse von Personen, Tieren oder Objekten beziehen, bezeichnen Eigennamen wie
»Schimanski, Pizzeria Venezia, Evonik, Willi-Brandt-Platz, Xanten oder Italien« einzelne, individuell existierende Lebewesen, Orte oder Objekte. Zwischen beiden Kategorien gibt es Übergänge. So können Appellativa zu Eigennamen werden wie etwa die
Berufsbezeichnungen »Müller, Schneider, Koch,« die zu weit verbreiteten Familiennamen wurden. Umgekehrt können Eigennamen zu Gattungsbezeichnungen werden,
wenn etwa die ursprünglichen Produktnamen »Tempo« und »Tesafilm« als allgemeine
Bezeichnungen für Papiertaschentücher bzw. Klebestreifen verwendet werden.
Institutionsnamen
8,1 % (405)
Toponyme
10,6 % (513)
Vereinsnamen
In der bisherigen Linguistic-Landscape-Forschung ist der Bedeutung der Namen
recht wenig Beachtung geschenkt worden. Im Rahmen unseres Projekts zur visuellen
Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr haben wir auch den Namen den ihnen gebührenden Platz eingeräumt. Die Datenbank bietet hierzu eine umfangreiche Materialbasis, da alle Bildbelege, die Namen enthalten, mit entsprechenden Schlagworten
versehen wurden. In der Summe enthalten 11 702 oder 46 % der 25 504 geokodierten
Bilder unseres Korpus Eigennamen. Die Verteilung auf die verschiedenen Namentypen (Abbildung 3.5.3) zeigt, dass die dem kommerziellen Bereich zuzuordnenden Namentypen – Firmennamen, Geschäftsnamen, Gastronomienamen – mit rund 63 % fast
zwei Drittel des Gesamtbestands ausmachen.
Die verschiedenen Namentypen sind auch wichtige und leicht erkennbare Indikatoren der Mehrsprachigkeit einer Stadt oder Region. Setzen wir die Bilder unserer Datenbank, die Namen enthalten, in Relation zu den Sprachen, so zeigt sich erwartungsgemäß eine große Übereinstimmung mit der Gesamtstatistik der häufigsten Sprachen
in der Linguistic Landscape des Ruhrgebiets. Betrachten wir die acht Sprachen mit
mehr als 100 Namenbelegen, so ergibt sich die in Abbildung 3.5.6 dargestellte Reihenfolge.
Im Folgenden sollen vier Namentypen näher betrachtet werden, deren Präsenz
und Wahrnehmung für die Linguistic Landscape unter verschiedenen Gesichtspunkten
von besonderem Interesse ist: die Familiennamen, Geschäftsnamen, Gastronomienamen und Straßennamen.
Abb. 3.5.5: E-Rüttenscheid
Polnisch
1,4 % (101)
Arabisch
1,9 % (134)
Spanisch
2,1 % (144)
16,7 % (837)
Gastronomienamen
Französisch
3,1 % (216)
Italienisch
4,9 % (243)
18,4 % (919)
Geschäftsnamen
42,7 % (2135)
12,7 % (887)
Türkisch
Personennamen
51,9 % (2596)
85,9 % (4296)
0
1000
2000
3000
Abb. 3.5.3: Häufigkeit der Namentypen in der »Metropolenzeichen«-Datenbank
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
27,6 % (1933)
Englisch
Firmennamen
192
Abb. 3.5.4: DO-Nordstadtt
4000
5000
89,8 % (6296)
Deutsch
0
1000
2000
3000
4000
5000
6000
7000
Abb. 3.5.6: Gesamtzahl der Namen in den abgebildeten Sprachen
3.5 NAMEN ALS TEIL DER VISUELLEN SPRACHLANDSCHAFT
193
3.5.1 Familiennamen
Abb. 3.5.1.1: Briefmarke »Klingelschild mit Familiennamen«
Abb. 3.5.1.2: DO-Nordstadt Türkischer Name auf
Kanzleischild
Abb. 3.5.1.3: DO-Nordstadt Arabischer Name auf
Praxisschild
Abb. 3.5.1.4: E-Rüttenscheid Typischer Familienname für Ruhrgebiet und Münsterland
194
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Kein anderer Namentyp ist in der uns umgebenden, sichtbar wahrnehmbaren Sprachlandschaft so häufig vertreten wie die Familiennamen, keiner verdeutlicht augenfälliger die Vielfalt der Herkunftsländer und die Vielfalt der Sprachen der in Deutschland
lebenden Menschen. Diese Tatsache spiegelt auch die 2012 erschienene Briefmarke
zum Thema »Vielfalt – In Deutschland zu Hause« wider. Sieger des Motivwettbewerbs
wurde der Entwurf mit dem Titel »Klingelschild mit Familiennamen«, der eine unmittelbar einleuchtende Visualisierung der ethnischen Diversität in Deutschland liefert.
Familiennamen treten in unterschiedlichen Kontexten und Funktionen auf. Als
regulatorischer Hinweis auf Klingelschildern, auf Praxis- und Kanzleischildern von
Ärzten und Rechtsanwälten und ähnlichen Berufen (Abb. 3.5.1.2, 3.5.1.3), als Teil
von Geschäfts- und Gastronomienamen (Abb. 3.5.1.4, 3.5.1.8, 3.5.1.9) und auf Straßennamenschildern als Wegweiser mit gleichzeitiger Erinnerungsfunktion (vgl. Kap.
3.5.4). Nicht zuletzt aber sind sie auch sichtbarer Ausdruck der Mehrsprachigkeit in
einer Stadt oder Region. Denn auf den Geschäftsschildern lesen wir nicht nur deutsche Namen wie »Müller«, »Schneider« oder »Koch«, sondern auch »Kaczmarek«,
»Yilmaz« oder »Mahmoud«, also Namen, die die äußere Mehrsprachigkeit der Region
dokumentieren, indem sie uns deutlich machen, dass es viele Menschen gibt, die aus
anderen Sprach- und Kulturkreisen zugewandert sind. Fremdsprachige Namen leisten
einen besonderen Beitrag zur bewussten Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit und
können auch stark zum Gefühl einer »Beheimatung« von Allochthonen bzw. einer
»Befremdung« von Autochthonen beitragen.
Neben der durch fremde Namen sichtbar werdenden
äußeren Mehrsprachigkeit sind die Namen auch ein Zeugnis
für die innere Mehrsprachigkeit des Deutschen, da viele Familiennamen an bestimmte Regionen gebunden sind und
dialektale oder regionalsprachliche Elemente aufweisen, die
auch von linguistischen Laien als regionaltypisch erfahren
werden. Insofern bewirkt auch die Wahrnehmung regionaltypischer Namen wie »Holtkamp«, oder »Langensiepen«, einen Effekt der Identifikation. Wer von einer größeren Anzahl als vertraut empfundener Namen umgeben ist, fühlt
sich eher heimisch.
Bevor wir uns den einheimischen und fremden Namentypen im Einzelnen zuwenden, wollen wir einen Blick auf
die allgemeine Statistik der Familiennamen werfen, wie sie
sich aus unserer Datenbank ergibt.
Abbildung 3.5.1.5 zeigt die genaue Anzahl und die prozentuale Verteilung der Familiennamen für die sieben Sprachen mit mehr als 50 Namenbelegen. Diese decken mehr als
95 % aller Familiennamen ab, wobei auf die deutschen Namen 70 % der Belege entfallen.
Äußere Mehrsprachigkeit – fremdsprachige
Familiennamen
Die Gewichtung der fremden Sprachen untereinander wird
deutlicher, wenn man sie ohne das Deutsche betrachtet
(Abb. 3.5.1.6). Dabei kann man zwei Gruppen von Sprachen unterscheiden: Die Träger der türkischen, arabischen
und polnischen Namen sind in der Regel individuelle Repräsentanten einer Migrantengruppe bzw. Nachfahren von Migranten, deren Zuwanderung teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen kann, wie es bei manchen Trägern
polnischer Namen im Ruhrgebiet der Fall ist. Mit einem Anteil von über 60 % an der Gesamtheit der fremden Namen
dokumentieren diese Migrantennamen die Bedeutung des
Ruhrgebiets als Zuwanderungsraum, wobei hier wie zu erwarten das Türkische mit 42 % weit vor allen anderen Sprachen liegt.
Die englischen, französischen und auch die italienischen
Familiennamen, die uns im Ruhrgebiet sichtbar begegnen,
stehen demgegenüber entweder für global agierende Unternehmen, deren Marken- und Geschäftsnamen oft aus dem
Namen des Gründers oder der Gründerin bestehen. Dies gilt
insbesondere für Modelabels, teure Uhren und vergleichbare
Produkte. Als Beispiele aus diesen Geschäftsbereichen seien
hier die Modeschöpfer »Tommy Hilfiger« (Abb. 3.5.1.8)
und »Calvin Klein« aus den USA, »Giorgio Armani« und
»Roberto Cavalli« aus Italien, »Jean Paul Gaultier« aus Frankreich und der Schweizer Luxus-Uhrenproduzent »Maurice
Lacroix« (Abb. 3.5.1.9) genannt.
Italienisch
2%
Französisch
2%
Arabisch
2%
3%
Polnisch
8%
Englisch
13 %
Türkisch
70 %
Deutsch
0
10 %
20 %
30 %
40 %
50 %
60 %
70 %
80 %
90 %
100 %
60 %
70 %
80 %
90 %
100 %
Abb. 3.5.1.5: Familiennamen (N = 2786)
6%
Italienisch
Französisch
7%
9%
Arabisch
10 %
Polnisch
26 %
Englisch
42 %
Türkisch
0
10 %
20 %
30 %
40 %
50 %
Abb. 3.5.1.6: Fremdsprachige Familiennamen (N = 844)
3.5.1 FAMILIENNAMEN
195
Abb. 3.5.1.7: Top 10 der deutschen,
polnischen und türkischen Familiennamen
deutsche Namen
polnische Namen
türkische Namen
1 Müller
1 Nowak
1 Yilmaz
2 Schmidt
2 Kowalski
2 Kaya
3 Schneider
3 Wisniewski
3 Demir
4 Fischer
4 Wojcik
4 Çelik
5 Weber
5 Kowalczyk
5 Şahin
6 Meyer
6 Kaminski
6 Yildiz
7 Wagner
7 Lewandowski
7 Yildirim
8 Becker
8 Zielinski
8 Öztürk
9 Schulz
9 Szymanski
9 Aydin
10 Hoffmann
10 Wozniak
Abb. 3.5.1.8: DU-Innenstadt
Englischer Personennamen
10 Özdemir
Abb. 3.5.1.9: DU-Innenstadt
Französischer Personennamen
Abb. 3.5.1.10: DU-Innenstadt
196
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Eine andere Domäne für englische, französische und italienische Namen ist der Bereich der Kultur und Unterhaltung, der in der Linguistic Landscape vor allem durch Filmund Veranstaltungsplakate vertreten ist, die die Namen
internationaler Stars auch – und sei es nur vorübergehend – zum Bestandteil der Sprachlandschaft des Ruhrgebiets machen und damit den internationalen Charakter der
Unterhaltungskultur dokumentieren. In die Aufnahmezeit
unserer Fotobelege fielen etwa Auftritte des britischen
Sängers »Joe Cocker« und der amerikanischen Sängerin
»Richetta Manager« oder Konzerte des italienischen Dirigenten »Aldo Ceccato« und des Geigers »Marco Rizzi« (Abb.
3.5.1.10).
Innere Mehrsprachigkeit – regionaltypische, niederrheinische und westfälische Familiennamen im Ruhrgebiet
Auch die Zugehörigkeit bestimmter Namen oder Namentypen zu mehr oder weniger eng begrenzten Regionen kann einen Effekt der Identifikation bewirken. Wer von einer größeren Anzahl vertrauter, als regionaltypisch empfundener
Namen umgeben ist, fühlt sich eher heimisch. Die identifikationsstiftende Wirkung von regionaler Sprache und regionaltypischen Namen machen sich Autoren und Drehbuchschreiber (etwa im »Tatort«) regelmäßig zunutze, indem sie
Figuren Dialekt reden lassen und indem sie ihnen regionaltypische Namen geben (Eickmans 2010).
Was bedeutet »regionaltypisch« für Namen im Ruhrgebiet? Das Ruhrgebiet bildet keine eigene abgrenzbare Namenlandschaft, wie es auch keine eigene abgrenzbare Sprachlandschaft bildet (vgl. Kap. 3.4.6.2). Regionaltypische
Namen im Ruhrgebiet sind immer Namen, die in einem Zusammenhang mit dem westfälischen oder niederrheinischen
Umfeld zu sehen sind, sich aber in diesem Rahmen deutlich
von den übrigen deutschen Sprach- bzw. Namenlandschaften abgrenzen lassen (Heuser / Nübling 2010, Taubken
2010).
Viele der deutschen Familiennamen in der »Metropolenzeichen«-Datenbank sind eindeutig regional markiert.
Um zu einem identifikationsstiftenden Zeichen zu werden,
muss das Regionaltypische eines Namens bewusst oder unbewusst wahrgenommen werden (können). Dies geschieht
entweder aufgrund der Bekanntheit bzw. Häufigkeit eines
Namens in der Region oder aufgrund des Vorkommens
formaler Bestandteile, die regionalsprachlich markiert
sind. Diese können lautlicher Art sein (»Niehues vs.
Neuhaus«), morphologischer Art (diminutivische Bildungen
aus »-ke[n]s« wie in »Kempkes« und »Ripkens«) oder lexikalischer Art (»Siepe« [kleiner Fluss] in »Langensiepen« u. ä.).
Beispiele für regionaltypische Namen mit einem Verbreitungsschwerpunkt im Ruhrgebiet sind etwa »Notthoff«
und »Siepmann« (Abb. 3.5.1.11, 3.5.1.12). Der Schwerpunkt
des niederdeutschen Namens »Notthoff« die hochdeutsche
Entsprechung wäre »Nusshof« liegt im nordwestlichen Ruhrgebiet. »Siepmann« ist ein so genannter Wohnstättenname
zu westfälisch-niederdeutsch »Siepe« (kleiner Fluss, Bach).
Der Verbreitungsschwerpunkt des Namens liegt im mittleren und östlichen Ruhrgebiet.
Regionaltypische Namen, die die sprachlichen Verbindungen des Ruhrgebiets mit Westfalen bzw. mit dem Rheinland verdeutlichen, sind etwa die Namen »Schulte« und
»Küpper(s)« (Abb. 3.5.1.13, 3.5.1.14). Der niederdeutsche
Name Schulte (mittelniederdeutsch »schulthete«), der im
Westfälischen die spezielle Bedeutung »Großbauer« hatte,
hat seine Verbreitungsschwerpunkte neben dem Emsland
und Westmünsterland auch im südöstlichen Westfalen, welches das östliche Ruhrgebiet mit einschließt. Schulte kann
als exemplarisch für einen Familiennamen gelten, der den regionalsprachlichen Zusammenhang des östlichen Ruhrgebiets mit dem übrigen Westfalen erkennen lässt.
Der Name »Küpper« oder »Küppers« ist eine regionale
Berufsbezeichnung für den »Böttcher« oder »Faßbinder«, die
auf lat. »cupa, Fass« zurückgeht und im Rheinland und in
den Niederlanden (»Kuiper«) verbreitet ist. Verbreitungsschwerpunkt des als typisch rheinisch anzusehenden Namens ist das nördliche Rheinland einschließlich des westlichen Ruhrgebiets (Raum Duisburg und Essen). Küpper
kann damit als exemplarisch für einen Familiennamen gelten, der den regionalsprachlichen Zusammenhang des westlichen Ruhrgebiets mit dem Rheinland erkennen lässt.
Die hier genannten Beispiele zeigen einen hohen Grad
regionaler Gebundenheit von Familiennamen, die damit
auch zu einem regionalen sprachlichen Erkennungsmerkmal
werden und ebenso wie sonstige regionalsprachliche Schilder
oder Aufschriften zum Gefühl der Beheimatung beitragen.
Abb. 3.5.1.11: E-Rüttenscheid
Abb. 3.5.1.12: E-Rüttenscheid
Abb. 3.5.1.13: E-Rüttenscheid
Abb. 3.5.1.14: E-Rüttenscheid
3.5.1 FAMILIENNAMEN
197
3.5.2 Geschäftsnamen
Geschäftsnamen sind von Unternehmensnamen (Firmennamen) zu unterscheiden.
Während letztere rechtlich verbindliche Namensformen sind, wie sie etwa in Handelsregistern oder auf Rechnungsformularen zu finden sind, haben Geschäftsinhaber bei
der Festlegung eines Namens für ihr Ladenschild oder Schaufenster jede Freiheit. Eine
Reihe von Bildern mit Geschäftsnamen fanden sich schon im vorhergehenden Kapitel
über die Familiennamen, da diese häufig als Teil von Geschäftsnamen verwendet werden. Viele folgen noch dem klassischen Bildungstyp [Appellativ (+ Vorname) + Familienname]: »Salon Altmeyer« oder in umgekehrter Reihenfolge [Familienname + Appellativ]: »Rütten Lüftungsbau« (Abb. 3.5.2.1, 3.5.2.2, 3.5.2.3).
Der Kreativität sind bei der Erfindung von Geschäftsnamen keine Grenzen gesetzt. Viel vorkommende Namenstypen sind etwa die Verbindung [Vorname + (’)s +
Appellativ]: »Rosi’s Haarstübchen« oder »Heidis Tiershop« (Abb. 3.5.2.4, 3.5.2.5).
Sprachspielerische Bezüge zur jeweiligen Branche führen zu mehr oder weniger
witzigen Geschäftsnamen (Abb. 3.5.2.6, 3.5.2.7, 3.5.2.8).
Englische und französische Namen oder Namenbestandteile sollen Modernität
und Weltläufigkeit signalisieren. Auch hier sind die Friseure in vorderster Front, wenn
es um witzige Namen für ihre Läden geht. Auf der Essener Rüttenscheider Straße etwa
machen sich »Headhunter«, »Hairworks« und »Hairdamit« Konkurrenz.
Abb. 3.5.2.2: BO-Langendreer
Abb. 3.5.2.3: E-Rüttenscheid
Abb. 3.5.2.4: BO-Hammev
Abb. 3.5.2.5: BO-Hamme
Abb. 3.5.2.6: E-Rüttenscheid
Abb. 3.5.2.7: E-Rüttenscheid
Abb. 3.5.2.8: BO-Hamme
Abb. 3.5.2.9: E-Rüttenscheid
Abb. 3.5.2.10: E-Rüttenscheid
Abb. 3.5.2.1: BO-Langendreer
198
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.5.2 GESCHÄFTSNAMEN
199
Niederländisch
1%
Französisch
1%
Italienisch
1%
Arabisch
2%
Türkisch
9%
Englisch
19 %
Deutsch
67 %
0
10 %
20 %
30 %
40 %
Abb. 3.5.2.11: Geschäftsnamen (N = 2216)
200
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
50 %
60 %
70 %
80 %
90 %
100 %
Die Beteiligung der verschiedenen Sprachen wird in der
Grafik 3.5.2.11 sichtbar, die die sieben Sprachen berücksichtigt, die mit mehr als 20 Geschäftsnamen in unserer Datenbank vertreten sind.
Geht man von der Gesamtheit der Geschäftsnamen aus,
so nimmt das Deutsche zwei Drittel ein, von den übrigen
Sprachen haben nur das Englische mit 19 % und das Türkische mit 9 % einen nennenswerten Anteil.
Auch hier lohnt sich ein Blick auf die Fremdsprachen
ohne das Deutsche (Abb. 3.5.2.12). Dabei wird der globalisierende Faktor englischer Geschäftsnamen sehr deutlich,
die bei den Fremdsprachen auf eine deutliche Mehrheit von
57 % kommen. Von den übrigen Sprachen ist es wiederum
das Türkische, das mit 27 % aller fremdsprachigen Geschäftsnamen die Bedeutung der Türkeistämmigen als größter und wichtigster Migrantengruppe des Ruhrgebiets unterstreicht. Bemerkenswert ist auch die dritte Position für das
Arabische, das seinen Schwerpunkt in der Dortmunder
Nordstadt hat.
Italienische und französische Geschäftsnamen tragen,
wie oben erläutert, oft den Namen des Gründers. Als Beispiele seien hier noch einmal die Modeschöpfer »Giorgio
Armani« aus Italien und »Jean Paul Gaultier« aus Frankreich
genannt. Das Niederländische schließlich verdankt seine
Präsenz in dieser Statistik der grenznahen Expansion einiger Kaufhaus- (»HEMA«, »Zeeman«), Supermarkt- (»Albert
Heijn«) und Dienstleistungsunternehmen (»Randstad«), die
in den Ruhrgebietsstädten zahlreich vertreten sind.
Niederländisch
25
Französisch
26
Italienisch
29
39
Arabisch
Türkisch
197
Englisch
411
0
100
200
300
400
500
Abb. 3.5.2.12: Fremdsprachige Geschäftsnamen (N = 727)
Abb. 3.5.2.13: Arabische Buchhandlung in
DO-Nordstadt
Abb. 3.5.2.14: Türkischer Geschäftsname in
DU-Marxloh
Abb. 3.5.2.15: Französischer Geschäftsname in
DU-Innenstadt
Abb. 3.5.2.16: Niederländischer Geschäftsname
in BO-Langendreer
3.5.2 GESCHÄFTSNAMEN
201
3.5.3 Gaststätten- und
Restaurantnamen
Griechisch
1%
Chinesisch
1%
2%
Französisch
Abb. 3.5.3.1: DO-Hörde
Abb. 3.5.3.2: E-Altendorf
Abb. 3.5.3.3: BO-Langendreer
Die Position des Deutschen ist bei den Gastronomienamen mit einem Anteil von weniger als 60 % etwas schwächer als bei den vorher behandelten Namenstypen, den Geschäftsnamen (67 %) und den Familiennamen (70 %). Dies ist angesichts der Beliebtheit und Verbreitung von Restaurants fremdländischer Küche kaum verwunderlich.
Abb. 3.5.3.9 berücksichtigt die acht Sprachen, die mit mehr als 10 Gaststätten- und
Restaurantnamen in unseren Daten vertreten sind. Der relativ starke Anteil des Englischen an den Gastronomienamen geht nur zum Teil auf die bekannten Burger-Bräter McDonalds, Burger King u. ä. zurück; teilweise kommt er auch dadurch zustande,
dass Restaurants mit deutscher oder internationaler Küche sich zunehmend englische
Namen zulegen, wie z. B. das Japanische Sushi-Restaurant »Red Sun« in Essen. Ansonsten aber spiegelt sich in der Zusammensetzung der Liste der Sprachen mit den
meisten Gastronomienamen die kulinarische Landschaft des Ruhrgebiets.
Die Liste der deutschen Gaststättennamen zeigt Tradition und Innovation,
regionale Verbundenheit einzelner Gaststätten (Abb. 3.5.3.1, 3.5.3.2, 3.5.3.3, 3.5.3.4)
ebenso wie die nationale Verbreitung bekannter Restaurantketten (Abb. 3.5.3.5,
3.5.3.6, 3.5.3.7, 3.5.3.8).
Um ein besseres Bild vom Verhältnis der fremdsprachigen Gastronomienamen untereinander gewinnen zu können, zeigt Abb. 3.5.3.10 die Verteilung ohne die deutschen Namen. Wie schon erwähnt, stehen hinter den zahlreichen englischen Gastronomienamen nicht die britische Spezialitätenküche, sondern vornehmlich die großen
Hamburger-Ketten, aber auch viele deutsche und internationale Restaurants, die sich
mit englischen Namen ein internationales Flair geben wollen, während wir es beim
»Italiener«, »Spanier«, »Griechen« oder »Chinesen« in der Regel tatsächlich mit landestypischen Spezialitätenrestaurants zu tun haben.
Spanisch
Abb. 3.5.3.5: DO-Nordstadt
4%
8%
Türkisch
11 %
Italienisch
14 %
Englisch
59 %
Deutsch
0
10 %
20 %
30 %
40 %
50 %
60 %
70 %
80 %
90 %
100 %
50 %
60 %
70 %
80 %
90 %
100 %
Abb. 3.5.3.9: Gastronomienamen (N = 937)
Abb. 3.5.3.6: DO-Hauptbahnhof
Italienisch
3%
Französisch
3%
Arabisch
6%
9%
Polnisch
20 %
Englisch
Abb. 3.5.3.7: E-Rüttenscheid
26 %
Türkisch
33 %
Deutsch
0
10 %
20 %
30 %
40 %
Abb. 3.5.3.10: Fremdsprachige Gastronomienamen (N = 388)
Abb. 3.5.3.4: BO-Langendreer
202
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.5.3.8: E-Altendorf
3.5.3 GASTSTÄTTEN- UND RESTAURANTNAMEN
203
Abb. 3.5.3.11: Die Verteilung türkischer und
italienischer Gastronomienamen in Duisburg
und Essen
italienische Gastronomienamen (Anzahl: 86)
türkische Gastronomienamen (Anzahl: 83)
Zu den Größenverhältnissen: 0,5mm Radius entspricht einem
Gastronomienamen.
Marxloh
Duisburg
Die lokale Verteilung der »Türken« und »Italiener« in
Duisburg und Essen
Ein Vergleich der beiden Karten zeigt eine beinah komplementäre Nord-Süd-Verteilung der italienischen und türkischen Gastronomie. Die »Italiener« dominieren die beiden
südlichen Stadtteile DU-Innenstadt und E-Rüttenscheid.
Von den 48 in unserer Datenbank erfassten Essener Belegen
liegen 42 in Rüttenscheid und nur 6 in Altendorf. Noch eindeutiger ist das Zahlenverhältnis in Duisburg: 36 in der Innenstadt, nur 2 in Marxloh. Umgekehrtes gilt für die türki-
Marxloh
Essen
Altendorf
Duisburg
Rüttenscheid
Innenstadt
204
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
schen Zahlen, hier herrscht ein eindeutiges Übergewicht in
den nördlichen Stadtteilen: 29:8 in Duisburg, 33:13 in
Essen.
Diese Zahlen sind Ausdruck der Tatsache, dass die Italiener sich schon seit Langem als Lieblingsrestaurants der
Deutschen in den Ausgehvierteln der Mehrheitsbevölkerung
etabliert haben, während sich die türkischen Restaurants
noch mehrheitlich in den hauptsächlichen Wohngebieten
eben dieser Migrantengruppe finden.
Essen
Altendorf
Rüttenscheid
Innenstadt
3.5.3 GASTSTÄTTEN- UND RESTAURANTNAMEN
205
3.5.4 Straßennamen
Abb. 3.5.4.1: Straßennamen in Dortmund-Hörde
als Träger der Erinnerungskultur
Abb. 3.5.4.2: Primärer Straßenname in
Dortmund (Münsterstraße)
Straßennamen sind ein allgegenwärtiger, aufgrund ihrer Häufigkeit, Funktionalität
und Einheitlichkeit in Größe, Gestaltung und Anbringung eher unaufdringlicher
Bestandteil der Linguistic Landscape einer jeden Stadt. Die äußere Unscheinbarkeit
steht allerdings im Widerspruch zu ihrer funktionalen und erinnerungspolitischen Bedeutung. Primär haben Straßennamen eine Orientierungsfunktion innerhalb der
Stadt, sekundär kommt in den meisten Fällen eine Erinnerungsfunktion hinzu. Der
Straßennamenbestand einer Stadt ist ein Spiegel der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und auch sprachlichen Geschichte und damit ein Instrument der Erinnerungskultur und ein Speicherplatz des kollektiven Gedächtnisses einer Stadtgesellschaft (Frese 2012).
Das gerade in den letzten Jahrzehnten gewachsene Interesse an diesem Thema manifestiert sich auch in den Ruhrgebietsstädten in umfangreichen Publikationen zur
Herkunft und Deutung der Straßennamen (Bochumer Straßennamen 1993; Lehmkuhl 2013; Dickhoff 1986; Wigge o. J.; Wolters 1998). Historisch betrachtet hatten
die Straßennamen zunächst immer einen unmittelbaren Bezug zum lokalen Umfeld,
indem sie z. B. Ziel oder Richtung angaben (»Münsterstraße«) oder auf die äußere Beschaffenheit (»Alter Steinweg«), die Lage innerhalb des Ortes (»Nordstraße«) oder ein
markantes Gebäude (»Kirchstraße«) hinwiesen. Im Gegensatz zu diesen primären Straßennamen entwickelten sich seit dem 18. Jahrhundert zunehmend die heute überwiegenden sekundären Straßennamen, die nicht mehr über einen direkten Ortsbezug verfügen und bei denen statt dessen die Erinnerungsfunktion überwiegt.
Straßennamen als Zeugen der Erinnerungskultur
Im Vorwort des Bandes »Bochumer Straßennamen« heißt es
über die Bedeutung der sekundären Straßennamen aus lokalpolitischer Sicht: »Ein Straßenname ist ein unspektakuläres und einprägsames Denkmal, das das Andenken an eine
Person, einen Ort, ein Ereignis gleichsam unterschwellig wie
effektiv im öffentlichen Bewusstsein wachhält. Die Benennung als auch die Umbenennung von Straßen sind somit ein
aufschlußreiches Zeitdokument, die Straßennamen im
Stadtplan ein Spiegel der lokalen Geschichte. Der Stadtplan
zeigt auf, welche Traditionslinien heute als unverfänglich betrachtet werden und mit welcher Geschichte Identifikation
stattfinden soll.«
Das Problem der Umbenennung von Straßen wird immer dann aktuell, wenn es zu einer Neubewertung von Personen oder Ereignissen kommt, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr für würdig erachtet werden, als Namensgeber
einer Straße zu fungieren. Dies ist oft nach politischen Umbrüchen der Fall wie etwa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als viele der zur Zeit des Nationalsozialismus erfolgten Neu- und Umbenennungen von Straßen wieder
rückgängig gemacht wurden (Weidner o. J.).
Bei den sekundären Straßennamen lassen sich unterschiedliche Motiv- oder Benennungsgruppen unterscheiden,
etwa zu historisch (lokal oder überlokal) bedeutsamen Personen und Institutionen, geschichtsträchtigen Orten oder
Ereignissen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf Beispiele mit lokalen Bezügen, die sich drei wichtigen Motivgruppen zuordnen lassen:
• Straßennamen, die an vor Ort wirkende Persönlichkeiten
erinnern,
Abb. 3.5.4.3: Primärer Straßenname in Duisburg
(Landgerichtsstraße)
206
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
• Straßennamen mit Bezug zum Bergbau, der das Ruhrgebiet nachhaltig geprägt hat,
• Straßennamen, die auf alte Hof- und Flurnamen zurückgehen.
Straßennamen, die an vor Ort wirkende Persönlichkeiten
erinnern
Die Zahl der berühmten und verdienten Männern und
Frauen gewidmeten Straßen ist in allen Städten sehr groß.
Dabei soll es hier nicht um die national und international
bekannten Namen von großen Dichtern, Malern oder Komponisten gehen. Eine »Goethe-, Rembrandt- und Mozartstraße« gibt es in allen vier untersuchten Ruhrgebietsstädten.
Jede Stadt aber ehrt darüber hinaus zahlreiche Persönlichkeiten, die sich besondere Verdienste im Bereich der lokalen Politik, Wirtschaft und Kultur erworben haben.
Die Stadt Duisburg etwa gedenkt mit der »Claubergstraße« und der »Leidenfroststraße« (Abb. 3.5.4.4, 3.5.4.5)
zweier Professoren aus der Zeit der alten Universität Duisburg, die von 1654 – 1818 bestand. Der Theologe und Philosoph Johannes Clauberg (1622 – 1665) war Gründungsrektor der damaligen klevischen Landesuniversität, an der
rund hundert Jahre später auch der Theologe und Mediziner
Johann Gottlob Leidenfrost (1715 – 1794) lehrte. Als »Leidenfrost-Effekt« bezeichnet man noch heute das »Tanzen«
der Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte.
Viele weitere Straßen auch außerhalb des Erhebungsgebiets unseres Projekts tragen Namen wichtiger Duisburger
Gelehrter, Politiker und Gewerkschafter. Ein Unikum unter
den nach Personen benannten Straßennamen stellt die
»Horst-Schimanski-Gasse« in Duisburg-Ruhrort dar (Abb.
3.5.4.6), die mit dem von Götz George verkörperten legendären Tatort-Kommissar einer fiktiven Person gewidmet ist,
die nicht unwesentlich zur Bekanntheit und zum Image
Duisburgs und des Ruhrgebiets beigetragen hat.
Im Straßennamenbestand der Stadt Essen finden sich
die Namen vieler lokaler Unternehmerpersönlichkeiten des
19. und frühen 20. Jahrhunderts. In den im Rahmen des
Projekts »Metropolenzeichen« untersuchten Stadtteilen sind
dies etwa die »Heintzmannstraße«, benannt nach dem Leiter
des Essen-Werdenschen Bergamtes Heinrich Heintzmann
3.5.4 STRASSENNAMEN
207
Abb. 3.5.4.4: DU-Innenstadt
Abb. 3.5.4.5: DU-Innenstadt
Abb. 3.5.4.6: Die Horst-Schimanski-Gasse in
Duisburg-Ruhrort
Abb. 3.5.4.7: E-Altendorf
Abb. 3.5.4.8: E-Rüttenscheid
Abb. 3.5.4.9: DO Hauptbahnhof
Abb. 3.5.4.10: DO-Nordstadt
Abb. 3.5.4.11: DO U-Turm
208
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
(1778 – 1858) (Abb. 3.5.4.7), die »Haedenkampstraße«,
nach dem Oberingenieur und Prokuristen der Firma Krupp
Hermann Haedenkamp (1843 – 1911) oder die »Girardetstraße«, nach Wilhelm Girardet (1838 – 1918), dem Begründer des bedeutenden Verlags- und Druckereiunternehmens
gleichen Namens. Auch die Namen wichtiger Essener Politiker haben es zur Ehre eines Straßennamens gebracht: Die
»Zweigertstraße« etwa hält die Erinnerung an den ehemaligen Oberbürgermeister und Ehrenbürger der Stadt Essen
Erich Zweigert (1849 – 1906) wach (Abb. 3.5.4.8).
Straßennamen, die an lokale Persönlichkeiten erinnern,
finden sich zahlreich auch in den von uns untersuchten Bochumer Stadtteilen Hamme und Langendreer. Als Beispiele
seien genannt die »Darpestraße«, benannt nach dem Gymnasialprofessor Franz Darpe (1842 – 1911), dem Autor der
1894 erschienenen »Geschichte der Stadt Bochum nebst Urkundenbuch« oder die »Dinnendahlstraße«, nach Franz
Dinnendahl (1775 – 1826), der 1799 auf der Zeche Vollmond in Langendreer die erste Dampfmaschine im deutschen Bergbau installierte. Erst relativ spät wurden Opfer
des Nationalsozialismus durch die Vergabe ihnen gewidmeter Straßennamen geehrt. So erhielt die »Wilhelm-Morfeld-Straße« in BO-Hamme erst 1971 ihren Namen, der an
den Sozialdemokraten Wilhelm Morfeld (1886 – 1933) erinnert, einen anerkannten Verfolgten des Naziregimes.
In der Dortmunder Nordstadt erinnert die »Paul-Winzen-Straße« an den Gründer der Dortmunder Widerstandsgruppe »Neuer Sozialismus«, Paul Winzen (1911 – 1942),
der in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde (Abb. 3.5.4.9).
Auch Persönlichkeiten, die das künstlerische und kulturelle Leben der Städte geprägt haben, finden sich als
Namensgeber für Straßen. Die »Carl-Holtschneider-Straße«
in der Dortmunder Nordstadt ist benannt nach einer der
prägenden Persönlichkeiten der Dortmunder Musikgeschichte, Carl Holtschneider (1872 – 1951), der als Organist
und Musikdirektor an der Reinoldikirche wirkte (Abb.
3.5.4.10). Der »Emil-Moog-Platz« ehrt den Architekten und
Erbauer des Dortmunder U, Emil Moog (1873 – 1954) (Abb.
3.5.4.11).
Straßennamen mit Bezug zum Bergbau
Ein bedeutendes Straßennamensreservoir für das Ruhrgebiet
ist der Bergbau und die damit zusammenhängende Schwerindustrie. So erinnert ein Namenverbund von vier benachbarten Straßen in Bochum an die Zeche Präsident: »Zechenstraße, Präsidentstraße, Schachtstraße und Seilfahrt«.
»Zechenstraße und Präsidentstraße« erinnern beide an die
ehemalige Bochumer Zeche Präsident, die Mitte des 19.
Jahrhundert eine der größten Zechen im Revier war. Der
1871 – 73 abgeteufte Schacht II der Zeche Präsident gab der
heutigen »Schachtstraße« ihren Namen, während »Seilfahrt«
ein Begriff aus der Fachsprache des Bergbaus ist, mit dem
man die Beförderung von Personen mit dem Förderkorb bezeichnet (Abb. 3.5.4.12, 3.5.4.13.)
Auch in der Dortmunder Nordstadt finden wir nah beieinander ein Bündel von Straßennamen, die an die große
Zeit des Ruhrbergbaus erinnern: »Glückauf-, Steiger-, Schlägel-, Strecken- und Stollenstraße«. Nach dem schon länger
zurückliegenden Ende des Kohleabbaus in weiten Teilen des
Ruhrgebiets sind diese Namen heutzutage auch für viele
Ruhrgebietsbewohner, aber erst recht für Außenstehende erklärungsbedürftig. »Glück auf!« ist der schon seit dem 17.
Jahrhundert überlieferte Bergmannsgruß, der sich in den
Bergbaugebieten zu einer allgemeinen Grußformel entwickelt hat, die auch heute noch vielfach Verwendung findet.
(Abb. 3.5.4.14) Mit »Schlägel« wird der Hammer des Bergmanns bezeichnet, der in vorindustrieller Zeit in Verbindung mit dem Bergeisen zum Abbau der Kohle benutzt
wurde. Der Begriff »Steiger«, der eine verantwortliche Aufsichtsperson unter Tage bezeichnet, ist vielen bekannt aus
dem populären Bergmannslied »Glück auf, der Steiger
kommt«. »Stollen und Strecken« schließlich sind Fachbegriffe aus der Sprache des Bergbaus, die verschiedene Formen unterirdischer Gänge bezeichnen.
Abb. 3.5.4.12: BO-Hamme
Abb. 3.5.4.13: BO-Hamme
Abb. 3.5.4.14: Bergmannsgruß »Glückauf« mit Schlägel und Eisen über dem
Eingang des Verwaltungsgebäudes der Zeche Alte Haase in Sprockhövel
3.5.4 STRASSENNAMEN
209
Straßennamen, die auf alte Hof- und Flurnamen
zurückgehen
Viele Straßennamen gehen auf alte Flur- oder Hofnamen zurück. Da gerade diese Namen oft noch erkennbare Merkmale der ursprünglichen niederrheinisch-niederfränkischen
Sprache des westlichen Ruhrgebiets bzw. der westfälisch-niederdeutschen Sprache des östlichen Ruhrgebiets aufweisen,
sind sie auch Zeugnisse der inneren Mehrsprachigkeit des
Ruhrgebiets. Häufig enthalten solche Straßennamen regionalsprachliche Wörter, die sich von den hochdeutschen Entsprechungen deutlich unterscheiden. Der Straßenname »Am
Gröppersweg« in BO-Langendreer enthält niederdeutsch
»gröpper, gröper« (=Töpfer). Der niederdeutsche Vogelname
Exter in dem Bochumer Flur- und Straßennamen »Externest
entspricht der hochdeutschen Elster.
Rein niederdeutsch ist auch der Straßenname »Schölerpad« (hochdeutsch Schülerpfad) in E-Altendorf (Abb.
