Nothing Special   »   [go: up one dir, main page]

Academia.eduAcademia.edu

Zwischen Geschichtspolitk und Wissenschaft. Der Holocaust in der slowakischen Historiografie nach 1989

Einsicht 11 Bulletin des Fritz Bauer Instituts Fritz Bauer Institut Geschichte und Wirkung des Holocaust Holocaustdiskurse in der Slowakei, in Ungarn, Rumänien und Bulgarien Mit Beiträgen von Miloslav Szabó, Regina Fritz, Hildrun Glass und Souzana Hazan Anlässlich Fritz Bauer – Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vorim Gericht Anlässlichder derAusstellung Ausstellung Fritz Bauer – Der Staatsanwalt ab 10. April (ab 10. AprilMuseum, 2014 im Jüdischen Museum Frankfurt) erscheinen in Zusammenarbeit mit Jüdischen Frankfurt, erscheinen in Zusammenarbeit mit dem dem Fritz Bauer Institut zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: FRITZ BAUER INSTITUT – Geschichte und Wirkung des Holocaust: FRITZ BAUER: GESPRÄCHE, INTERVIEWS UND REDEN AUS DEN FERNSEHARCHIVEN 1961-1968 Erstveröfentlichung historischer Fernsehaufnahmen. 2 DVD, 298 Min., ausführliches Booklet, PDF-Materialien Redaktion: Bettina Schulte Strathaus Fritz Bauer (1903‒1968), bekannt als Initiator der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, betrachtete den Gerichtssaal als einen öfentlichen Ort der historischen und demokratischen Bewusstwerdung. Weniger bekannt ist, dass er als Interviewpartner, Diskutant oder Redner auch vor den Fernsehkameras Stellung bezog. Er äußerte sich zu den NS-Prozessen, zur politischen Verantwortung der Justiz, zu Geschichtsleugnung und Rechtsradikalismus, aber auch zu Fragen der Wirtschatskriminalität, dem Sexualstrafrecht oder der Humanisierung des Strafvollzugs. Nicht zuletzt sprach er über seine Biograie als politisch und antisemitisch Verfolgter und als jüdischer Remigrant. Auch fünfzig Jahre später haben diese politischen Debatten nichts von ihrer Brisanz verloren. »Verfassungsschutz, Wahrung der Freiheitsrechte, Ungehorsam und Kampf gegen totalitäre Tendenzen sind viel zu wichtige Dinge, als dass sie amtlichen Funktionären überlassen werden könnten.« Fritz Bauer AUSCHWITZ VOR GERICHT (2013) STRAFSACHE 4 Ks 2/63 (1993) TEIL 1: Die Ermittlung TEIL 2: Der Prozess TEIL 3: Das Urteil Zwei Dokumentationen von Rolf Bickel und Dietrich Wagner 2 DVD, 45 + 180 Min., ergänzende PDF-Materialien zusammengestellt von Werner Renz Die legendäre Aubereitung des Auschwitz-Prozesses von Bickel und Wagner in einer aktuellen KURZVERSION und der ausführlichen ORIGINALDOKUMENTATION aus den 1990er Jahren: Am 20. Dezember 1963 begann vor dem Landgericht Frankfurt am Main der Auschwitz-Prozess. Auf der Anklagebank saßen 21 Angehörige der Wafen-SS und ein Funktionshätling. Die SS-Männer gehörten zum Personal des Konzentrations- und Vernichtungslagers. Nach dem Krieg hatten sie in Deutschland unbehelligt ein ganz normales Leben führen können. Nun konfrontierte man sie mit den Aussagen ihrer Opfer von einst. Die ganze Welt verfolgte damals dramatische Verhandlungstage. Der gesamte Prozess wurde – einmalig in der deutschen Rechtsgeschichte – auf Tonband aufgenommen. Den Autoren der Dokumentation gelang es, die verschollenen Bänder aufzuspüren und auszuwerten. Zusammen mit exklusivem Filmmaterial entstand eine historisch präzise wie packende Dokumentation. gefördert durch Im Buch- oder Fachhandel oder direkt bei Editorial www.absolutmedien.de Liebe Leserinnen und Leser, der Schwerpunkt der vorliegenden Einsicht 11 befasst sich mit den Holocaustdiskursen in Ostmitteleuropa. Er knüpft damit an einen von Micha Brumlik und Karol Sauerland 2010 in der Wissenschaftlichen Reihe des Fritz Bauer Instituts