3.5.4.15). Die Straße wurde 1902 nach einer der ältesten
Zechen des Ruhrgebiets benannt (vgl. Dickhoff 1986, S.
245). Die Zeche Schölerpad hat ihren Namen im 17. Jahrhundert von der Gründungsgesellschaft, der »Borbecker Gesellschaft am Schölerpad«, erhalten, die sich ihrerseits also
nach einem bereits vorhandenen niederdeutschen Straßennamen benannt hatte, der ursprünglich einmal den Weg zu
einer Schule bezeichnete.
Straßennamen, die auf niederfränkische oder niederdeutsche Flurbezeichnungen im engeren Sinne zurückgehen, sind etwa »Paschacker« (Pasch zu lat. pascuum = Weideland) in Duisburg oder »Braukloh« (Bruchwald), »Am
Brauckacker« oder »Lütkenbrauk« (lüt = klein) in Essen. Besonders weit verbreitet sind einige für den niederrheinischwestfälischen Raum typische Grundwörter, die jeweils
den zweiten Teil einer Namenszusammensetzung bilden.
Zumeist sagen sie etwas über die Grundbeschaffenheit, Lage
oder Nutzung der bezeichneten Flurstücke aus. Besonders
zahlreich finden sich auch im Ruhrgebiet etwa Straßennamen auf »-kamp« (aus lat. »campus«=Feld), »-beck (zu mnd.
»beke« = Bach) oder »-siepe, -siepen« (niederdeutsch
»siepe« = enges Tal mit Bachlauf oder eine feuchte, sumpfige
Niederung).
»Kamp«-Namen gibt es in allen Ruhrgebietsstädten
zahlreich. Auch der erste Teil des Namens hat häufig eine
niederdeutsche Form: In Bochum gibt es u. a. »Duwenkamp« (Duwe = Taube) und »Peddenkamp« (Pedde = Kröte),
Bochum und Dortmund kennen jeweils eine Straße »Am
Beisenkamp« (Beise = Binse). In Essen gibt es den »Nottebaumskamp« (Nottebaum = Nussbaum). Duisburger Beispiele sind »Auf dem Flaskamp« (Flas = Flachs), »Elsenkamp«
(Else = Erle), »Scheperskamp« (Scheper = Schäfer) und die
»Waterkampstraße« (Water = Wasser).
Den Bezug zu einem nahegelegenen Bach (niederdeutsch »Beck, Beke«) dokumentieren die Straßennamen
»An der Bredenbeck« (bred = breit), »In der Schuttenbeck« in
Bochum (Abb. 3.5.4.16), »Appelbecke«, »Dünnebecke« und
die »Deipenbeckstraße« (deip = tief ) in Dortmund, der »Deipenbeckstalweg« in Duisburg sowie der »Limbecker Platz«
und die »Limbeckerstraße« in Essen, die im 16. Jahrhundert
noch »Lyndenbekerstrat« hieß, also auf eine Lindenbeke =
Lindenbach zurückgeht.
Auch Straßennamen mit dem niederdeutschen Wort
»Siepe(n)« finden sich in allen vier Ruhrgebietsstädten. Einige
Beispiele: »Am Siepen, Feldsieper Straße« (Abb. 3.5.4.17)
und »Kohlensiepen« in Bochum, »Am Langensiepen« und
»Bökensiepen« (Böken = Buchen) in Essen, »Am Siepenkothen« in Duisburg und »Am Siepenhohl« und »Düwelssiepen« (Düwel = Teufel) in Dortmund.
Straßennamen als Zeugnisse innerer und äußerer
Mehrsprachigkeit
Abb. 3.5.4.15: E-Altendorf
Abb. 3.5.4.16: BO-Langendreer
Bei den zuletzt beschriebenen Straßennamen, die auf alte
Flurnamen zurückgehen, wurden bewusst Beispiele gewählt,
die die ältere sprachliche und dialektale Basis der Sprache im
Ruhrgebiet verdeutlichen. In allen Fällen haben wir also
Zeugnisse der inneren Mehrsprachigkeit vor uns, die im
Ruhrgebiet an die niederfränkische und westfälische Sprachvergangenheit dieser Region erinnern.
In den nach Personen benannten Straßen, die einen Familiennamen enthalten, finden sich Zeugnisse äußerer und
innerer Mehrsprachigkeit in derselben Weise, wie es oben
bei den Familiennamen beschrieben wurde. Aber anders als
bei Praxis- und Geschäftsschildern, die ein beredtes Zeugnis
aktueller sprachlicher Vielfalt in Form innerer und äußerer
Mehrsprachigkeit bieten, finden sich auf Straßenschildern
kaum Namen fremder Herkunft. Ausnahmen sind etwa die
»Girardetstraße« in Essen, deren Namensgeber aus einer ursprünglich hugenottischen, d. h. französischen Familie
stammt, und die »Horst-Schimanski-Gasse« in DU-Ruhrort, die einer fiktiven Persönlichkeit mit einem ursprünglich
polnischen Namen gewidmet ist. Da es in der Regel eines
größeren zeitlichen Abstands bedarf, bevor eine Person »straßennamenwürdig« wird, wird es wohl noch lange dauern, bis
die Migration der letzten Jahrzehnte einen sichtbaren Niederschlag in den Straßennamen findet.
Abb. 3.5.4.17: BO-Hamme
210
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.5.4 STRASSENNAMEN
211
Typografie (von griechisch
τύπος ›Zeichen, Figur,
Muster‹ und γράφειν
›schreiben, ritzen‹) bezeichnet nach heutigem
Verständnis nicht nur die
Gestaltung von und mit
Satzschriften auf Buchseiten, sondern auf allen
denkbaren Medien wie
Bildschirmen, Innen- und
Außenräumen, Gebäudefassaden, Verkehrsschildern, Produktverpackungen, Bekleidung etc.
3.6 Sprache und Schrift
3.6.1 Schriftsysteme
Durch Sprechen und Schreiben zeigen Menschen sich, setzen sich mit Anderen in Beziehung und schaffen auf diese Weise soziale Wirklichkeit. In der Öffentlichkeit positionieren, visualisieren und verorten Akteure sich durch Schrift im physischen Stadtraum gleichermaßen wie im sinnbildlichen sozialen Handlungsraum (vgl. Spitzmüller
2013: 1). »Being visible may be as important for minority languages as being heard«
(Gorter et al. 2012: 1).
Schriftsprachliche Äußerungen sind an eine wahrnehmbare Materialität gebunden, seien dies Druckfarben auf einem Plakat, Lichtimpulse einer Digitalanzeige,
Kunststofflettern eines Geschäfts oder die Prägungen in Metall auf einem Hydranten.
Sowohl die Erscheinung als auch die Lehre dieser geformten Materialität von Schrift
ist die Typografie. Stöckl (2005:15) bezeichnet sie als den »Körper des Textes« und betont damit, dass »Schrift, Layout und grafisches Material überhaupt erst die Voraussetzung eines schriftlich verfassten Textes« sind, seine »unverzichtbare Lebensgrundlage, der Ort und der Stoff seiner Existenz«. Dabei prägen die formalen
Ausgestaltungen von Schrift (Zeichenmaterialität, Größe, Farbe und Schriftart) die Erscheinung und Wirkung eines Textes mit (vgl. Spitzmüller 2013: 207). »Die Form
spricht mit, unausweichlich. Jede Gestaltung interpretiert, neutrale Typographie gibt
es nicht, so wenig wie es neutrales Sprechen geben kann« (Willberg 2000: 51).
In der Metropole Ruhr finden sich 52¹ Sprachen und 13 unterschiedliche Schriftsysteme. Am häufigsten ist im »Metropolenzeichen«-Korpus das lateinische Schriftsystem
(mit 24 365 Belegen), da die vorkommenden Sprachen in der Mehrzahl in lateinischen
Lettern geschrieben werden, gefolgt von den folgenden Schriftsystemen: Arabisch (107
Belege), Chinesisch (44), Kyrillisch (42), Japanisch (28), Koreanisch (14), die indische
Schrift Tamil (9), Thai (9), Griechisch (8), Hebräisch (2), die äthiopische Schrift Abugida (2) sowie die indischen Schriften Devanagari (2) und Singhali (1).
Schriftsysteme sind Gruppen von Zeichen, die gemeinsam eine Schrift bilden und
mit denen meist mehrere Sprachen geschrieben werden können. Schriftsysteme sind
in dieser Hinsicht unabhängig von Sprachen. Laut dem Schriftzeichenverzeichnis Unicode gibt es 66 bis heute verwendete Schriftsysteme (www.decodeunicode.org).
Das lateinische ist ebenso wie das griechische und kyrillische ein alphabetisches
Schriftsystem. Arabisch und Hebräisch hingegen sind Konsonantenschriften und notieren in der Regel keine Vokale. Die japanischen Schriftsysteme Kana (Hiragana und
Katakana) sind Silbenschriften. Das chinesische Schriftsystem ist ebenso wie die japanischen Kanji ein logographisches Schriftsystem. Das heißt, es werden nicht wie in Alphabetschriften einzelne Laute grafisch mit Zeichen dargestellt, die erst in ihrer Kombination ein Wort ergeben, sondern ein logographisches System bildet in jedem
Zeichen ganze Wörter und Begriffe ab. Um alle Begriffe der Welt in ganzen Zeichen
abzubilden, braucht es verständlicherweise eine äußerst hohe Anzahl von Zeichen. Das
chinesische Schriftsystem umfasst ca. 87 000. Daraus lässt sich schlussfolgern: Je abstrakter ein Schriftsystem (wie das Lateinische), desto geringer ist die benötigte Zeichenzahl, und je konkreter ein Schriftsystem (wie das Chinesische), desto mehr Zeichen werden gebraucht.
In Schriftsystemen wie Abugida werden einzelne Buchstaben zu Silben gruppiert
ebenso wie in vielen indischen Schriften, darunter auch Devanagari und Tamil. Mit
dem Schriftsystem Devanagari können elf der 122 indischen Sprachen geschrieben
werden, unter anderem Hindi und Sanskrit (www.censusindia.gov.in).
Es gibt auch Sprachen, die in verschiedenen Schriftsystemen notiert werden, je
nachdem, wo sie geschrieben werden. Das Kurdische z. B. wird im Iran und in Irak in
arabischen, in Russland in kyrillischen und in der Türkei sowie in der Metropole Ruhr
in lateinischen Lettern geschrieben. Das Serbische findet sich im »Metropolenzeichen«-Korpus sowohl in kyrillischen als auch in lateinischen Buchstaben.
1Albanisch, Amharisch,
Arabisch, Armenisch,
Aserbeidschanisch, Bosnisch,
Bulgarisch, Chinesisch,
Dänisch, Deutsch, Englisch,
Estnisch, Finnisch, Französisch,
Griechisch, Hebräisch, Hindi,
Isländisch, Igbo, Indonesisch,
Irisch, Italienisch, Japanisch,
Katalanisch, Koreanisch,
Kroatisch, Kurdisch,
Latein, Lingala, Malaiisch,
Nepalesisch, Niederländisch,
Norwegisch, Persisch, Polnisch,
Portugiesisch, Rumänisch,
Russisch, Schwedisch, Serbisch, Shona, Singhalesisch,
Slowakisch, Slowenisch,
Spanisch, Suaheli, Tamilisch,
Thailändisch, Tschechisch,
Türkisch, Ukrainisch, Ungarisch
Abb. 3.6: BO-Langendreer
212
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.6.1 SCHRIFTSYSTEME
213
Verteilung der Schriftsysteme auf die Diskurstypen
Abb. 3.6.1.1: Tamil Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.2: Lateinische Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.3: Japanische Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.4: Hebräische Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.5: Arabische Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.6: Koreanische Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.7: Devanagari Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.8: Chinesische Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.9: Thai Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.10: Singhali Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.11: Kyrillische Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.12: Griechische
Schriftzeichen
Eindrücklich ist die Tatsache, dass 81,5 % aller 287 Belege
in nicht-lateinischen Schriftsystemen im »Metropolenzeichen«-Korpus dem kommerziellen Diskurstyp angehören.
Damit wird deutlich, dass Schrift sich – wie schon in der Zeit
ihrer Entstehung zwischen Mesopotamien und Griechenland – dann verbreitet, wenn sie dem Handel dient. Mittler
sind dabei häufig der Lebensmittelhandel und die Gastronomie. Aber auch das Handeln mit Schrift und Sprache selbst
ist im Stadtraum ersichtlich – in Übersetzungsbüros oder im
Annoncieren der Dienstleistungen von Ärzten, Juristen und
Friseuren.
Es fällt auf, dass es im künstlerischen ebenso wie im regulatorischen Diskurstyp nicht ein einziges Zeichen im
»Metropolenzeichen«-Korpus gibt, das nicht in lateinischen
Lettern geschrieben ist.
Im infrastrukturellen Diskurstyp beläuft sich das Vorkommen auf gut 1 %. Dabei handelt es sich um drei Aufkleber auf Mülltonnen, die Übersetzungen in arabischen und
kyrillischen Lettern anbieten. Ähnlich verhält es sich im
kommemorativen Diskurstyp: Hier ist nur die Fassade des
Helmholtz-Gymnasiums in DO-Nordstadt mit den drei
Schriftsystemen Latein, Arabisch und Kyrillisch gestaltet.
Im transgressiven Diskurstyp zeigen sich 16,0 % der
Texte in nicht-lateinischen Lettern (in lateinischen Schriften
sind es 38,6 %). Bei diesen Items handelt es sich zum einen
um Sticker, die zwar unerlaubt (transgressiv) platziert wurden, aber ebenso einen kommerziellen Zweck verfolgen wie
die Werbung für ein E-Commerce-Business (Abb. 3.6.1.14)
in vielen unterschiedlichen Schriftsystemen.
Eine andere Gruppe transgressiver Zeichen, die durch
besonders versierte Anbringung und engagierte Multilingualität und Multiskriptualität auffallen, sind großflächige Aufkleber für eine Kampagne von medibueros.org, einer Einrichtung, die medizinische Versorgung für Menschen ohne
Papiere anbietet. Bei dieser Platzierung werden runde Straßenschilder offenkundig abgeschraubt, sorgfältig von hinten
beklebt und wieder anmontiert. Insgesamt finden sich 11
der 13 Schriftsysteme im »Metropolenzeichen«-Korpus auf
diesen Schildern. Einige Sprachen wie Amharisch, Aserbaidschanisch, Estnisch, Igbo, Indonesisch, Lingala, Nepali
und Ukrainisch sowie die drei Schriftsysteme Abugida, Devanagari und Hebräisch finden sich ausschließlich auf
Aufklebern von medibueros.org (Abb. 3.6.1.4, 3.6.1.7 und
3.6.1.13).
In den handschriftlichen transgressiven Zeichen ist fast
keine nicht-lateinische Schriftlichkeit auszumachen. Es gibt
ein einziges Tag im griechischen sowie eines im arabischen
Schriftsystem (Abb. 3.6.1.15).
Abb. 3.6.1.13: Abugida Schriftzeichen
Abb. 3.6.1.14: Werbung E-Commerce-Business
214
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.6.1.15: Arabisches Tag
3.6.1 SCHRIFTSYSTEME
215
3.6.2 Schriftarten
Innerhalb der einzelnen Schriftsysteme gibt es unterschiedliche Arten, dieses eine
Schriftsystem formal auszugestalten. Diese sogenannten Schriftarten beruhen zum einen auf verschiedenen historischen Traditionen, in denen mit diversen Schreibwerkzeugen und Drucktechniken gearbeitet wurde. Zum anderen wurden sie für divergierende Anwendungen entworfen und spiegeln Moden und Stile unterschiedlicher
Epochen. Dies gilt gleichermaßen für alle Schriftsysteme. Die formale Ausgestaltung
einer Schrift trägt dazu bei, dass Buchstaben nicht nur Textinhalte ausdrücken können, sondern auch Gefühlseindrücke und ästhetische Anmutung vermitteln sowie Referenzen zu Zeiten und Kulturen setzen.
Hier werden die Vorkommen im lateinischen Schriftsystem betrachtet, und es
wird beschrieben, in welchen Diskurstypen und Sprachen welche Schriftarten vorkommen.
Abb. 3.6.2.1: Antiqua-Schrift
Abb. 3.6.2.2: Grotesk-Schrift
Abb. 3.6.2.3: Serifenbetonte Schrift
Abb. 3.6.2.4: Skripturale Schrift
Abb. 3.6.2.5: Gebrochene Schrift
Abb. 3.6.2.6: Dekorschrift
Abb. 3.6.2.7: Handschrift
Abb. 3.6.2.8: Graffitis
Abb. 3.6.2.9: Tags
Die Schriftarten im lateinischen Schriftsystem wurden in der »Metropolenzeichen«-Datenbank dem
Vorschlag des Deutschen Instituts für Normierung e. V. aus dem Jahre 1998 folgend auf Basis einer
reduzierten Form der DIN-Klassifizierung Nr. 16518 von 1964 verschlagwortet und um die Gruppe 6
und 7 erweitert
1. Antiqua-Schriften
Römische Serifen-Schriften – mit
Strichstärkenvariationen und »Füßchen« (Serifen)
an den Stämmen
2. Grotesk-Schriften
Lineare serifenlose Schriften – mit geringer
3. Serifenbetonte Schriften
Egyptienne – mit geringer Strichstärkenvariation
4. Skripturale Schriften
am Computer gezeichnete Schreibschriften,
5. Gebrochene Schriften
Schriften mit Bogenbrechungen
6. Dekorschriften
Schriften, die bildliche und dekorative Elemente
Strichstärkenvariation ohne »Füßchen«
und schweren eckigen »Füßchen«
die keine Handschriften sind
enthalten oder manipuliert wurden und nicht in eine
der vorherigen Gruppen passen
7. Handschriften, Graffitis und Tags
tatsächlich von Hand im Stadtraum geschriebene
Schriften
216
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.6.2 SCHRIFTARTEN
217
Abb. 3.6.2.11: Handschriftliches
transgressives Zeichen
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.6.2.12: Dekorschriften auf
Stickern im transgressiven Diskurstyp
ura
le S
ch
ri
fte
n1
2,4
%
-S
67,4 % Grotesk
ften
a-Schri
17,4 %
en
Abb. 3.6.2.15: Skripturale Schrift im
kommerziellen Diskurstyp
,G
raf
fitis
un
dT
ag
s2
4,8
%
Abb. 3.6.2.14: Ein kommemoratives
Zeichen in Gebrochener Schrift
Antiqu
chriften
rift
Abb. 3.6.2.10: Verteilung der lateinischen Schriftarten auf die Diskurstypen Die Prozentzahlen geben
an, wie viele der Belege eine Schriftart zeigen. Dabei ist zu beachten, dass auf vielen Fotos ein Beleg abgebildet ist, wie beispielsweise ein Sticker, auf dem mehrere verschiedene Schriftarten gemeinsam vorkommen, wie beispielsweise Dekor- und Groteskschriften.
ipt
sch
Schreibschrift
skr
nd
Gebrochen
Abb. 3.6.2.13: Gebrochene Schrift auf
Sticker im transgressiven Diskurstyp
Ha
Graffitis & Tags
Serifenbetont
3,6 %
Dekor
transgressiv
chriften
Grotesk
regulatorisch
etonte S
Antiqua
künstlerisch
%
kommerziell
,7
11
kommemorativ
en
infrastrukturell
rift
0
sch
30
kor
60
De
90
Bei der Verteilung der Schriftarten in den einzelnen Diskurstypen zeigen sich folgende Besonderheiten: Die 1709 infrastrukturellen Zeichen sind zu 99,1 % und die 1264 regulatorischen Zeichen zu 97,8 % in einer Grotesk-Schriftart
gesetzt. Die offizielle staatliche Kommunikation, also die
Top-down-Kommunikation, verwendet demnach fast nur
eine Schriftart: Grotesk – eine Schriftart, die formal zurückhaltend und sachlich wirkt sowie gut lesbar ist. Dies ist ein
gleichermaßen eindeutiges Ergebnis wie die Tatsache, dass
99,5 % der infrastrukturellen und 98,0 % der regulatorischen Zeichen die deutsche Sprache verwenden.
Im kommerziellen Diskurs, als Bottom-up-Kommunikation, sind im Gegensatz dazu deutlich mehr Mehrsprachigkeit und eine höhere Diversität der unterschiedlichen
Schriftarten zu beobachten: Im kommerziellen Diskurstyp
finden sich zwar auch immer noch 83,5 % Grotesk-Schriften, aber zudem 26,5 % Antiqua-Schriften, 18,1 % skripturale Schriften, 9,5 % Dekorschriften, 6,7 % handschriftliche
Notizen, 2,5 % gebrochene Schriften und 1,9 % serifenbetonte Schriften. Im kommerziellen Diskurs wird im Stadtraum um Kunden geworben, und dieses Werben wird von
expressiveren Schriften unterstützt. In Abgrenzung zum benachbarten Konkurrenten ist es hier sinnvoll, Schriften zu
wählen, die zwar auch dem Primat guter Lesbarkeit folgen,
die sich aber dennoch abheben, die eigene Position unterstützen und gewünschte Konnotationen an den Betrachter
transportieren.
Im transgressiven Diskurstyp dagegen zeigen sich selbstverständlich vornehmlich handgemachte Buchstaben in Tags
und Graffitis mit 39,0 %. Zudem findet sich in diesem Diskurstyp die größte Gruppe an Dekorschriften mit 18,5 %,
die auf variantenreichen und vielfältig gestalteten Stickern
sichtbar sind. In der urbanen Sticker-Kultur werden Statements unterschiedlicher Gruppierungen (Musik-Szenen, politische Aktivisten, Fußballfans, Sticker-Künstler und Graffiti-Crews) im Stadtraum platziert. Hier haben Kreativität,
Variation und Individualität offenbar Vorrang, und gute
Lesbarkeit wird nebensächlich (Abb. 3.6.2.12 und 3.6.2.13).
Der größte Anteil der gebrochenen Schriften findet sich
im kommemorativen Diskurstyp mit 5,1 %. Diese gotische
Schriftform blieb in Deutschland im Vergleich zu anderen
Ländern, in denen sie verwendet wurde, am längsten erhalten – bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts; daher sind gotische Schriftformen häufig auf historischen Gebäuden und
auf Gedenktafeln zu finden (Abb. 3.6.2.14).
gebrochene Schriften 1,7 %
Verteilung der Schriftarten in Diskurstypen
120
218
serifenb
150
Abb. 3.6.2.17: Verteilung der lateinischen Schriftarten bezogen auf das Gesamtkorpus
Abb. 3.6.2.16: Regulatorische Typografie
in Grotesk-Lettern
3.6.2 SCHRIFTARTEN
219
Kommerzielle Zeichen im Vergleich zu regulatorischen Zeichen in DO-Nordstadt
ra
ra
ße
ße
Kommerzielle Zeichen im Vergleich zu regulatorischen Zeichen in E-Rüttenscheid
er
st
224
224
Schreibschrift
Antiqua
0,5 %
1,0 %
1,3 %
%
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
2,2 %
%
,8 %
Abb. 3.6.2.18: kommerzielle Zeichen in E-Rüttenscheid (s. Karte) und
deren Verteilung auf die Schriftarten Punkte markieren die Fundorte von
Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen
Umkreis gemacht.
220
4,8
5,4
A
nt
reib
sch
rift
14,5
%
55,2 %
Grotesk
9 6,
20
54
gs
r
Sch
%
55,8 %
a
iqu
hne
& Ta
ko
%
10
,8
Serifenbetont
ffitis
De
1,1 %
2,4 %
0,9 %
1,9 %
4,2 %
5,6
ft
Gebroce
Gra
Schreibschrift
Antiqua
Gebrochen
etont
Tags
r
ch
ri
Serifenb
fitis &
ko
ibs
54
224
Graf
De
Sc
hre
Uhlandstra
Uhlandstra
ße
ße
Paulinen
Paulinen
straße
straße
Ho
Ho
lst
lst
er
er
ha
ha
us
us
er
st
224
5%
Gro
Grotesk
98
tes
k
,6
16
An
Abb. 3.6.2.19: regulatorische Zeichen in E-Rüttenscheid (s. Karte) und
deren Verteilung auf die Schriftarten Punkte markieren die Fundorte von
Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen
Umkreis gemacht.
t
%
,5 %
Gr
ote
sk
a
iqu
Abb. 3.6.2.20: kommerzielle Zeichen in der Nordstadt (s. Karte) und
deren Verteilung auf die Schriftarten Punkte markieren die Fundorte von
Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen
Umkreis gemacht.
Abb. 3.6.2.21: regulatorische Zeichen in der Nordstadt (s. Karte) und
deren Verteilung auf die Schriftarten Punkte markieren die Fundorte von
Fotos. Je dunkler die Farbe, desto mehr Aufnahmen wurden im jeweiligen
Umkreis gemacht.
3.6.2 SCHRIFTARTEN
221
Verteilung der Schriftarten in Sprachen
Abb. 3.6.2.22: Restaurant
Abb. 3.6.2.23: Zigarrengeschäft
Abb. 3.6.2.24: internationale Biermarke
Abb. 3.6.2.25: spanische Bank
Abb. 3.6.2.26: Telekommunikationsunternehmen
Abb. 3.6.2.27: deutsche Biermarke
Abb. 3.6.2.28: Musikband
Abb. 3.6.2.29: Kleidungslabel
Abb. 3.6.2.30: Partyveranstalter
Abb. 3.6.2.31: Fußballfanverein
Abb. 3.6.2.32: soziale Gruppierungen
Abb. 3.6.2.33: Graffiticrew
Abb. 3.6.2.34: Restaurant
Abb. 3.6.2.35: Café
Abb. 3.6.2.36: Friseursalon
Abb. 3.6.2.37: Ladengeschäft
222
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Bei der Verteilung der Schriftarten in den zehn Sprachen im
lateinischen Schriftsystem mit einem Vorkommen von insgesamt über vierzig Belegen fallen zunächst eine Reihe von
Gemeinsamkeiten ins Auge: Die Verwendung von Grotesk-Schriften ist in allen Sprachen recht hoch (von 75 % im
Portugiesischen bis zu 97 % in niederländischen Texten), die
Verwendung von gebrochenen Schriften hingegen überall
gleichermaßen niedrig (zwischen 2,5 % in lateinischen Texten und 0 % Vorkommen im Polnischen und Portugiesischen). Dekorschriften und skripturale Schriften kommen
fast ausschließlich im kommerziellen und transgressiven Bereich vor.
Vergleicht man das prozentuale Mittelfeld, fallen jedoch
ein paar Gewichtungen auf: In der Verteilung der Antiqua-Schriften z. B. wird erkennbar, dass in den Texten in
deutscher Sprache mit 20,9 % die wenigsten Antiqua-Schriften gefunden wurden und im Gegensatz dazu im Spanischen
mit 43,0 % die meisten. Schaut man in die spanischen Texte
im kommerziellen Bereich, so zeigen sich eine Reihe von
Restaurants (Abb. 3.6.2.22), ein Zigarrengeschäft (Abb.
3.6.2.23), ein bekanntes spanisches Bier (Abb. 3.6.2.24)
und eine spanische Bank (Abb. 3.6.2.25), die im Stadtraum
umfänglich mit Antiqua-Schriften werben. Im Gegensatz
dazu wirbt keine der vielen deutschsprachigen Banken in
unserem Korpus mit einer Antiqua-Schrift im Wortsignet – alle verwenden Grotesk-Schriften. Hingegen wählen
aber ein großes deutsches Telekommunikationsunternehmen (Abb. 3.6.2.26) und auch einige deutsche Biermarken
(Abb. 3.6.2.27) ebenfalls Antiqua-Schriften.
Nur 20 % der Texte in deutscher Sprache in unserem
Korpus sind in Antiqua-Schriften gehalten, wohingegen die
Texte in den Landessprachen Italienisch, Französisch und
Spanisch mit 33–43 % deutlich darüber liegen. Es mag Zufall sein, könnte aber vielleicht auch damit zu tun haben,
dass man sich in diesen Ländern seit Beginn des 16. Jahrhunderts zügiger von den schweren gebrochenen Schriften
ab- und den leichten, auf antiken Vorbildern beruhenden romanischen Antiqua-Schriften für den Druck zuwendete.
In englischen und türkischen Texten zeigen sich mit insgesamt 22,6 % und 19,8 % vergleichsweise viele Dekorschriften. Betrachtet man, wie sich die Dekorschriften in
englischen Texten auf die Diskurstypen verteilen, fällt auf,
dass sich der kleinere Anteil mit 31,6 % im kommerziellen
Diskustyp findet und der wesentlich größere Anteil mit
69,4 % im transgressiven Diskurstyp. Dies liegt daran, dass
ein Großteil der urbanen Subkulturen – von Musik- (Abb.
3.6.2.28) und Kleidungslabeln (Abb. 3.6.2.29) über Partyveranstalter (Abb. 3.6.2.30), Fußballfangruppen (Abb.
3.6.2.31) und soziale Gruppierungen mit gesellschaftlichen
Anliegen (Abb. 3.6.2.32) bis zu Graffiticrews (Abb.
3.6.2.33) – mit expressiv gestalteten Stickern in Dekorschriften in englischer Sprache agiert.
In den türkischsprachigen Texten in Dekorschriften verhält es sich genau umgekehrt: Nur 23,9 % sind im transgressiven Diskurstyp zu finden, 75,2 % hingegen im kommerziellen Diskurstyp. Damit finden sich in türkischsprachigen
kommerziellen Texten 26,9 Prozentpunkte mehr Dekorschriften als im Durchschnitt der anderen untersuchten
Sprachen. Zum einen liegt dies an einer gehäuften Verwendung von Schriften mit ornamentalen Elementen, die als
»orientalisch« interpretiert werden können. Man findet sie
in Restaurants (Abb. 3.6.2.34), Cafés (Abb. 3.6.2.35),
Friseursalons (Abb. 3.6.2.36) und Ladengeschäften
(Abb. 3.6.2.37). Zum anderen zeigt sich eine kulturelle
Referenz in Dekorschriften, die in den Formen einzelner
Lettern Assoziationen zum arabischen Schriftsystem auslöst.
Diese Dekorschriften finden sich an Kleiderläden (Abb.
3.6.2.39) und Arztpraxen (Abb. 3.6.2.40). Darüber hinaus
sind viele türkischsprachige Veranstaltungsplakate und
Ladenbeschilderungen im Korpus, in denen die Gestalter
Mut zu außergewöhnlicher Schriftwahl bewiesen haben
(Abb. 3.6.2.38).
Abb. 3.6.2.38: außergewöhnliche Schriftwahl bei einem Fotostudio
3.6.2 SCHRIFTARTEN
223
Die skripturalen Schriften sind in allen untersuchten Sprachen im kommerziellen Bereich häufiger als im transgressiven Bereich und kommen in den anderen Diskurstypen kaum vor. Im Polnischen und Türkischen sind die skripturalen Schriften im kommerziellen Diskurstyp mit 93,3 % und 92,0 % am häufigsten.
In polnischen Texten handelt es sich dabei hauptsächlich um polnische Namen in
skripturalen Schriften an Ladengeschäften (Abb. 3.6.2.41). In türkischen Texten sind
es meist variantenreiche Gastronomiebeschilderungen mit unterschiedlichsten skripturalen Schriften (Abb. 3.6.2.42). Viele Texte sind auch in skripturalen Schriften gehalten, die eine gewisse Nähe zu den als Dekorschriften klassifizierten ornamentalen
Schriften mit Schlingeln und Schnörkeln zeigen (Abb. 3.6.2.43).
Auch bei Texten in italienischer Sprache ist der Anteil im kommerziellen Diskurstyp mit 87,5 % hoch und zeigt sich hier ebenso vornehmlich im Bereich der Gastronomie (Abb. 3.6.2.44). Der gleichfalls im kommerziellen Bereich mit 88,0 % hohe
Anteil der französischen Texte zeigt sich anders als im Türkischen und Italienischen
weniger in der Gastronomie als vielmehr an Ladengeschäften im Bereich Mode (Abb.
3.6.2.45), Kosmetik (Abb. 3.6.2.46), Pâtisserie (Abb. 3.6.2.47) und Antiquitäten
(Abb. 3.6.2.48).
Die beiden Sprachen der Fokus-Untersuchung, die nicht ein rund 90-zu-10-Prozent-Verhältnis kommerzieller zu transgressiver skripturaler Schriften aufweisen, sind
die Texte in englischer und spanischer Sprache. Hier beträgt das Verhältnis kommerzieller zu transgressiven skripturalen Schriften rund 60 % zu 40 %; damit liegt dort der
Anteil unerlaubter Anbringungen deutlich höher. Dafür sind in beiden Sprachen, ähnlich wie zuvor für die Dekorschriften in englischer Sprache, Subkultur-Sticker von
Bands (Abb. 3.6.2.49), Initiativen (Abb. 3.6.2.50) und Sticker-Artists (Abb. 3.6.2.52)
verantwortlich, die sich der variantenreichen, expressiven, individualistischen Ausdrücke skripturaler Schriften in ihren Public Statements bedienen.
Abb. 3.6.2.52: Sticker-Artist
200
160
120
Abb. 3.6.2.39: Kleiderladen
Abb. 3.6.2.40: Arztpraxis
Abb. 3.6.2.41: Ladengeschäft
Abb. 3.6.2.42: Gastronomie
80
40
224
Abb. 3.6.2.48: Antiquitäten-Geschäft
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 3.6.2.49: Musikband
Abb. 3.6.2.50: Initiative
Grotesk
Dekor
Graffitis & Tags
Gebrochen
Schreibschrift
ch
kis
Tü
r
isc
h
Sp
es
gi
Po
r
tu
an
isc
h
sc
h
ni
nd
rlä
de
ie
N
Abb. 3.6.2.47: Konditorei
Antiqua
Po
l
isc
h
in
te
La
sc
h
ni
lie
It a
sis
zö
Fr
an
ts
eu
D
ch
0
isc
h
Abb. 3.6.2.46: Kosemetiksalon
gl
Abb. 3.6.2.45: Modegeschäft
En
Abb. 3.6.2.44: Pizzeria
ch
Abb. 3.6.2.43: Plakat
Serifenbetont
Abb. 3.6.2.51: Verteilung der lateinischen Schriftarten auf Sprachen im »Metropolenzeichen«-Korpus
Die Prozentzahlen geben an, wie viele der Belege eine Schriftart zeigen. Dabei ist zu beachten, dass
auf vielen Fotos ein Beleg abgebildet ist, wie beispielsweise ein Sticker, auf dem mehrere verschiedene
Schriftarten gemeinsam vorkommen, wie beispielsweise Dekor- und Groteskschriften.
3.6.2 SCHRIFTARTEN
225
Abb. 3.6.2.53: Apotheken-Zeichen
Abb. 3.6.2.54: Tradtionell-deutsche Gastronomie
Abb. 3.6.2.55: Biermarke
Gebrochene Schriften kommen fast ausschließlich in Texten
in deutscher und englischer Sprache vor; im Deutschen mit
82,0 % vornehmlich im deutschen Apotheken-Zeichen
(Abb. 3.6.2.53), in den Schildern traditionell-deutscher
Gastronomie (Abb. 3.6.2.54), in Biermarken-Logos (Abb.
3.6.2.55) und Fußballstickern (Abb. 3.6.2.56). Im Englischen mit 68,5 % dagegen vornehmlich in Stickern von Subkulturen, die mit der Wahl einer historisch aufgeladenen gebrochenen Schrift, so könnte interpretiert werden, ein
rebellisches Anders- und Dagegensein zum Ausdruck bringen (Abb. 3.6.2.57) (vgl. Wachendorff 2017).
Formen von Buchstaben entsprechen in gewisser Weise
dem Klang der Stimme eines Sprechers. Wie beim Sprechen
der gleiche Textinhalt auf unterschiedliche Arten und Weisen gesagt werden kann (laut, schüchtern, streng, verspielt,
aggressiv, verführerisch), so können typografische Ressourcen solche zusätzlichen Informationen (wie den »Klang eines
Textes«) über Buchstabenformen mittransportieren. Als Beispiele mögen die sehr verschiedenen Formen und Ausdrucksarten dienen, mit denen Autofahrer gebeten werden,
nicht vor der eigenen Garage zu parken (Abb. 3.6.2.58 u.ff.).
Wie Coupland betont, sorgen alternative Ausdrucksformen eines Inhaltes dafür, dass es sich nicht um den exakt
gleichen Inhalt handelt (Coupland 2007: 88). Denn jede
Differenz kann als eine Differenz in sozialer Bewertung betrachtet werden (Blommaert 2005: 68).
In der Auswahl einer Schriftart sowie einer typografischen Variante wird eine (mehr oder weniger bewusste) Entscheidung einer Schreiberin oder eines Schreibers getroffen – unabhängig davon, ob er oder sie Profi oder Amateurin
ist. Durch typografische Variation wird eine Wertzuschreibung vollzogen und ein Bestreben nach Gruppenzugehörigkeit oder -abgrenzung ablesbar. Die Auswahl einer Schriftart
ist eine soziale Positionierung und damit als Typografie sozial relevant (vgl. Wachendorff i. Dr.).
Abb. 3.6.2.57: Plakat
Abb. 3.6.2.58: Garageneinfahrt
Abb. 3.6.2.59: Garageneinfahrt
Abb. 3.6.2.60: Garageneinfahrt
Abb. 3.6.2.56: Fußballsticker
226
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.6.2 SCHRIFTARTEN
227
3.6.3 Text und Bild in Symbiose
Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte? Bei den Frisuren in Abb. 3.6.3.1 mag das stimmen. Doch verhält es sich in Abb. 3.6.3.2 nicht genau umgekehrt? Wann eignen sich
Bilder besser, wann Texte?
Abb. 3.6.3.1: Schaufenster eines Friseursalons in E-Altendorf
Passanten und Verkehrsteilnehmer eilen durch öffentliche
Räume. Meist wollen sie schnell weg und haben weder Zeit,
längere Informationen zu lesen, noch Interesse daran. Doch
öffentliche Räume sind überfüllt mit Botschaften aller Art,
die wahrgenommen werden wollen (z.B. Werbung) oder
müssen (z.B. Verkehrsschilder). Da helfen kurze Zeichen,
die ins Auge springen und blitzschnell erfasst werden können. Oft sind die beabsichtigten Informationen aber zu
komplex, um sie durch einfache Bilder (z.B. Piktogramme)
hinreichend ausdrücken zu können. Und ausformulierte
Texte könnten nicht mal eben so im Vorbeigehen gelesen
werden. Da können Bild und Text einander helfen wie der
Blinde und der Lahme.
Betrachten wir Abb. 3.6.3.3 Zwar kommen nur vier
Wörter (»und Anlieger frei«, »Einbahnstraße«), zwei Zahlen
und ein Abkürzungsbuchstabe (»19 – 6 h«) vor. Doch zusammen mit konventionalisierten (also geläufigen) anderen Zeichen (roter um weißen Kreis, stilisiertes Fahrrad-Abbild,
weißer Pfeil auf blauem Grund u. a.) »schreiben« die fünf jeweils gerahmten Schilder von oben nach unten gelesen Folgendes vor:
»Fahrzeuge dürfen von 19 Uhr abends bis 6 Uhr morgens nicht in diese Straße fahren. Diese Regelung gilt aber
nicht für Fahrräder [ohne Fahrer?] und Anlieger [und Anliegerinnen?]. Außerdem handelt es sich rund um die Uhr
[seltsamerweise verstehen wir es jedenfalls so] um eine Einbahnstraße, in die man also nur von dieser Richtung aus hineinfahren darf. Fahrräder allerdings dürfen doch in beide
Richtungen fahren.«
Stünden diese 54 Wörter oder eine ähnliche Formulierung als fortlaufender Text da, brauchten selbst erfahrene Leserinnen und Leser mindestens eine halbe bis ganze Minute,
um das zu verstehen. In der hier präsentierten visuell organisierten Fassung geschieht das aber binnen Sekunden, wobei
sich Passanten vermutlich binnen Sekundenbruchteilen lediglich das heraussuchen, was für sie von Belang ist – zum
Beispiel für Fußgänger nämlich gar nichts. Darüber hinaus
müssten Rezipienten in der Textversion auch der deutschen
Sprache deutlich stärker mächtig sein als in der piktographischen bzw. ikonischen Darstellung; mit Blick auf eine mehrsprachige Bevölkerung adressiert also eine ikonische Darstellung die Botschaft an einen größeren Kreis.
Wie praktisch es ist, Text und Bild zu verknüpfen, zeigt
die Statistik: 61 % aller 25 504 Fotos in unserer Datenbank
zeigen Kombinationen aus Bild und Text, knapp 34 % nur
Schriftzeichen (wie Abb. 3.6.3.2) und gut 5 % nur ein oder
mehrere Bilder (wie Abb. 3.6.3.1). Innerhalb dieser Verteilung fallen zwei Diskurstypen aus guten Gründen aus dem
Rahmen. Erstens: Anders als in Abb. 3.6.3.3 meiden regulatorische Zeichen (also z. B. Verkehrszeichen) Text nach Möglichkeit. Der schriftfreie Anteil (z.B. ein Halteverbotsschild)
liegt hier mehr als fünf Mal so hoch (28,1 %) wie im Durchschnitt; dementsprechend gibt es nur zwei Drittel (20,7 %)
so viele rein textbasierte Zeichen (z.B. »Ausfahrt freihalten!«)
und zehn Prozent weniger Text-Bild-Kombinationen
(51,1 %) als insgesamt. Denn gerade dieser Zeichentyp
muss, vor allem von Autofahrern, möglichst schnell wahrgenommen werden, und das geht mit konventionalisierten Bildern erheblich besser als mit Text. Zweitens: Kommerzielle
Zeichen hingegen meiden reine Bilder (1,7 %), denn in der
Regel kommt mindestens ein Eigenname vor. In allen anderen Diskurstypen sind Bilder, Texte und Text-Bild-Kombinationen ungefähr gleich stark vertreten wie im gesamten
Durchschnitt.
Abb. 3.6.3.3: Straßenschilder in DO-Nordstadt
Abb. 3.6.3.2: Schaufenster in BO-Langendreer
228
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
3.6.3 TEXT UND BILD IN SYMBIOSE
229
Abb. 3.6.3.4: Tag an der Jahrhunderthalle Bochum
Abb. 3.6.3.5: Werbeschild in BO-Langendreer
230
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Natürlich haben sie jeweils unterschiedliche Funktionen.
Tags zum Beispiel, also die Signaturen von Graffiti-Writern
(Abb. 3.6.3.4), sind zwar ästhetisch unterschiedlich aufwendig gestaltet, bestehen aber nur aus Buchstaben (reiner Text),
deren Sichtbarkeit im öffentlichen Raum die Anwesenheit,
Revierhoheit oder das Können des Urhebers beweisen soll,
und zwar vorrangig für eine Szene von Insidern. Zeichen im
kommerziellen Bereich dagegen enthalten zwar meist Eigennamen, wollen in der Regel aber auch eine breite Öffentlichkeit für damit verbundene Produkte interessieren, und das
geht am besten über emotionsgeladene Bilder in Verbindung
mit weiteren Textstücken (Abb. 3.6.3.5).
Infrastrukturelle Zeichen schließlich (die also sachlich
mitteilen, was sich wo befindet oder wie heißt) können je
nach Verwendungszweck und Adressaten durchaus Bild
(z.B. das Blitz-Piktogramm als Hinweis auf Hochspannung)
oder Text (Straßennamen) alleine enthalten. Besonders beliebt jedoch sind Verknüpfungen aus einzelnen Wörtern und
allgemein verständlichen einfachen grafischen Zeichen. Abb.
3.6.3.6 zum Beispiel zeigt weithin sicht- und schnell lesbar,
was man sprachlich so ausdrücken könnte: »Der Parkscheinautomat befindet sich hier.« Das Subjekt dieses Satzes wird
auf das Nomen (ohne Artikel) reduziert und für eilige Sucher sogar auf den stilisiert hervorgehobenen Anfangsbuchstaben. Das darunter stehende weiße Dreieck hingegen vertritt das komplette Prädikat. Es wird konventionell als Pfeil
verstanden (obwohl dessen Schaft fehlt) und zeigt auf die gemeinte Position. Das Beispiel führt exemplarisch vor Augen,
wie Texte desto mehr auf Grammatik verzichten können, je
mehr visuelle Zeichen (einschließlich Typographie und Layout) die Bedeutung der gesamten Botschaft tragen.
Besonders interessant sind die Arten und Weisen, wie
Text und Bild innerhalb derselben Botschaft zusammenspielen. Auf Zeichen im öffentlichen Raum (anders als zum Beispiel bei irritierenden Kunstwerken oder komplexen Werbespots) unterstützen sie in der Regel einander, weil es ja auf
möglichst effiziente (einfache, klare und schnelle) Kommunikation ankommt.
In Abb. 3.6.3.3 sorgen die konventionelle Gestaltung
der einzelnen Schilder gemäß Straßenverkehrsordnung, die
Anbringung der fünf Schilder an demselben Pfahl und die
uns geläufige Lektüre von oben nach unten dafür, dass wir
die Botschaft verstehen. Mit Text wird nur das formuliert,
was bildlich nicht leicht dargestellt werden kann (und in der
StVO folglich nicht so vorgesehen ist). Bilder tragen hier
also die Hauptlast einer sachlichen Information und sind
dementsprechend wenig anschaulich, sondern hoch stilisiert, während Textelemente allein als Notnagel und Lückenbüßer dienen.
Ganz anders verhält es sich in Abb. 3.6.3.5. Das Foto
dient als Blickfänger. Auf anschauliche Weise wird hier eine
Situation dargestellt, die ohne den Text etwas rätselhaft
bliebe. Die Schlagzeile »100 Paar Schuhe – und nur 1 Brille?«
ist ohne Verb (also elliptisch) formuliert wie in mündlicher
Umgangssprache, erklärt das Bild und stellt eine neue Frage,
die zusammen mit dem Bild als paradoxes Problem erscheinen soll. Der weiße Text auf dem rosa Balken bietet die Lösung an: »Zusatzbrillen für jede Sehsituation / Wir beraten
Sie gerne!« Dieser Text ist etwas länger; und wer sich die Zeit
genommen hat, so tief in die gesamte Botschaft vorzudringen, der sollte sich durch einen höflichen vollständigen Satz
belohnt und eingeladen fühlen.
Abb. 3.6.3.6 wiederum wirbt nicht um Aufmerksamkeit, sondern richtet sich an bereits Suchende. Deshalb
kommt es mit einem einzigen Wort aus und für den BlitzBlick sogar mit dessen Abkürzung in der konventionalisierten blau-weißen Darstellung. Künftig wird man statt des
Wortes hier das ikonisch-stilisierte Abbild eines Parkscheinautomaten erwarten dürfen: Bilder ersetzen Schriftzeichen
dort, wo sie ergonomisch effizienter wirken. Statt des Pfeils
hätte früher »hier«, »gegenüber« oder ein ähnlich zeigendes
Wort gestanden.
Abb. 3.6.3.6: Hinweisschild in BO-Langendreer
3.6.3 TEXT UND BILD IN SYMBIOSE
231
Abb. 3.6.3.7: Zettel in BO-Langendreer
Abb. 3.6.3.8: Ladenschild in BO-Hamme
232
3. FORMEN DER SICHTBAREN MEHRSPRACHIGKEIT
Eher spielerisch mischt Abb. 3.6.3.7 Wörter und stilisierte
Bildchen zu einem einfachen Bilderrätsel. Als Text aufgelöst
ergäbe sich etwa »Bitte nicht rauchen, Rollerskate fahren,
trinken. Danke!« (Skateboards scheinen erlaubt?) Statt der
Überschrift hätte man die drei Bildchen auch einfach durchkreuzen können. Nur für »Danke« gibt es noch kein textfreies Smiley oder anderes Ikon.
Auch spielerisch, doch mit umgekehrter Text-BildFunktion, dient in Abb. 3.6.3.8 das Wort der Information
und das (informativ überflüssige) Bild der dekorativen Illustration.
Manchmal wird Text selbst zum Bild wie beim Apothekenzeichen in Abb. 3.6.3.9 und in vielen Graffiti-Writings
(Abb. 3.6.3.10).
Vielfach dienen leicht wiedererkennbare, meist stilisierte Bilder dazu, einen Ort oder eine Marke zu erkennen
und den Blick auf einen kürzeren oder längeren Text zu lenken, so etwa bei Logos von Firmen oder Institutionen (Abb.
3.6.3.11)
Und manchmal unterstützen grafische Darstellungen,
die im Gegensatz zu Text ja nicht an eine einzelne Sprache
gebunden sind, auch einfach das Verständnis (wie in Abb.
3.6.3.12). (Hier fällt mehrsprachigen Lesern auf, dass die
türkische Textfassung deutlich weniger sorgfältig gestaltet ist
als die beiden anderen: Sowohl das Komma hinter »Lütfen«
als auch die Punkte auf den beiden »i« in »basiniz« müssen
entfallen.)
Schließlich eignet sich Text mehr für dialogische Kommunikation, im Falle öffentlich angebrachter Zeichen also
für Kommentare oder dialogische Umdeutungen. In Abb.
3.6.3.13 beispielsweise wurde ein bekannter Image-Aufkleber mit der Silhouette des Ruhrgebiets und dem Wortlaut
»Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland« handschriftlich so ergänzt, dass sich ergibt: »Auf Sicher 2010! Das
Ruhrgebiet. ist ohne OB Reiniger Ein starkes Stück Deutschland.« (Dieser Oberbürgermeister wurde 2009 abgewählt.)
Je nach Urheber und Zweck können Text und Bild also
auf ganz verschiedene Weisen zusammenwirken. Bilder dienen dabei als schnell erkennbare Informationsträger (Abb.
3.6.3.3 und Abb. 3.6.3.11), als attraktive Blickfänger (Abb.
3.6.3.5), unter Verbindung dieser beiden Funktionen drittens als Texteinstieg (Abb. 3.6.3.11), und / oder sie unterstützen spracharme Verständigung (Abb. 3.6.3.12), weil sie
unabhängig von Sprachkenntnissen international leicht verständlich sind. Schließlich können sie fünftens der hübschen
Dekoration dienen (Abb. 3.6.3.8).
Auch Texte können dekorativ oder spielerisch verwendet werden (Abb. 3.6.3.7
und Abb. 3.6.3.10). Meist dienen sie aber der Information (Abb. 3.6.3.3, Abb. 3.6.3.8
und Abb. 3.6.3.11), Bilderläuterung und / oder Werbung (Abb. 3.6.3.5). Und manchmal schreiben BürgerInnen ihre Kommentare auf vorgefundene Zeichen (Abb.
3.6.3.13).
Von Fall zu Fall spielen häufig mehrere der genannten Funktionen zusammen,
und entsprechend abwechslungsreich fällt die Arbeitsteilung zwischen Text und Bild
aus. Im öffentlichen Raum werden Bilder tendenziell bevorzugt, weil sie eher ins Auge
fallen und schneller wahrgenommen werden können. Schrift wird meist dann verwendet, wenn die beabsichtigte Information nicht im Bild allein ausgedrückt werden kann
(Abb. 3.6.3.3, Abb. 3.6.3.6, Abb. 3.6.3.7 und Abb. 3.6.3.13). Gelegentlich verschmelzen auch beide zu einem Textbild (Abb. 3.6.3.3 und Abb. 3.6.3.10).
Abb. 3.6.3.12: Automatenaufschrift in E-Altendorf
Abb. 3.6.3.13: Kommentierter Aufkleber in E-Altendorf
Abb. 3.6.3.9: Apothekenschild in DU-Innenstadt
Abb. 3.6.3.10: Writing in DO-Nordstadt
Abb. 3.6.3.11: Transparenter Aufkleber in
BO-Langendreer
3.6.3 TEXT UND BILD IN SYMBIOSE
233
4.
SPRACHBEWERTUNGEN UND
EINSTELLUNGEN ZU
MEHRSPRACHIGKEIT
4.1 Passantenbefragung
Um die Sichtbarkeit von Sprachen im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets nicht nur
quantitativ-distributiv beschreiben sowie mittels Karten und Bildern darstellen, sondern auch ihre gesellschaftliche Bedeutung erfassen zu können, ist eine integrierte Perspektive auf das Vorkommen, die Bewertung sowie Herstellung visueller Mehrsprachigkeit notwendig. Diese soziokulturelle Perspektive auf Rezeption und Produktion
und die sie fundierenden Spracheinstellungen, die für den Sprachenmanagementansatz bestimmend ist, fehlt allerdings in den meisten Untersuchungen im Bereich der
Linguistic-Landscape-Forschung. Die wenigen Studien, die Einstellungen im Kontext
visueller Mehrsprachigkeit behandeln, widmen sich vorrangig sprachenpolitischen
Fragen oder sprachnormativen Aspekten wie korrekte Rechtschreibung und Grammatik. Die methodischen Zugänge reichen von Fragebogenuntersuchungen (Landry / Bourhis 1997) über das Zeichnen von Karten (Lou 2016) bis zu Stadtrundgängen (Garvin 2010) und dem Einsatz von Google-Street-View (Malinowski 2010), um
Eindrücke und Reaktionen zu elizitieren. In der Regel basieren diese Studien aber auf
relativ kleinen Datensätzen.
Im Projekt »Metropolenzeichen« wurde ein zweistufiges Verfahren für die Erhebung der Wahrnehmung und Bewertung sichtbarer Mehrsprachigkeit gewählt, das
qualitative und quantitative Methoden kombiniert. In einem ersten Schritt wurden
Vor-Ort-Interviews mit Passanten in den einzelnen Stadtteilen durchgeführt, um eine
maximale Nähe zum Gegenstand zu erzielen und sozialräumliche Effekte in Bezug auf
die Einstellungen zu erfassen. In einem zweiten Schritt wurde eine Telefonbefragung
mit 1000 Personen durchgeführt, von denen 500 keinen Migrationshintergrund, 300
einen türkischen Migrationshintergrund und 200 einen italienischen Migrationshintergrund hatten (vgl. Kap. 4.2).
236
4. SPRACH BEWERTuNGEN uND EINSTELLuNGEN Zu MEHRSPRACHIGKEIT
Vielen linguistischen Laien fällt es schwer, über Sprache
und Sprachgebrauch und damit auch über visuelle Mehrsprachigkeit zu sprechen, weil es sich hierbei um eine eher
seltene Alltagspraxis handelt. Wenn Sprache, d. h. in diesem
Fall sichtbare Mehrsprachigkeit, spontan thematisiert wird,
dann eher in solchen Fällen, in denen die Texte im öffentlichen Raum auf die eine oder andere Weise auffallen: weil sie
originell sind, eine besondere Ästhetik aufweisen oder durch
ihre Gestaltung und Anbringung – wie etwa im Fall von
Graffitis – auch ein Ärgernis darstellen können. Diese metasprachlichen Aktivitäten lassen sich aber in der Regel nicht
systematisch beobachten, sie müssen vielmehr in der Interviewsituation evoziert werden. Auch sind die Kompetenzen,
über Sprache, Sprachgebrauch und Sprechergruppen zu reflektieren, unterschiedlich ausgeprägt. Diese Unterschiede
und Schwierigkeiten zeigen sich auch in unseren Daten: zum
einen darin, dass einige der Befragten es vermeiden, sich für
oder gegen visuelle Mehrsprachigkeit zu positionieren, und
lieber eine neutrale Werthaltung äußern. Zum anderen lässt
sich beobachten, dass Befragte ihre »Spracheinstellungsäußerungen« (Tophinke / Ziegler 2006) modalisieren, d. h.
sprachlich abschwächen, etwa dann, wenn sie davon ausgehen, dass sie sozial unerwünschte Einstellungen äußern. Vor
diesem Hintergrund interessiert neben der Frage nach den
konkreten Einstellungen auch die Frage, welche Versprachlichungsstrategien im Sprechen über visuelle Mehrsprachigkeit dominieren. Unter dieser sprachlich-formalen Perspektive sollen im Folgenden die geäußerten Werturteile, ihre
Begründungen und kontextuellen Einbettungen sowie die
damit verbundenen sprachlichen Verweise auf die eigene
Gruppe und andere Gruppen analysiert werden, um Aussagen darüber treffen zu können, wie konkret oder schematisch, explizit oder implizit die Befragten ihre Spracheinstellungsäußerungen formulieren. Dabei wird in der Analyse
auch berücksichtigt, ob die Einstellungsäußerungen als individuelle Werthaltungen oder als sozial geteilte Werthaltungen dargestellt werden und welche sprachlichen Mittel zur
Subjektivierung oder Generalisierung sowie zur Abschwächung oder Verstärkung der Sprachwerturteile und anderer
sprachbezogener Äußerungen gewählt werden.
4.1 PASSANTENBEFRAGuNG
237
4.1.1 Datenerhebung
Transkriptionssystem GAT 2
Die aufgenommenen Interviewdaten wurden nach GAT 2 (Selting et al. 2009) als Gesprächstranskript ohne
Satzzeichen und in Kleinschreibung erstellt. Die Transkription erfolgt in literarischer Umschrift und orientiert
Aktuelle Studien in der Spracheinstellungsforschung betonen die Bedeutung qualitativer Methoden, insbesondere interaktionaler, gesprächsorientierter Zugänge, um einen detaillierten Einblick in die Äußerung von Spracheinstellungen, d. h. ihre Konstruktion in der Interaktion (z. B. der Interviewsituation) und kontextuelle Einbettung
zu erhalten (Bellamy 2016; Liebscher / Dailey O’Cain 2009; König 2014; Tophinke / Ziegler 2014). Dementsprechend wurden Vor-Ort-Interviews durchgeführt,
auch um so sichtbare Mehrsprachigkeit und ihre Zusammensetzung besser verstehen,
spezifische Bedarfe ermitteln oder auch Ängste, wie etwa Entfremdungsgefühle, aufdecken zu können.
Befragt wurden 120 Informantinnen und Informanten, d. h. jeweils 15 Personen
pro Stadtteil. Die Vor-Ort-Interviews wurden in allen acht Stadtteilen durchgeführt.
Da mehrere Interviewerinnen und Interviewer neben Deutsch und Englisch auch Türkisch sprechen, konnten die Befragten zwischen verschiedenen Interviewsprachen
wählen. Die Passanten wurden direkt angesprochen, um sie für die Teilnahme am Projekt zu motivieren. Befragt wurden 65 Männer und 55 Frauen im Alter zwischen 18
und 80 Jahren, davon 49 Personen mit und 71 ohne Migrationshintergrund. Um auch
Aussagen über altersspezifische Einstellungsäußerungen machen zu können, wurde
zwischen drei Altersgruppen unterschieden: jüngere Befragte (18 bis 30 Jahre), Befragte mittleren Alters (30 bis 60 Jahre) und ältere Befragte (älter als 60 Jahre).
Die Interviews wurden mehrheitlich auf Deutsch, einige Interviews wurden auf
Türkisch und Englisch geführt. Die Länge der Interviews variiert zwischen 3 und 12
Minuten. Die Interviews wurden auf der Basis eines Interviewleitfadens durchgeführt,
der Fragen zu folgenden Themenkomplexen enthielt: Wahrnehmung von visueller
Mehrsprachigkeit, Stadtteilgeschichte und Zusammensetzung der Bevölkerung, Bewertung von sichtbarer und gesprochener Mehrsprachigkeit, Funktionen von Mehrsprachigkeit, sichtbare Mehrsprachigkeit an öffentlichen Institutionen, Vorzüge und
Nachteile von sichtbarer Mehrsprachigkeit. Die Interviews waren strukturiert, erlaubten aber auch eine gewisse Flexibilität, d. h. spontane Anpassung an die Antworten der
Befragten, sodass die konkrete Abfolge der Behandlung der Themenkomplexe in den
Interviews variiert. Die Audiodaten der Interviews wurden nach GAT 2 (Selting et al.
2009) als Minimaltranskripte mit dem Partitur-Editor EXMARaLDA transkribiert (s.
Infobox) und anschließend für die Auswertung annotiert. Aus datenschutzrechtlichen
Gründen wurden alle personenbezogenen Daten anonymisiert. Die Daten der Interviewer und Befragten wurden wie folgt kodiert: INT + Namenskürzel für die Interviewerkennzeichnung, für die Informantenkennzeichnung wurden die Informationen
Stadt (z. B. Du für Duisburg) und Stadtteil (z. B. Mar für Marxloh) kodiert sowie die
Interviewten als Teilnehmende nummeriert, z. B. DuMar5. Bei den Produzenteninterviews (vgl. Kap. 4.3.3) wurde der Sprecherkennzeichnung noch ein P vorangesetzt,
z. B. PBoLan2.
238
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
sich an der Orthografie. Das Transkript wird in einzelne Segmente untergliedert, deren Ende durch einen
vertikalen Strich | markiert sind. Folgendes wird im Minimaltransskript markiert:
[ ]
Überlappungen und Simultansprechen
[ ]
|
Grenzzeichen am Ende eines Segments
Ein- und Ausatmen:
°h, °hh, °hhh
hörbares Einatmen, je nach Länge
h°, hh°, hhh°
hörbares Ausatmen, je nach Länge
Pausen:
(.)
Mikropause
(-), (--), (---)
kurze, mittlere, längere Pause
(2.0)
Pause in Sekunden
Verzögerungssignale:
äh, öh, ähm
sog. »gefüllte Pausen«
Para- und nonverbale Handlungen:
haha, hehe, hihi
silbisches Lachen
((lacht)), ((hustet))
Beschreibung von Handlungen und Ereignissen
»»lachend««
Lachpartikeln in der Rede, mit Reichweite
Rezeptionssignale:
hm, ja, nein, nee
einsilbige Signale
hm_hm, ja_a,
zweisilbige Signale
nei_ein, nee_e
Sonstige Konventionen:
(
)
unverständliche Passage ohne weitere Angaben
(xxx), (xxx xxx)
ein bzw. zwei unverständliche Silben
(solche)
vermuteter Wortlaut
(also / alo), (solche / welche) nicht mit Sicherheit identifizierbare Laute / Silben
((…))
Auslassung im Transkript
4.1.1 DATENERHEBUNG
239
4.1.2 Einstellungen zu
visueller Mehrsprachigkeit
Spracheinstellungen werden in der Sprachwissenschaft als Phänomene begriffen, die
sich auf einzelne Sprachen und ihre Strukturen, den konkreten Sprachgebrauch sowie
die Sprecherinnen und Sprecher beziehen können. In neueren Arbeiten wird betont,
dass Spracheinstellungsäußerungen als soziokulturell fundiert und interaktional funktionalisiert zu betrachten sind, d. h. auf den Gesprächs- und damit auch auf den Interviewpartner zugeschnitten werden. Spracheinstellungsäußerungen sind insofern eine
Form des sozialen Handelns und geben Strategien der Selbstdarstellung zu erkennen,
wie etwa die Inszenierung als weltoffen, heimatverbunden, pragmatisch, dogmatisch
oder tolerant.
Als Einstiegsfrage diente die Frage, ob mehrsprachige Schilder oder auch Schilder,
die in einer anderen Sprache als Deutsch verfasst sind, von den Befragten wahrgenommen werden. Die meisten Befragten geben an, mehr- bzw. anderssprachige Schilder
wahrzunehmen (67,5 %). Weitere 17,5 % beantworteten die Frage erst mit einem Ja,
nachdem wir auf mehr- bzw. anderssprachige Schilder in der unmittelbaren Umgebung hingewiesen hatten. 15 % der Befragten bekunden, dass ihnen noch keine mehrbzw. anderssprachigen Schilder in dem Stadtteil aufgefallen sind. Dabei zeigen sich
klare Unterschiede in der Wahrnehmung von visueller Mehrsprachigkeit, je nachdem
ob die Befragung in den nördlichen oder in den südlichen Stadtteilen stattgefunden
hat (vgl. Abb. 4.1.2.1). So nehmen die Befragten, die in den Stadtteilen nördlich der
A 40 interviewt wurden, visuelle Mehrsprachigkeit deutlich häufiger wahr als die Befragten, die in den Stadtteilen südlich der A 40 interviewt wurden. Offenbar schlägt
sich die höhere ethnische Vielfalt in den nördlichen Stadtvierteln in einer bewussteren
Wahrnehmung sichtbarer Mehrsprachigkeit nieder.
Stadtteile nördlich der A 40
Duisburg-Marxloh
100 %
Stadtteile südlich der A 40
Duisburg-Innenstadt
60 %
Essen-Altendorf
80 %
Essen-Rüttenscheid
53 %
Bochum-Hamme
87 %
Bochum-Langendreer
47 %
Dortmund-Nordstadt
93 %
Dortmund-Hörde
67 %
Differenziert man die Ergebnisse nach den Variablen Alter und Migrationshintergrund, wird deutlich, dass die Informanten ohne Migrationshintergrund, die ein mittleres
oder höheres Alter haben, sichtbare Mehrsprachigkeit wesentlich häufiger wahrnehmen als jüngere Informanten ohne
Migrationshintergrund (vgl. Abbildung 4.1.2.2).
Bei den Befragten mit Migrationshintergrund ist eine
umgekehrte Tendenz festzustellen: Hier sind es vor allen
Dingen die jüngeren Informanten und diejenigen, die ein
mittleres Alter haben, denen sichtbare Mehrsprachigkeit auffällt (vgl. Abbildung 4.1.2.3).
Wie lässt sich dieses Ergebnis deuten? Eine mögliche Erklärung für das Antwortverhalten der jüngeren Befragten
ohne Migrationshintergrund mag darin liegen, dass für sie
(sichtbare) Mehrsprachigkeit zum Alltag gehört und deshalb
auch nicht »so aktiv« (BoHam11) wahrgenommen wird.
Das Antwortverhalten der älteren Befragten mit Migrationshintergrund mag eventuell daraus resultieren, dass sie ihre
Herkunftssprachen als unmarkierte Sprachen wahrnehmen
und deshalb nicht als Teil einer mehrsprachigen Linguistic
Landscape assoziieren.
Diejenigen Befragten, die angaben, visuelle Mehrsprachigkeit wahrzunehmen, wurden in einer Anschlussfrage gefragt, welche Sprachen ihnen konkret in der Umgebung auffallen. Für die große Mehrheit der Befragten ist Türkisch
diejenige nicht-deutsche Sprache, die am meisten wahrgenommen wird (87 Nennungen), gefolgt von Englisch (44
Nennungen), Arabisch (32 Nennungen), Italienisch (16
Nennungen) und Russisch (10 Nennungen). Interessant ist
es, dieses Ergebnis in Vergleich zu setzen mit dem tatsächlichen Vorkommen der Sprachen im öffentlichen Raum der
Metropole Ruhr (vgl. Kap. 3.1.1). Englisch und Türkisch
sind in der Tat die Sprachen, die in dieser Region nach
Deutsch am häufigsten vorkommen. Allerdings tritt Englisch mit 20 % bei Weitem öfter auf als Türkisch (4 %). Arabisch wird mit 32 Nennungen sehr stark wahrgenommen, ist
aber lediglich mit 0,7 % im Ruhrgebiet öffentlich sichtbar.
Es scheint, als ob nicht-europäische Sprachen wie Türkisch
und Arabisch mehr Aufmerksamkeit erregen und somit stärker wahrgenommen werden als europäische Sprachen wie
Englisch oder Französisch. Im Gegensatz zu Englisch und
Französisch haftet Sprachen wie Arabisch oder Russisch eine
»visuelle Fremdheit« an, da sie mit anderen Schriftsystemen
geschrieben werden und somit stärker auffallen. Das dürfte
ein Grund dafür sein, dass diese Sprachen intensiver wahrgenommen werden als sie tatsächlich vorkommen.
25
20
15
10
5
0
Alt
Ja
Mittel
Nein
Jung
Ja (mit Hinweis)
Abb. 4.1.2.2: Wahrnehmung visueller Mehrsprachigkeit von Befragten
ohne Migrationshintergrund differenziert nach Alter
25
20
15
10
5
0
Alt
Ja
Mittel
Nein
Jung
Ja (mit Hinweis)
Abb. 4.1.2.3: Wahrnehmung visueller Mehrsprachigkeit von Befragten
mit Migrationshintergrund differenziert nach Alter
Abb. 4.1.2.1: Wahrnehmung visueller Mehrsprachigkeit differenziert nach Stadtteilen
240
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.1.2 EINSTELLUNGEN ZU VISUELLER MEHRSPRACHIGKEIT
241
Differenziert man die Ergebnisse nach Stadtteilen, zeigt
sich, dass in den nördlichen Stadtteilen mehr Befragte antworten, dass sie Türkisch am häufigsten wahrnehmen, gefolgt von Arabisch, Englisch, Italienisch, Rumänisch, Polnisch, Chinesisch, Bulgarisch und Spanisch. In den südlichen
Stadtteilen geben die Befragten ebenso an, dass sie Türkisch
am meisten wahrnehmen (allerdings weniger als im Norden), gefolgt von Englisch, Italienisch, Französisch, Chinesisch, Russisch, Arabisch, Polnisch und Spanisch. Daraus
lässt sich schließen, dass die Nord-Süd-Teilung nicht nur
zentral für das unterschiedliche Vorkommen von sichtbarer
Mehrsprachigkeit in den Stadtteilen ist, sondern dass sich
auch die Wahrnehmung der Sprachen durch die Passantinnen und Passanten hier und dort sehr unterscheidet. Im
Norden werden wesentlich mehr Migrantensprachen wahrgenommen als im Süden.
Wie positionieren sich die Befragten gegenüber visueller
Mehrsprachigkeit? Die geäußerten Einstellungen lassen sich
global nach positiver und negativer Einstellung sowie neutraler bzw. unentschlossener Haltung zu visueller Mehrsprachigkeit zusammenfassen, vgl. Abb. 4.1.2.4:
Deutlich wird, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten eine positive Einstellung gegenüber visueller Mehrsprachigkeit hat. Ein detaillierter Blick zeigt jedoch, dass
sich die Einstellungsprofile der Informantengruppen mit
Blick auf die Nord-Süd-Unterteilung unterscheiden und ein
komplexes Bild zu erkennen geben. Während die Befragten
mit Migrationshintergrund in den nördlichen Stadtteilen
insgesamt deutlich positiver gegenüber visueller Mehrsprachigkeit eingestellt sind (66 %) als die Befragen ohne Migrationshintergrund (59 %) und auch weniger häufig angeben,
keine dezidierte Einstellung zu diesem Thema zu haben
(11 %), zeigen die Einstellungsprofile der Befragten mit und
ohne Migrationshintergrund in den südlichen Stadtteilen
eine große Übereinstimmung, wobei die positive Einstellung
der Befragten mit Migrationshintergrund um 10 % niedriger liegt als die ihrer entsprechenden Vergleichsgruppe im
Norden. Das bedeutet, dass der Faktor Migrationshintergrund nur in den nördlichen Stadtteilen einstellungsrelevant
ist, in den Stadtteilen südlich des »Sozialäquators A 40« ebnen sich die Unterschiede ein. Eine denkbare Erklärung
hierfür könnte in der Assimilationstendenz von sozial aufgestiegenen Zuwanderern liegen.
Innerhalb der Interviews greifen die Befragten auf unterschiedliche Argumentationsmuster zurück, um ihre positive oder negative Einstellung gegenüber sichtbarer Mehrsprachigkeit zu begründen. Wir fragten zum Beispiel: »Was
ist das für Sie für ein Gefühl, wenn Sie Schilder in Sprachen
sehen, die Sie nicht verstehen?« oder »Würden Sie in einem
Geschäft einkaufen gehen, das in einer anderen Sprache als
Deutsch wirbt? Warum? Warum nicht?«. Durch die Analyse
der Interviewdaten konnten neun immer wiederkehrende
Argumentationsmuster bestimmt werden, die die Befragten
verwenden, um ihre Einstellung gegenüber visueller Mehrsprachigkeit zu begründen:
positiv
N = 120
+MH
negativ
-MH
+MH
Funktional-pragmatisches Argument
Argument der Multikulturalität
Dieses Argument beruht auf der Strategie, auf die Konsequenzen und Ziele, d. h. die Funktion von sichtbarer Mehrsprachigkeit zu verweisen. Zentral sind hier Aspekte wie Verständlichkeit, barrierefreie Kommunikation, Information
und Orientierung im öffentlichen Raum.
Mit dem Argument der Multikulturalität weisen die Befragten auf die vielen verschiedenen Kulturen, Traditionen und
Lebensstile im Stadtviertel hin, die durch mehrsprachige
Schilder sichtbar werden können.
Argument aus der eigenen Erfahrung
Mit dem normativen Argument werden bestimmte Forderungen und Rechte im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit erhoben. Sprachlich werden diese häufig durch die Modalverben »sollen« oder »müssen« ausgedrückt.
Dieses Argument basiert auf dem Rückbezug auf eigene Erfahrungen in ähnlichen Situationen. Dabei kann sowohl auf
individuelle Erfahrungen Bezug genommen werden (»ich«)
als auch auf kollektive Erfahrungen (»wir«), um auf die eigene soziale Gruppe oder die Mehrheitsgesellschaft zu verweisen oder die Plausibilität der geäußerten Einstellung zu
erhöhen. Der Bezug auf solche schon selbst erlebte Situationen soll die Glaubwürdigkeit der eigenen Einstellung erhöhen.
Argument der Faktizität
Das Argument der Faktizität stützt sich auf Aussagen, die
keine Möglichkeiten für einen anderen Standpunkt zulassen.
Die Gegebenheiten werden als unabänderliche Fakten dargestellt. Eine explizite Bewertung wird dadurch vermieden.
Argument der Beheimatung
Das Argument der Beheimatung betrachtet die öffentliche
Sichtbarkeit von Herkunftssprachen als Symbol für Beheimatung. Damit wird eine emotionale Verbindung mit einem
bestimmten Stadtteil, einer bestimmten Stadt oder Region
ausgedrückt. Das Beheimatungsargument zeigt eine Beziehung zwischen Ort und Identität dadurch an, dass Orten
und ihrer (hier: sprachlichen) Ausgestaltung eine affektive
Bedeutung zugeschrieben wird.
Normatives Argument
Integrations-Argument
Das Integrationsargument besagt, dass Mehrsprachigkeit,
insbesondere der Gebrauch von Herkunftssprachen im öffentlichen Raum, entweder ein Hinderungsgrund oder aber
eine Hilfe für erfolgreiche Integration von Zugewanderten
bzw. Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sein kann.
Affektives Argument
Affektive Argumente bringen subjektive Empfindungen und
Gefühle gegenüber visueller Mehrsprachigkeit zum Ausdruck. Dafür werden häufig Gefühlsverben wie beispielsweise »fühlen« verwendet.
Ökonomisches Argument
Das ökonomische Argument weist auf die Wirtschaftlichkeit
und Rentabilität von mehrsprachigen Schildern hin bzw. auf
das Gegenteil.
neutral
-MH
+MH
-MH
Norden
66 %
59 %
23 %
23 %
11 %
18 %
Süden
56 %
58 %
35 %
36 %
9%
6%
Abb. 4.1.2.4: Einstellung der Informanten differenziert nach nördlichen und südlichen Stadtteilen sowie Migrationshintergrund (MH)
242
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.1.2 EINSTELLUNGEN ZU VISUELLER MEHRSPRACHIGKEIT
243
Abbildung 4.1.2.5 zeigt die Argumente, die am häufigsten für die Befürwortung von visueller Mehrsprachigkeit gebraucht werden, und zwar differenziert nach Befragten mit
und ohne Migrationshintergrund (MH).
Die Auswertung zeigt Ähnlichkeiten und Unterschiede
im Antwortverhalten der beiden Befragtengruppen. So dominiert in beiden Gruppen das funktional-pragmatische
Argument, um eine positive Einstellung gegenüber visueller
Mehrsprachigkeit zu begründen. Dabei wird meistens auf
den Nutzen (z.B. Orientierungshilfe, Abbau von Sprachbarrieren) hingewiesen, wie die Beispiele 1 bis 3 zeigen:
Übersetzung: türkisch ist gut für die, die kein deutsch können|
zum beispiel ((…)) unsere alten leute können zum beispiel kein
deutsch meistens, unsere mütter und väter können nicht| für
die wäre es eigentlich ganz gut|
Die Befragten ohne Migrationshintergrund erkennen
das Bedürfnis von Migrantinnen und Migranten nach Orientierung und Information an, damit diese im öffentlichen
Raum handlungs- und orientierungsfähig sind. Gleichzeitig
liegt in diesem Akt der Anerkennung auch die implizite Anerkennung der Sichtbarkeit der Anderen (vgl. Honneth
2003). Das bedeutet jedoch nicht, dass die grundsätzliche
Anerkennung der Sichtbarkeit auch schon im Aufmerksamkeitsfokus der Anerkennungsgeber steht. Auch für die
Gruppe der Befragten mit Migrationshintergrund steht der
Nützlichkeitsbezug visueller Mehrsprachigkeit im Vordergrund. Allerdings wird der Adressatenkreis konkreter gefasst,
indem die Gruppe der älteren Migranten explizit miteinbezogen wird.
Unsere Daten zeigen außerdem, dass in der Gruppe der
Befragten ohne Migrationshintergrund 76 % der befragten
Frauen ihre positive Einstellung mit einem funktional-pragmatischen Argument begründen, während dies nur bei 58 %
der befragten Männer der Fall ist. Diese Tendenz lässt
sich auch bei den Befragten mit Migrationshintergrund
1. Beispiel: (DoHör10; jung)
das (.) find ich ganz gut (--)| ja (0.5)| ja für leute die jetzt neu
nach deutschland gekommen sind| dann können die sich vielleicht besser (-) orientieren (0.6)|
2. Beispiel: (BoLan4; mittel)
würde ja schon barrierefreiheiten ein bisschen ermöglichen|
gerade für ausländische mitbürger vielleicht|
3. Beispiel: (DuMar6; mittel)
türk ö almanca bilmeyenler için mesela| ((…))
bizim ihtiyarlar yani mesela bilmiyorlar almancayı
(-) coğu|annelerimiz babalarımız bilmiyorlar| onlar için aslında
çok iyi olur|
Sonstige Argumente
Ökonomisches Argument
Affektives Argument
Affektives Argument
Normatives Argument
Normatives Argument
Argument der Beheimatung
Argument der Beheimatung
Argument der Multikulturalität
Argument der Multikulturalität
Argument der Faktizität
Argument der Faktizität
Argument aus der eigenen Erfahrung
Argument aus der eigenen Erfahrung
Funktional-pragmatisches Argument
Funktional-pragmatisches Argument
0
20
+ MH
40
- MH
Abb. 4.1.2.5: Häufigkeit der Argumentationsmuster für visuelle Mehrsprachigkeit
244
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
60
80
100
fahrung der Beheimatung an ihre alte Heimat, die Türkei,
binden und so das Spannungsverhältnis zwischen alter und
neuer Heimat markieren.
beobachten. Auch hier greifen mehr Frauen (83 %) als Männer (46 %) auf ein funktional-pragmatisches Argument zurück, um ihre positive Einstellung gegenüber visueller Mehrsprachigkeit zu begründen. Darüber hinaus geben die Daten
altersspezifische Unterschiede zu erkennen. So argumentieren
in der Gruppe der Befragten mit Migrationshintergrund vor
allen Dingen die Informanten der mittleren Generation
funktional-pragmatisch (39 Nennungen). In der Gruppe der
Befragten ohne Migrationshintergrund sind es hingegen
mehrheitlich die Befragten der älteren Generation (36 Nennungen).