herausgegebenen Band zur »späten Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa« an, der den Blick vornehmlich auf Polen lenkte. Im Unterschied zum 1939 von Deutschland besetzten und sofort mit mörderischem Terror gegen Juden wie Nichtjuden überzogenen Polen handelt es sich bei der Slowakei, bei Ungarn, Rumänien und Bulgarien um enge Verbündete und Satellitenstaaten des »Dritten Reiches«, die alle die jüdische Bevölkerung unter diskriminierende Sondergesetze stellten, auf die Deutschland freilich von Anfang an Einfluss nahm bzw. zu nehmen versuchte. In Rumänien fielen der sich immer weiter zuspitzenden antijüdischen Politik des 1940 etablierten Antonescu-Regimes zwischen 280.000 und 380.000 Menschen zum Opfer. In Bulgarien erfuhren die Juden Diskriminierung, Entrechtung und Vermögensentzug, aber nur jene aus den Gebieten, die Bulgarien als Achsenpartner des Deutschen Reiches 1941 besetzt hatte, wurden 1943 dem NS-Regime ausgehändigt und von diesem ermordet. Die Regierung der Mitte März 1939 ins Leben gerufenen ersten Slowakischen Republik ließ umgehend mehrere Tausend Juden in jene Gebiete deportieren, die sie an Ungarn abtreten musste, Einsicht 11 Frühjahr 2014 und stellte die übrige jüdische Bevölkerung unter Sonderrecht. 1942 verabschiedete die slowakische Regierung schließlich ein »Aussiedlungsgesetz«, das die Deportation Zehntausender Menschen in das Generalgouvernement und nach Auschwitz zur Folge hatte. In Ungarn wiederum erließ das Horthy-Regime ab 1938 antijüdische Bestimmungen unter anderem nach Vorbild der Nürnberger Gesetze, widerstand aber deutschen Forderungen nach einer Deportation der ungarischen Juden in die Vernichtungslager bis zur deutschen Besetzung des Landes im März 1944. Unsere Autorinnen und unser Autor sind ausgewiesene Kenner der Forschungslandschaften in den betreffenden Ländern und skizzieren die teilweise schwierigen Auseinandersetzungen um die »Judenpolitik« der jeweiligen Regierung und um die Frage nach deren Mittäterschaft. Weiterhin möchten wir Sie auf unsere Fritz-Bauer-Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt aufmerksam machen. Fritz Bauer gehört zu den juristisch bedeutendsten jüdischen Remigranten nach 1945. Als Generalstaatsanwalt, der den Frankfurter Auschwitz-Prozess initiierte, hat er Geschichte geschrieben. Die Ausstellung nimmt den Prozess, der sich 2013–2015 zum 50. Mal jährt, zum Anlass, Fritz Bauer einem größeren Publikum vorzustellen. Seine Lebensgeschichte spiegelt die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Als Jude erlebte Fritz Bauer deutschen Antisemitismus. Als Sozialdemokrat glaubte er dennoch an den Fortschritt, dann trieben ihn die Nationalsozialisten für 13 Jahre ins Exil. Er revolutionierte das Bild des Staatsanwaltes. An die Stelle der Staatsräson um jeden Preis trat der Schutz der Würde des Einzelnen, gerade auch gegen staatliche Gewalt – ein großer Schritt auf dem Weg zur Demokratie. Das Fritz Bauer Institut freut sich, dass ihm die Briefe Fritz Bauers aus den Jahren 1962 bis 1968 an den Regisseur und Autor Thomas Harlan überlassen worden sind. Wir werden in einer späteren Ausgabe der Einsicht näher über diesen neuen Bestand in unserem Archiv berichten. Prof. Dr. Raphael Gross und Dr. Jörg Osterloh Frankfurt am Main, im März 2014 Abb. oben: Raphael Gross, Foto: Helmut Fricke unten: Jörg Osterloh, Foto: Werner Lott 1 Inhalt 16 24 31 39 Fritz Bauer Institut Im Überblick 4 Einsicht Forschung und Vermittlung Nachrichten und Berichte Information und Kommunikation Holocaustdiskurse in der Slowakei, in Ungarn, Rumänien und Bulgarien Zwischen Geschichtspolitik und Wissenschaft. Der Holocaust