Ein bedeutendes Ergebnis ist, dass die Befragten mit Migrationshintergrund am zweithäufigsten das BeheimatungsArgument anführen. Interessant ist dabei, dass dieses Argument mehrheitlich in den Interviews genannt wird, die auf
Türkisch geführt wurden. Dies lässt sich so deuten, dass sich
die Befragten durch die Wahl ihrer Sprache in ihrer
Individualität, d. h. in der Besonderheit, eine andere Sprache
als Deutsch zu sprechen, wahrgenommen und anerkannt
fühlen. Dies wird umso deutlicher, wenn die Befragten zur
Versprachlichung ihrer Argumentation auf ihre Herkunftssprache zurückgreifen, d. h. Türkisch wählen. Eine Verstärkung erfährt das Beheimatungs-Argument dadurch, dass sich
die Befragten häufig eines Vergleichs bedienen, d. h. die Er-
0
10
Interview auf Türkisch
4. Beispiel: (DuMar15; mittel)
ne hissediyorum| (0.5) türkiye gibi geliyor|
Übersetzung: Was ich empfinde| Als ob ich in der Türkei wäre|
5. Beispiel: (DoNor3; mittel)
şimdi türkçe gördüğüm bir sokakta| (0.7)| kendimi türkiyede
gibi hissediyorum|
Übersetzung: Wenn ich in einer Straße türkisch sehe| dann
fühle ich mich wie in der Türkei|
6. Beispiel: (BoLan5; mittel)
ist ein schönes gefühl| so man sieht man| ich äh fühle mich so
wie in (-) äh meine heimat|
Den auffälligen Zusammenhang zwischen der Wahl der
Sprache des Interviews (Deutsch, Türkisch) und der Wahl
des Argumentationsmusters illustriert Abb. 4.1.2.6.
Am häufigsten gebrauchen die Befragten mittleren Alters (30 bis 60 Jahre) das Argument der Beheimatung, in
dieser Gruppe nennen 14 Befragte das Argument. Bei den
Jüngeren (18 bis 30 Jahre) ist dieses Argument mit nur 6
Nennungen kaum relevant, für die Älteren (über 60
20
30
40
50
Interview auf Deutsch
Abb. 4.1.2.6: Sprachwahl und Wahl der Argumentationsmuster zur Befürwortung von visueller Mehrsprachigkeit
4.1.2 EINSTELLUNGEN ZU VISUELLER MEHRSPRACHIGKEIT
245
Jahre) spielt es gar keine Rolle (1 Nennung). Offensichtlich
verbindet diese Gruppe Gefühle der Beheimatung nicht mit
der öffentlichen Sichtbarkeit ihrer Herkunftssprache – oder
sie äußert diesen Zusammenhang nicht.
In der Gruppe der Befragten ohne Migrationshintergrund ist das Argument der Beheimatung dagegen ein selten
angeführtes Argument. Es wird aber – ähnlich wie von den
Befragten mit Migrationshintergrund – im Spannungsverhältnis von »Beheimatung und neuer Heimat« (Uslucan
2014) wahrgenommen (vgl. Beispiel 7).
7. Beispiel: (BoHam11; mittel1,)
und ich finde das auch schön dass man irgendwo| auch wenn
man in deutschland fuß fasst| und hier auch groß wird und (-)|
sich hier verwirklicht trotzdem noch äh| (1.1)| dieses gefühl für
die heimat hat|
Viele der Befragten sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund (10 % bzw. 8 %) befürworten den Gebrauch
mehrsprachiger Schilder auch mit dem Argument aus der
eigenen Erfahrung. Dabei stehen solche Kontexte im Vordergrund, die einen Vergleich mit eigenen Erfahrungen von
Fremdheit nahelegen (sowohl faktisch als auch im Als-obModus) und zeigen, dass man sich mit den neu angekommenen Migrantinnen und Migranten identifiziert und ihre Bedürfnisse anerkennt. Die Befragten mit Migrationshintergrund
verdeutlichen mit diesem Argument gleichzeitig, dass sie
selbst bereits erfolgreich sprachlich integriert sind. Am häufigsten wird dieses Argument in der Gruppe der Befragten
mit Migrationshintergrund von denjenigen genannt, die einen hohen Bildungsabschluss (Abitur) besitzen. Der Verweis
auf eigene (faktische oder potentielle) Erfahrungen drückt
sich sprachlich in der Verwendung des Pronomens der 1.
Person Singular (»ich«) aus (vgl. die Beispiele 8 & 9).
8. Beispiel: (EsRüt1; mittel)
ja wie gesagt äh| es gibt auch äh leute| wie ich zum beispiel|
am anfang (-) konnte ich gar gar kein deutsch sprechen|
9. Beispiel: (DoNor4; jung)
wenn ich in einem fremden land bin| bin ich auch immer froh|
wenn ich irgendwo (.) schilder (.) in meiner sprache sehe| oder
in einer die ich verstehe|
Die Befragten ohne Migrationshintergrund versetzen
sich also in die Situation, selbst in einem fremden Land zu
sein und die Landessprache nicht zu verstehen. Sie untermauern ihre positive und affirmative Einstellung damit, dass
sie unter diesen Umständen auch froh wären, Schilder in
246
4. SPRACH BEWERTuNGEN uND EINSTELLuNGEN Zu MEHRSPRACHIGKEIT
ihrer eigenen Sprache vorzufinden. Sie bringen so ihr Verständnis für die Bedürfnisse von Zugewanderten zum Ausdruck und erkennen ihre sprachliche Andersheit an.
Ein weiteres von den Befragten ohne Migrationshintergrund häufig verwendetes Argument für die Zustimmung zu
mehrsprachigen Schildern ist das Argument der Faktizität,
d. h. der Verweis auf bestimmte Umstände, wie etwa, dass es
viele Menschen in Deutschland gibt, die nicht Deutsch sprechen. Mit dem Verweis auf die Faktizität bestimmter Sachverhalte lässt sich eine explizite Begründung der positiven
Einstellung umgehen. Dieses Argument wird mehrheitlich
von älteren Befragten (ab 60 Jahren) gebraucht.
verursacht bei diesen Informanten positive Gefühle. Wie die
Beispiele 14 und 15 zeigen, tragen mehrsprachige Schilder
zu einem Gefühl der Anerkennung und Wertschätzung bei,
das psychische Erleichterung auslöst:
14. Beispiel: (DoNor13; mittel)
(-) hem almanca hem türkçe bir levha görsem| (0.6)| bize bir|
(0.7)| güzellik yapıldığını düşünüyorum| psikolojik olarak da
rahatlatıyor bu insanı| (1.0)|
Übersetzung: wenn ich ein deutsch-türkisches schild sehe,
denke ich, man hat uns was schönes angetan| dadurch fühlt
man sich psychisch erleichtert
10. Beispiel: (DoHör1; jung)
finde ich völlig in ordnung| (0.5) finde ich sinnvoll| (0.4) ja weil
es einfach genug ähm (0.8) bürger gibt| die ähm die eben
nicht deutsch sprechen|
15. Beispiel: (DoNor6; jung)
kendimi iyi hissediyorum| ((lacht))| (0.9)| ya| türkçe kendimi
daha iyi ifade edebildiğim için|
Übersetzung: ich fühle mich gut| ja| weil ich mich auf türkisch
besser ausdrücken kann|
11. Beispiel: (BoHam4; alt)
ja gut ich mein wir haben jetzt auch sehr viele ausländische mitbürger| die müssen ja auch sich irgendwie verständigen
können (-)|
Mit dem Argument der Multikulturalität betonen die
Befragten mit Migrationshintergrund den Vorteil des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen.
Einige Befragte (vor allem die mit einem hohen Bildungsabschluss) begründen ihre positive Einschätzung auch
mit dem Argument der Multikulturalität, also damit, dass
Deutschland immer multikultureller werde.
12. Beispiel: (DoNor7; jung)
ist gut| ja das ist dass wir °hh äh (0.7) kann viele viele kultur|
viele viele veränderungen von andere land kennenlernen (-)|
13. Beispiel: (EsRüt13; jung)
wie nennt man das so| diverser wird| einfach so| das ist äh|
(0.7) gibt einfach mehr (1.0) eigentümlichkeiten so| das finde
ich eigentlich ganz ganz positiv sogar (1.0)|
Diese Befragten erkennen Diversität und kulturelle
Vielfalt als Bereicherung an und weisen auf die Chance hin,
voneinander zu lernen. Gegenseitige Anerkennung als
Grundbedingung für Toleranz bietet die Möglichkeit, dass
die verschiedenen Kulturen in einen Austausch treten. Der
Befragte in Beispiel 12 nimmt dabei eine Selbstkategorisierung vor und identifiziert sich mit dem Personalpronomen
»wir« als Teil einer bestimmten Gruppe, die er von anderen
Gruppen abgrenzt (»viele kultur(en)«).
Das affektive Argument wird nur von Befragten mit
Migrationshintergrund gebraucht, um eine positive Einstellung gegenüber visueller Mehrsprachigkeit zu begründen.
Das Vorhandensein von Schildern in der eigener Sprache
16. Beispiel: (DuMar5; mittel)
finde ich okay (--)| nein (--) keine (0.8)| umso mehr sprachen
umso mehr beschilderte äh (1.0) schilder (0.9)| eh (---) können
nur (1.9) mehrere personen von (--) woanders hierhin bringen
(---)| das (.) äh wirde würde keinen schaden bringen (--) weil äh|
umso mehr menschen (0.8)| verschiedene menschen (0.4)|
das kann nur was gutes bringen (---)|
17. Beispiel: (EsRüt4; mittel)
i think eh (1.1)| people are interested in other cultures| so
hm_hm (0.5)|
Übersetzung: Ich denke| die Menschen interessieren sich für
andere Kulturen|
Wesentlich seltener wird mit einem normativen Argument eine positive Einstellung gegenüber visueller Mehrsprachigkeit untermauert. Dabei wird entweder ex negativo
argumentiert, wie in Beispiel 18, oder es wird darauf hingewiesen, dass Mehrsprachigkeit die Möglichkeiten der
Spracherfahrung in der Alltagswelt erweitert (Beispiel 19):
18. Beispiel: (EsAlt13; jung)
yani hani almanyaysa sadece herşey almancadan| (---) gitmiyor|
Übersetzung: Nur weil man in Deutschland ist| muss nicht alles auf Deutsch ausgeschildert sein|
4.1.2 EINSTELLuNGEN Zu VISuELLER MEHRSPRACHIGKEIT
247
19. Beispiel: (DuMar10; mittel)
bence normal insanları kısıtlamak bir fayda getirmez diye
düşünüyorum|
Übersetzung: Ich finde das normal; Menschen zu begrenzen,
bringt nichts
Mit welchen Argumenten sprechen sich die Befragten
gegen visuelle Mehrsprachigkeit aus, und wie häufig werden
welche Argumentationsmuster verwendet? Abb. 4.1.2.7 fasst
die Ergebnisse differenziert nach Befragten mit und ohne
Migrationshintergrund zusammen.
In beiden Untersuchungsgruppen wird am häufigsten
auf normative und funktional-pragmatische Argumente
Bezug genommen. In der Gruppe der Befragten ohne Migrationshintergrund wird sprachliche Integration als eine
Muss-Leistung angesehen, die von Migrantinnen und Migranten zu erbringen ist. Es wird gefordert, dass diese »der
deutschen Sprache mächtig sein« sollten. Zum Teil wird
diese Forderung auch als Bedingung für bestimmte Rechte,
wie etwa das Bleiberecht, formuliert (vgl. die Beispiele 20 &
21).
20. Beispiel: (BoLan11; alt)
da halte ich eigentlich gar nichts von| ich denke wenn man in
deutschland lebt| sollte man auch der deutschen sprache
mächtig sein| (-) ne| ((...))|
Sonstige Argumente
23. Beispiel: (DuInn15; mittel)
wer hier äh »»lachend« nach deutschland kommt«| (-) dann soll
er (.) deutsch können|
Affektives Argument
Normatives Argument
Integrationsargument
Argument aus der eigenen Erfahrung
Funktional-pragmatisches Argument
0
5
+ MH
10
15
20
- MH
Abb. 4.1.2.7: Häufigkeit der Argumentationsmuster gegen visuelle
Mehrsprachigkeit
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
Dabei fällt auf, dass das normative Argument am häufigsten von den ältesten Befragten angeführt wird (15 Nennungen), während es von den Befragten mittleren Alters nur
achtmal und von den jüngsten Befragten sogar nur viermal
genannt wird.
Ähnlich argumentieren auch viele Befragte mit Migrationshintergrund, wenn sie sich gegen visuelle Mehrsprachigkeit aussprechen. Ihre Einstellungsäußerungen verdeutlichen, dass sie sprachliche Integration als eine Leistung
verstehen, die von Migrantinnen und Migranten erwartet
wird und an der die Integrationsbereitschaft von neu Zugewanderten gemessen wird. Diese Erwartungserwartung äußert sich sprachlich in der Verwendung der Modalverben
»müssen« und »sollen«, die unterschiedliche Grade der Notwendigkeit bezeichnen, in die der Sachverhalt – die Integration – eingeordnet wird. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass ausschließlich die männlichen Befragten und
in dieser Gruppe wiederum diejenigen mittleren Alters (30
bis 60 Jahre) auf das normative Argument zurückgreifen (18
Nennungen von insg. 25). Eine Erklärung für dieses Argumentationsverhalten könnte sein, dass die männlichen Migranten mittleren Alters, also diejenigen der sog. zweiten
Migrantengeneration, die Beherrschung der deutschen Sprache am stärksten als kollektiven Erwartungsdruck erleben – im Beruf und im Alltag.
22. Beispiel: (DuMar12; jung)
halt wir leben in deutschland| so wie gesagt habe| (0.4) halt äh|
wir müssen uns ja hier anpassen|
Ökonomisches Argument
248
21. Beispiel: (BoLan14; alt)
wir leben hier in deutschland| entweder lernen sie deutsch|
auch lesen (---)| oder sie gehen wieder (0.8)|
25
24. Beispiel: (DoNor11; mittel)
210 DoNor11: weil ich finde die leute die hier hin
kommen (--)|
211
sind (-)|
212
die sind ja verpflichtet|
213
in erster linie|
214
die deutsche sprache hier zu lernen|
215
natürlich kann man es ja nicht von (-) von
vornherein verlangen|
216
(und sagen)|
217
okay dass sie halt deutsch sprechen (1.1)|
218
219
aber (-)|
wenn man es ihnen jetzt so dermaßen
vereinfacht|
220
dass sie überall ihre sprache (vorfinden)|
221
dann würden die sich auch gar keine mühe
machen diese sprache zu lernen|
222 IntMW:
mhm|
223 DoNor11: ich finde es gerade wenn man hier lebt (-)|
224
müsste man sich mit der deutschen sprache
auseinandersetzen (--)|
225
deren kultur (--)|
226
der tradition (-)|
227
und deren sitten|
228 IntMW:
mhm|
229 DoNor11: und wenn man merkt okay man kann hier leben|
230
dann sollte man|
231
(wenn nicht) dann (.)|
232
bitte (-)|
233
kann ja jeder zurückgehen|
Auch funktional-pragmatische Argumente werden
zur Ablehnung mehrsprachiger Schilder verwendet. Insbesondere wird auf die »Platzfrage« (BoHam8, alt) und die Unübersichtlichkeit mehrsprachiger Texte (»man verliert die
übersicht« (BoLan15, alt) und »also da bisschen durcheinander« (BoLan5, mittel)) hingewiesen.
Vergleicht man die funktional-pragmatische Argumentation der Befragten mit und ohne Migrationshintergrund,
dann zeigen sich Unterschiede mit Blick auf die Variable Alter. Während in der Gruppe der Befragten mit Migrationshintergrund vor allen Dingen die jüngere Generation dieses
Argument verwendet, sind es in der Gruppe der Befragten
ohne Migrationshintergrund die älteren Informanten. Da
die Fallzahlen aber insgesamt sehr klein sind, sind hier weitergehende Untersuchungen mit einem größeren Befragtensample notwendig.
Das Integrationsargument im Kontext der Ablehnung
von visueller Mehrsprachigkeit besagt, dass Mehrsprachigkeit, insbesondere der Gebrauch von Herkunftssprachen im
öffentlichen Raum, ein Hinderungsgrund für erfolgreiche
Integration sei. (Visuelle) Mehrsprachigkeit wird damit
nicht als ein Gewinn betrachtet, sondern als ein Hindernis,
das die Bereitschaft zum Erlernen der Sprache der aufnehmenden Gesellschaft senkt und damit integrationshemmend
wirkt:
4.1.2 EINSTELLUNGEN ZU VISUELLER MEHRSPRACHIGKEIT
249
25. Beispiel: (DoNor11; mittel)
aber (-)| wenn man es ihnen jetzt so dermaßen vereinfacht| dass
sie überall ihre sprache (vorfinden)| dann würden die sich
auch gar keine mühe machen diese sprache zu lernen|
29. Beispiel: (DoHör15; alt)
wenn wir ins ausland gehen| dann haben wir auch nur die die
sprache des landes| ähm (---) ähm (.) müssen wir damit zurecht kommen oder| also|
26. Beispiel: (EsAlt9; mittel)
äh (---)| bei mehrsprachiger beschilderung| ähm sehe ich das
problem| dass die leute nicht integrieren|
30. Beispiel: (DuInn11; mittel)
ich meine wenn man (0.4) aus dem ausland nach deutschland
kommt| sollte man schon die äh sprache lernen| genau wenn
ich nach frankreich gehen will| dann muss ich französisch lernen| wenn ich nach spanien gehen will| muss ich spanisch können| (xxx) muss ich italienisch lernen|
Einige Befragte ohne Migrationshintergrund begründen
ihre Ablehnung von mehrsprachigen Schildern mit dem affektiven Argument, d. h. sie sprechen negative Gefühle an,
vgl. die Beispiele 27 & 28:
27. Beispiel: (EsRüt5; mittel)
da fühlt man sich ja dann schon so ein bisschen (0.8)| ja übergangen|
28. Beispiel: (DoNor11; mittel)
ja wie empfinde ich das| ähm (1.0)| es ist schon befremdlich
(0.5)| ((…))| äh ist das schon äh beängstigend ehrlich gesagt|
Bei vielen Befragten verursacht die Tatsache, die Sprachen auf Schildern nicht lesen und verstehen zu können, ein
Gefühl von Angst und Befremdlichkeit. In Beispiel 27 fühlt
sich der Informant übergangen; indirekt erhebt er die Forderung, dass auf Schildern in der Öffentlichkeit immer auch
Deutsch zu finden sein müsse.
Wie die Befürworter sichtbarer Mehrsprachigkeit berufen sich auch die Gegner auf das Argument aus der eigenen
(faktischen oder potenziellen) Erfahrung. Auf der sprachlichen Ebene zeigt sich der Wechsel in die Ich-/Wir-Perspektive in der Verwendung des Personalpronomens der 1. Person (Singular und Plural), mit der die Befragten auf sich
selbst oder die Mehrheitsgesellschaft referieren. Es werden
gesellschaftliche Ansprüche formuliert, erkennbar an dem
Gebrauch der Modalverben »müssen« und »sollen« und von
»wenn-dann«-Konstruktionen, um so den allgemeinen Fall
zu beschreiben und Gesetzmäßigkeiten auszudrücken. Der
generische Charakter dieser »wenn-dann«-Konstruktionen
wird durch die Verwendung des generalisierenden Indefinitpronomens »man« unterstrichen (vgl. Imo / Ziegler 2018).
250
4. SPRACH BEWERTuNGEN uND EINSTELLuNGEN Zu MEHRSPRACHIGKEIT
Affektive Argumente sind solche Argumente, die subjektive Empfindungen zum Ausdruck bringen, wie etwa die
Erfahrung von Fremdheit (vgl. die Beispiele 31 & 32). Dabei geben die folgenden Beispiele auch zu verstehen, dass es
bei den abgefragten Sachverhalten nicht nur um die Einstellung zu Sprachen, sondern auch um die Einstellung zu Sprechergruppen geht. So deuten die Äußerungen in den Beispielen 33 und 34 darauf hin, dass auch die Beziehungen
unter den Migrantengruppen nicht spannungsfrei sind.
31. Beispiel: (DuInn1; alt)
ja da kommt man sich schon fast vor wie ((lacht)) wenn man
ausländer wäre| ((lacht))| in anderer in einer in einer anderen
welt|
32. Beispiel: (BoLan11; alt)
ich mein einerseits (.)| find ich das multikulti ja ganz gut| aber
andererseits (.)| fühlt man sich dann auch so ein bisschen
wie so ein fremder im eigenen land ne|
Ganz selten werden ökonomische Argumente gegen visuelle Mehrsprachigkeit angeführt, indem auf die Kosten
verwiesen wird:
35. Beispiel: (BoHam15; jung)
die höheren betriebskosten| weil die faulen maler oder beschilderer da mehr zeit dann brauchen| ja um diese sachen da
anzubringen|
Insgesamt zeigt sich, dass die Befragten mehrheitlich visuelle Mehrsprachigkeit befürworten, insbesondere wenn sie
in einem stärker migrationsgeprägten Stadtteil, d. h. nördlich der A 40 leben. Gleichzeitig wurde deutlich, dass sich
die Einstellungen der Befragten ohne und mit Migrationshintergrund in den südlich der A 40 gelegenen Stadtteilen
angleichen. Die Befragten mit Migrationshintergrund übernehmen hier die Wertvorstellungen und Normen der Mehrheitsgesellschaft, d. h. äußern Bedenken und Vorbehalte gegenüber sichtbarer Mehrsprachigkeit. Die Befürwortung
von visueller Mehrsprachigkeit wurde am häufigsten funktional-pragmatisch mit dem Hinweis auf Aspekte wie Orientierung, Verständigung und Abbau von Sprachbarrieren begründet. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Mehrheit der
Befragten mit Migrationshintergrund mit der öffentlichen
Sichtbarkeit ihrer Herkunftssprachen auch Gefühle der Beheimatung verbindet – ein Aspekt, der bisher in der Diskussion um Integration und Sprache eher vernachlässigt wurde.
33. Beispiel: (DuMar13; mittel)
finde ich unfair| die werden bevorzugt behandelt die türken
(0.7)|
34. Beispiel: (DoNor3; mittel)
ama başka dilde gördüğüm zaman o zaman| (0.5)| kendimi
yabancı hissediyorum| (---) äm| äm| rusca| äm| fransızca ingilizce gördüğüm zaman| (1.0)| ( )| o zaman hiç benimsemiyorum
yani| (0.8)| hoşuma gitmiyo r|
Übersetzung: aber wenn ich in einer anderen sprache als
deutsch sehe dann| ich fühle mich fremd| wie ein ausländer|
russisch| wenn ich französisch englisch sehe| dann fühle ich
mich gar nicht angesprochen also| ich mag es nicht|
4.1.2 EINSTELLuNGEN Zu VISuELLER MEHRSPRACHIGKEIT
251
4.1.3 Einstellungen zu Sprachen
Nicht jede Sprache genießt die gleiche Wertschätzung und das gleiche Prestige. Vor
diesem Hintergrund wurden die Befragten nicht nur nach ihrer Einstellung zu sichtbarer Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum gefragt, sondern auch nach ihrer Wahrnehmung und Bewertung gesprochener Sprachen. »Gibt es Sprachen, die Sie gerne hören, und Sprachen, die Sie nicht so gerne hören? Welche? Warum?« Die Ergebnisse
sind in Abb. 4.1.3.1 bis 4.1.3.4 zusammengefasst. Anzumerken ist dabei, dass viele Befragte das Niederländische umgangssprachlich als »Holländisch« bezeichneten.
Polnisch 1 %
%
isch
isch 2
ech
Deutsch 2 %
Alban
Gri
4%
r
Tü
Spanis
ed
er
län
27
%
Fr
%
an
zö
sis
4
ch
ch
kis
Ni
dis
ch
5
%
ch 10 %
(DuInn2; alt)
230 IntYR
231
232 DuInn2:
233 IntYR:
234 DuInn2:
235
236
237 IntTM:
238 IntYR:
239 DuInn2:
240
241
242 IntYR:
243 DuInn2:
244 IntTM:
245 DuInn2:
246
250 IntYR:
251 DuInn2:
252 IntTM:
253 IntYR:
254 DuInn2:
255
256 IntTM:
257 DuInn2:
258 IntTM:
259 IntYR:
260 DuInn2:
261 IntYR:
262 DuInn2:
22
%
%
It a
lie
ni
g
ch
lis
gibt es denn irgendwelche sprachen die sie
gerne hören|
oder welche die sie ungerne hören|
(0.4) ja gerne höre ich französisch|
warum gerade französisch|
(0.8) ja das ist|
so melodisch|
das das finde ich toll|
mhm|
gibt es noch eine sprache die sie schön
finden|
das finde ich ganz toll|
ja italienisch noch|
ja|
warum|
ja auch weil das|
(2.2) mhm (0.4)|
(0.5) die sprechen ja unheimlich schnell die
italiener ne|
°h und das das finde ich toll| [...]|
und welche hören sie nicht so gerne|
(1.4) russisch|
mhm|
warum|
(--) ja das ist so (-) so hart|
das ist so so eine hart ausgesprochene
sprache|
mhm|
also die die gefällt mir nicht|
mhm|
(0.9) mhm|
genau wie das polnische|
(1.8) mhm|
(--) dass das hört sich sehr ähnlich an für
mich|
24
h
sc
En
Am liebsten hören die Befragten Französisch, gefolgt
von Italienisch, Englisch und Spanisch. Neben Englisch werden also vor allem die romanischen Sprachen gerne gehört.
Ähnliche Bewertungsmuster finden sich auch in anderen
Studien (vgl. Bernhard 2013; Gärtig et al. 2010). Differenziert nach Alter zeigt sich, dass die Werte für die positive Beurteilung des Englischen bei den jüngeren Befragten am
höchsten ausfallen (Abb. 4.1.3.2).
Beispiel 1 gibt Einblick in das ästhetische Sprachempfinden einer älteren Duisburger Informantin. Sie bewertet
Französisch und Italienisch positiv als Sprachen, die sie
gerne hört und gibt an, dass sie diese Sprachen »toll« finde,
weil Französisch »so melodisch« (Z. 235) sei und die Italiener »so unheimlich schnell« (Z. 245) sprächen. Russisch und
Polnisch bewertet sie dagegen negativ als Sprachen, die sie
nicht so gerne höre, weil das »hart ausgesprochene sprache(n)« (Z. 255) seien. Ihre ästhetischen Urteile beziehen
sich also hauptsächlich auf den Klang der Sprachen, die stereotype Zuschreibungen widerspiegeln. Diese Wahrnehmung ist eine höchst selektive. Umgekehrt ließe sich auch
fragen, wie unterschiedliche Zuwanderergruppen die deutsche Sprache wahrnehmen und bewerten, beispielsweise ob
russische oder polnische Sprecherinnen und Sprecher den
Klang des Deutschen als »hart« empfinden.
Abb. 4.1.3.1: Sprachen, die die Befragten am liebsten hören
252
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.1.3 EINSTELLUNGEN ZU SPRACHEN
253
%
ab
h
isc
Ru
es
%
isc
h
17
%
17 %
ss
hin
ch
i
rie
G
Türkisc
h
h
isc
C
sc
h
ch
kis
nd
N
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de
rlä
Sp
Tü
r
isc
h
isc
h
an
isc
h
gl
ni
lie
It a
En
sc
h
ch
sis
zö
an
Fr
31
Ar
22
10
Japanisch 2 %
1. Beispiel: (DuMar4; alt)
bulgarisch höre ich nicht so gerne| es klingt nicht gut| und die
keifen immer| die schreien so (0.6)| und das klingt dann
einfach nicht gut| so über drei ecken| oder wenn ich mich da
hinten mit welchen unterhalten will| dann gehe ich hin (---)| und
schreie nicht von hier aus (0.7)| und das hört sich dann nicht gut
an|
15
4%
Abb. 4.1.3.2: Sprachen, die gern gehört werden, differenziert nach dem
Alter der Befragten (N = 108)
risch
alt
%
mittel
h7
isc
jung
ös
0
nz
5
Fra
10
Arabisch und Russisch sind die Sprachen, die am wenigsten gern gehört werden (vgl. Abb. 4.1.3.3), wobei vorausgesetzt wird, dass die Informanten diese Sprachen auch
identifizieren können, was erst noch zu überprüfen wäre.
Wie die Auswertung zeigt, äußern sich die Befragten deutlich lieber zu Sprachen, die sie gerne hören (113 Nennungen), als zu Sprachen, die sie ungerne hören (46 Nennungen).
Insgesamt vermeiden die Befragten negative Sprachbewertungen, um nicht den Eindruck einer positiven Grundeinstellung zu gefährden.
Differenziert nach Alter (Abb. 4.1.3.4) zeigt sich, dass
die Befragten mittleren Alters Arabisch, Russisch, Chinesisch und Türkisch durchgehend negativer bewerten als die
Befragten der anderen Altersgruppen. Dabei trennen die Befragten nicht immer klar zwischen Urteilen zu sprachlichen
Phänomen und Urteilen über die jeweilige Gruppe von
Sprecherinnen und Sprechern. Sehr häufig werden die negativen Sprachurteile mit kulturellen Praktiken, d. h. Zuschreibungen wie »keifen«, »schreien«, »streiten« verknüpft oder
mit unangenehmen Assoziationen verbunden (Beispiele
2 – 4):
Bulga
15
Abb. 4.1.3.3: Sprachen, die die Befragten nicht gern hören
2. Beispiel: (DoNor12; jung)
wenn man äh (--)| arabische leute manchmal small talk machen
hört| dann dann denkt man die streiten sich wie gott was| so
und so| ist halt ne sehr raue sprache| und sie ist vom klang her
nicht sehr schön|
5
C
jung
mittel
alt
ch
kis
Tü
r
hi
ne
sis
ch
isc
h
ss
Ru
Ar
ab
isc
h
0
3. Beispiel: (BoHam1; alt)
bleiben wir nochmal bei den türkischen hehe landsleuten| ist es
einfach so| die haben eine sehr laute aussprache| und so
durcheinander und so (1.0)| das das mag ich dann nicht
so also| ich könnte mich da jetzt nicht lange in gesellschaft
aufhalten|
Abb. 4.1.3.4: Sprachen, die ungern gehört werden, differenziert nach
dem Alter der Befragten (N = 40)
254
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.1.3 EINSTELLUNGEN ZU SPRACHEN
255
Abbildung 4.1.4.1 zeigt, dass die Mehrheit der Befragten ohne Migrationshintergrund
(64 %) mehrsprachige Schilder vor allen Dingen mit Multikulturalität, d. h. mit dem
Vorhandensein mehrerer Kulturen in Zusammenhang bringt und damit die sozialsymbolische Funktion als zentral betrachtet.
Aus Sicht der Befragten ohne Migrationshintergrund gibt es mehrsprachige
Schilder in den Stadtvierteln vor allem aufgrund der vielen Nationen und Kulturen,
die dort leben und diese Schilder aufstellen. Dabei wird auch der hohe Grad an
Diversität betont (»sehr sehr bunt«, »verschiedenste ethnische Gruppen«, vgl. die Beispiele 1 – 3).
g 9%
Befragte ohne Migrationshintergrund
1. Beispiel: (EsAlt; alt)
hier sind viele nationen vertreten| ((…))| also das ist (--) sehr
sehr bunt|
rktun
Mehrsprachigkeit in Form von Schrift im öffentlichen Raum kann unterschiedlichen
Funktionen dienen. Bei den Vor-Ort-Interviews wurde gefragt, welche Funktionen die
Befragten mehrsprachigen Schildern zuordnen: »Was denken Sie: Warum gibt es hier
mehrsprachige Schilder? Was haben mehrsprachige Schilder hier für eine Funktion?«
Die von den Befragten genannten Funktionen lassen sich grundsätzlich in drei
Funktionstypen zusammenfassen: Informationsfunktion, sozialsymbolische Funktion
(z. B. Symbol für Multikulturalität, Identität und Beheimatung) und Vermarktungsfunktion. Im Folgenden sollen die Äußerungen zu den einzelnen Funktionen vorgestellt werden, und zwar differenziert nach Befragten mit und ohne Migrationshintergrund:
a
Verm
4.1.4 Einstellung zur Funktion
visueller Mehrsprachigkeit
2. Beispiel: (DuInn9; alt)
duisburg ist ja °h für mich multikulti| wir haben ja ich glaube
hundertvierzig| oder hundertfünfzig verschiedene| äh (--) ne
menschen die hier leben|
3. Beispiel: (DoHör6; alt)
also wir sind multikulturell eigentlich| kann man wirklich so sagen in hörde aufgestellt| wir haben ganz viele (1.0) verschiedenste ethnische gruppen|
Information 27 %
Am zweithäufigsten wird die Frage nach der Funktion
von visueller Mehrsprachigkeit von den Befragten ohne Migrationshintergrund mit der Informationsfunktion beantwortet (27 %). Es wird also der Nutzen von Mehrsprachigkeit betont. So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass
mehrsprachige Schilder in den Stadtvierteln als Wegweiser
und / oder Informationsschilder (etwa für Touristen) fungieren (vgl. die Beispiele 4 & 5).
4. Beispiel: (BoLan3; alt)
viele sind ja hier| die könn kein deutsch| sind schon zig jahre
deutsch| und für die wird dann natürlich erleichternd sein| wenn
die dann eben da| wegweiser oder wie auch immer| (--) solche sachen hätten|
64 %
Soz
ials
ymb
ol
Abb. 4.1.4.1: Warum gibt es mehrsprachige Schilder? Welche
Funktionen haben sie? (Befragte ohne Migrationshintergund)
5. Beispiel: (EsRüt8; jung)
ja wahrscheinlich dann um auch den (.)| den touristen einen
anhaltspunkt zu geben (-)| die jetzt gerade nicht aus deutschland kommen| und damit sie hier einigermaßen zurecht finden
(--)|
256
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.1.4 EINSTELLUNG ZUR FUNKTION VISUELLER MEHRSPRACHIGKEIT
257
8. Beispiel: (EsRüt11; alt)
(1.3) ja es ist zum teil ein teil der werbung| suggeriert irgendwie modernität| fortschritt|
9. Beispiel: (EsRüt13; jung)
weiß nicht| ob irgendwas so auf toll neu modern gemacht wird
so| dann vielleicht|
10. Beispiel: (BoLan4; mittel)
um das attraktiver zu machen|
11. Beispiel: (DuInn2; alt)
äh es ist ja heute anscheinend schick all alles in in einer anderen sprache zu machen| äh| (0.8) da meint man manchmal es
gäbe nichts deu nichts äh nichts deutsches mehr|
258
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
14. Beispiel: (DuInn6; jung)
ich glaube weil hier auch einfach viele (.) verschiedene ethnische gruppen (.)| und kulturen zusammenlaufen| und deswegen einfach (.) mehrsprachigkeit so ein bisschen zum alltag
gehört|
15. Beispiel: (DuMar5; mittel)
weil äh (-) viele (---) leute kommen von draußen (0.8) äh hierein| also (-) nach marxloh (--)|
16. Beispiel: (DoNor3; mittel)
(1.1)| çünkü burası genelde äm| karışık bir sokak yani bütün|
(---) yabancıların çok (.) uğradığı bir sokak| o yüzden äm| (1.3)|
Übersetzung: weil hier ist hauptsächlich äm| eine gemischte
straße also alle| ausländer oft auf dieser straße vorbeikommen|
deshalb äm|
17. Beispiel: (BoLan15; alt)
( ) multikulturell hier|
%
Wie die Beispiele 8 bis 11 zeigen, vermuten viele Befragte, dass mit visueller Mehrsprachigkeit im öffentlichen
Raum auch häufig Modernität suggeriert werden solle, um
auf diese Weise die Attraktivität der Produkte zu steigern.
Mehrsprachigkeit wird somit als zeitgemäß und fortschrittlich bewertet, aber auch als schick und kultiviert.
13. Beispiel: (DuMar13; mittel)
was für eine funktion| ist ja klar| die leute sollen sich halt besser auskennen| und äh auch lesen können was da draufsteht
(0.5)| auf den schildern| oder (--) generell|
18. Beispiel: (DuMar14; jung)
yurtdışından da e| türkler genelikle buraya geldiği için| yani onlar da kendilerini burda yabancı hissetmiyorlar|
Übersetzung: weil auch aus dem ausland kommen für gewöhnlich türken hier hin| das heißt sie fühlen sich hier nicht als ausländer|
g 10
7. Beispiel: (DuInn8; mittel)
oder wirklich gezielt| irgendwie zweisprachige werbung| weiß
ich nicht|
12. Beispiel: (DuMar14; jung)
yani sırf almanca değil| hepsi (--) anlıyorlar (--)|
Übersetzung: deswegen sind die schilder nicht nur auf deutsch|
alle leute verstehen sie|
Viele Befragte, d. h. 21 % aller Befragten mit Migrationshintergrund, verbinden sichtbare Mehrsprachigkeit auch
mit einem Gefühl von Heimat und Beheimatung. Die sichtbare Verwendung von Migrantensprachen in den Stadtvierteln trage dazu bei, dass sich die Befragten nicht als »Ausländer« fühlen (Beispiel 18). Die Präsenz der Herkunftssprache
macht es somit leichter, dass sich die Zuwanderer hier zu
Hause fühlen und sich mit der Region und der Mehrheitsgesellschaft identifizieren können. Auffällig ist, dass diese
Funktion mehrheitlich in den Interviews, die auf Türkisch
geführt wurden, genannt wurde (vgl. Kap. 4.1.2).
rktun
6. Beispiel: (EsAlt2; alt)
ja werbung| für die geschäfte|
Befragte mit Mirgrationshintergrund
Wie antworten die Befragten mit Migrationshintergrund auf
die Frage nach den Funktionen von mehrsprachigen Schildern in den Stadtvierteln? Unterscheiden sich ihre Antworten von denen der Befragten ohne Migrationshintergrund?
Auch von den Befragten mit Migrationshintergrund
wird die sozialsymbolische Funktion an erster Stelle (63 %),
die Informationsfunktion (10 %) an zweiter Stelle und die
Vermarktungsfunktion an letzter Stelle genannt. Von den
Befragten, die Mehrsprachigkeit mit der sozialsymbolischen
Funktion in Zusammenhang bringen, gibt gut die Hälfte an,
dass sie sichtbare Mehrsprachigkeit als Symbol für Multikulturalität verstehe, vgl. die Beispiele 12 – 17:
a
Verm
Nur 9 % der Befragten geben an, dass die Werbeindustrie gezielt Mehrsprachigkeit zur Vermarktung ihrer Produkte einsetze. Andere Sprachen als Deutsch würden verwendet, um Assoziationen mit bestimmten Bereichen
herzustellen. So wird beispielsweise Englisch für den Bereich
der modernen Technik, Französisch für den Mode-Bereich
oder Italienisch für kulinarische Spezialitäten gewählt. Auf
der anderen Seite können Sprachen in der Werbung auch
dazu eingesetzt werden, um gewisse Zielgruppen anzusprechen (Ethno-Marketing). Diese Funktion wird aber in unserer Befragung eher von den Befragten mit Migrationshintergrund angesprochen.
Information 27 %
63 %
19. Beispiel: (BoHam11; mittel)
in erster linie würde ich natürlich sagen| dass das natürlich (-)|
schon von vorteil für das viertel ist| weil das dann halt auch einfach bedeutet| dass sich ähm (-) migranten| beziehungsweise
menschen mit migrationshintergrund| in dem viertel auch einfach wohlfühlen|
20. Beispiel: (DoNor13; mittel)
birazda böyle| (---) kendini türkiyede hissi veriyor burda insanlara| (0.7)| bu sokakta öyle söyliyeyim|
Übersetzung: und ein bisschen gibt es den Leuten das Gefühl
sie seien in der Türkei| hier in der Straße, kann man sagen|
Soz
ials
ymb
ol
Abb. 4.1.4.2: Warum gibt es mehrsprachige Schilder? Welche
Funktionen haben sie? (Befragte mit Migrationshintergrund)
Insgesamt zeigt der Vergleich, dass die sozialsymbolische
Funktion in beiden Befragtengruppen deutlich überwiegt,
allerdings unterschiedliche Bedeutungszuweisungen erfährt.
Während in der Gruppe der Befragten ohne Migrationshintergrund visuelle Mehrsprachigkeit oft in den gesellschaftlichen Diskurs über Zuwanderung eingebettet und als Symbol für die Präsenz von Zuwanderern verstanden wird (z.T.
auch als Code für Überfremdung gelesen wird), dominiert in
der Gruppe der Befragten mit Migrationshintergrund ein
Verständnis, das visuelle Mehrsprachigkeit mit dem symbolischen Ausdruck von Beheimatung verbindet. Als Symbol
für Beheimatung bietet sich Sprache in besonderer Weise an,
da sie in essenzieller Weise Vertrautheit und damit Beheimatung zu vermitteln vermag.
4.1.4 EINSTELLUNG ZUR FUNKTION VISUELLER MEHRSPRACHIGKEIT
259
2. Beispiel: (BoHam11; mittel)
wenn ich jetzt zum beispiel in ein fremdes land gehe| und ich versuche mir da irgendwie
eine existenz aufzubauen| wäre ich schon ganz froh| wenn ich mich so mit öffentlichen behördengängen| so ein bisschen weiter behelfen kann| indem ich das auch einfach lesen
könnte|
11 %
1. Beispiel: (DoHör2; jung)
das ist doch eine gute sache| oder| (0.6) ja| (0.3) kommen hier halt die leute besser zurecht|
tral
Größtenteils positiv ist die Einstellung zu mehrsprachigen Schildern an öffentlichen
Institutionen wie Bahnhöfen, Rathäusern, Museen oder Kindergärten. Auf die Frage,
ob mehrsprachige Schilder an öffentlichen Einrichtungen eine gute Idee sind, antworten 63 % der Befragten, dass sie die Idee »gut finden«. 11 % der Befragten sind unentschieden und stehen der mehrsprachigen Beschilderung an offiziellen Institutionen
gleichgültig oder unentschlossen gegenüber. Gut ein Viertel der Befragten, nämlich
26 %, findet mehrsprachige Schilder im Kontext von Bahnhöfen, Rathäusern, Museen
und Kindergärten nicht gut.
Zur Begründung greifen die Befragten auf unterschiedliche Argumentationsmuster zurück (vgl. Kap. 4.1.2). Für die Befürwortung mehrsprachiger Schilder wird am
häufigsten ein funktional-pragmatisches Argument angeführt, nämlich auf den Nutzen hingewiesen (z.B. Orientierungshilfe, Abbau von Sprachbarrieren, vgl. Beispiel 1)
und durch das Argument aus der eigenen Erfahrung (faktisch oder potenziell) verstärkt
(vgl. Beispiel 2).
Wie die Befürworter sichtbarer Mehrsprachigkeit berufen sich auch die Gegner auf das Argument der eigenen (faktischen oder potenziellen) Erfahrung. Auf der sprachlichen
Ebene zeigt sich der Wechsel in die Ich-/Wir-Perspektive an
der Verwendung des Personalpronomens der 1. Person Singular, mit der die Befragten auf sich selbst referieren.
neu
4.1.5 Einstellungen zu visueller
Mehrsprachigkeit an öffentlichen
Institutionen
5. Beispiel: (DuMar13; mittel)
na wenn ich nach italien gehe| und ich gehe in ein amt rein ähm
(0.5)| ich bin da öfters mal im ausland| da muss ich mich da
auch irgendwie durchwurschteln und fragen (0.5)|
Oft werden für die Ablehnung mehrsprachiger Schilder
an öffentlichen Institutionen auch ökonomische Argumente
(Beispiel 6) oder funktional-pragmatische Argumente angeführt, die auf die Kosten oder die Platzfrage und Unübersichtlichkeit der Darstellung abheben (Beispiel 7).
nicht gut 26 %
63 %
6. Beispiel: (BoLan15; alt)
(0.5) das find ich doch blöd| das ist nur geldverschwendung|
gut
7. Beispiel: (EsRüt11; alt)
ich finde das sollte auch nicht zu viel sein| das verwirrt nur|
Nur selten wird geäußert, dass mehrsprachige Schilder
integrationshemmend wirken könnten:
8. Beispiel: (EsAlt9; mittel)
das ist keine integration| das ist äh nicht ein miteinander| sondern ein nebeneinander (-)| und das ist äh| eigentlich nicht das
was gewollt ist|
Einige Befragte greifen auf das Argument aus der Faktizität zurück, d. h. weisen
auf den Umstand hin, dass es viele Menschen in Deutschland gibt, die nicht Deutsch
sprechen.
Im Gegensatz zu den Befragten, die eine positive oder
negative Einstellung zu erkennen geben, liefern die Befragten, die eine neutrale bis gleichgültige Einstellung äußern, in
der Regel keine weitere Begründung, weder Befragte mit
noch ohne Migrationshintergrund (Beispiele 9 – 11).
3. Beispiel: (DoHör13; mittel)
finde ich vollkommen in ordnung| ((…))| (--) gehört dazu ne (---)|
9. Beispiel: (DoHör4; alt)
wenn die mehrsprachig ausschildert| das wäre mir schnuppe|
Auch die negative Haltung wird mit verschiedenen Argumenten begründet. Viele
Befragten stützen sich auf ein normatives Argument. Es wird gefordert, dass Migrantinnen und Migranten »der deutschen Sprache mächtig sein sollten« (Befragter
BoLan11). Zum Teil wird diese Forderung auch als eine allgemeine Pflicht formuliert
(Beispiel 4):
10. Beispiel: (DoNor9; jung)
was weiß ich| ich hab nicht äh irgendwelche gefühl dafür|
Abb. 4.1.5.1: Mehrsprachige Schilder an
öffentlichen Institutionen – eine gute Idee?
11. Beispiel: (BoLan4; mittel)
das ist mein alltag| das ist ganz normal für mich (-)| das hat
keine positive oder negative deutung|
4. Beispiel: (DuMar2; jung)
gefällt mir jetzt nicht so wirklich| weil (-) wenn wir hier schon in deutschland sind| sollte
man das auch (-)| meiner meinung nach (-)| in der sprache halten (-)|
260
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.1.5 EINSTELLUNGEN ZU VISUELLER MEHRSPRACHIGKEIT AN ÖFFENTLICHEN INSTITUTIONEN
261
neutr
0%
73
%
Abb. 4.1.5.2: Mehrsprachige Schilder an öffentlichen
Institutionen – eine gute Idee? – Nördliche Stadtteile
262
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
gu
t
12. Beispiel: (DuInn6; jung)
091 IntYR:
die fdp in karlsruhe|
092
fordert mehrsprachige schilder|
093
an öffentlichen institutionen|
094
zum beispiel an rathäusern|
095
(0.3) wie findest du das|
096 DuInn6:
(0.4) also ich schätze so an sich|
097
dass es auf englisch (0.4)|
098
zieht als weltsprache|
099 IntTM:
mhm|
100 DuInn6:
denke ich dass es gut ist|
101
aber ich finde man mu muss jetzt nicht auf
jede minderheit|
102
die jetzt vertreten ist (.) eingehen|
103 IntYR:
(0.4) wenn wenn du entscheiden könntest|
104
was für sprachen auf so ein plakat abgedruckt
werden|
105
was für sprachen kommen denn außer
englisch deiner meinung nach noch dadrauf|
106 DuInn6:
ähm also ich schätze dass eigentlich deutsch
und englisch die einzigen sprachen sind|
107
die da vertreten sein sollten|
108
[oder / weil| ]
109 IntTM:
[ja| ]
110 DuInn6:
(0.5) wir hier in deutschland sind|
111
und englisch halt dann die internationale
version davon wäre|
5%
al 1
t2
utr
gu
ist ca. 20 Jahre alt; ihre Eltern stammen aus Albanien. Gefragt, wie sie zu der Forderung der Karlsruher FDP nach
mehrsprachiger Beschilderung an öffentlichen Einrichtungen stehe, antwortet sie, dass für eine mehrsprachige Beschilderung Deutsch und Englisch ausreichend seien. Sie begründet ihre Sprachenwahl damit, dass Englisch eine »weltsprache«
(Z. 98) bzw. »eine internationale version von deutsch« sei (Z.
111), also als Lingua franca diene; Deutsch solle verwendet
werden, weil »wir hier in deutschland sind« (Z. 110). Daraus geht die implizite Forderung hervor, dass jeder, der in
Deutschland lebt, auch die deutsche Sprache beherrschen
sollte (normatives Argument). Die Verwendung weiterer
Sprachen sei ihrer Meinung nach nicht nötig. Die Berücksichtigung von Migrantensprachen lehnt sie sogar explizit
ab, und zwar mit dem Argument, dass nicht auf jede Minderheitensprache eingegangen werden müsse (Z. 101 – 102).
Sichtbare Mehrsprachigkeit im Kontext öffentlicher Institutionen wird hier auf die Sprachenkombination Deutsch und
Englisch reduziert.
ne
al 7 %
nic
ht
Interessant ist die Frage, wie sich positive, negative und
neutrale Einstellungsäußerungen in den unterschiedlichen
Stadtteilen verteilen und ob es Unterschiede zwischen den
nördlichen und den südlichen Stadtteilen bezüglich dieser
Frage gibt. Tatsächlich zeigen die Interviewdaten, dass in
den nördlichen, ethnisch diverseren Stadtteilen die Befürwortung mehrsprachiger Schilder an öffentlichen Institutionen höher ausfällt als in den südlichen Stadtteilen. Insgesamt befürworten 44 Befragte (= 73 %) aus den nördlichen
Stadtteilen diese Idee, in den südlichen Stadtteilen stimmen
dagegen nur 32 Befragte (53 %) dieser Idee zu. 32 % der Befragten im Süden lehnen den Vorschlag ab und 15 % sind
unentschlossen oder zeigen eine neutrale Einstellung. Im
Norden sprechen sich lediglich 20 % gegen die Idee aus, 7 %
der Befragten zeigen eine neutrale Einstellung bzw. sind unentschlossen.
Unabhängig von der Bewertung und Argumentation
stellt sich schließlich die Frage, welche Sprachen neben
Deutsch auf Schildern von Institutionen sichtbar sein sollten (Abb. 4.1.5.4). Knapp die Hälfte der Befragten (44 %)
spricht sich für Englisch aus, wenn es darum geht, neben
Deutsch noch eine andere Sprache für die Beschilderung an
öffentlichen Institutionen zu wählen. Danach folgen Türkisch, das 35 % der Befragten für ein mehrsprachiges Schild
wählen würden, Französisch (15 %) und Arabisch (10 %).
Das Antwortverhalten gibt damit deutliche Hinweise auf
eine Sprachenhierarchie zu erkennen. An oberster Stelle
steht das Englische, gefolgt von der Migrantensprache Türkisch, die vor allen Dingen von türkeistämmigen Befragten
genannt wird. Ähnliches gilt auch für die anderen Migrantensprachen. Die Ergebnisse legen insofern eine Tendenz zur
Eigengruppenfavorisierung nahe. Das heißt, dass die Sprache der eigenen Gruppe gegenüber den Sprachen der anderen Gruppen bevorzugt wird. Der Grund für die Eigengruppenfavorisierung liegt darin, dass die Befragten ein positives
Bild ihrer Gruppe anstreben.
Einen Einblick in die Sprachenhierarchie und die unterschiedlichen Selektionskriterien für die Favorisierung bestimmter Sprachen geben die Beispiele 12 und 13, die zeigen, dass nicht nur zwischen den Befragten mit und ohne
Migrationshintergrund, sondern auch unter den Befragten
mit Migrationshintergrund unterschiedliche Einstellungen
existieren. Beispiel 12 gibt die Einstellungsäußerung einer
Informantin wieder, die in der Duisburger Innenstadt befragt wurde. Die in Deutschland aufgewachsene Schülerin
53 % gut
tg
nich
ut 3
2%
Abb. 4.1.5.3: Mehrsprachige Schilder an öffentlichen
Institutionen – eine gute Idee? – Südliche Stadtteile
4.1.5 EINSTELLUNGEN ZU VISUELLER MEHRSPRACHIGKEIT AN ÖFFENTLICHEN INSTITUTIONEN
263
risch 3
,2 %
h4
isc
,3 %
Chinesisch 2,5 %
Bulga
h4
sisc
ln
Po
,2 %
is
ch
ch
4,
It a
lie
2%
nis
ch
5
,8
%
44
Spa
nisc
h6
,2 %
En
gli
h
sc
,7 %
Arabisch 10 %
2,5
e1
%
h
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ös
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Fra
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isc
h1
5%
S
tig
ons
35
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
rie
264
G
(DuMar1; jung)
103 IntNN:
die fdp fordert auf (.) mehrsprachige schilder
an öffentlichen institutionen|
104
wie rathäuser oder krankenhäuser|
105 DuMar1: ja|
106 IntNN:
°h wie findest du das (0.8)|
107 DuMar1: gut eigentlich (--)|
108 IntNN:
ja (-)|
109
welche äh (.) sprachen würdest du dann
darauf ähm (--)|
110
abdrucken lassen (1.0)|
111
[hm_hm| ]
112 DuMar1: [ja deutsch ist natürlich das beste (1.1)| ]
113
aber äh (.) für die ausländern|
114
wäre es natürlich auch gut wie zum beispiel für
türken|
115 IntNN:
[ja| ]
116 DuMar1: [türkische sprache (0.9)| ]
117
oder für (.) weiß ich nicht (0.9)|
118
also es wäre natürlich besser|
119
wenn die leuten (--)|
120
die sprachen haben die die auch
verstehen (0.6)|
121 IntNN:
okay ( -)|
122
[gut| ]
123 DuMar1: [müsste man nachfragen müssen| ]
Rus
Eine andere Position vetritt eine in DU-Marxloh lebende ca. 20 Jahre alte Informantin, die in Deutschland geboren ist und einen türkischen Migrationshintergrund hat.
Sie empfiehlt, neben Deutsch, das sie fraglos für die beste
Wahl hält (Z. 112), weitere für »Ausländer« hilfreiche Sprachen zu verwenden (Z. 119 – 120). Als Beispiel führt sie ihre
eigene Herkunftssprache, das Türkische, an (Z. 114, 116)
und schlägt vor, den Bedarf an weiteren Sprachen zu erfragen (Z. 123). Sichtbare Mehrsprachigkeit an öffentlichen
Institutionen umfasst für diese Befagte neben Deutsch auch
die Migrantensprachen, Englisch spielt dagegen keine Rolle.
Abb. 4.1.5.4: Welche Sprachen sollten auf Schildern sichtbar sein?
4.1.5 EINSTELLUNGEN ZU VISUELLER MEHRSPRACHIGKEIT AN ÖFFENTLICHEN INSTITUTIONEN
265
4.1.6 Strategien der Versprachlichung
von Einstellungen zu Mehrsprachigkeit
Die Spracheinstellungsforschung interessiert sich erst seit kurzem für die sprachlichen
Mittel, die das Sprechen über Sprache(n) prägen (vgl. König 2014; Tophinke / Ziegler
2006, 2014; Imo / Ziegler 2018). Neben den inhaltlichen Aspekten geraten so auch
formal-sprachliche Aspekte in den Blick, wie etwa spezifische syntaktische Strukturen,
mit denen Erwartungen und Bedingungen oder sozial heikle Einstellungen kommuniziert werden. Die Formulierungsstrategien geben damit auch einen Einblick in die
Normalitätserwartungen, die mit der Interviewsituation verbunden und von den Befragten in der Interviewsituation fortlaufend antizipiert und evaluiert werden. Dementsprechend zeichnen sich Spracheinstellungsäußerungen durch Formen des »recipient design« (Sacks et al. 1974: 727), d. h. des Rezipientenzuschnitts aus, die zu
erkennen geben, dass sich die Befragten bei der Konstruktion ihrer Einstellungsäußerungen an dem jeweiligen Interviewer bzw. der Interviewerin orientieren.
Die zahlreichen konditionalen Satzkonstruktionen bei der Formulierung von normativen Erwartungen fallen besonders auf. So gebrauchen die Befragten ohne Migrationshintergrund beispielsweise besonders häufig »wenn-dann«-Konstruktionen,
um ihre Einstellung gegenüber (visueller) Mehrsprachigkeit zu begründen. Dieses
sprachliche Verfahren ist typisch für die kommunikative Erzeugung von Werten und
Normen (Ayaß 1999; König 2014; Nazarkiewicz 2010). Im »wenn«-Satz formuliert
der Befragte eine Bedingung bzw. sachliche Voraussetzung, der im »dann«-Satz die
Konsequenz folgt. Solche formelhaften Wendungen zeichnen sich durch einen hohen
Grad an Abstraktion aus und werden von Ayaß (1999) als »kategorische Formulierungen« bezeichnet. Die kategorische Qualität dieses Formats ergibt sich aus der engen
Verknüpfung zweier Sachverhalte bzw. Handlungszusammenhänge. Sie wird unterstrichen dadurch, dass nicht konkret auf einzelne Personen, sondern auf Gruppen Bezug
genommen wird, und zwar mit dem generalisierenden Indefinitpronomen »man«. So
erhält der geäußerte konditionale Zusammenhang den Charakter einer allgemeinen
Regel. Die Befragten verwenden kategorische Formulierungen, um ihre Behauptung
als legitime Forderung gegenüber anderen Gruppen darzustellen. In vielen Fällen handelt es sich um ein Sprechen über Personen, die in Deutschland leben und »der deutschen Sprache nicht mächtig« sind. Dabei wird im »wenn«-Satz eine Bedingung, wie
beispielsweise »wenn man in Deutschland wohnt«, formuliert, der im »dann«-Satz eine
Konsequenz folgt, wie beispielsweise »dann sollte man Deutsch sprechen können / in
Deutsch ausschildern«. Diese normativen Erwartungen werden oft mit Modalverben,
die eine präskriptive Semantik haben, verbunden (vgl. Nazarkiewicz 2010: 123), z. B.
mit »sollen« oder »müssen«, die den Verbindlichkeitscharakter der normativen Erwartungen unterstreichen. Dazu ein paar Beispiele:
266
4. SPRACH BEWERTuNGEN uND EINSTELLuNGEN Zu MEHRSPRACHIGKEIT
1. Beispiel: (DuMar2; alt)
weil (-) wenn wir hier schon in deutschland sind| [dann] sollte
man das auch (-)| meiner meinung nach (-)| in der sprache halten (-)|
2. Beispiel: (BoLan11; alt)
ich denke wenn man in deutschland lebt| [dann] sollte man
auch der deutschen sprache mächtig sein|
3. Beispiel: (BoLan13; jung)
weil ich find wenn man hier in deutschland wohnt| dann sollte
man sich auch an die regeln hier in deutschland so halten wie
sie sind| und (--) also nicht dass deutschland sich jetzt den ausländern anpasst| sondern die sollten sich schon dann (.) uns
anpassen|
4. Beispiel: (BoLan15; alt)
wenn wir in deutschland (.)| dann deutsch (1.0)|
5. Beispiel: (DoNor11; mittel)
wenn man es ihnen jetzt so dermaßen vereinfacht| dass sie
überall ihre sprache (vorfinden)| dann würden die sich auch gar
keine mühe machen diese sprache zu lernen|
Charakteristisch für viele Einstellungsäußerungen ist
auch der Wechsel zu einer unpersönlichen Beschreibungsebene durch die Verwendung des Indefinitpronomens »man«
(vgl. Imo / Ziegler 2018). Nazarkiewicz stellt in diesem Zusammenhang fest: »Diese Generalisierung über das Indefinitpronomen repräsentiert den Verbindlichkeitscharakter
der Normen im Alltag und liefert sie zugleich quasi als
»Merksätze«« (Nazarkiewicz 2010: 124). Ebenso fällt auf,
dass die Befragten oft das inkludierende »wir« verwenden,
d. h. sich repräsentativ äußern, um die eigenen Erwartungen
als die Erwartungen der aufnehmenden Gesellschaft zu präsentieren und so zu legitimieren und um Zugehörigkeit zur
eigenen Gruppe einerseits und Abgrenzung von »den Anderen« andererseits auszudrücken.
Eine weitere, oft gebrauchte Versprachlichungsstrategie
der Befragten ohne Migrationshintergrund für die Äußerung von Spracheinstellungen betrifft die Satzkonstruktion
mit »solange« (vgl. die Beispiele 6 – 9), die über die rein zeitliche Bedeutung hinaus hier eine konditionale Bedeutung
hat. Man stimmt Mehrsprachigkeit zu, solange gewisse Bedingungen – wie etwa die Anerkennung des Status des Deutschen als Landessprache – erfüllt bleiben. Wie so häufig
schließen die Befragten dabei von der Sprache auf die Sprecherinnen und Sprecher (vgl. Kap. 4.1.3).
6. Beispiel: (EsRüt8; jung)
diesen mehrsprachigen schildern| du hast ja gerade gesagt
(--)| ähm solange das deutsche nicht ganz verschwindet|
7. Beispiel: (DuInn13; alt)
die stören mich nicht| die ( ) haben wir hier reingeholt| weil wir
sie zum arbeiten brauchten| (1.0)| und solange die uns nichts
tun| lass sie laufen| (---) der meinung bin ich ne|
8. Beispiel: (DoHör4; alt)
das [Mehrsprachigkeit] macht mir gar nicht| solange wie ich
nicht angesprochen werde| können sie machen was sie wollen|
9. Beispiel: (BoLan14; alt)
ach ich hab nichts dagegen| solange wie sie mit mir deutsch
reden| ist das das alles okay|
Diese Einstellungsäußerungen zeigen, dass bei einer
Vielzahl der Befragten ohne Migrationshintergrund die
Überzeugung vorherrscht, dass eine erfolgreiche Integration
u. a. von dem Erwerb der Sprache des Aufnahmelandes abhänge (assimilationistische Einstellung, vgl. Esser 2010).
Das pluralistische Modell im Gegensatz dazu unterstützt die
Beibehaltung und Pflege eigener Wertesysteme und Sprachen, die das Selbstwertgefühl und die Anerkennung und
dadurch die Integration stärken (vgl. Esser 2010).
Andere populäre Versprachlichungsstrategien, die die
Befragten ohne Migrationshintergrund verwenden, um negative Einstellungen gegenüber visueller Mehrsprachigkeit
zu kommunizieren, sind die »ja, aber«-Strategie (Kotthoff
1993) und die »Ich-bin-nicht-X, aber«-Strategie. Beide
Strategien geben zu erkennen, dass sich die Befragten in der
Interviewsituation an der Interviewerin bzw. dem Interviewer orientieren, d. h. deren Erwartungen antizipieren. Potenziell abweichende bzw. sozial unerwünschte Einstellungsäußerungen werden deshalb von den Befragten so formuliert
bzw. so auf die Adressaten zugeschnitten, dass sie auf positive Resonanz stoßen können, indem sie zuerst zustimmen
(»ja«), um anschließend einen Widerspruch zu äußern. Den
Positionierungserwartungen wird so auf höfliche Art und
Weise nicht entsprochen. Gleichzeitig wird damit eine weniger bevorzugte Äußerung, d. h. eine abwertende und / oder
offen nationalistische Positionierung ermöglicht und zugleich angezeigt, wie diese von der Interviewerin oder dem
Interviewer verstanden werden soll. Die »ja, aber«-Strategie
wird also verwendet, um Nichtzustimmung abzuschwächen
und weniger konfrontativ zu erscheinen, indem einer nega-
4.1.6 STRATEGIEN DER VERSPRACHLICHuNG VoN EINSTELLuNGEN Zu MEHRSPRACHIGKEIT
267
tiven Aussage (»aber«) etwas Positives (»ja«) vorangestellt
wird. Wie Levinson (2000: 367) bereits feststellt: »Dem Widerspruch geht also eine scheinbare Zustimmung voraus«.
Dazu ein paar Beispiele:
10. Beispiel: (BoHam2; alt)
multikulti finde ich generell gut| aber äh| (2.7) nicht alle menschen sind immer gut| weder deutsche noch| türkische ( )|
noch äh (.) polnische|
11. Beispiel: (BoLan5; mittel)
äh (-) ja das ist gut aber äh| man muss nicht so laut sprechen|
12. Beispiel: (BoHam9; jung)
joa also (--) eigentlich denk ich ok| das dient dann halt als
hilfe| ne ein bisschen als unterstützung| aber ich mein die können sich ja auch nicht ausschließlich darauf verlassen|
13. Beispiel: (DuMar7; alt)
ich habe ja nichts (dagegen)| aber dann (äh äh)| also marxloh
über (.) ist ein bisschen zu sehr (
)|
Auch die »Ich-bin-nicht-X-aber«-Strategie gebrauchen
die Befragten, um eine Einstellungsäußerung, die sie als sozial unerwünscht antizipieren, zu rechtfertigen. Mit diesem
imagewahrenden Format greifen sie eine mögliche Einschätzung durch das Gegenüber als »rechts« oder »nationalistisch«
auf, negieren sie aber zugleich. Das adversative »aber« leitet
dann die Meinungsäußerung ein. Modalisierungsstrategien
wie diese werden häufig bei solchen subjektiven Wertungen
angewendet, die die Interviewten als potenziell problematisch einschätzen. Dazu ein paar Beispiele:
14. Beispiel: (BoLan10; mittel)
206 IntTM:
[ja| ]
207
ähm wenn sie das jetzt trotzdem selbst wählen
dürften|
208
welche sprachen würden sie außer deutsch
dann auf so ein schild (-) noch drucken| […]
243 BoLan10: bitte|
244
[ich bin nicht rechts| ]
245 IntTM:
[((lacht))| ]
246 BoLan10: aber (--) das ist so (-) jetzt meine meinung|
247
wo ich denke (--)|
268
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
248
249
250
251
252
253
äh wenn ich auswandern würde (-)|
würde ich erst die sprache sprechen|
und dann dorthin gehen|
wenn das kurzfristig käme|
aber innerhalb von einem jahr wüsste ich|
die sprache kann ich|
15. Beispiel: (BoLan2; alt)
013 IntTM:
(--) genau|
014
ähm und zwar wenn man zum beispiel durch
dieses stadtviertel geht|
015
oder auch in anderen stadtvierteln|
016
fällt ja auf dass es viele schilder auch in
anderen sprachen gibt|
017
(0.5) also zum beispiel auch türkisch|
018
oder auch hier (.) das ist ja auch ernstings
familiy|
019
ist ja englisch (0.6)|
020 BoLan2: [äh (.) ja ich finde das nicht gut| ]
021 IntTM:
[ähm wie| ]
022
(0.6) warum|
023
(2.4)|
024 BoLan2: [ich bin kein nationalist| ]
025 IntTM:
[mhm| ]
026 BoLan2: ich bin ich bin (echt ein / echter) europäer
(---)|
027
aber das finde ich nicht gut|
028
dass (die / wir) hier unsere sprache hier|
029
mit so einer scheiße da vermengen|
030
vor allen dingen das englische|
031
ne|
Befragte mit Migrationshintergrund verwenden häufig Formulierungen mit normativem Charakter, um auszudrücken, was von ihnen in Bezug auf sprachliche Integration
erwartet wird. Dabei verweisen sie häufig darauf, dass sie »in
Deutschland leben«. Daraus leiten sie die Konsequenz ab,
dass sie sich »anpassen« bzw. »integrieren« müssen und dass
Schilder und Aushänge im öffentlichen Raum in Deutsch
sein sollten. Die Erwartungsnormen werden mittels präskriptiver Modalkonstruktionen wie »müssen« oder »sollen«
formuliert, wie die Beispiele zeigen:
16. Beispiel: (DuMar12; jung)
halt wir leben in deutschland| so wie gesagt habe| (0.4) halt äh|
wir müssen uns ja hier anpassen|
17. Beispiel: (DoHör3; alt)
wir sind in deutschland| (--) dann muss (-) geschrieben (.) gesprochen werden deutsch| meine ich| ((…)) (0.5) wir sind in
deutschland und| (0.3) da soll soll deutsch gezeigt werden|
und ende|
18. Beispiel: (DoHör5; mittel)
(0.8) ich find wenn man hier in deutschland lebt dann muss
man auch deutsch lernen|
19. Beispiel: (DoNor9; jung)
nach meiner meinung ne| ich ich denke dass dass äh| wenn die
menschen aus dem ausland nach deutschland kommen| die
sind bewusst (--)| dass in deutschland muss man deutsch
sprechen ne (-)| und die müssen sich kümmern| die deutsche
sprache zu sprechen| ((…)) natürlich wenn man lebt hier in
deutschland| ((…)) muss man bereit sein auch die sprache zu
lernen| ((…)) hier in deutschland| musste ich unbedingt die
deutsche sprache lernen (1.2)|
20. Beispiel: (DuInn12; mittel)
deutsch mir deutsch reicht [auf Schildern]| (--) weil wir sind in
deutschland| ((…)) (2.7) ich finde das ist nicht gut| (-) weil wir
sind in deutschland| normalerweise alles steht (.) auf
deutsch|
21. Beispiel: (DuInn15; mittel)
das finde ich nicht in ordnung| wir sind hier in deutschland| und
wir sollten (--)| sollte alles auf deutsch gehalten| ((…)) wer hier
äh nach deutschland kommt| (-) dann soll er (.) deutsch können| und wenn nicht (---)| dann soll er woanders (.) leben|
Solche Konstruktionen mit Modalverben und Adverbien wie »normalerweise« und »unbedingt« zeigen an, unter
welchem Integrationsdruck sich Personen mit Migrationshintergrund sehen und wie sie in den Befragungen den normativen Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft zu
entsprechen suchen. Für die Formulierung der Erwartungserwartungen werden häufig »wenn-dann« und »wer-der«
Konstruktionen genutzt, d. h. kategorische Formulierungen
präferiert.
4.1.6 STRATEGIEN DER VERSPRACHLICHUNG VON EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
269
270
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
20
15
10
5
jung
mittel
e
ut
di
Au
e
slä
Le
nd
di
er
e
0
n
Argumentative und evaluative Aktivitäten sind geeignete
Handlungskontexte, um soziale Kategorisierungen zu untersuchen und danach zu fragen, wie die Befragten auf sich
selbst und auf andere verweisen, welche sprachlichen Mittel
dabei vorherrschen und was die Wahl der sprachlichen Mittel über die Befragten und die Anderen, über die gesprochen
wird, transportiert. Insofern spielen soziale Kategorisierungen eine zentrale Rolle bei der Herstellung von Identität und
Alterität (Sacks 1972; Schlegloff 2007), von Zugehörigkeit
und Abgrenzung. Im Kontext des Sprechens über (visuelle)
Mehrsprachigkeit und sprachliche Integration sind Verweise
auf Zugewanderte und Angehörige einer nationalen oder
ethnischen Gruppe soziolinguistisch bedeutsam, weil sie
Hinweise darauf liefern können, welche Kategorienbezeichnungen vorrangig verwendet und relevant gesetzt werden
und inwieweit in alltagssprachlichen Kontexten neue Ausdrücke zur Fremd- oder Selbstbezeichnung, zur Zuordnung
und Ab- und Ausgrenzung gebräuchlich werden. In dem
hier interessierenden Kontext betrifft das z. B. den Ausdruck
»Migrationshintergrund«, der auf die Migrationspädagogin
Boos-Nünning zurückgeht, die ihn im 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung von 1998 verwendete (vgl.
Scarvaglieri / Zech 2013). Für die Analyse ist weiterhin von
Interesse, welche ethnischen Gruppen als subjektiv wichtig
wahrgenommen werden und welche sprachlichen Verfahren
der Benennung bevorzugt werden. Dazu zählen u. a. ethnische Kategorienbezeichnungen (z.B. Türken, Italiener und
Polen), personale Verweisformen (z.B. Verwendung der Personalpronomen »wir« und »sie«), indefinite und generalisie-
Vor-Ort-Interviews von den Befragten ohne Migrationshintergrund sehr häufig auf national oder ethnisch definierte
Gruppen Bezug genommen, d. h. nach den »Türken« auf die
»Italiener«, »Russen«, »Araber« und »Bulgaren« verwiesen.
Andere Formen der sprachlichen Bezugnahme auf die »Anderen« sind die Bezeichnungen »Flüchtlinge«, »Migranten«,
»Gastarbeiter«, »Asylanten«, »Aussiedler«, »Zuwanderer« (allesamt gängige Begriffe in der öffentlichen Zuwanderungsdebatte, die den unterschiedlichen rechtlichen Status kennzeichnen). Nicht viel freundlicher klingende Nomen hinter
dem ausgrenzenden Adjektiv wie »ausländische Mitbürger«
und »ausländische Mitbewohner« sollen durch die Betonung
von Gemeinsamkeiten die ausgrenzende Konnotation von
»ausländisch« abschwächen, während Bezeichnungen wie
»ausländische Leute«, »ausländische Personen« und pleonastische Formulierungen wie »ausländische Migranten« den
ausgrenzenden Charakter der Bezeichnungen verstärken.
Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass im Sprachgebrauch der älteren Befragten ohne Migrationshintergrund
die Bezeichnung »Ausländer« vorherrscht. Für die Befragten
mittleren Alters und die jüngeren Befragten lässt sich dagegen feststellen, dass hier eine Vielzahl an generalisierenden
Bezeichnungen verwendet wird, die auf eine Unsicherheit in
der Gruppe der Befragten ohne Migrationshintergrund bei
der sprachlichen Bezugnahme auf »die Anderen« schließen
lässt. Häufig werden herkunftsbezogene Bezeichnungen verwendet, d. h. auf konkrete ethnische Gruppen wie die »Türken«, »Italiener«, »Russen«, »Araber« und »Bulgaren« verwiesen. Darüber hinaus wird deutlich, dass sperrige
Formulierungen mit dem Kompositum »Migrationshintergrund« bei der Fremdkategorisierung vermieden werden.
Wie benennen die Befragten mit Migrationshintergrund Personen »mit Migrationshintergrund«? Welche Bezeichnungen dominieren in dieser Untersuchungsgruppe?
Die Analyse, die sich auf insgesamt 145 deutsche und 46
türkische Belege stützt und unterschiedliche Formen der Kategorienbezeichnung zu erkennen gibt, zeigt, dass drei Bezeichnungen in der Gruppe der Befragten mit Migrationshintergrund bevorzugt werden und dass dieses Set an
Bezeichnungen identisch ist mit dem Set, dass die Befragten
ohne Migrationshintergrund verwenden. So dominiert auch
in der Gruppe der Befragten mit Migrationshintergrund der
Verweis auf »Türken«, gefolgt von der im Deutschen als
ke
Soziale Kategorisierung
rende Verweisformen (z.B. Verwendung von Bezeichnungen
wie »die Anderen« und »andere Menschen«), pränominale / postnominale Attribuierungen (z.B. »ausländische
[Mit]bürger«, »türkische Mitbürger«, »türkische Bevölkerung« oder »Menschen mit Migrationshintergrund«) und
Attributsätze, die die Zuschreibung typischer Handlungen
oder Eigenschaften zum Ausdruck bringen (z.B. Relativsätze
wie »Bürger, die hierherkommen«; »Bürger, die nicht Deutch
sprechen«). Untersucht wird auch, inwieweit sich die Befragten mit Migrationshintergrund von denen ohne Migrationshintergrund dabei unterscheiden und was die je spezifischen
sprachlichen Realisierungen und Präferenzen über die gesellschaftlichen Intergruppenbeziehungen zu erkennen geben.
Die quantitative Analyse der sprachlichen Verfahren zur
Bezugnahme auf Personen »mit Migrationshintergrund« gilt
den Kategorienbezeichnungen, die in den Passanteninterviews verwendet wurden. Da einige Interviews auch auf Türkisch geführt wurden, werden auch die türkischen Bezeichnungen in der Analyse mitberücksichtigt.
Wie referieren Befragte ohne Migrationshintergrund
auf Personen »mit Migrationshintergrund«? Grundlage der
Analyse sind 221 Belege, die sich auf verschiedene Formen
der Bezeichnung verteilen. Die Auswertung aller Fremdkategorisierungen zeigt (vgl. die Wortwolken in Abb. 4.1.6.2
& 4.1.6.4), dass die am häufigsten verwendete allgemeine
Verweisform die Bezeichnung »Ausländer« und die mit Abstand am häufigsten benannte Gruppe die der Türkeistämmigen ist. Auf sie wird mit der ethnisch bestimmten Gruppenbezeichnung »Türken« verwiesen. Auch attributiv
erweiterte Nominalphrasen wie »türkische Mitbürger«, »türkische Bevölkerung«, die auf der Bezeichnungsebene sprachlich integrieren sollen, sowie »türkischstämmige Leute« werden verwendet, allerdings zu einem wesentlich geringeren
Anteil. Die als zunehmend diskriminierend konnotierte Bezeichnung »Ausländer« weist eine altersspezifische Verteilung
auf, indem die Befragten mit einem hohen Alter (ab 60
Jahre) deutlich häufiger diese Bezeichnung wählen als die
Befragten der mittleren und jüngeren Altersgruppe (vgl.
Abb. 4.1.6.1). Mit deutlichem Abstand folgt die Bezeichnung mit dem Pronomen »die«, das in generalisierender
Form gebraucht wird, und die Bezeichnungsform »die
Leute«, die beide als scheinbar vage Verweisformen ebenfalls
als tendenziell ausgrenzend gelten. Insgesamt wird in den
Tü
r
Diese Tendenz findet ihre Entsprechung bei den Befragten ohne Migrationshintergrund darin, dass sie häufig konditionale Konstruktionen wählen, die zu erkennen geben,
dass sich Migrantinnen und Migranten integrieren sollen
und dass Integration als ein einseitiger Prozess, d. h. eine
Bringschuld der Migrantinnen und Migranten verstanden
wird. Auffällig ist insgesamt, dass schematische Formulierungsmuster überwiegen (»wenn-dann«; »wer-der«) und dass
häufig individuell geäußerte Einstellungen als sozial geteilte
Einstellungen präsentiert (»wir-Perspektive«) und über den
Gebrauch des Indefinitpronomens »man« generalisiert werden.
alt
Abb. 4.1.6.1: Die vier häufigsten Bezeichnungen, die die Befragten
ohne Migrationshintergrund für den Verweis auf Menschen »mit Migrationshintergrund« verwenden, differenziert nach Altersgruppe
4.1.6 STRATEGIEN DER VERSPRACHLICHUNG VON EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
271
30
25
20
15
10
5
jung
mittel
lg
a
Bu ren
lg /
ar
Au
Bu
di
slä
Ya nde
ba r
nc /
ı
e
0
Tü
Tü rke
rk n
(le /
r)
zunehmend diskriminierend bewerteten Bezeichnung »Ausländer« (türkisch: Yabancı = Fremder, ohne diskriminierenden Unterton) und der generalisierenden Bezeichnung mit
den Pronomen »die« und »sie«. Daneben fällt auf, dass auch
die Befragten mit Migrationshintergrund nach den »Türken« am häufigsten auf »Bulgaren« (türk. Bulgar), »Italiener«
und »Araber« verweisen. Begriffe aus dem politischen Diskurs, z. B. die Bezeichnungen »Migranten« und »Asylanten«,
werden ebenfalls verwendet, allerdings deutlich seltener als
Verweise auf konkrete ethnische Gruppen. Ebenfalls seltener
kommen solidarisierende Bezeichnungen wie »wir«, »Landsleute«, »Meinesgleichen«, »Gleichgesinnte« und »arabische / marokkanische Freunde« vor (vgl. die Wortwolke in
Abb. 4.1.6.4). Altersspezifische Präferenzen zeigen sich in
dieser Befragtengruppe mit Blick auf die Bezeichnung »Türken« (vgl. die Wortwolke in Abb. 4.1.6.4). Diese Bezeichnung findet sich besonders häufig bei den Befragten der jüngeren und mittleren Generation, weniger dagegen bei den
Befragten der ältesten Generation.
Befragte mit Migrationshintergrund verstehen sich – darauf deuten die verschiedenen Formen der Benennung
hin – mehrheitlich als »Inländer« und grenzen sich gegenüber neu Zugewanderten ab: am häufigsten durch die allgemeine Bezeichnung »Ausländer«.
Der Vergleich der Bezeichnungspraktiken in den beiden
Untersuchungsgruppen zeigt, dass das Repertoire der präferierten Bezeichnungen in beiden Gruppen weitgehend identisch ist und die Befragten mit Migrationshintergrund offensichtlich das Bezeichnungsrepertoire der Mehrheitsgesellschaft
übernommen haben. Dies erklärt vermutlich auch, warum
solidarisierende Bezeichnungsformen in der Gruppe der Befragten mit Migrationshintergrund kaum vorkommen.
alt
Abb. 4.1.6.3: Die vier häufigsten Bezeichnungen, die die Befragten mit
Migrationshintergrund für den Verweis auf Menschen »mit Migrationshintergrund« verwenden, differenziert nach Altersgruppe
Abb. 4.1.6.2: Bezeichnungen, die die Befragten ohne Migrationshintergrund für den Verweis auf
Menschen »mit Migrationshintergrund« verwenden (N = 232)
272
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.1.6 STRATEGIEN DER VERSPRACHLICHUNG VON EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
273
Abb. 4.1.6.4: Deutsche Bezeichnungen, die die Befragten mit Migrationshintergrund für den Verweis
auf Menschen »mit Migrationshintergrund« verwenden (N = 145)
274
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 4.1.6.5: Bezeichnungen, die die Befragten mit türkischem Hintergrund für den Verweis auf
Menschen »mit Migrationshintergrund« verwenden (N = 46)
4.1.6 STRATEGIEN DER VERSPRACHLICHUNG VON EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
275
4.2 Telefonbefragung
Das Verhältnis zur eigenen sowie zu anderen Sprachen im unmittelbaren ökologischen
Kontext ist nicht nur ein prominenter Gegenstand linguistischer, sondern auch philosophischer und sozialpsychologischer Studien. Als ein Sprechen über das Sprechen
stellt diese Aktivität quasi die Metareflexion in Reinform dar. Zuletzt hat das Institut
für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim eine für Deutschland repräsentative Erhebung hierzu durchgeführt und eine Vielzahl differenzierter Befunde vorgelegt (Gärtig
et al. 2010). Doch seitdem hat ein spürbarer gesellschaftlicher Wandel stattgefunden:
Insbesondere hat sich durch die jüngste Präsenz des Arabischen im Kontext der Fluchtzuwanderung, aber auch durch das vermehrte Aufkommen des Chinesischen im Rahmen globaler werdender Marktprozesse eine Fortführung und Ausweitung dieser Forschungsfragen aufgedrängt.
Wir haben in der eigenen CATI-Studie (Computer-Assisted Telephone Interview)
diese Impulse aufgenommen und uns in mehrfacher Hinsicht fokussiert: a) zunächst
regional auf NRW, aber auch b) was unsere Informantinnen und Informanten betrifft:
So haben wir – neben der Befragung einheimischer Deutscher – mit der italienischen
und türkischen zwei unterschiedliche Zuwanderergruppen in den Blick genommen,
die neben der polnischen Zuwanderung für das Verständnis von Migrationsprozessen
im Ruhrgebiet von eminenter Bedeutung sind. Dabei haben wir den Personen mit Zuwanderungsgeschichte eingeräumt, in der eigenen Sprache ihr Verhältnis zum Deutschen und zu anderen Sprachen kund zu tun. Hatte die IDS-Studie für die gesamte
Bundesrepublik ein Sample von N = 2 000 einbezogen, so weist unsere Studie mit einer Stichprobengröße von etwas mehr als 1 000 (1 019 genau) Teilnehmerinnen und
Teilnehmern auf den ersten Blick zwar eine etwas geringere, aber vor dem Hintergrund, dass wir unsere Studie auf NRW begrenzt haben, eine also verhältnismäßig größere Stichprobe auf, was die ermittelten empirischen Werte noch belastbarer macht.
4.2.1 Datenerhebung CATI
(Computer-Assisted Telephone
Interview)
Begründung des methodischen Vorgehens
Es ist sicherlich fragwürdig, nach der Sichtbarkeit von Zeichen durch ein Medium zu
fragen, das ausschließlich auf das Gehör setzt. In einem Telefongespräch kann man
sich visuelle Zeichen allenfalls vor Augen führen. Diese Tatsache zeigt die enge Grenzen einer CATI-Studie. Wir sind uns dieser Schwierigkeit, ja zum Teil Widersprüchlichkeit bewusst gewesen und haben die unterschiedlichen methodologischen Anforderungen (stärkere Gegenstandsnähe vs. hohe Fallzahl) gegeneinander abgewogen und
letztendlich dem Kriterium der Stichprobengröße und somit der Belastbarkeit der Daten Vorrang gegeben. Ein gewichtiges Argument dafür (quasi als methodische Triangulation) boten auch die Ergebnisse der vor Ort geführten leitfadengestützten Interviews mit ihrer stärkeren Gegenstandsnähe.
Am Telefon wurde der Fragebogen auf Wunsch der Interviewten in der jeweiligen
Muttersprache vorgelesen, und sie konnten auch auf Deutsch oder in der Muttersprache antworten. Inhaltlich ging es u. a. um die Sichtbarkeit und Wahrnehmung der visuellen Mehrsprachigkeit, um die Einschätzung ihrer Funktion, um die Akzeptanz und
Bewertung sowie um die Dimension der Beheimatung durch Mehrsprachigkeit im lebensweltlichen Kontext. Darüber hinaus wurden die in sozialwissenschaftlichen Erhebungen üblichen soziodemografischen Angaben wie Alter, Geschlecht, Bildungsstand,
Geburtsland, Erwerbstätigkeit, aber auch Staatsbürgerschaft, Sprachkenntnisse und
Wohnort eingeholt.
Kennzeichnung und Begründung der Stichprobenrekrutierung
Die konkrete Durchführung der Interviews begann am 01.02.2016 und dauerte für
die italienische Gruppe bis zum 27.02.2016, für die deutsche Gruppe bis zum
01.03.2016 und für die türkische Gruppe bis zum 03.03.2016, bis die jeweils avisierte
Anzahl an Interviews erreicht war. Insgesamt haben 1 019 Personen über 18 Jahren
teilgenommen. Rund 55 % der Befragten waren weiblich; etwa die Hälfte der Stich-
276
4. SPRACH BEWERTuNGEN uND EINSTELLuNGEN Zu MEHRSPRACHIGKEIT
probe (N = 504 bzw. 49,5 %) war ohne einen Migrationshintergrund, rund 30 % hatten einen türkischen (N = 304) und
etwa 20 % (N = 211) einen italienischen Migrationshintergrund. Der deutlich überwiegende Teil in beiden Zuwanderergruppen lebte schon seit mindestens 20 Jahren in
Deutschland (in der italienischen rund 85 %; in der türkeistämmigen etwa 80 %); insofern war damit zu rechnen, dass
die Befragten mit den lokalen und regionalen Gegebenheiten in Deutschland vertraut waren. Durchschnittlich waren
die Probanden ohne Migrationshintergrund 59 Jahre alt, die
mit einem italienischem etwa 56 und die mit einem türkischen Migrationshintergrund knapp 44 Jahre alt, also in allen drei Gruppen etwas älter als die jeweilige Durchschnittsbevölkerung.
Die Fokussierung auf diese Gruppen liegt darin begründet, dass mit türkeistämmigen und italienischen Personen
mit Zuwanderungsgeschichte zwei Gruppen in den Blick genommen werden, die (neben den Zugewanderten aus Polen)
die Migrationsbewegungen im Ruhrgebiet entscheidend geprägt haben, wobei jedoch die soziale und sprachliche Beheimatung, die öffentliche Sichtbarkeit dieser Gruppen sowie
die Akzeptanz ihrer Herkunftssprachen unterschiedliche
Verläufe und Ausprägungen angenommen haben. Der Einbezug einer weiteren, und zwar der deutschen Stichprobe,
hat die Funktion einer Kontrollgruppe und ermöglicht, die
gefundenen Effekte angemessener einzuschätzen und die migrationsspezifische Dimension genauer herauszuarbeiten.
4.2.1 DATENERHEBuNG CATI (CoMPuTER-ASSISTED TELEPHoNE INTERVIEW)
277
4.2.2 Wahrnehmung von
Mehrsprachigkeit
Zunächst wurden die Personen gefragt, ob ihnen in der Stadt, in der sie leben, Schilder, Plakate und Beschriftungen aufgefallen seien, die in einer anderen Sprache als
Deutsch verfasst waren. Die deutlich größere Mehrheit der Befragten verneinte dies,
wobei die auffälligsten Unterschiede zwischen den Personen mit und ohne Migrationshintergrund bestanden: Rund 73 % der Deutschen hatten keine nicht-deutsche Beschilderung etc. wahrgenommen, bei den Personen mit einem italienischem oder türkischem Migrationshintergrund betrug diese Rate 63 % bzw. 65 %. Positiv formuliert
lässt sich festhalten, dass die spontane Wahrnehmung nicht-deutscher Beschilderung
oder Beschriftung im öffentlichen Raum bei Personen mit Migrationshintergrund
häufiger erfolgt, sie hierfür also eine höhere Sensibilität aufweisen.
Die Frage, ob die mehrsprachigen Schilder und Beschriftungen nicht wahrgenommen werden, weil es sie einfach nicht gibt und deshalb auch nicht wahrnehmbar sind
oder ignoriert werden, lässt sich nicht eindeutig klären. Die Voraussetzungen dieser
Fragestellung wären kaum einlösbar: Zum einen bräuchte es eine Totalaufnahme der
jeweiligen Lebenswelten (zum Abgleich), zum anderen scheitert die Beantwortung dieser Frage an der prinzipiellen Selektivität menschlicher Umgebungswahrnehmung; wir
nehmen stets nur einen für uns je individuell relevanten Teil der Umgebung wahr.
alle Gruppen hinweg in Kindertagesstätten am wenigsten
Mehrsprachigkeit wahrgenommen wird, obwohl gegenwärtig mindestens ein Drittel aller Kinder im Ruhrgebiet einen
Migrationshintergrund haben.
Nicht zuletzt fällt auf, dass Deutsche in kulturellen Einrichtungen ziemlich selten auf Mehrsprachigkeit stoßen, wobei auch hier nicht eindeutig geklärt werden kann, ob prinzipiell Kultureinrichtungen die Mehrsprachigkeit (ihrer
potenziellen Besucher) ignorieren oder die befragten Deutschen ausgewählt monolinguale Kulturveranstaltungen besuchen.
Mit Blick auf die Beschaffenheit dieser mehrsprachigen
Erzeugnisse wird deutlich, dass über alle Gruppen hinweg
Werbung, Ladenbeschriftungen und Plakate genannt werden. Auffällige Unterschiede hingegen bestehen in der
Lokalisierung der Mehrsprachigkeit
Vor diesem Hintergrund wurden im nächsten Schritt die
Teilnehmer gefragt, wie häufig sie mehrsprachigen Beschilderungen oder Beschriftungen in (von uns) ausgewählten öffentlichen Orten begegnen.
Deutlich wird zunächst, dass über alle Gruppen hinweg
Mehrsprachigkeit den Interviewten am häufigsten an Bahnhöfen, religiösen Einrichtungen sowie im kommerziellen
Sektor begegnet. Darüber hinaus sind jedoch auffällige Unterschiede bei der Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit zwischen den Gruppen mit Migrationshintergrund festzustellen: Personen mit einer italienischen Zuwanderungsgeschichte
nehmen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Behörden und
Krankenhäusern deutlich häufiger Mehrsprachigkeit wahr
als türkeistämmige Zuwanderer. Erstaunlich ist, dass über
Herkunft
O MH
IT MH
TR MH
Insgesamt
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
In oder an
Geschäften
2,97
206
2,74
87
2,96
138
2,92
431
In oder an
Krankenhäusern
oder beim Arzt
3,11
197
2,87
83
3,31
134
3,12
414
In oder an Rathäusern
oder öffentlichen
Ämtern bzw. Behörden
3,19
170
2,58
78
3,33
125
3,11
373
In oder an öffentlichen
Verkehrsmitteln, in
oder an Bahnhöfen
2,68
191
2,06
78
3,04
117
2,67
386
Am Arbeitsplatz
bzw. in der Schule
oder Universität
3,36
146
3,31
78
3,34
113
3,34
337
In oder an Gaststätten/
Restaurants
3,48
199
2,96
81
3,21
134
3,29
414
In oder an Kitas /
Kindergärten
3,84
112
3,69
49
3,5
94
3,69
255
In oder an Kirchen,
Moscheen, Synagogen
2,95
191
2,56
73
2,66
125
2,79
389
In oder an kulturellen
Einrichtungen
3,87
165
3,24
59
2,89
121
3,42
345
Abb. 4.2.2.1: Wie häufig sehen Sie an den folgenden Orten oder Gebäuden mehr- oder anderssprachige Schilder oder Beschriftungen?
Mittelwerte auf einer Skala von 1 = Sehr häufig bis 5 = Nie; ohne »Trifft nicht zu«, »Weiß nicht«, und »keine Angabe«. Je niedriger der Mittelwert,
desto häufiger werden mehrsprachige Schilder wahrgenommen.
278
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.2.2 WAHRNEHMUNG VON MEHRSPRACHIGKEIT
279
deutlich häufigeren Wahrnehmung von Graffitis seitens
Deutscher (M = 3.23), während sowohl italienische
(M = 3.77) als auch türkeistämmige Zuwanderer (M = 3.70)
davon seltener berichten.
Erkennbar ist, dass Mehrsprachigkeit primär über die jeweilige Sprache und die Schriftzeichen identifiziert wird;
dann scheinen Geschäftsnamen genauso indikativ zu sein.
Symbole, Bilder und Farbgebung sind hingegen über alle
Gruppen hinweg kaum hinweisgebend für eine mehrsprachige Beschilderung. Bei der Differenzierung nach Migrationshintergrund fällt jedoch auf, dass sowohl für italienische
(M = 2.91) als auch türkeistämmige Zuwanderer (M = 2.92)
Symbole deutlich bedeutendere Marker für Mehrsprachigkeit sind als für Deutsche (M = 3.53).
Neben der Wahrnehmung waren die unterschiedlichen
Funktionen von mehrsprachiger Beschilderung und Beschriftung ein erkenntnisleitendes Interesse der Befragung.
Wir wollten explizit wissen, ob Funktionszuschreibungen
bei Einheimischen eventuell anders ausfallen als bei Personen mit Migrationshintergrund; in semiotischer Terminologie: ob das Zeichen bei seinem Interpretanten unterschiedliche Deutungen und Reaktionen auslöst.
Herkunft
O MH
IT MH
TR MH
Insgesamt
Herkunft
O MH
IT MH
TR MH
Insgesamt
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
…um etwas zu benennen, z. B. Dinge, Orte,
Institutionen, Geschäfte, Produkte
2,19
207
2,69
91
2,36
136
2,35
434
…weil besonders viele Menschen
diese Sprache sprechen
2,28
207
2,08
88
1,99
137
2,15
432
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
… um den Gebrauch eines Ortes anzuzeigen, oder
Anweisungen und Informationen zu geben
2,41
207
2,65
86
2,20
137
2,39
430
der Sprache der
Beschriftung
2,10
207
2,45
89
2,20
138
2,20
434
… um den Weg zu weisen und dadurch
Orientierung zu geben
2,48
206
2,90
87
3,10
136
2,76
429
der Schriftform/
Schriftzeichen
2,23
207
2,76
90
2,22
138
2,34
435
…um an etwas zu erinnern
3,22
207
3,09
89
3,21
136
3,19
432
den Bildern
3,68
206
3,30
90
2,91
138
3,36
434
… um multikulturell zu wirken
2,66
207
2,59
88
2,96
138
2,74
433
den Symbolen
3,53
207
2,91
91
2,92
138
3,21
436
… um modern zu wirken
3,05
206
2,96
90
3,29
138
3,11
434
der Farbgebung
4,13
205
3,74
91
3,33
138
3,79
434
… um darauf hinzuweisen, dass bestimmte Produkte
oder Dienstleistungen angeboten werden
2,49
205
2,79
91
2,42
138
2,53
434
Geschäftsnamen oder
Namen von Inhabern
2,27
207
3,18
91
2,01
138
2,37
436
…weil besonders viele Menschen
dieser Sprachgruppe dort leben
2,28
205
2,15
89
1,72
138
2,08
432
Abb. 4.2.2.2: Wie häufig erkennen Sie eine fremdsprachige Beschilderung an? Mittelwerte auf einer Skala von 1 = Sehr häufig bis 5 = Nie; ohne
»Weiß nicht« und »keine Angabe«. Je höher der Mittelwert, desto weniger
häufig.
280
Über alle Gruppen hinweg wird die Funktion mehrsprachiger Beschilderung und Beschriftung in dem informativen
Charakter der Zeichen gesehen; sie sollen verstanden werden
und – insbesondere bei den türkeistämmigen Befragten – an
die entsprechende Zielgruppe adressiert sein: Mehrsprachige
Beschilderung ist vorhanden, weil besonders viele Menschen
in der Nähe leben und diese Sprache sprechen. Als vergleichsweise gering wird ihre kommemorative Funktion (an
etwas erinnern) betrachtet. Interessant und kontraintuitiv
hierbei ist der Befund, dass Personen ohne Migrationshintergrund eine deutlich stärkere Orientierungsfunktion in
mehrsprachigen Zeichen sehen als Personen mit Zuwanderungsgeschichte.
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
Abb. 4.2.2.3: Mehr- oder anderssprachige Schilder und Beschriftungen können eine unterschiedliche Funktion haben. Ich lese Ihnen nun einige
Gründe vor, warum solche Schilder angebracht werden. Bitte sagen Sie mir, ob Sie der Meinung sind, diese Gründe treffen sehr häufig, eher
häufig, eher selten oder sehr selten zu. Anders- oder mehrsprachige Schilder bzw. Schilder in einer anderen Sprache als Deutsch sind meistens
da, ... Mittelwerte auf einer Skala von 1 = Sehr häufig bis 5 = Nie; ohne »Weiß nicht« und »keine Angabe«. Je höher der Mittelwert, desto weniger häufig.
4.2.2 WAHRNEHMUNG VON MEHRSPRACHIGKEIT
281
4.2.3 Akzeptanz von Mehrsprachigkeit
Die bisherige Forschung zeigt, dass in Deutschland Fremdsprachen und fremdsprachliche Erzeugnisse ein unterschiedliches Prestige aufweisen und nicht alle dieselbe Wertschätzung erfahren. Vor diesem Hintergrund wollten wir dieser Frage bei Personen mit
und ohne Zuwanderungsgeschichte nachgehen. Leitend war dabei die Annahme, dass
die Akzeptanz mehrsprachiger Beschilderung im öffentlichen Raum sowie die allgemeine Mehrsprachigkeit bei Zuwanderern höher ausfallen als bei »Einheimischen«.
Herkunft
O MH
Ich finde es gut, dass es andersoder mehrsprachige Schilder gibt
IT MH
TR MH
Insgesamt
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
1,55
499
1,41
201
1,51
301
1,51
1001
Deutlich wird, dass es bei den Befragten eine prinzipielle Offenheit für mehrsprachige Beschilderung gibt und
diese im Allgemeinen wertgeschätzt wird. Befragte mit türkischem und italienischem Migrationshintergrund unterstreichen sogar noch etwas stärker als deutsche Befragte, dass
mehrsprachige Schilder auch Deutsch enthalten sollten.
Hierbei gibt es kaum nennenswerte Unterschiede bei Personen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. Hervorgehoben wird vor allem die Orientierungsfunktion, die
mehrsprachige Beschilderung bei Personen ohne Deutschkenntnisse hat. Zugleich wird in der Mehrsprachigkeit auch
ein Zeichen von Weltoffenheit gesehen. Allenfalls gibt es
Unterschiede mit Blick auf die Akzeptanz der Mehrsprachigkeit im Ruhrgebiet, die kontraintuitiv ausfallen: Während
einheimische Deutsche hier eine größere Akzeptanz wahrnehmen, wird sie von Personen mit italienischer, und noch
mehr mit türkischer Zuwanderungsgeschichte etwas skeptischer beurteilt.
Im Anschluss an die Akzeptanz der Beschilderung wurde
nach der Wertschätzung der verschiedenen Sprachen gefragt.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sowohl bei der Personengruppe mit als auch der ohne Migrationshintergrund – und bei einer geschlechtsspezifischen
Analyse ohne Unterschiede innerhalb der Geschlechter – im
Allgemeinen eine große Akzeptanz der Mehrsprachigkeit im
öffentlichen Raum besteht und diese als eine Bereicherung
wahrgenommen wird. Neben dem Deutschen sind Englisch
und Französisch Sprachen mit einer recht hohen Akzeptanz,
gefolgt vom Italienischen.
Kritisch ist jedoch zu konstatieren, dass sowohl gegen
das Polnische als auch gegen das Arabische im öffentlichen
Raum eher eine Skepsis vorherrscht: Angesichts der Tatsache, dass die eine Sprache eigentlich als eine etablierte
Fremdsprache des Ruhrgebiets (Polnisch) und die andere angesichts der jüngsten Flüchtlingszuwanderung als die kommende relevante Fremdsprache (Arabisch) betrachtet werden
muss, ist diese Ablehnung ethisch bedenkenswert. Politisch
besteht hier dringender spezifischer Handlungsbedarf, um
die Akzeptanz der Sprache und ihrer Sprecher zu steigern
und soziale Teilhabe zu fördern.
Herkunft
Schilder sollen immer auch auf Deutsch sein
2,18
501
1,42
201
1,75
302
1,90
1004
Mehrsprachigkeit wird im
Ruhrgebiet allgemein akzeptiert
1,56
479
1,86
187
1,96
289
1,74
955
Schilder und Beschriftungen sollten
ausschließlich in deutscher Sprache sein, denn
Deutsch ist die wichtigste Sprache
2,95
498
2,68
199
2,97
299
2,90
996
In einen Supermarkt mit fremdsprachiger
Beschriftung gehe ich nicht
3,50
487
3,22
190
3,78
299
3,53
976
Anders- oder mehrsprachige Schilder oder
Beschriftung helfen Menschen aus anderen
Ländern, die in Deutschland leben, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Heimat zu entwickeln
1,67
484
1,63
199
1,74
298
1,68
981
Ich finde, es ist ein Zeichen von Weltoffenheit, wenn es
anders- oder mehrsprachige Schilder gibt
1,47
494
1,70
187
1,52
302
1,53
983
Anders- oder mehrsprachige Schilder helfen den Menschen, die kein oder nur wenig Deutsch können
1,31
501
1,33
199
1,30
300
1,31
1000
Offizielle Hinweis- und Informationsschilder sollten andere
Sprachen zusätzlich zu Deutsch enthalten
1,53
496
1,73
197
1,63
296
1,60
989
Abb. 4.2.3.1: Man kann ja unterschiedlicher Meinung dazu sein, dass es mehr- oder anderssprachige Schilder oder Beschriftungen gibt. Ich lese
Ihnen nun einige Aussagen vor. Bitte sagen Sie mir, ob Sie diesen Aussagen voll, eher, eher nicht oder gar nicht zustimmen. Mittelwerte auf einer
Skala von 1 = Stimme voll zu bis 4 = Stimme gar nicht zu; ohne »Weiß nicht« und »keine Angabe«. Je höher der Mittelwert, desto geringer die Zustimmung.
282
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
O MH
IT MH
TR MH
Insgesamt
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Mittelwert
N
Arabisch
3,38
477
3,36
173
3,58
288
3,44
938
Chinesisch
3,06
469
3,01
173
3,14
272
3,07
914
Deutsch
1,04
501
1,17
195
1,04
302
1,06
998
Englisch
1,11
497
1,23
193
1,16
303
1,15
993
Französisch
1,67
490
1,72
190
1,80
295
1,72
975
Italienisch
1,95
486
1,65
195
2,29
290
1,99
971
Niederländisch
2,10
489
2,63
176
2,93
282
2,44
947
Polnisch
2,65
485
3,01
172
3,07
275
2,84
932
Spanisch
2,09
487
1,86
180
2,34
284
2,12
951
Türkisch
2,31
488
2,84
178
2,72
300
2,53
966
Abb. 4.2.3.2: Verschiedene Sprachen genießen häufig unterschiedliche Wertschätzung. Wie stark werden die folgenden Sprachen Ihrer Meinung
nach im Allgemeinen in Deutschland wertgeschätzt: sehr, eher, eher nicht oder gar nicht wertgeschätzt? Mittelwerte auf einer Skala von 1 = Sehr bis
4 = Gar nicht; ohne »Weiß nicht« und »keine Angabe«. Je höher der Mittelwert, desto geringer die Wertschätzung
4.2.3 AKZEPTANZ VON MEHRSPRACHIGKEIT
283
Visuelle (Mutter-)Sprache als Vehikel der Beheimatung
und Ortsbindung
Herkunft
Sehr stark
Eher stark
Eher wenig
Gar nicht
Weiß nicht
Keine Angabe
Gesamt
IT MH
TR MH
Gesamt
N
62
116
178
%
29,4
38,2
34,6
N
52
63
115
%
24,6
20,7
22,3
N
29
57
86
%
13,7
18,8
16,7
N
42
64
106
%
19,9
21,1
20,6
N
17
3
20
%
8,1
1,0
3,9
N
9
1
10
%
4,3
0,3
1,9
N
211
304
515
%
100,0
100,0
100,0
Abb. 4.2.3.3: Wie stark gibt Ihnen das Vorhandensein von Schildern in
Ihrer Herkunftssprache das Gefühl, in Deutschland zu Hause zu sein?
Spaltenprozent
284
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
Zuletzt sind wir der Frage nachgegangen, inwiefern die Existenz von Beschilderungen des öffentlichen Raumes in der
Herkunftssprache auch Gefühle der Beheimatung und Zugehörigkeit vermittelt. Hierbei sind zunächst nur Personen
mit Zuwanderungsgeschichte befragt worden.
Fasst man die Kategorien »sehr stark« und »stark« zusammen, so wird deutlich, dass in beiden Zuwanderergruppen für weit mehr als die Hälfte der Befragten (54 % bis
59 %) die Existenz von Schildern in der Herkunftssprache
Gefühle der Zugehörigkeit auslöst; bei den Türkeistämmigen deutlich mehr als bei den Personen mit italienischer Zuwanderungsgeschichte. Wahrnehmung muttersprachlicher
Erzeugnisse im öffentlichen Raum bedeutet also, dass diese
Sprache und somit auch ihre Sprecher als selbstverständlicher Teil dieser Lebenswelt fungieren. Nur etwa ein Fünftel
der Befragten verneint explizit die Aussage, dass eine Beschilderung in der Herkunftssprache mit Dimensionen der
Zugehörigkeit zusammen hängen.
Sichtbarkeit der eigenen Sprache löst nicht nur genuin
bei Zuwanderern angenehme Gefühle und Vertrautheit aus,
sondern auch bei Einheimischen, wenn diese selbst in der
Minderheitenposition sind. So schätzten es fast 80 % der befragten Deutschen als wohltuend, wenn sie im Ausland
deutschsprachiger Beschilderung begegnen. Diese hohen
Werte korrespondieren (und erklären möglicherweise eine
empathische Haltung) mit der prinzipiell wertschätzenden
Einstellung von Deutschen gegenüber Hinweisschildern
auch in einer anderen Sprache als Deutsch (vgl. Tabelle zur
Einstellung gegenüber mehrsprachigen Schildern). Das
Antwortverhalten auf diese Frage verdeutlicht, wie mittels
Perspektivübernahme für eine größere Akzeptanz von Mehrsprachigkeit geworben werden kann.
Im Folgenden haben wir die Wahrnehmung, Akzeptanz
und Bewertung von Mehrsprachigkeit etwas differenzierter
betrachtet und sie vor allem mit Blick auf Altersgruppen sowie dem Migrationshintergrund hin ausgewertet.
Erkennen / Wahrnehmen von mehrsprachigen Schildern
Allgemein werden mehrsprachige Schilder als solche von
Einheimischen wie Zugewanderten in ähnlichem Maße erkannt (90,6 % vs. 89,6 %).
Innerhalb der Altersgruppen gibt es jedoch interessante
Unterschiede bzw. gegenläufige Verläufe: Während bei den
Einheimischen in der jüngsten Kohorte (18 – 34 Jahre) nur
4,3 %, in der Kohorte der »mittelalten« (35 bis 54 Jahre)
etwa 8 % und in der Kohorte der »alten« (55 Jahre und älter)
15 % angeben, fremdsprachige Schilder nicht zu erkennen,
erkennen bei den Zugewanderten 15,8 % der Jüngsten,
10,9 % der »Mittelalten« und 9,2 % der »Alten« keine fremdsprachigen Schilder.
Mit Blick auf die Sprachen Englisch und Arabisch fällt
auf, dass in beiden Gruppen, mit und ohne Migrationshintergrund (MH), das Englische ziemlich sicher erkannt wird:
82,2 % der Einheimischen und 81,8 % der Zugewanderten
können englische Schilder identifizieren; allerdings scheint
dies den »alten« Zuwanderern etwas schwerer zu fallen als
den jungen. Etwa 22 % der Älteren erkennen diese nicht; bei
den Jüngeren liegt dieser Anteil nur bei 12,5 %. Auffällige
Altersunterschiede sind dagegen bei den Einheimischen
nicht zu beobachten. Denkbar ist, dass dies bei den »älteren«
Zuwanderern auf ihre Bildungssozialisation in ihren Herkunftsländern geschuldet ist, in der kaum anspruchsvolles
Englisch an Schulen gelehrt wurde.
Bei dem Arabischen haben jedoch beide Gruppen in
gleichem Maße Schwierigkeiten, diese als mehrsprachige
Schilder zu erkennen: 60,4 % der Einheimischen und 61,3 %
der Zugewanderten geben an, arabischsprachige Schilder
nicht zu erkennen. Hier fällt jedoch auf, dass in beiden
Gruppen dieser Anteil in der ältesten Gruppe ziemlich groß
ist, während bei den jüngeren Gruppen, insbesondere aber
bei der jüngsten Gruppe der Zuwanderer, das Arabisch am
sichersten erkannt wird (50 %). Anzunehmen ist, dass insbesondere die Gruppe der jungen türkeistämmigen Zuwanderer auch am meisten Kontakt zu arabischen Personen in ihrem Umfeld hat, mit arabischen Personen eine gemeinsame
schulische Sozialisation durchlaufen hat und deshalb arabische Schriftzeichen gut identifizieren kann.
Herkunft
O MH
Sehr gut
Eher gut
Eher nicht gut
Gar nicht gut
Kann man nicht
generell sagen,
kommt darauf an
Weiß nicht
Keine Angabe
Gesamt
N
315
%
62,5
N
84
%
16,7
N
40
%
7,9
N
17
%
3,4
N
40
%
7,9
N
6
%
1,2
N
2
%
0,4
N
504
%
100,0
Abb. 4.2.3.4: Beheimatung auch für Deutsche:
Inwieweit gefällt es Ihnen, wenn Sie im Ausland Schilder und Beschriftungen in Deutsch
sehen? Spaltenprozent
4.2.3 AKZEPTANZ VON MEHRSPRACHIGKEIT
285
Auf die Frage, inwieweit von ihnen in den letzten fünf
Jahren eine Zunahme der mehrsprachigen Schilder beobachtet wurde, sind von den Befragten folgende Antworten gegeben worden (Abb. 4.2.3.6).
Deutlich wird zunächst, dass in beiden Gruppen, sowohl bei den befragten Personen mit als auch ohne Zuwanderungsgeschichte, der Eindruck vorherrscht, dass in den
letzten 5 Jahren der öffentliche Raum häufiger in den Sprachen der Zuwanderer beschriftet worden sei. Tendenziell ist
dieser Eindruck bei den älteren Befragten größer; am stärksten ist er jedoch bei der Gruppe der über 55-jährigen Einheimischen, von denen über drei Viertel dieser Aussage zustimmen.
Akzeptanz der Mehrsprachigkeit
Während zunächst nur nach der Wahrnehmung mehrsprachiger Schilder gefragt wurde, ist im zweiten Schritt auch
nach deren Akzeptanz gefragt worden. Die konkrete Aussage, zu der die Haltung der Befragten eingeholt wurde,
lautete: Ich finde es gut, dass es anders- oder mehrsprachige
Schilder gibt (Abb. 4.2.3.7).
Auch hier wird deutlich, dass Personen beider Gruppen
eine grundsätzlich positive und wertschätzende Haltung gegenüber mehrsprachiger Beschilderung haben. In beiden
Gruppen liegen die Zustimmungsraten weit über 80 %. Allenfalls in der ältesten Kohorte scheint in beiden Gruppen
eine kleine Skepsis vorhanden zu sein; etwa 13 % bis 17 %
von ihnen stimmten dieser Aussage nicht zu. Mehrsprachige
Beschilderung stößt also explizit auf eine Akzeptanz und
wird nicht, wie eventuell die vorangegangenen Daten zu ihrer wahrgenommenen Zunahme in den letzten fünf Jahren
nahelegen könnten, als ein Gefühl steigender Fremdheit in
Deutschland gewertet.
Gestützt wird diese Deutung bei der weiterführenden
Frage, inwieweit Mehrsprachigkeit eine Normalität im
Ruhrgebiet darstellt: Hier äußern über 90 % der befragten
jüngeren, über 80 % der »mittelalten« und etwa zwei Drittel
Einheimische
jung
der älteren Einheimischen, dass sie dies für eine Normalität
halten. Interessanterweise ist diese »Normalitätsannahme«
bei den Zuwanderern jedoch in der jüngeren und der »mittelalten« Gruppe etwas schwächer ausgeprägt, bei den älteren jedoch mit 76,7 % etwas stärker ausgeprägt.
Beheimatung
Nach Wahrnehmung und Akzeptanz wurde untersucht, inwieweit die Existenz von mehrsprachigen Schildern den Befragten, hier explizit Türkeistämmigen und Menschen mit
italienischen Wurzeln, auch ein Gefühl der Beheimatung
vermittelt. Die einzuschätzende konkrete Frage lautete: Wie
stark gibt Ihnen das Vorhandensein von Schildern in Ihrer
Herkunftssprache das Gefühl, in Deutschland zu Hause zu
sein?
Für etwas mehr als die Hälfte der Befragten in allen drei
Altersgruppen scheint die Existenz von Schildern in ihrer
Herkunftssprache eine Funktion der Beheimatung zu haben.
Am stärksten ist dies in der Gruppe der 35- bis 54-jährigen
ausgeprägt. Hingegen können etwa 20 % explizit in einer
herkunftssprachlichen Beschilderung keinen identifikatorischen Mehrwert sehen. Knapp neun Prozent der älteren Zuwanderer können dieser Frage kaum einen Sinn abgewinnen
(»weiß nicht« oder »keine Angabe« als Antwortverhalten).
Analog hierzu wurden dann auch Deutsche befragt, inwiefern es ihnen gefällt, wenn sie im Ausland auf deutschsprachige Beschilderung stoßen.
Hier wird deutlich, dass es den befragten Deutschen außerordentlich gut gefällt, wenn sie ihrerseits im Ausland auf
deutschsprachige Beschilderung stoßen. Die Zustimmungswerte variieren zwischen 70 % bis 80 %; am stärksten sind
diese bei der ältesten Gruppe ausgeprägt, wobei die Vermutung nahe liegt, dass die Fremdsprachenkenntnisse dieser
Kohorte geringer ausgeprägt sind und die Wahrnehmung
deutschsprachiger Beschilderung deshalb ihnen deutlich
mehr das Gefühl der Vertrautheit und der Umweltkontrolle
vermittelt.
Sehr gut
Eher gut
Eher
nicht gut
Gar
nicht gut
Kann man nicht
generell sagen;
kommt drauf an
Weiß nicht
Keine
Angabe
48,6 %
21,6 %
18,9 %
2,7 %
8,1 %
0%
0%
mittelalt
58,6 %
21,1 %
11,3 %
3,8 %
5,3 %
0%
0%
alt
66,2 %
14,2 %
4,7 %
3,5 %
8,8 %
1,9 %
0,6 %
Stimme
voll zu
Einheimische
Zuwanderer
Stimme
eher zu
Stimme
eher nicht zu
Stimme
gar nicht zu
Weiß nicht
Keine Angabe
jung
22,2 %
27,8 %
27,8 %
5,6 %
11,1 %
5,6 %
mittelalt
46,5 %
25,6 %
14 %
9,3 %
4,7 %
0%
alt
45,5 %
31,8 %
4,5 %
4,5 %
9,1 %
4,5 %
jung
28,6 %
14,3 %
42,9 %
14,3 %
0%
0%
mittelalt
43,8 %
31,3 %
15,6 %
9,4 %
0%
0%
alt
41,9 %
18,6 %
14 %
18,6 %
7%
0%
Abb. 4.2.3.6: Aussage: Es wurde in den letzten fünf Jahren häufiger in den Sprachen
der Zuwanderer beschriftet.
Einheimische
Zuwanderer
Stimme
voll zu
Stimme
eher zu
Stimme
eher nicht zu
Stimme
gar nicht zu
Weiß nicht
Keine Angabe
jung
71,8 %
21,2 %
4,7 %
2,4 %
0%
0%
mittelalt
69,2 %
16 %
8%
5,5 %
1,3 %
0%
alt
64,9 %
17,5 %
6,4 %
6,4 %
3,5 %
0%
junge
64,9 %
27 %
5,4 %
2,7 %
0%
0%
mittelalt
68,4 %
20,3 %
6,8 %
4,5 %
0%
0%
alt
68,1 %
13,2 %
6,9 %
10,1 %
1,3 %
0,3 %
Abb. 4.2.3.7: Die konkrete Aussage, zu der die Haltung der Befragten eingeholt wurde, lautete:
Ich finde es gut, dass es anders- oder mehrsprachige Schilder gibt.
Zuwanderer
Sehr stark
Eher stark
Eher wenig
Gar nicht
Weiß nicht
Keine Angabe
jung
38,8 %
15,3 %
25,9 %
17,6 %
2,4 %
0%
mittelalt
40,1 %
21,5 %
14,8 %
20,3 %
2,1 %
1,3 %
alt
26,9 %
25,7 %
15,2 %
23,4 %
5,8 %
2,9 %
Abb. 4.2.3.8: Wie stark gibt Ihnen das Vorhandensein von Schildern in Ihrer
Herkunftssprache das Gefühl, in Deutschland zu Hause zu sein?
Abb. 4.2.3.5: Inwieweit gefällt es Ihnen, wenn sie im Ausland Schilder
und Beschriftungen in Deutsch sehen?
286
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.2.3 AKZEPTANZ VON MEHRSPRACHIGKEIT
287
288
4.3 Produzentenbefragung
4.3.1 Datenerhebung
Will man die öffentlich sichtbare Sprachpraxis in der Metropole Ruhr nicht nur beschreiben, sondern auch erklären, ist eine Befragung der betreffenden Akteure notwendig. Neben der Beschreibung der Sichtbarkeit von Sprachen im öffentlichen Raum der
Metropole Ruhr mittels Bildern und Karten (Kap. 3) und der Erfassung der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Bewertung visueller Mehrsprachigkeit mittels Passantenbefragungen (vgl. Kap. 4.1) und Telefoninterviews (vgl. Kap. 4.2) interessierte deshalb auch die Perspektive der Produzentinnen und Produzenten von Schildern und
Aushängen. Um die Interessenlagen der privaten und öffentlichen Akteure aufdecken
und typisieren zu können, wurden Interviews durchgeführt. Im Mittelpunkt dieser Interviews standen die Handlungsmotive und die unterschiedlich komplexen Entscheidungswege, die Widerstände und Herausforderungen, mit denen sich die Akteure
konfrontiert sehen sowie die Unterschiede zwischen den Sprachenmanagemententscheidungen »von oben«, d. h. der Stadtverwaltungen und Verkehrsbetriebe, und den
Sprachenmanagemententscheidungen »von unten«, d. h. der Besitzer von Geschäften,
Restaurants und Cafés.
Nur wenige Studien im Bereich der Linguistic-Landscape-Forschung beschäftigen
sich mit dem konkreten Sprachhandeln öffentlicher und privater Akteure und untersuchen Szenarien von Sprachwahlentscheidungen, d. h. die zugrundeliegenden Interessen und Motive. Ausnahmen bilden Papen (2012), die in ihrem Zugang Ladenbesitzer, Aktivisten und Straßenkünstler interviewt, um Prozesse und Entwicklungen in der
Sprachlandschaft des Prenzlauer Bergs in Berlin eruieren zu können, und Lou (2016),
die Stadtplaner und Mitglieder der Kommunalverwaltung befragt und Dokumente zur
Stadtteilpolitik analysiert, um die Entwicklung und Gestaltung der Linguistic Landscape
des Stadtviertels Chinatown in Washington, D. C. nachzuzeichnen.
Die Untersuchung der Sprachwahlentscheidungen der privaten Akteure betrifft
dabei nicht nur die Frage, welche Zielgruppe(n) mit welchen Sprachen angesprochen
werden sollen, sondern auch die Frage, mit welchen Sprachen die Textproduzentinnen
und -produzenten identifiziert werden möchten (vgl. Spolsky / Cooper 1991). Sprachwahlen können also auch Auskunft geben über das Prestige und den Status von Sprachen in einer Sprachgemeinschaft sowie über die gesellschaftliche Anerkennung von
ethnischen Gruppen. Bei öffentlichen Einrichtungen und Verkehrsunternehmen wie
der Deutschen Bahn stellt sich die Frage, nach welchen Regeln Beschilderungen gestaltet sind und welche normativen Grundentscheidungen dabei handlungsleitend
sind, d. h. welche Leitvorschriften dem Sprachenmanagement zugrunde liegen
(Schweitzer 2009). Aktuelle Untersuchungen deuten darauf hin (vgl. auch Kap. 3.1
und 3.2), dass sich die öffentlichen Akteure noch stark am nationalsprachlichen Modell orientieren, während die privaten Akteure mehr zu sprachlicher Vielfalt neigen.
Quer dazu gibt es Anzeichen dafür, dass Englisch immer weniger als Fremdsprache,
dafür umso mehr als eine »Nebensprache« betrachtet wird (Maas 2008: 74).
Für die Erhebung und Analyse der Sprachwahlentscheidungen der privaten Akteure
wurden in jedem Stadtteil 6 – 8 leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Das Korpus umfasst 58 Interviews, davon wurden 42 Interviews im Rahmen des Projekts und
16 Interviews im Rahmen einer Bachelorarbeit (vgl. Angenendt 2017) erhoben. In der
Regel wurden Einzelpersonen befragt. In Ausnahmefällen fanden die Interviews auch
mit mehreren Personen statt. Befragt wurden insgesamt 61 Personen: 18 Frauen und
43 Männer. Von den weiblichen Befragten hatten 7 einen Migrationshintergrund
(= 39 %), von den männlichen Befragten hatten 34 (= 79 %) einen Migrationshintergrund. Der überwiegende Teil der Befragten war zwischen 40 und 60 Jahren alt. Rund
zwei Drittel der Befragten gaben an, dass ihre Erstsprache eine andere Sprache als
Deutsch ist.
Grundlage der Interviews mit den privaten Akteuren war ein Interviewleitfaden,
der folgende Themenblöcke umfasst: Begründung der Sprach(en)wahl, Gestaltung
und Produktion der Schilder, Einstellung gegenüber der eigenen Beschilderung und
Vorstellungen über die Zielgruppe. Zentrale Fragen waren beispielsweise »Warum haben Sie sich für ein zwei-/mehrsprachiges / englisches / türkisches etc. Schild entschieden?«, »Warum haben Sie gerade diese Sprache(n) gewählt?«, »Haben Sie festgelegt,
wie das Schild / Plakat oder der Aushang aussehen soll oder haben Sie sich an einer Vorlage orientiert?«, »Wie sind Sie auf den Namen des Geschäfts, Restaurants, Bistros etc.
gekommen?«, »Wen wollen Sie mit der Beschilderung insbesondere ansprechen?«,
»Wenn Ihr Laden in einem anderen Stadtviertel wäre, hätten Sie dann die Beschilderung genauso gemacht?«, »Gefällt Ihnen Ihr Schild und was gefällt Ihnen daran besonders gut?«. Insgesamt wurden 44 Interviews auf Deutsch geführt, 12 auf Türkisch und
2 auf Französisch. Die Interviews wurden für die Analyse gesprächsanalytisch transkribiert und inhaltsanalytisch verschlagwortet. Aus datenschutzrechtlichen Gründen
wurden alle personenbezogenen Daten anonymisiert, d. h. alle Hinweise auf Personen
und Geschäfte pseudonymisiert. In den Fällen, in denen der Geschäftsname ein zentraler Gegenstand des Interviews war, wurde der Geschäftsname so verändert, dass er
im Kontext des Interviews seine Bedeutung und Relevanz behielt.
Für die Sprachwahlentscheidungen der öffentlichen Akteure wurden insgesamt
neun leitfadengestützte Telefoninterviews mit Vertretern der vier Stadtverwaltungen,
der Verkehrsbetriebe aus drei Fallstudienstädten, dem regionalen Verkehrsverbund sowie der Deutschen Bahn, die für die Beschilderung der Bahnhöfe zuständig ist, geführt. Zentrale Fragen des Interviewleitfadens waren beispielsweise: »Welche Sprachen
werden auf Plakaten, Aufklebern, Beschilderungen und anderen Medien verwendet?«
und »Wie werden diese Sprachen ausgewählt?«. Weitere Fragen widmeten sich den dafür anzuwendenden Regeln und Entscheidungsstrukturen bzw. Entscheidungsträgern
und inwieweit sich die Sprachverwendung in den letzten Jahren verändert habe.
4. SPRACH BEWERTuNGEN uND EINSTELLuNGEN Zu MEHRSPRACHIGKEIT
4.3.1 DATENERHEBuNG
289
4.3.2 Öffentliche Einrichtungen –
Bürgerbüros und Hauptbahnhöfe
in Duisburg, Essen, Bochum und
Dortmund
Abb. 4.3.2.1: Beschilderung Bürgerbüro
Duisburg
Abb. 4.3.2.2: Beschilderung Bürgeramt Essen
In den vier Fallstudienstädten wurde im Rahmen der fotografischen Erhebung 2013
die außen an den Gebäuden sichtbare Beschilderung der Bürgerbüros dokumentiert
und in der Datenbank verschlagwortet. Insgesamt sind 88 Fotos den vier Bürgerbüros
räumlich zugeordnet. Wie bereits beschrieben, ist die offizielle Beschilderung in den
vier Städten überwiegend einsprachig deutsch beschriftet (vgl. Kap 3.2.1.1).
Ähnlich wie im Projektteil zu privaten Sprachwahlentscheidungen und Einstellungen wurden in den vier Städten vertiefende Interviews zu den Sprachwahlentscheidungen bei offiziellen Beschilderungen und weiteren schriftlichen Objekten wie Plakaten oder Formularen durchgeführt. Der Befragung wurde eine Dokumentenanalyse
der Integrationskonzepte der Städte vorgeschaltet, da wir davon ausgingen, dass sich
dort Aussagen zur Bedeutung mehrsprachiger Kommunikation und entsprechende
Regeln zum Sprachenmanagement finden würden. Im Zeitraum Oktober und November 2015 wurde jeweils ein Vertreter bzw. eine Vertreterin der Kommunalen Integrationszentren (im Weiteren KI) zum Sprachenmanagement befragt. Zentrale Fragen waren beispielsweise »Welche Sprachen werden auf Plakaten, Aufklebern, Beschilderungen
und anderen Medien verwendet?« und »Wie werden diese Sprachen ausgewählt?«.
Weitere Fragen widmeten sich den dafür anzuwendenden Regeln und
Entscheidungsstrukturen bzw. Entscheidungsträgern. Die Frage, ob sich die Sprachverwendung verändert habe, erwies sich als besonders ergiebig für das Verständnis des
Sprachenmanagements in Zeiten der verstärkten Zuwanderung von Flüchtlingen.
Abb. 4.3.2.3: Beschilderung Bürgerbüro
Bochum
Abb. 4.3.2.4: Beschilderung Bürgerbüro
Dortmund
290
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
»Die Amtssprache ist Deutsch«: Sprachenmanagement
der Bürgerbüros / Stadtverwaltung »von oben«
Wandel des Sprachenmanagements »von unten« jenseits
der Amtssprache Deutsch
Die offizielle Leitlinie des Sprachenmanagements »von
oben« der Städte orientiert sich immer noch weitgehend an
der »Ideologie der einsprachigen Kommune« (Schweitzer
2009: 431), oder wie es im Verwaltungsverfahrensgesetz für
das Land Nordrhein-Westfalen in § 23 Absatz 1 knapp formuliert ist: »Die Amtssprache ist Deutsch.« Das gilt im Wesentlichen auch für die offizielle Beschilderung der
Bürgerbüros, wie die Auswertung des Bildmaterials im vorangegangenen Absatz zeigt. Wie die Analyse der
offiziellen Integrationskonzepte der Städte ergab, wächst
gleichzeitig aber zunehmend die Bedeutung von Mehrsprachigkeit als Ressource der Bevölkerung. Diese enthalten an
verschiedenen Stellen Aussagen zur Mehrsprachigkeit der
Bevölkerung:
Das Postulat der Amtssprache Deutsch spielt in allen Interviews eine Rolle, seine Bedeutung wird aber relativiert und
differenziert. So führt eine Gesprächspartnerin aus, dass die
Amtssprache Deutsch für die gesamte Verwaltung gelte (KI
Interview 4, 02.20), aber vor allem für den Schriftverkehr
wichtig sei (KI Interview 4, 10:10), da offizielle Angelegenheiten auf Deutsch kommuniziert werden müssten. In der
Praxis würde aber darauf geachtet, dass in den Bürgerbüros
und Ämtern Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten, die
auch andere Sprachen sprechen (KI Interview 4, 13:22) und
so die Vielfalt der Stadtgesellschaft widerspiegeln (KI Interview 4, 16:06). Ein anderer Interviewpartner betonte, dass
die Orientierung an der Amtssprache Deutsch zwar vorherrschend sei, die deutsche monolinguale Verwaltung aber an
ihre Grenzen käme (KI Interview 2, 05:13) und daher Regelung und Sprachpraxis unterschieden werden müssten. Ein
weiterer Interviewpartner betont auch die Bedeutung der
Amtssprache und dass es einen ungeregelten Ablauf von
amtlichen Vorgängen nicht geben dürfe (KI Interview 3,
21:58). Selbst wenn ein Mitarbeiter des Bürgerbüros die
Sprache beherrsche, müsse bei bestimmten Vorgängen ein
Dolmetscher eingesetzt werden (KI Interview 3, 09:02).
Nicht selten würden Mitarbeitende diese Vorgabe unterlaufen und ihre sprachliche Kompetenz einbringen, ohne dass
die Vorgesetzten dies merken.
In allen Interviews wird ausgeführt, dass zunehmend
schriftliche Informationen der Städte mehrsprachig angeboten würden. Man orientiere sich an unterschiedlichen Zielgruppen, so würden für Touristen Informationen eher auf
Englisch angeboten, für Flüchtlinge zunehmend auf Arabisch oder auch Türkisch (KI Interview 2, 00:39). In einem
Teil der Städte gibt es Besonderheiten mit Blick auf die Zusammensetzung der Bevölkerung. Rumänisch und Bulgarisch werden eher in Städten mit höherem Bevölkerungsanteil dieser Gruppen genannt, Niederländisch spielt eher in
Grenznähe zum Nachbarland eine größere Rolle.
Die Sprachverwendung ist in letzter Zeit vielfältiger geworden. Das Sprachenmanagement im Alltag der Verwaltung findet in einem Spannungsfeld zwischen der »Ideologie
der einsprachigen Kommune« und der Amtssprachlichkeit
sowie den täglich über die Ebene der Sachbearbeiter in den
Ämtern gemeldete Nachfrage nach mehrsprachigen Informationen und Dolmetscherdiensten statt. Gerade auch mit
der wachsenden Zuwanderung von Flüchtlingen wächst die
• als generelle Qualität und Zeichen von Weltoffenheit:
Beispiel: »Duisburg fördert und pflegt die Vielfalt der Sprachen.« (Referat für Integration Duisburg 2010: 10).
• zum Spracherwerb, zur Integration oder als individuelle
Ressource: Beispiel Essen: »Der Erwerb der deutschen Sprache für Kinder und Eltern ist gesichert und eine Erziehung
zur Zwei-(Mehr-)sprachigkeit wird unterstützt.« (Kommunales Integrationszentrum Essen 2013: 33).
Beispiel Dortmund: »Weiterhin sind dabei Aspekte wie eine
durchgängige Sprachbildung, Mehrsprachigkeit und die
Förderung von Kompetenzen und Potenzialen von Migrantenjugendlichen zu berücksichtigen (Stadt Dortmund 2013:
18).
Mehrsprachige Kommunikation der Verwaltung mit der
Bevölkerung spielt aber keine große Rolle und wird explizit
nur in einer Stadt erwähnt, und zwar in relativ allgemeiner
Form: Beispiel Bochum: »Mehrsprachigkeit vor allem in publikumsintensiven Bereichen wird ermöglicht.« (Integrationsbüro Bochum 2013: 30).
Diese in der Regel vom Rat der Stadt verabschiedeten
Konzepte berücksichtigen die gewachsene Vielfalt der Stadtbevölkerung zwar deutlich stärker als das Verwaltungsverfahrensgesetz, formulieren aber deshalb nicht zwingend verbindliche Regeln für eine stärker an der Mehrsprachigkeit
der Bevölkerung ausgerichtete schriftliche Kommunikation
der Stadtverwaltung. Deutlich vielfältiger wird das Bild des
Sprachmanagements, wenn man die Experteninterviews in
die Analyse einbezieht.
4.3.2 ÖFFENTLICHE EINRICHTUNGEN – BÜRGERBÜROS UND HAUPTBAHNHÖFE IN DUISBURG, ESSEN, BOCHUM UND DORTMUND
291
Abb. 4.3.2.5: Beispiel für zunehmende Mehrsprachigkeit Quelle: Stadt Bochum
eiser
Abb. 4.3.2.6: Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels Quelle: Stadt Dortmund 2015
Abb. 4.3.2.7: Beschilderung Hauptbahnhof
Duisburg
Vielfalt der sichtbaren Sprachen weiter. Die Anpassung des
Sprachenmanagements findet also eher »von unten« statt,
d. h. über die Veränderung der Sprachpraxis durch die Verwaltungsmitarbeiter. Die Mitarbeiter verhalten sich dabei
eher pragmatisch, weniger strukturiert. Dabei hat das Sprachenmanagement »von oben« auf der Ebene der Regeln und
Konzepte bisher nicht auf den Wandel »von unten« reagiert,
so dass die Erweiterung der verwendeten Sprachen unterhalb
des Radars der Entscheidungsstrukturen der Kommunen
stattfindet.
Hauptbahnhöfe in Duisburg, Essen, Bochum und
Dortmund
Hauptbahnhöfe zählen zu den öffentlichen Orten, die Personen zu Fuß durchqueren, um einen Zug zu erreichen, einzukaufen oder auch um nur den kürzesten Weg zu einem
Ziel hinter dem Bahnhof zu benutzen. Dort werden sie mit
einer für diesen Ort typischen »öffentlichen Textwelt« konfrontiert (Domke 2014: 16). Im Rahmen der fotografischen
Erhebung 2013 wurde ein Ausschnitt dieser Textwelt, nämlich die außen an den Gebäuden sichtbare Beschilderung
von Hauptbahnhöfen und die Beschilderung um die Hauptbahnhöfe herum dokumentiert und in der Datenbank verschlagwortet.
Insgesamt gibt es an den vier Hauptbahnhöfen 575 Fotos von offiziellen Schildern und Aufklebern der Deutschen
Bahn und der Haltestellen des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), die im Rahmen dieses Abschnitts Grundlage der Analyse des Sprachenmanagements der Verkehrsbetriebe und der Deutschen Bahn sind. Diese Objekte sind
überwiegend deutsch beschriftet, weitere Sprachen sind nur
selten zu finden (vgl. Kap. 3.2.1.1), wie auf den folgenden
Abbildungen zu sehen ist.
Wie im Projektteil zu Bürgerbüros konnten vertiefende
Interviews zu den Sprachwahlentscheidungen bei Beschilderungen der Hauptbahnhöfe und in drei Städten des ÖPNVs
geführt werden. Darüber hinaus wurde der regionale Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) einbezogen, da dieser zum
Teil auch eine Servicefunktion für die Verkehrsbetriebe erfüllt. Ein Verkehrsunternehmen sah sich leider nicht in der
Lage, an der Studie teilzunehmen. Im Zeitraum Oktober
und November 2015 wurde jeweils ein Vertreter / eine Vertreterin von drei Verkehrsbetrieben (Essener Verkehrs-AG,
BOGESTRA, DSW21), dem Verkehrsverbund Rhein Ruhr
(VRR) und der Deutsche Bahn AG zum Sprachenmanagement befragt. Zentrale Fragen waren beispielsweise »Welche
Sprachen werden auf Plakaten, Aufklebern, Beschilderungen
und anderen Medien verwendet?« und »Wie werden diese
Sprachen ausgewählt?«. Weitere Fragen widmeten sich den
dafür anzuwendenden Regeln und Entscheidungsstrukturen
und ob sich die Sprachverwendung verändert habe.
Sprachenmanagement der Deutschen Bahn und der
Verkehrsbetriebe
Die Bedeutung von Regeln für die Sprachverwendung stellte
sich in den Interviews sehr unterschiedlich dar. Die Deutsche Bahn AG, die für die Beschilderung der Hauptbahnhöfe zuständig ist, regelt sehr detailliert die Sprachverwendung in Bahnhöfen. Relevant für die Beschilderung ist das
»Ausführungshandbuch 81393 (Design Manual) Wegeleitund Informationssystem« der Deutschen Bahn AG. Die
Sprachverwendung wird weiter in der Richtlinie 8130305,
Artikel 2 »Sprachen in der Wegeleitung« zum Ausführungshandbuch 81393 festgelegt:
»Die Wegeleitung ist immer in deutscher Sprache in einheitlicher Begrifflichkeit analog zum Ausführungshandbuch
81393 (Design Manual) auszuführen. Soweit möglich sind
Begriffe und Darstellungsformen zu wählen, die sprachneutral sind, z. B. mit Piktogrammen. Informationen, die in den
Sprachen gleich sind, z. B. bei Öffnungszeiten, sollten nur
einmal aufgeführt werden. An den Bahnhöfen der Kategorien 1 und 2 sowie optional an den nachfolgenden gelisteten
Bahnhöfen werden Informationen auch in englischer und
optional in einer weiteren Sprache ergänzt: 1. Fernverkehrshalte, 2. Messebahnhöfe, 3. Flughafenbahnhöfe, 4. Fährhäfen, 5. touristische Bahnhöfe, 6. Grenzbahnhöfe, also Personenbahnhöfe mit Fremdsprachen. Die dritte Sprache richtet
sich nach der örtlichen Situation, z. B. benachbarte Landessprachen bei Grenzbahnhöfen oder geltenden Vertragsgrundlagen. Vokabular und Schreibweisen siehe Ausführungshandbuch 81393.« (DB Interview 06:40).
Neben Deutsch und Englisch kann also eine weitere
Sprache verwendet werden. Die Hauptbahnhöfe der Fallstudienstädte Duisburg, Essen und Dortmund sind der
Kategorie 1, der Hauptbahnhof in Bochum der Kategorie 2
zuzuordnen. Die Kategorien geben Auskunft über die Bedeutung der Hauptbahnhöfe im Fernverkehr, wobei 1 die
höchste Kategorie darstellt und 2 aber ebenfalls noch Halt
im Fernverkehr ist, aber mit weniger Verbindungen. In
Bahnhöfen der Kategorie 1 gibt es deutlich mehr Geschäfte
als in Bahnhöfen der Kategorie 2. Die Sprachwahl der Beschilderung entspricht also weitgehend dem zitierten Ausführungshandbuch. Darüber hinaus wird versucht, wo möglich, auf »sprachneutrale Darstellungsformen«, also
Piktogramme, auszuweichen. Diese sind jedoch nicht immer
interkulturell verständlich.
Derartige offizielle Leitlinien der Sprachverwendung
gibt es bei den Verkehrsbetrieben in der Regel nicht. Wie die
Interviews ergaben, ist Mehrsprachigkeit auch nicht Gegenstand der allgemeinen Gestaltungsvorschriften für Plakate,
Flugblätter und Ähnliches, d. h. es ist nicht explizit geregelt,
in welchen Einsatzbereichen andere Sprachen als Deutsch
verwendet werden müssen. Das bedeutet allerdings nicht,
dass Mehrsprachigkeit bei der Beschilderung von Haltestellen, Fahrkartenautomaten und in Fahrzeugen sowie bei der
Gestaltung von Broschüren keine Rolle spielen würde. Insbesondere nach der verstärkten Zuwanderung geflüchteter
Personen im Jahr 2015 wurde versucht, auf die sprachlichen
Kompetenzen dieses Personenkreises mit entsprechenden
Angeboten zu reagieren (ÖPNV 3 Interview 02:58).
Grundsätzlich wird auch in den Verkehrsbetrieben auf
Deutsch kommuniziert. Aber auch andere Sprachen als
Deutsch spielen eine Rolle: etwa an bestimmten Orten, bei
bestimmten Anlässen oder auch als Standard bei Broschüren
oder Aushängen:
• Am Hauptbahnhof, an der Messe (ÖPNV 3 Interview
00:21) und am Flughafen (ÖPNV 1 Interview 00:40) wird
neben Deutsch auch Englisch verwendet.
• Bei Fußballländerspielen mit Beteiligung anderssprachiger Nationen oder bei Veranstaltungen, die überwiegend
von Personen mit türkischem Migrationshintergrund besucht werden (ÖPNV 1 Interview 11:27), werden Angebote
in anderen Sprachen gemacht, auch indem mehrsprachige
Mitarbeitende eingesetzt werden.
Abb. 4.3.2.8: Aufkleber Bogestra: Hinweise im
Störungsfall
292
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.3.2 ÖFFENTLICHE EINRICHTUNGEN – BÜRGERBÜROS UND HAUPTBAHNHÖFE IN DUISBURG, ESSEN, BOCHUM UND DORTMUND
293
• Informationen zu bestimmten Produkten werden zunehmend mehrsprachig zur Verfügung gestellt (z.B. »Schoko Ticket« für Schülerinnen und Schüler, Information »Mein
Fahrschein«)
Bei den Beispielen in Abbildung 4.3.2.10 und 4.3.2.11
wird auch deutlich, dass der VRR hinsichtlich mehrsprachiger Umsetzungen eine beratende und unterstützende Rolle
für die Verkehrsbetriebe hat (ÖPNV 2 Interview 04:02).
Als Begründung für das Angebot von mehrsprachigen
Produkten werden funktional-pragmatische Motive angegeben. Zum einen helfen diese Produkte den Beschäftigten
(z.B. Kontrolleure, Fahrerinnen und Fahrer, die auch Fahrscheine verkaufen) im Alltag mit den neuen Kunden zu
kommunizieren und ihnen die Abläufe beim Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel nahezubringen. Diese sind, wie
beispielsweise das Tarifsystem, nicht unbedingt selbsterklärend (VRR Interview 22:53). Wenn dies gelingt, werden im
Alltag Konflikte mit den Kunden vermieden. Zum anderen
geht es bei Verkehrsbetrieben natürlich darum, Tickets zu
verkaufen und Geld zu verdienen. Dazu werden informierte
Kunden gebraucht, die wenn notwendig auch mit mehrsprachigen Produkten erreicht werden sollen (ÖPNV 2 Interview 13:22).
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2
Abb. 4.3.2.10: Beispiel: Broschüre Schoko-Ticket auf Türkisch
Quelle: Verkehrsbetriebe
Bochum
Nach den Allgemeinen
Beförderungsbedingungen, § 7.5, müssen wir ein
erhöhtes Beförderungsentgelt von € 60,00 erheben, wenn Sie öffentliche
Verkehrsmittel ohne
gültigen Fahrausweis
benutzen.
Eine Verfolgung im Strafoder Bußgeldverfahren
bleibt unberührt.
Bitte ersparen Sie uns
und sich selbst den damit verbundenen Ärger.
60 EURO
Ohne gültigen
Fahrausweis
Şayet geçerli bir
biletiniz olmadan kamu
taşımacılığına ait bir
araçta yolculuk ederseniz, genel tasimacilik
hükümleri § 7.5
uyarınca sizden 60,00 €
tahsil edilir. Ayrıca
hakkınızda cezai
takibatta bulunulur.
Lütfen kendinizi ve bizi
bu hoş olmayan duruma
sokmayın.
Zgodnie z § 7.5 ogólnych
warunków transportu
jesteśmy zobowiązani
pobierać podwyższoną
opłatę za transport w
wysokości 60,00 € w
przypadku korzystania
z publicznych środków
transportu bez ważnego
biletu. Nie wpływa to
na ściganie w postępowaniu karnym lub w
sprawach zagrożonych
karą grzywny.
Prosimy zaoszczędzić
nam i sobie związanych
z tym nieprzyjemności.
Şayet geçerli
bir biletiniz
olmadan
Bez ważnego
biletu
According to the General
Terms of Transportation,
§ 7.5 we must charge an
increased fare of € 60.00,
if you make use of public
transport without a valid
ticket.
Prosecution in criminal
proceedings or for imposition of an administrative fine shall remain
unaffected.
Please save us and yourself the trouble involved.
Without a
valid ticket
По общим правилам
перевозки пассажиров,
§ 7.5, за проезд в
общественном
транспорте взимается
повышенная плата
€ 60,00. Не исключается
возбуждение уголовного
дела или наложение
штрафа.
Пожалуйста, избегайте
связанных с этим
неприятностей.
без действительного билета
In base alle Disposizioni
generali di trasporto,
§ 7.5, dobbiamo applicare
una tariffa maggiorata
di € 60,00, qualora utilizate i mezzi pubblici
sprovvisti di un valido
titolo di viaggio. Rimane
invariata la possibilità di
perseguire l’infrazione
mediante un procedimento penale o con una
sanzione amministrativa.
Per favore evitate a noi e
a Voi stessi i problemi
che ne potrebbero derivare.
Sprovvisti di un
valido titolo di
viaggio
Con ello no estará afectada una persecución en
proceso penal o la imposición de una multa.
Conformément aux
termes du § 7.5 de la
réglementation des
transports en commun,
tous les passagers
voyageant sans titre
de transport valable
seront passibles d’une
amende de € 60,00, sans
qu’il soit dérogé au droit
d’engagement de
poursuites judiciaires
ou de procédure légale en
versement d’une amende.
Por favor, ahórrenos a
nosotros y a usted mismo
contrariedades que de
ello se deriven.
Il y va de votre intérêt
et du nôtre que ces
procédures ne soient
jamais engagées.
Sin billete
válido
Sans titre
de transport
valable
Ségun las Disposiciones
Generales para el Transporte, § 7.5, tendremos
que cobrar una tasa
aumentada del billete
de viaje de € 60,00, si
usted utiliza los medios
de transporte sin billete
válido.
Σύμφωνα με τις γενικές
προϋποθέσεις μεταφοράς,
§ 7.5, πρέπει να επιβάλλουμε μια αυξημένη τιμή
εισιτηρίου ύψους € 60,00
σε περίπτωση που
χρησιμοποιείτε δημόσια
μέσα μεταφοράς.
Από το παραπάνω δεν
θίγεται η ποινική δίωξη
και η διαδικασία επιβολής
προστίμου.
Σας παρακαλούμε μην
δημιουργείτε προβλήματα
σε εσάς τους ίδιους, αλλά
και σε εμάς, τα οποία θα
προκύψουν από το
ανωτέρω γεγονός.
χωρίς έγκυρο
εισιτήριο
Volgens de algemene
transportvoorwaarden,
§ 7.5, dienen wij een
verhoogd tarief van
€ 60,00 aan te rekenen wanner u van
het openbaar vervoer
gebruik maakt zonder
geldig vervoerbewijs.
Strafrechtelijke vervolging of boetes blijven
mogelijk.
Bespaar uzelf en ons de
hiermee gepaard gaande
moeillijkheden.
Zonder geldig
vervoerbewijs
Abb. 4.3.2.9: Aufkleber: Erhöhtes Beförderungsentgelt bei Fahren ohne gültigen
Fahrausweis in zehn Sprachen Quelle: Verkehrsbetriebe
MobilitätsCenter Bochum Hbf
KundenCenter Gelsenkirchen
KundenCenter Witten
Verteilerebene
44787 Bochum
Mo–Fr: 07.00–19.00 Uhr
Sa:
07.00–16.00 Uhr
Bahnhofsvorplatz 5 (ZOB)
45879 Gelsenkirchen
Mo–Fr: 07.00–19.00 Uhr
Sa:
08.00–15.00 Uhr
Bahnhofstraße 1–3
58452 Witten
Mo–Fr: 08.00–18.00 Uhr
Sa:
08.00–15.00 Uhr
KundenCenter Hattingen
KundenCenter GE-Buer
im Reschop Carré (Ausgang ZOB)
45525 Hattingen
Mo–Fr: 08.00–18.00 Uhr
Sa:
08.00–15.00 Uhr
Goldbergstraße 1
45894 Gelsenkirchen
Mo–Fr: 08.00–18.00 Uhr
Sa:
08.00–14.30 Uhr
KundenCenter
Universitätsstraße
Universitätsstraße 58
44789 Bochum
Mo–Do: 09.00–17.00 Uhr
Fr:
09.00–16.00 Uhr
Abb. 4.3.2.11: Informationsbroschüre »Sozialticket« in arabischer
Sprache (Bochum) Quelle: Verkehrsbetriebe
294
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.3.2 ÖFFENTLICHE EINRICHTUNGEN – BÜRGERBÜROS UND HAUPTBAHNHÖFE IN DUISBURG, ESSEN, BOCHUM UND DORTMUND
295
4.3.3 Handel und Gewerbe
Eine notwendige Bedingung für jede Form von Sprachenmanagement ist die
Sprach(en)kompetenz, über die die Akteure, seien es Individuen, Firmen oder Institutionen, verfügen (Spolsky / Cooper 1991). Denn die Entscheidung, in welcher Sprache bzw. in welchen Sprachen ein Geschäft, ein Restaurant, ein Betrieb oder auch eine
Institution ausgeschildert sein soll, hängt vor allen Dingen davon ab, welche Sprache(n) die jeweiligen Akteure beherrschen. Aus diesem Grunde wurde auch nach der
Erstsprache der Informanten gefragt (vgl. auch Angenendt 2017: 12). Gut ein Drittel
der befragten Geschäftsinhaber und Restaurantbesitzer gibt Deutsch als Erstsprache
an, 23,3 % der Befragten nennen Türkisch, jeweils 6,7 % geben Kurdisch, Arabisch
oder Italienisch an (Abb. 4.3.3.1).
Aus Abbildung 4.3.3.2 geht hervor, welche Sprachen die Befragten gewählt haben,
um ihr Geschäft, Restaurant etc. auszuschildern. Die Geschäftssparten sind weit gefächert. Am stärksten vertreten sind gastronomische Betriebe (insg. 15), gefolgt von Einzelhandelsgeschäften, insbesondere Lebensmittelgeschäften (insg. 8), Dienstleistungen
wie Friseure und Reisebüros (insg. 7), Bekleidungsgeschäfte (insg. 5) und sonstige
(insg. 4). Für die 58 Ladenbeschilderungen werden insgesamt 18 Sprachen verwendet.
Auch hier zeigt sich wieder, dass Deutsch (42,9 %), Englisch (14, 3 %) und Türkisch
(11,1 %) die dominierenden Sprachen sind (vgl. Kap. 3.1), gefolgt von Arabisch
(6,3 %), Italienisch (6,3 %) und Französisch (4,7 %). Der Vergleich zwischen den Angaben zur Erstsprache und den Angaben zur Sprachpraxis bestätigt die Annahme, dass
die Sprachkompetenz eine notwendige Voraussetzung für das Sprachenmanagement
ist. Allerdings wird dieser Zusammenhang von den Befragten kaum thematisiert.
Die Mehrheit der Geschäfte der Befragten ist mehrsprachig beschildert (74,1 %),
ein geringerer Teil (25,9 %) einsprachig. Dieses Verhältnis entspricht allerdings nicht
der Gesamttendenz für die Sprachenwahl bei kommerziellen Einrichtungen in der Metropole Ruhr. Die Gründe für die Diskrepanz liegen darin, dass sich grundsätzlich
mehr Informanten mit Migrationshintergrund als ohne für die Befragung zur Verfügung gestellt haben und in dieser Befragtengruppe eine deutliche Präferenz für eine
mehrsprachige Beschilderung besteht.
Welche Motive bedingen die Sprachwahl der Produzentinnen und Produzenten?
Warum entscheiden sich Geschäftsinhaber für eine mehr- oder einsprachige Beschilderung? Mit welchen Funktionen werden die jeweiligen Sprachenwahlen verbunden?
In einer weitergehenden, d. h. anerkennungstheoretischen Perspektive ist zu fragen,
wie inklusiv oder exklusiv die Sprachwahlpräferenzen sind, inwieweit die Motivlagen
gesellschaftliche Anerkennungsordnungen zu erkennen geben und ob die Akte der Anerkennung normativer und / oder (nur) strategischer Natur sind, d. h. ethisch oder
ökonomisch motiviert sind. Damit sind auch solche Aspekte des Sprachgebrauchs angesprochen, die gesellschaftliche Wertschätzung, Solidarität und Zugehörigkeit vermitteln.
Die Ausgangsfrage lautete: »Warum haben Sie sich für
ein mehrsprachiges / einsprachiges Schild entschieden? Warum haben Sie gerade diese Sprache(n) gewählt?« Die Auswertung der 58 Interviews lässt deutlich werden, dass trotz
der Heterogenität der Antworten bestimmte Motivlagen auf
die eine oder andere Weise immer wieder genannt werden
und zu abstrakteren Motivmustern zusammengefasst werden
können. Dazu zählen: das funktional-pragmatische Motiv,
das sozialsymbolische Motiv, das normative Motiv und das
Motiv der Sprachkompetenz.
Die Auswertung der Interviews, in denen die Befragten
ihre Motive für eine mehrsprachige Beschilderung ihrer Geschäfte, Restaurants etc. erläuterten, zeigt, dass von diesen
vier Motiven zwei Motive besonders häufig genannt werden.
Dies betrifft das funktional-pragmatische Motiv und das sozialsymbolische Motiv. Diese Motive ergeben in der Summe
mehr als 85 % aller Nennungen. Wesentlich seltener wird
ein normativ orientiertes Motiv genannt, indem auf Vorgaben Dritter verwiesen wird oder die eigene Sprachkompetenz als Motiv für die Sprach(en)wahl angeführt wird. Da
die Befragten häufig nicht nur ein Motiv, sondern mehrere
Motive nannten, ist die Summe der Motive der Sprachwahlen höher als die Gesamtzahl der Befragten. Insgesamt zeigt
sich, dass 88 % der Befragten mit Migrationshintergrund,
aber nur 30 % der Befragten ohne Migrationshintergrund
ihr Geschäft, Restaurant etc. mehrsprachig ausschildern. Abbildung 4.3.3.3 fasst die Ergebnisse der Analyse der Motive
für mehrsprachige Beschilderungen zusammen, und zwar
für beide Untersuchungsgruppen.
Funktional-pragmatisches Motiv
Das funktional-pragmatische Motiv wird von Produzentinnen und Produzenten mehrsprachiger Beschilderung gebraucht, um auf die Absichten und Zwecke zu verweisen.
Dieses Motiv dominiert sowohl bei den Befragten mit als
auch ohne Migrationshintergrund. Im Vordergrund stehen
das Informationsmanagement und die Zielgruppenorientierung, um, wie es ein Befragter auf den Punkt bringt, »mehr
Kunden anzulocken« (PEsRüt4; +MH) bzw. mit Blick auf
das Englische »die breite Masse« (PEsRüt4, +MH) zu erreichen. Es gilt die Regel, ein Schild in der Sprache zu verfassen, von der der Produzent annimmt, dass der potentielle
Kunde sie versteht (»presumed reader’s conditon«, Spolsky / Cooper 1991: 83), wie die folgenden Beispiele (Beispiele 1 – 3) illustrieren.
Sprache
Vorkommen
%
Deutsch
21
35,0
Türkisch
14
23,3
Arabisch
4
6,7
Italienisch
4
6,7
Kurdisch
4
6,7
Albanisch
2
3,3
Kroatisch
2
3,3
Vietnamesisch
2
3,3
Bulgarisch
1
1,7
Chinesisch
1
1,7
Fulfulde
1
1,7
Polnisch
1
1,7
Russisch
1
1,7
Spanisch
1
1,7
Tamil
1
1,7
Gesamt
60
100 %
Sprache
Vorkommen
%
Deutsch
54
42,9
Englisch
18
14,3
Türkisch
14
11,1
Arabisch
8
6,3
Abb. 4.3.3.1: Erstsprache der Befragten
Italienisch
8
6,3
Französisch
6
4,7
Kurdisch
4
3,2
Griechisch
2
1,6
Spanisch
2
1,6
Vietnamesisch
2
1,6
Bulgarisch
1
0,8
Chinesisch
1
0,8
Kroatisch
1
0,8
Niederländisch
1
0,8
Polnisch
1
0,8
Russisch
1
0,8
Tamil
1
0,8
Zazaisch
1
0,8
Gesamt
126
100 %
Abb. 4.3.3.2: Sprachenwahl bei den Ladenbeschilderungen
von 58 Befragten
296
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
4.3.3 HANDEL UND GEWERBE
297
80
1. Beispiel: (PDuMar4; +MH)
bulgarca yazıyor bulgar dükkanı burası| bulgar kiosk| [var| ] yeni
bulgarlar hani| anlamıyor bu dili| (--) okuma yazma yok almancasini| bi (.) bir kere de bulgarca aıaııda (.) bulgarca
yazdık| onlar da bilsin hani bulgar dükkanı| bir kere de almanca kiosk hani almancası|
Übersetzung: auf bulgarisch steht dass hier ein bulgarisches
geschäft ist| bulgarischer kiosk| steht| also die neu angekommenen bulgaren| verstehen die sprache nicht (deutsch)| die
können die sprache weder schreiben noch lesen| wir haben
einmal unten auf bulgarisch geschrieben| damit die leute
wissen dass hier ein bulgarisches geschäft ist| und auch
einmal hat man auf deutsch geschrieben|
60
40
20
nz
iv
te
at
pe
rm
om
no
ch
k
ra
Sp
fu
nk
tio
so
na
zia
l-p
ra
lsy
m
gm
bo
at
lis
ch
isc
h
0
Befragte +MH
Befragte -MH
Abb. 4.3.3.3: Häufigkeit der von den privaten Produzenten genannten
Motive für eine mehrsprachige Beschilderung
2. Beispiel: (PEsRüt6; +MH)
wir haben da die sprachen (--) hm (-) mehr oder weniger den
möglichkeiten angepasst die wir haben| und ähm (0.6)| mit
englisch (---)| italienisch (-)| kommt man eigentlich sehr
weit (--)| in der gastronomie|
3. Beispiel: PDueMar1; +MH)
außerdem| ähm obwohl es wenig ist| haben wir auch deutsche
kunden| aus diesem grund haben wir uns auch für die deutsche
sprache entschieden|
Einige Befragte erklären, dass die Sprachenwahl auch
zur Markierung eines maximal inklusiven Sprachgebrauchs
diene, »um jeden einbeziehen zu können«. Damit wird ein
aktueller Leitwert des öffentlichen Diskurses um Migration
und Integration zitiert und der instrumentellen Perspektive
eine ethisch-normative Perspektive vorangestellt, indem auf
die Notwendigkeit einer mehrsprachigen Beschriftung hingewiesen wird, vgl. Beispiel 4:
Abb. 4.3.3.4: E-Rüttenscheid
Abb. 4.3.3.5: DO-Nordstadt
4. Beispiel: (PBoLan1; +MH)
weil es nötig ist| also so ist es um jeden einbeziehen zu
können| damit jeder es versteht| deshalb| also es gibt auf arabisch türkisch eh kurdisch| auf englisch gibt es auch| auf französisch aus (...) gibt es auch| damit jeder es versteht ist es in jeder
art und weise dargestellt|
Beispiel 5 gibt zu erkennen, dass sich die Geschäftsinhaber
nicht nur an den Nationalitäten und Sprachkenntnissen ihrer
Kunden orientieren, sondern auch das Alter der Kunden als einen relevanten Faktor für ihre Sprachenwahl betrachten. So
wird z. B. das Englische u. a. auch deshalb gewählt, weil damit
eine gewisse Jugendlichkeit indexikalisiert und so eine jugendliche Klientel angesprochen werden kann, von der angenommen wird, dass sie eine hohe Affinität zur angloamerikanischen
Kultur und damit zum Englischen besitzt.
298
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
5. Beispiel: (PDuInn6; +MH)
021 IntMW:
und sie verwenden dann hier zum beispiel auch
deutsch und englisch|
022
gemischt|
023
vegetarisch and vegan food (1.5)|
024 PDuInn6: ja äh|
025
für die jugendlichen eher (-) ja|
Sozialsymbolisches Motiv
Das sozialsymbolische Motiv (»symbolic value condition«,
Spolsky / Cooper 1991: 84) wird von den Produzentinnen
und Produzenten mehrsprachiger Schilder verwendet, um
deutlich zu machen, womit sie identifiziert werden möchten
und wogegen bzw. gegen wen sie sich abgrenzen möchten.
Dazu zählt die Identifikation mit einer bestimmten Sprache,
einem bestimmten Herkunftsland, einer Herkunftsregion
oder einem Herkunftsort, um ein Gefühl von Heimat auszudrücken bzw. bei den Adressaten herzustellen: »zum beispiel ich auch so (-) wenn andere stadt gehen| dieser buchstabe dann okay| ah das ist unsere| dann einmal reingehen«
(PEsAlt1; +MH). Dieses Heimatgefühl wird an ein Gefühl
des Wohlbehagens gekoppelt: »wenn es ein türkischer Markt
ist| fühlen die sich wohl| von begrüßung bis zum essen| bewegen sie sich wohlfühlend« (PBoLan1; +MH). Dabei identifizieren sich die Befragten mit den Kunden (»das ist unsere« PEsAlt1; +MH, »fühlen die sich wohl« PBoLan1;
+MH) und drücken so Zugehörigkeit und Solidarität aus.
Darüber hinaus wird das sozialsymbolische Motiv auch
genannt, wenn es darum geht, Authentizität zu vermitteln
oder auf die Einhaltung religiöser Speisevorschriften zu verweisen (»das halal zeichen| das zeugt davon| von muslimische äh (--)| dass es ein halal geschlachtetes fleisch ist« (PDuMar3; -MH). Mit dem Motiv der Authentizität begründet
auch ein italienstämmiger Befragter seine Sprachwahl. Sein
Geschäft ist auf Italienisch und Deutsch beschriftet. Die
Verwendung des Italienischen hat für den Befragten eine besondere Bedeutung, da er damit potenzielle Gäste darauf
hinweisen kann (»nach außen strahlen«; Z. 43), dass in seinem Café »wirklich italiener« arbeiten (Z. 45) und original
italienische Produkte angeboten bzw. mit italienischen Produkten italienische Speisen zubereitet werden. Dies ist ihm
vor allem in Abgrenzung zu jenen Gastronomiebetrieben
wichtig, die sich als »Italiener« bezeichnen, aber keine »echten Italiener« sind, d. h. nicht von Italienern betrieben werden (Z. 39 – 40).
6. Beispiel: (PDuInn1; +MH)
038 PDuInn1: ähm für mich war (.) dass das italienische
auch hier (1.1)|
039
heutzutage muss man sagen gibt es viele
italienische geschäfte angeblich (0.8)|
040
wo (-) drinnen (.) überhaupt keine italiener
sind ne|
041 IntMW:
[mhm| ]
042 IntTM:
[mhm| ]
043 PDuInn1: ich wollte das (-) so direkt wie möglich
schr ähm (1.0) nach außen strahlen|
044
ne|
045
dass wir wirklich italiener sind|
046
(1.0)|
Ein wichtiges, allerdings sehr selten genanntes Motiv, ist
das Motiv des Spracherhalts, wie Beispiel 7 illustriert. Befragt wurde ein Geschäftsinhaber in DO-Hörde, der sein
Geschäft in Zazaisch, einer Sprache, die im Osten der Türkei gesprochen wird, beschildert hat. Auf die Frage, wer sich
den zazaischen Namen des Geschäfts ausgedacht hat, reagiert er zunächst mit einer gesichtswahrenden Selbstbewertung ex negativo (»ich bin kein nationalist«), um anzuzeigen,
wie er seine Antwort nicht verstanden wissen möchte. Im
Anschluss führt der Befragte aus, dass seine Sprachwahl aus
einem generellen Interesse am Fortbestehen seiner Muttersprache Zazaisch resultiere, er mit dieser Sprachwahl aber
auch den willkommenen Nebeneffekt des Exotischen nutzen
möchte (»es kann neugier aufwecken«). Da der überwiegende Teil der Zaza Kurden sind, ist hier sicherlich auch ein
Motiv, sich exklusiv an einen kurdischen Kundenkreis wenden zu wollen. Mit dieser gezielten Kundenansprache ist
eine sehr differenzierte Form des Distinktionsgewinns verbunden. Dieser Distinktionsgewinn bestimmt sich dadurch,
eine Minderheit in der Minderheit in der Minderheit zu
sein, d. h. nicht-türkisch, nicht (allgemein) kurdisch, sondern ein Zaza-Kurde zu sein.
7. Beispiel: (PDoHör3; +MH)
ben milliyetci değilim| o anlamda ama yine de zazaca dili
ähm| (-) dünyada yok olmak üzere dillerden biri| çok az
konuşuluyor ähm ve| bu gidişle de bir zaman sonra tamamen
kaybolacak| (---) ya o dili bilenlerden biri de benim| az insan var
o dili konuşan| bilen biri de benim onun için de| yani ähm|en
azından bir merak uyandırıyor bazı insanlar soruyor hani| bu ne
diye| senin söylediğin gibi italyanca geçiyor ama kimisi gerçekten soruyor bu ne diye|
4.3.3 HANDEL UND GEWERBE
299
Übersetzung: ich bin kein nationalist| aber trotzdem zazaisch|
ist eine sprache die in der welt verloren geht| man spricht sie
kaum heutzutage und| wenn es so weiter geht wird sie in zukunft gar nicht mehr gesprochen| einer der menschen der diese
sprache noch reden kann bin ich| ganz wenige leute reden
diese sprachen noch| jemand der noch redet bin ich aus dem
grund| also| es kann neugier aufwecken manche leute fragen|
was ist das| so wie du sagst klingt das italienisch aber jemand
fragt wirklich, was das sei|
Abb. 4.3.3.6: DU-Innenstadt
Abb. 4.3.3.7: DU-Innenstadt
Abb. 4.3.3.8: E-Altendorf
Abb. 4.3.3.9: E-Rüttenscheid
300
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
Insbesondere für die Befragten ohne Migrationshintergrund spielen bei der Wahl von anderen Sprachen als
Deutsch auch Prestigegründe eine Rolle. In diesen Fällen
wird die Fremdsprache, in der Regel Französisch oder Englisch, zu emblematischen Zwecken eingesetzt. Das bedeutet,
dass die entsprechenden Textteile nicht primär informationstragend eingesetzt werden, sondern für Namen (z.B. Geschäftsnamen, Restaurantnamen), Claims (Werbesprüche)
oder auch Ritualia (Begrüßungen, Verabschiedungen) verwendet werden (vgl. Kelly-Holmes 2005, Reershemius
2011), die spezifische kulturelle Stereotype transportieren
sollen. Vertiefte Sprachkenntnisse sind für diese Art der Verwendung von Fremdsprachen nicht nötig. Vielmehr geht es
darum, das kulturelle Kapital der Sprachen zu nutzen und zu
verwerten und über die Sprachwahl Modernität, Weltgewandtheit, Kultiviertheit, Jugendlichkeit, Elitismus oder
auch Traditionalität zu konnotieren. Beispiel 8 gibt einen
Einblick in diese Motivlage. Befragt wurde die Inhaberin eines Antiquitätengeschäfts, die ihr Antiquariat in Anlehnung
an ein berühmtes Kunstmuseum in Paris benannt hat.
8. Beispiel: (PEsRüt5; -MH)
071 IntTM:
ähm können sie das kurz nochmal beschreiben|
072
warum (.) sie das|
073
ähm [NN frz.] genannt haben|
074
ihren laden (--)|
075 PEsRüt5: ja [NN in deutscher Übersetzung]
076
wie gesagt|
077
viel kunst|
078
viel schöne dinge|
079
auf ganz kleinem raum °h|
080
und in anlehnung an das äh (-)|
081
im (-)|
082
sehr anmaßend von mir|
083
[NN frz.] in paris| ]
084 IntTM:
[mhm| ]
085 PEsRüt5: das berühmte museum|
086
ist ja auch von der jahrhundertwende|
087
088 IntTM:
089 PEsRüt5:
090
091
092
[diese schönen (-) alten glaskästen| ]
[hm_hm| ]
diese alten treibhäuser °hh|
und (drüben) stehen sowieso
spezialitäten|
und da dachte ich|
das passt so|
meine
Normatives Sprachwahlmotiv
Das normative Sprachwahlmotiv wird ausschließlich von
Befragten mit Migrationshintergrund verwendet. Sie verweisen damit auf faktisch bestehende Normen bzw. auf die Erfüllung unterstellter gesellschaftlicher Erwartungen. Zur
Versprachlichung wird dabei häufig auf das Modalverb
»müssen« zurückgegriffen, das den hohen Grad der sozialen
Erwartung und Notwendigkeit ausdrücken soll. Wie die
Beispiele 9 und 10 zeigen, geht es dabei nicht um die ausschließliche Verwendung der deutschen Sprache, sondern
darum, neben der eigenen Sprache auch das Deutsche als
Sprache der Mehrheitsgesellschaft mit zu berücksichtigen.
9. Beispiel: (PEsAlt3; +MH)
nein nein nein nein| polnisch und deutsch (--)| deutsch muss alles kennen ja|
10. Beispiel: (PBoLan4; +MH)
(--) ya ama almanyada yaşıyoruz sonuçta| ähm (.) almanyada
(.) şey yaşadığımız için| reklamı mecbur almanca olması lazım|
yani türkiyede yaşasan türkçe yazıyorsun|
Übersetzung: ja aber wir leben in deutschland| da wir in
deutschland leben| muss die werbung auch auf deutsch sein|
also würde man in der türkei leben dann würde man es auf türkisch schreiben|
Ähnlich argumentiert der Inhaber eines Geschäftes in
DO-Nordstadt, in dem religiöse Bücher sowie orientalische
Bekleidung und Produkte angeboten werden (Beispiel 11).
Das Geschäft ist in lateinischer und arabischer Schrift betextet. Der Geschäftsinhaber begründet diese Schriftsystemwahl
damit, dass die Beschriftung sowohl von Deutschen (lateinische Schrift) als auch von Arabischsprachigen (arabische
Schrift) gelesen werden kann. Sich selbst ordnet er der Gruppe
der »Araber« zu, indem er das Personalpronomen »wir« zur
Selbstkategorisierung wählt (Z. 57: »wir sind araber«), die in
Deutschland leben (Z. 59). Unter Verwendung des Modalverbs »müssen« stellt er sich der normativen Erwartung der
Gesellschaft (»wir leben in deutschland«; Z. 59, 66) und erklärt, dass die Sprach- bzw. Schriftsystemwahl für beide Gruppen (»araber« und »deutsche«) »passen müsse« (Z. 60).
11. Beispiel: (PDoNor3a; +MH)
055 IntMW:
warum haben sie genau diese
sprachen gewählt (-)|
056 PDoNor3a: warum warum|
057
wir sind araber|
058 IntMW:
ja (-)|
059 PDoNor3a: und (-) wir leben in deutschland (-)|
060
das muss für beide (-) passen (--)|
061
ich kann nicht|
062
zum beispiel andere (-)|
063
fremde (1.3) äh|
064
[sprachen nehmen| ]
065 IntNA:
[sprachen| ]
066 PDoNor3a: und ich lebe in deutschland (-)|
067
(das muss man) (--)|
068
die sprache die|
069
ist muttersprache zuhause habe ich|
070
wo wo ich lebe|
071
[ich bin in deutschland| ]
072 IntMW:
[hm_hm| ]
073 PDoNor3a: da muss es für beide passen|
zwei
Sprachkompetenz als Sprachwahlmotiv
Während das funktional-pragmatische Motiv die Sprachkompetenzen der Adressaten in den Blick nimmt, bezieht
sich das Kompetenzmotiv auf die sprachlichen Fähigkeiten
der Produzenten. Mit Spolsky / Cooper (1991: 81) kann davon ausgegangen werden, dass ein Textproduzent dazu neigt,
ein Schild in der Sprache zu verfassen, die er beherrscht
(»sign-writer’s skill condition«). So antwortet der Inhaber eines türkischen Restaurants auf die Frage, warum er die Sprachen Deutsch, Türkisch und Arabisch zur Beschilderung seines Ladens verwende, dass er diese drei Sprachen »gut
sprechen kann« (Z. 150):
12. Beispiel: (PEsAlt2; +MH)
148 IntTM:
warum sind es gerade diese drei sprachen|
149
(0.5) dann die sie gewählt haben|
150 PEsAlt2: [(0.8) weil ich die drei sprachen äh also
(.) gut sprechen kann|
Welche Motive leiten die Befragten, die ihre Geschäfte,
Restaurants einsprachig beschildern? Wie erklären sie ihre
Ablehnung gegenüber visueller Mehrsprachigkeit? Abbildung 4.3.3.10 zeigt, dass sowohl bei den Befragten mit als
auch ohne Migrationshintergrund das funktional-pragmatische Motiv dominiert, in der Gruppe der Befragten ohne
Migrationshintergrund sogar in über 70 % der Fälle.
4.3.3 HANDEL UND GEWERBE
301
14. Beispiel: (PDueMar3; -MH)
wie sollte ich mich denn hier präsentieren| in welchen sprachen (0.5)| ich müsste ja hier zwölf sprachen| nach außen me
äh äh transportieren (---)| ist ja gar nicht möglich (0.4)|
Am zweithäufigsten werden in dieser Befragtengruppe
normative Motive angeführt (vgl. Beispiel 15), indem auf
das Deutsche als Nationalsprache verwiesen wird.
15. Beispiel: (PDoNor6; -MH)
002 IntVA:
welche sprachen verwenden sie denn hier|
003
vor allem auf ähm auf schildern|
004
und ähm plakaten|
005 PDoNor6: deutsche sprache|
006 IntVA:
und wieso gerade deutsch|
007 PDoNor6: (0.9)|
008
weil ich denke|
009
wir sind nun mal hier in deutschland|
010
dass wir dann auch die deutsche sprache
verwenden müssen|
302
4. SPRACH BEWERTUNGEN UND EINSTELLUNGEN ZU MEHRSPRACHIGKEIT
17. Beispiel: (PDoHör5; +MH)
317 IntTM:
hatten sie da irgendwie vorbilder|
318
oder inspiration|
319
wo sie das mal so gesehen haben|
320 PDoHör5: (1.5) das hab ich einfach im kopf getroffen|
321
weil ich (-) ich (-)|
322
sag ich ja so|
323
ich war also in frankreich|
324
und (---) da hört sich so an|
325
(weißt du auf die kunden)|
326
ich wollte nicht so weißt du türkische namen|
327
will ich nicht|
328
oder arabisch zu schreiben|
329
also will ich schon so laden wie hier|
30
25
20
15
10
5
nz
te
pe
rm
om
no
bo
ra
Sp
so
na
zia
ch
k
lsy
m
at
ch
lis
isc
h
at
gm
ra
l-p
iv
0
tio
16. Beispiel: (PEsRüt8; +MH)
008 IntVA:
und ähm|
009
wieso gerade deutsch|
010
und nicht noch eine andere sprache|
011 PEsRüt8: ja weil eben halt hier|
012 IntVA:
oder|
013 PEsRüt8: deutsch gesprochen wird| ...
021 IntVA:
und ähm haben sie (-) also [...] hätten sie sich
auch vielleicht|
022
also könnten sie sich auch denken dass sie
das irgendwie in kroatisch einbinden|
023
oder °h einfach nur deutsch weil|
024 PEsRüt8: einfach nur deutsch|
025
weil dass ist ja|
026
wir sind hier in deutschland|
027
und äh da soll es so bleiben|
028 IntVA:
[hm_m| ]
029 PEsRüt8: [ne| ]
030
ich meine was nützt das wenn ich
irgendwas auf kroatisch schreibe|
031
und kein mensch kann es lesen|
032
außer die paar kroaten|
033 IntVA:
hm_m|
034 PEsRüt8: die hier mal vorbei kommen|
035
äh das ist denke ich mal nicht sinn der sache|
Insgesamt gibt die Befragung zum Sprachenmanagement »von unten« und damit zu den Sprachwahlentscheidungen der privaten Akteure deutliche Unterschiede in den
Befragtengruppen zu erkennen. Diese lassen sich auf unterschiedliche Sprachkenntnisse, Kundenorientierungen und
Identitätsmarkierungen zurückführen, die nicht zuletzt auch
sprachideologisch fundiert sind. Diese sprachideologische
Komponente betrifft den Umgang und die Anerkennung
von Migrantensprachen – und zwar in beiden Befragtengruppen. Sie wird zum einen dort deutlich, wo Befragte mit
Migrationshintergrund andere Migrantensprachen als ihre
eigene marginalisieren, und zum anderen dort, wo Befragte
ohne Migrationshintergrund visuelle Mehrsprachigkeit mit
dem Verweis auf das Deutsche als Nationalsprache ablehnen,
d. h. Einsprachigkeit zur Norm erheben. Inwieweit die Befragten damit auch fehlende Sprachkompetenzen in den Migrantensprachen verschleiern möchten und / oder ihre Angst
vor einer zunehmenden Diversifizierung der Bevölkerung
zum Ausdruck bringen, kann nur gemutmaßt werden. Erkennbar wird jedoch, inwieweit Annahmen über Identität,
Kultur, Kommunikation und Sprache(n) ideologisch gerahmt sind.
nk
13. Beispiel: (PDuMar5; -MH)
007 PDuMar5: also wir werben über (-) ähm (1.1)
überwiegend in deutsch|
008
wir haben äh nur deutsche kunden|
009
°hh fremdsprache|
010
werben wir nicht|
011
weil wir auch diese werbung|
012
die wir in den schaufenstern haben|
013
so auch vom veranstalter geschickt
bekommen|
014 IntVA:
hm_m|
015 PDuMar5: und (-) wir brauchen nichts anderes werben|
016
weil wir halt auch nur deutsche kunden
haben|
Von den Befragten mit Migrationshintergrund votieren
fünf Befragte für eine monolinguale, und zwar einsprachig
deutsche Beschilderung. Dabei werden am häufigsten funktional-pragmatische und normative Motivlagen (Beispiel
16), seltener sozialsymbolische Motivlagen (Beispiel 17) genannt.
fu
Von den Befragten ohne Migrationshintergrund erklärt
eine deutliche Mehrheit, dass sie ihr Geschäft, Restaurant
etc. bewusst einsprachig deutsch beschildert, eine mehrsprachige Beschilderung also ablehnt. Am häufigsten werden
funktional-pragmatische Motive genannt (71,8 %) und dabei auf die ausschließlich deutsche Kundschaft verwiesen
oder angegeben, dass die Wahl der Sprachen insgesamt
schwierig sei, wie die Beispiele 13 und 14 illustrieren.
Befragte +MH
Befragte -MH
Abb. 4.3.3.10: Häufigkeit der von den privaten Produzenten genannten
Motive für eine einsprachige Beschilderung
Abb. 4.3.3.11: DU-Innenstadt
Abb. 4.3.3.12: DU-Marxloh
4.3.3 HANDEL UND GEWERBE
303
5.
ZUSAMMENFÜHRUNG
DER ERGEBNISSE
UND FAZIT
5.1 Andere Zeichen – andere
Menschen: Zum Wert und Nutzen
sichtbarer Mehrsprachigkeit
Die mehrsprachige Umgebung und Beschilderung des öffentlichen Raums ist sowohl
Ausdruck als auch künftiges Programm der immer vielfältiger werdenden Metropole
Ruhr. Unsere Daten haben deutlich gemacht: Nach dem Deutschen und dem Englischen, das vielfach als Lingua franca fungiert, kommen im Ruhrgebiet am häufigsten
türkische Schilder und Aufschriften vor. So wird eine demografische Tatsache auch semiotisch adäquat abgebildet: Türkeistämmige bilden die größte ethnische Gruppe
nichtdeutscher Herkunft. Allerdings: Diese Regel gilt nicht uneingeschränkt. Denn einige Gruppen, wie etwa die Polenstämmigen, sind so gut wie unsichtbar; andere wie
etwa die Zuwanderer aus Bulgarien, Rumänien und Syrien sind noch kaum mit ihren
Sprachen im öffentlichen Raum vertreten.
Mit Blick auf die in Deutschland lebenden sogenannten
»Ruhrpolen« kann gesagt werden, dass diese historisch als
eher assimilationsorientiert galten; diejenigen, die sich aber
in Deutschland eher unwohl gefühlt haben, sind mit der
Entstehung des Nationalstaates Polen nach dem Ersten
Weltkrieg ausgewandert. Insofern kann von einer positiven
Selektion gesprochen werden.
Ein Passant auf der Weseler Straße in DU-Marxloh oder
der Rüttenscheider Straße in Essen hinterfragt in der Regel
nicht, wer all die Schilder aufgehängt hat und was denjenigen
dabei bewegte. Für ihn ist der öffentliche Raum ein gegebener Rahmen für sein Handeln. Neben der Bebauung und
den Menschen, die ihn nutzen, ist es aber auch die sichtbare
Mehrsprachigkeit, die dazu führt, dass er erkennt, welche
Funktion ein Raum hat. Einkaufsstraßen wie die Rüttenscheider Straße in Essen oder die Weseler Straße in Marxloh
haben, wie wir im Projekt analysieren konnten, jeweils eine
ganz typische Mischung von Gastronomie, Nahversorgung
und hochwertigem Konsum zu bieten. Diese typische Mischung bringt auch eine besondere sichtbare Mehrsprachigkeit mit sich, in der neben Deutsch bestimmte andere Sprachen prägend sind, beispielsweise Türkisch in Marxloh oder
Englisch und Französisch in Rüttenscheid. Diese charakteristische Mehrsprachigkeit wird aber nicht ausschließlich
von der ansässigen Bevölkerung geprägt, sondern etwa im
kommerziellen Bereich auch von Kunden, die auch aus anderen Quartieren oder Städten kommen.
Auch der Inhaber eines Geschäfts oder Restaurants als
Produzent sichtbarer Mehrsprachigkeit muss nicht unbedingt ein Bewohner des Stadtviertels sein. Doch in der Regel
macht er Kunden Kommunikationsangebote, die diese verstehen müssen, wenn sie etwas kaufen oder konsumieren sollen. Dadurch prägen Produzenten öffentliche Räume und
tragen zum Teil auch zu ihrer ethnischen Etikettierung bei.
Bestimmte Ladeninhaber siedeln sich auch nicht zufällig in
Stadtteilen an, sondern sie sind abhängig von Rahmenbedingungen wie etwa der Miethöhe von Gewerbeobjekten und
der Verfügbarkeit von Immobilien für bestimmte kommerzielle Angebote. Gerade Pioniere, d. h. Gruppen, die relativ
neu zugewandert waren wie zur Zeit unseres Projektes die
Bulgaren in Marxloh, brauchen günstige Gewerbeimmobilien, um ohne großen Aufwand ein Lebensmittelgeschäft
oder einen Kiosk zu eröffnen. Oft sind diese Geschäfte durch
die Sprachwahl und die Symbolik als Anlaufpunkte für bestimmte Bewohnergruppen erkennbar und bieten spezielle
Produkte (z.B. Lebensmittel) oder Dienstleistungen (z.B.
Geldtransfer oder günstige Telefontarife) an. Wenn aber wie
im Erhebungsgebiet Marxloh aufgrund der boomenden türkischen Hochzeitsmeile nur wenige preiswerte Immobilien
zur Verfügung stehen und kaum Leerstände zu finden sind,
kann die Situation auf dem Markt für Gewerbeimmobilien
dazu führen, dass etwa Bulgarisch in der sichtbaren Mehrsprachigkeit des Erhebungsgebietes wenig präsent ist, obwohl wir aus den Bewohnerdaten schließen können, dass
viele bulgarische Staatsangehörige im Stadtteil leben.
Spannende Tendenzen konnten entlang des »Sozialäquators A 40« beobachtet werden. So wurde nicht nur die
Hypothese bestätigt, dass die Sichtbarkeit von Mehrsprachigkeit in den nördlichen Stadtteilen höher und deren Zusammensetzung anders ist als in den südlichen Stadtteilen.
Sondern es konnte auch analog gezeigt werden, dass die A 40
für die Einstellung gegenüber sichtbarer Mehrsprachigkeit
von besonderer Relevanz ist, und zwar in zweifacher Hinsicht. Abgesehen davon, dass visuelle Mehrsprachigkeit
grundsätzlich positiv bewertet wird, zeigt sich zum einen,
dass die Akzeptanz von anderen Sprachen als Deutsch, insbesondere Migrantensprachen, in den nördlichen Stadtteilen etwas höher ausfällt, und zum anderen, dass sich die Einstellungsprofile der Befragtengruppen in den südlichen
Stadtteilen annähern, indem arrivierte Migranten die Einstellungsmuster der monolingual Deutschen übernehmen.
Die Befragten mit und ohne Migrationshintergrund äußerten in gleichem Maße eine gewisse Skepsis gegenüber visueller Mehrsprachigkeit. Die Ablehnung wurde vor allen Dingen mit normativen Argumenten, also dem Hinweis auf die
Anerkennung der deutschen Sprache als kultureller Norm
untermauert, die als eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration gesehen wurde.
Abb. 5.1: BO-Hauptbahnhof
306
5. ZUSAMMENFÜHRUNG DER ERGEBNISSE UND FAZIT
5.1 ANDERE ZEICHEN – ANDERE MENSCHEN: ZUM WERT UND NUTZEN SICHTBARER MEHRSPRACHIGKEIT
307
Damit konform fielen auch die Ergebnisse der telefonischen Befragung aus, bei der Interviewte mit türkischem
und italienischem Migrationshintergrund sogar noch stärker
als Deutsche dafür optiert haben, dass mehrsprachige Schilder auch Deutsch enthalten sollten. Die Befragten hoben
insbesondere die Orientierungsfunktion hervor, die mehrsprachige Beschilderung für Personen ohne Deutschkenntnisse hat. Damit können (mehrsprachige) Schilder also ein
Vehikel sein, sich (in Deutschland) zuhause zu fühlen.
Die Ergebnisse der Rezipientenbefragung stehen allerdings in einem interessanten Spannungsverhältnis zur Befragung der Produzenten und ihrem Sprachenmanagement
»von unten«. So zeigt sich bei den privaten Akteuren (d.h.
den Geschäftsinhabern und Restaurantbesitzern) mit Migrationshintergrund eine klare Tendenz, neben der eigenen
Herkunftssprache und kulturell benachbarten Sprachen
auch die Sprache der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu
wählen, während die Befragten ohne Migrationshintergrund
im Wesentlichen nur dann offen sind für eine mehrsprachige
Beschilderung ihrer Geschäfte und Restaurants, wenn es sich
um eine internationale Verständigungssprache, wie z. B.
Englisch, handelt, mit der viele Kunden und Gäste erreicht
werden können, oder um eine prestigereiche Fremdsprache,
mit der die eigenen Produkte und Dienstleistungen aufgewertet werden können. In komparativer Sicht dominiert
zwar bei allen privaten Akteuren mit positiver Einstellung
gegenüber einer mehrsprachigen Beschriftung der ökonomische Wert der Mehrsprachigkeit. Allerdings existieren in den
Befragtengruppen unterschiedliche Vorstellungen darüber,
welche Sprachen ökonomisch wertvoll sind und welche
nicht. Letztlich kann, in kommerzieller Hinsicht, auch die
Bevorzugung einer »marginalisierten Sprache« sinnvoll sein,
wenn die eigenen Produkte an eine spezifische Kundschaft
adressiert sind, wie etwa das arabische Halal-Zeichen bei
Nahrungsmitteln, das zwar in erster Linie an arabische Muslime gerichtet ist (arabische Schriftzeichen), aber auch von
fast allen Türkeistämmigen verstanden wird, weil es als ein
feststehendes ikonisches Zeichen wahrgenommen wird.
Im Vergleich zu Geschäftsinhabern üben öffentliche Institutionen wie Stadtverwaltungen Sprachenmanagemententscheidungen »von oben« aus, indem normativ festgelegt
wird, welche Sprachen für offizielle Beschilderungen zu verwenden sind. Die Beschriftungen sind einsprachig deutsch
aufgrund der Festlegung auf die Amtssprache Deutsch. Dahinter verbirgt sich die Ideologie sprachlicher Assimilation,
die voraussetzt, dass alle Bürgerinnen und Bürger zumindest
so gut Deutsch beherrschen, dass sie kurze Texte lesen und
verstehen können. Migrantensprachen spielen in diesem
Kontext kaum eine Rolle, sie werden vernachlässigt und
können insofern als »hidden multilingualism« (Vogl 2012)
bezeichnet werden. Im Verwaltungsalltag gibt es aber trotzdem (visuelle) Mehrsprachigkeit, und zwar bei Formularen,
Aushängen und Broschüren, also eher bei solchen Medien,
die unkomplizierter und kostengünstiger anzupassen sind als
Schilder im öffentlichen Raum. Hier dominieren funktional-pragmatische Motive, da die Beschäftigten in den Bürgerbüros und an anderen Stellen mit Kontakt zur Einwohnerschaft alltäglichen Kommunikationsanforderungen in
einer vielfältiger werdenden Stadtgesellschaft gerecht werden
müssen. So entsteht (visuelle) Mehrsprachigkeit im Schatten
des »monolingualen Habitus« (Gogolin 2008). Es wird interessant sein zu beobachten, inwieweit sich die explizite
Sprachpolitik »von oben« in Zukunft der schon jetzt stärker
funktional-pragmatisch motivierten Mehrsprachigkeitspraxis
anpassen wird.
Abb. 5.2: DU-Hochfeld
Abb. 5.3: DO-Nordstadt
308
5. ZUSAMMENFÜHRUNG DER ERGEBNISSE UND FAZIT
5.1 ANDERE ZEICHEN – ANDERE MENSCHEN: ZUM WERT UND NUTZEN SICHTBARER MEHRSPRACHIGKEIT
309
Abb. 5.4: DU-Hochfeld
310
5. ZUSAMMENFÜHRUNG DER ERGEBNISSE UND FAZIT
Die Verkehrsbetriebe im Ruhrgebiet sind in ihrem Sprachenmanagement »von oben« weniger stark normativ geprägt als die öffentliche Verwaltung. Es gibt zwar Vorschriften zum Corporate Design als normatives Element; die
Sprachverwendung ist dort aber nicht explizit geregelt. Auch
hier wird Mehrsprachigkeit eher funktional-pragmatisch begründet und gehandhabt, da sonst die Kundenorientierung
und die ökonomischen Interessen leiden würden. Die Deutsche Bahn stellt in dieser Hinsicht jedoch eine Ausnahme
dar. Sie ist unter den Verkehrsbetrieben am stärksten normativ geprägt; der Normenkatalog umfasst aber im Gegensatz
zu den anderen Verkehrsbetrieben auch Regeln zur Mehrsprachigkeit.
Die Sichtbarkeit der »Schilder mit Migrationshintergrund« ist ein klares Signal der öffentlichen Anerkennung
der jeweiligen kulturellen Bezugssysteme und ihrer Träger;
denn die Akzeptanz von Mehrsprachigkeit impliziert die
Wertschätzung der kulturellen Praxis und Lebensform der
»Anderen«. Und das wiederum erleichtert Zuwanderern die
Beheimatung und Identifikation mit der jeweiligen Region.
Gegenseitige Achtung und Toleranz sind aber auch Indikatoren für die Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität von
Städten und ziehen insbesondere Kreative an (Florida
2010) – Faktoren, die für die Zukunftsfähigkeit und das Gelingen des Strukturwandels in der Metropole Ruhr von großer Bedeutung sind.
Unser Projekt gibt eine Momentaufnahme, die auf einem Messzeitpunkt basiert und insofern nur Aussagen über
die sprachliche Situation zu diesem Zeitpunkt treffen kann.
Um Veränderungsprozesse zu dokumentieren, sind Follow-up-Studien notwendig, auch in historischer Tiefe, um
die Geschichte und Entwicklung visueller Mehrsprachigkeit
im Ruhrgebiet aufzudecken. Die Prozesse der Entstehung
von Sichtbarkeit bestimmter Sprachen und damit Bevölkerungsgruppen und der Wandel von sichtbarer Mehrsprachigkeit in den Stadtteilen kann nur mit Hilfe von »Tiefenbohrungen« in einzelnen Gebieten verstanden werden, die
helfen, ein genaueres Bild der Migrationsgeschichte von
Städten und der Prägung von Stadtteilen durch Wanderungsprozesse zu zeichnen.
Unsere Untersuchung mag hierfür als Grundlage bzw.
als Modell dienen, um zukünftige Zuwanderungsprozesse (z.
B. aus Afrika) zu verstehen. Denn die Diversität wird weiter
zunehmen (Stichwort »super-diversity«, Vertovec 2007);
d. h. große Herkunftsgruppen werden abnehmen und viele
kleine Herkunftsgruppen zunehmen. Das bedeutet auch,
sich intensiver, als wir es getan haben, mit den einzelnen
Gruppen auseinanderzusetzen. Das würde bedeuten, die
Perspektive weniger auf Räume als auf Gruppen zu richten
und beispielsweise die regionalen, oft auch religiösen Treffpunkte von Bevölkerungsgruppen, die sich in ihrem Umfeld
eher in einer Diaspora-Situation befinden, nach sichtbarer
Sprache und Symbolik zu analysieren. Nicht zuletzt könnte
eine historische bzw. längsschnittliche Betrachtung auch
Auskunft darüber geben, nicht nur welche Sprachen neue
Dominanz gewinnen, sondern auch welche Formen und Typen von Beschilderungen künftig den öffentlichen Raum
»schmücken« werden (Hologramme bzw. nicht mehr an
feste Materie gebundene Lichtzeichen etc.) und dadurch der
Visualität, der Sichtbarkeit zu ihrer originären Voraussetzung (Licht) verhelfen.
Abb. 5.5: E-Innenstadt
5.1 ANDERE ZEICHEN – ANDERE MENSCHEN: ZUM WERT UND NUTZEN SICHTBARER MEHRSPRACHIGKEIT
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171). S. 347 – 374 und S. 406 – 408.
Autorenteam
Prof. Dr. Evelyn Ziegler
universität Duisburg-Essen
Institut für Germanistik
Prof. Dr. Heinz Eickmans
universität Duisburg-Essen
Institut für Germanistik
Abteilung für Niederländische Sprache und Kultur
Prof. i. R. Dr. Ulrich Schmitz
universität Duisburg-Essen
Institut für Germanistik
Prof. Dr. Hacı-Halil Uslucan
universität Duisburg-Essen
Institut für Turkistik & Stiftung Zentrum für Türkeistudien
und Integrationsforschung (ZfTI)
Dr. David H. Gehne
Ruhr-universität Bochum
Zentrum für Interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR)
Dr. Sebastian Kurtenbach
Hochschule Münster
Fachbereich Sozialwesen
Dr. Tirza Mühlan-Meyer
universität Würzburg
Institut für Deutsche Philologie
Irmi Wachendorff (MA; Dipl. Designerin)
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L. / Hoekstra, J. (Hg.): Enregisterment. Zur sozialen Bedeutung sprachlicher Variation. Frankfurt a.M. : Peter Lang.
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318
6. ANHANG
6. ANHANG
319
Impressum
Das Forschungsprojekt und die Publikat ion w urden unt erst üt zt durch:
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und Aut oren. In abw eichenden Fällen findet sich ein ent sprechender Hinw eis unt er den
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Unverändert e Neuauflage 2022 des im Jahr 2018 beim Universit ät sverlag Rhein-Ruhr (UVRR)
erschienenen Werkes (ISBN 978-3-95605-038-1 [Print ]).
Veröffent lichende Inst it ut ion:
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Universit ät sbibliot hek, DuEPublico
Universit ät sst raße 9-11
45141 Essen
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ist nur mit Erlaubnis der Aut orinnen und Aut oren möglich (Kont akt :evelyn.ziegler@uni-due.de).
Dieser ATLAS ZUR VISUELLEN MEHRSPRACHIGKEIT DER METROPOLE RUHR präsentiert die Ergebnisse eines Forschungsprojekts,
das von Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern, Integrationsforschern und Stadtsoziologen der Universität
Duisburg-Essen und der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde. Anhand von ca. 700 Abbildungen ( Karten, Fotos
und Grafiken ) wird gezeigt, mit welchen sichtbaren Zeichen der
Mehrsprachigkeit der öffentliche Raum der Metropole Ruhr ausgestattet ist. Angesichts der internationalen Herkunft der Bevölkerung interessiert insbesondere, inwieweit sich die Vielfalt der
Bevölkerung in der Vielfalt der Sprachen widerspiegelt, wo und
warum welche Sprachen ( z. B. Deutsch, Englisch, Polnisch und
Türkisch ) verwendet werden und wie die Sichtbarkeit der Sprachen von der Bevölkerung bewertet wird. Grundlage ist eine
Querschnittsstudie für die Städte Duisburg, Essen, Bochum
und Dortmund.
Dieser Text wird via DuEPublico, dem Dokumenten- und Publikationsserver der Universität
Duisburg-Essen, zur Verfügung gestellt. Die hier veröffentlichte Version der E-Publikation
kann von einer eventuell ebenfalls veröffentlichten Verlagsversion abweichen.
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(UVRR) erschienenen Werkes (ISBN 978-3-95605-038-1 [Print]).
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