in der slowakischen Historiografie nach 1989 / Miloslav Szabó Zwischen Dokumentieren und Erforschen. Die Historiografie des Holocaust in Ungarn / Regina Fritz Der Holocaust in Rumänien. Wege der Forschung Hildrun Glass Zwischen Rettungsmythos und Bekenntnis zur Mitschuld. Bulgariens schwieriger Weg zu einer Holocaustdebatte Souzana Hazan Aus dem Institut Wilhelm Leuschner-Medaille 2013: Auszeichnung für Raphael Gross, Harald Müller und Dieter Bingen Nachrufe: Tibor Wohl sel. A. (1923–2014) und Dr. Heinz Kahn sel. A. (1922–2014) 108 109 110 112 114 46 Das Institut / Mitarbeiter / Gremien Beiträge zu Leben und Wirken Fritz Bauers Fritz Bauer und Erwin Schüle. Annäherung an ein schwieriges Verhältnis / Kerstin Hofmann 114 116 53 Veranstaltungen Halbjahresvorschau 6 8 9 9 60 Ausstellung: Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht Lehrveranstaltungen Wanderausstellung: Legalisierter Raub European Leo Baeck Lecture Series 2014 Rezensionen Buch- und Filmkritiken 68 70 Neuerscheinungen Aktuelle Publikationen des Instituts 10 10 11 12 12 2 Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.): Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Fritz Bauer. Gespräche, Interviews und Reden aus den Fernseharchiven 1961‒1968 Eva Atlan, Raphael Gross, Julia Voss (Hrsg.): 1938. Kunst – Künstler – Politik M. Epple, J. Fried, R. Gross, J. Gudian (Hrsg.): »Politisierung der Wissenschaft«. Jüdische Wissenschaftler und ihre Gegner an der Universität Frankfurt vor und nach 1933 H. Schmidt, M. Kingreen, H. Daume, H. Düringer, R. Hebauf (Hrsg.): Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Starke Emotionen. (Sozial-)psychologische Perspektiven auf die Wahrnehmung des Nahostkonfliktes in Deutschland / Micha Brumlik Grüße aus Bergen-Belsen. István Irsais Ansichtskarten und das Leben im KZ / Ladislaus Löb Aus Kultur und Wissenschaft Jahreskonferenz: Verband der Europäischen Jüdischen Museen Tel Aviv, Israel: Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Homosexuellen / Werner Lott Neue Website: Jüdische Kinderflüchtlinge in den Niederlanden Geschwister-Scholl-Preis 2013: Auszeichnung für Otto Dov Kulka Rachel Salamander: Trägerin des Schillerpreises der Stadt Marbach 2013 116 117 117 Kooperation: ITS übergibt digitale Kopien an sieben Partnerorganisationen Gedenken an die Auschwitz-Prozesse: Tafel im Frankfurter Römer enthüllt Fritz-Bauer-Studienpreis für Menschenrechte und juristische Zeitgeschichte Ausstellungsangebote Wanderausstellungen des Instituts 118 119 119 Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945 Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz 120 Impressum Das Nachschlagewerk der NS-Ghettos in Ost- und Südosteuropa Rezensionsverzeichnis: Liste der besprochenen Bücher und Filme Rezensionen: Aktuelle Publikationen zur Geschichte und Wirkung des Holocaust Die zweibändige Enzyklopädie versammelt Einträge zu mehr als 1.100, auch kleineren oder nur für kurze Zeit existierenden Ghettos. Soweit bekannt, geben sie u. a. Auskunft über Alltag, interne Organisation, Terror und Mordaktionen, geplante und tatsächlich ausgeführte Widerstandsaktionen. Einführende Texte und ein umfangreicher Anhangsapparat ergänzen die Einträge. Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust 106 106 Angebote und Kontakt Neue Bildungspartnerschaft Hg. von Guy Miron und Shlomit Shulhani i. A. der Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem. Mit Vorworten von Yehuda Bauer, Israel Gutman und Michael Berenbaum. Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Dierlamm, Norbert Juraschitz, Thomas Pfeiffer, Werner Roller und Sigrid Schmid 1171 S., 246 Abb., geb., Schutzumschlag, im Schuber 99,– € (D); 101,80 € (A) | ISBN 978-3-8353-1330-9 www.wallstein-verlag.de Inhalt Einsicht 11 Frühjahr 2014 3 Fritz Bauer Institut Im Überblick Mitarbeiter und Arbeitsbereiche Direktor Prof. Dr. Raphael Gross Administration Dorothee Becker (Sekretariat) Werner Lott (Technische Leitung und Mediengestaltung) Manuela Ritzheim (Leitung des Verwaltungs- und Projektmanagements) Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Prof. Dr. Werner Konitzer (stellv. Direktor, Forschung) Dr. Jörg Osterloh (Zeitgeschichtsforschung) Dr. Katharina Rauschenberger (Programmkoordination) Das Fritz Bauer Institut Das Fritz Bauer Institut ist eine interdisziplinär ausgerichtete, unabhängige Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es erforscht und dokumentiert die Geschichte der nationalsozialistischen Massenverbrechen – insbesondere des Holocaust – und deren Wirkung bis in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers (1903–1968) und ist seinem Andenken verpflichtet. Bauer widmete sich als jüdischer Remigrant und radikaler Demokrat der Rekonstruktion des Rechtssystems in der BRD nach 1945. Als hessischer Generalstaatsanwalt hat er den Frankfurter Auschwitz-Prozess angestoßen. Am 11. Januar 1995 wurde das Fritz Bauer Institut vom Land Hessen, der Stadt Frankfurt am Main und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. als Stiftung bürgerlichen Rechts ins Leben gerufen. Seit Herbst 2000 ist es als An-Institut mit der Goethe-Universität assoziiert und hat seinen Sitz im IG Farben-Haus auf dem Campus Westend in Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte des Fritz Bauer Instituts sind die Bereiche »Zeitgeschichte« und »Erinnerung und moralische Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust«. Gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Frankfurt betreibt das Fritz Bauer Institut das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main. Zudem arbeitet das Institut eng mit dem Leo Baeck Institute London zusammen. Die aus diesen institutionellen Verbindungen heraus entstehenden Projekte sollen neue Perspektiven eröffnen – sowohl für die Forschung wie für die gesellschaftliche und pädagogische Vermittlung. Die Arbeit des Instituts wird unterstützt und begleitet vom Wissenschaftlichen Beirat, dem Rat der Überlebenden des Holocaust und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. Abb.: Das IG Farben-Haus auf dem Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Das Fritz Bauer Institut hat seinen Sitz im 5. Stock des Gebäudes (zweite Fensterreihe von oben). Foto: Werner Lott 4 Archiv und Bibliothek Werner Renz Pädagogisches Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt Dr. Türkân Kanbıçak Monica Kingreen Gottfried Kößler (stellv. Direktor, Pädagogik) Manfred Levy Dr. Martin Liepach Freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Dr. Monika Boll Dr. Lena Folianty Dr. Felicitas Heimann-Jelinek Christian Klisch Dagi Knellessen Ursula Ludz Dr. Ingeborg Nordmann Bettina Schulte Strathaus Dr. Katharina Stengel Dr. Julia Voss Rat der Überlebenden des Holocaust Trude Simonsohn (Vorsitzende und Ratssprecherin) Siegmund Freund Inge Kahn Dr. Siegmund Kalinski Prof. Dr. Jiří Kosta Katharina Prinz Dora Skala Fritz Bauer Institut Stiftungsrat Wissenschaftlicher Beirat Für das Land Hessen: Volker Bouffier Ministerpräsident Boris Rhein Minister für Wissenschaft und Kunst Prof. Dr. Joachim Rückert Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Moritz Epple Stellv. Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Wolfgang Benz Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin Prof. Dr. Dan Diner Hebrew University of Jerusalem/Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur e.V. an der Universität Leipzig Prof. Dr. Atina Grossmann The Cooper Union for the Advancement of Science and Art, New York Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Prof. Dr. Walter H. Pehle Verlagslektor und Historiker, Dreieich-Buchschlag Prof. Dr. Peter Steinbach Universität Mannheim Prof. Dr. Michael Stolleis Goethe-Universität Frankfurt am Main Für die Stadt Frankfurt am Main: Peter Feldmann Oberbürgermeister Prof. Dr. Felix Semmelroth Dezernent für Kultur und Wissenschaft Für den Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.: Jutta Ebeling Vorsitzende Herbert Mai 2. Vertreter des Fördervereins Für die Goethe-Universität Frankfurt am Main: Prof. Dr. Werner Müller-Esterl Universitätspräsident Prof. Dr. Frank Bernstein Dekan, Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften Einsicht 11 Frühjahr 2014 5 Veranstaltungen Halbjahresvorschau Ausstellung Fritz Bauer gehört zu den juristisch bedeutendsten jüdischen Remigranten nach 1945. Als Generalstaatsanwalt, der den Frankfurter Auschwitz-Prozess auf den Weg brachte, hat er Geschichte geschrieben. Die Ausstellung nimmt den Prozess, der sich 2013 zum 50. Mal jährte, zum Anlass, Fritz Bauer einem größeren Publikum vorzustellen. Seine Lebensgeschichte spiegelt die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Als Jude blieb Fritz Bauer vom Antisemitismus nicht verschont. Als Sozialdemokrat glaubte er dennoch an den Fortschritt, dann trieben ihn die Nationalsozialisten für 13 Jahre ins Exil. Als Staatsanwalt revolutionierte er das überkommene Bild dieses Amtes. Sowohl in Braunschweig als auch später in Frankfurt ließ Bauer an die Gerichtsfassade den Artikel 1 des Grundgesetzes anbringen: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Die Ausstellung räumt diesem Szenario einen besonderen Stellenwert ein, weil es für Bauers Selbstverständnis als Staatsanwalt ebenso zentral wie zu damaliger Zeit außergewöhnlich war. Lange noch galt der Staatsanwalt als Vertreter einer Staatsräson, die Gehorsam zur ersten Bürgerpflicht erhob. Die Ausstellung stellt den Besuchern Leben und Werk Fritz Bauers in 17 thematisch gegliederten Stationen vor. Den Auftakt bildet die Rückkehr nach Deutschland, Bauers erste Amtszeit in Braunschweig und der aufsehenerregende Remer-Prozess. Hier gelang es Bauer, als einer der Ersten den Widerstand des 20. Juli zu rehabilitieren. Dass er der deutschen Öffentlichkeit als positive Identifikation Vertreter aus dem konservativen Milieu anbot – und nicht etwa aus dem linken Widerstand gegen Hitler, dem er schließlich selbst angehört hatte –, zeigt sein taktisches Gespür und seine gezielte Rücksichtnahme auf das politisch gerade noch Akzeptable in der Nachkriegszeit. Für Bauer bedeutete die Rückkehr nach Deutschland einen lang ersehnten Wendepunkt, der das Ende von Krieg, Verfolgung und Exil bedeutete. Als Ausgangspunkt spiegelt dies die Ausstellung auch gestalterisch, indem sie die Themen von hier entlang eines Davor und Danach führt. So dokumentiert 6 Veranstaltungen Fritz Bauer Der Staatsanwalt NS-Verbrechen vor Gericht 10. April bis 7. September 2014 Jüdisches Museum, Frankfurt am Main 9. Dezember 2014 bis 1. Februar 2015 Thüringer Landtag, Erfurt Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt, in Kooperation mit dem Thüringer Justizministerium. ein Rundgang Kindheit und Jugend in Kaiserreich und Weimarer Zeit, Bauers Stuttgarter Jahre als Amtsrichter und als Kämpfer für die Republik, auf die Haft und Emigration folgten. Der zweite Gang führt in die frühe Bundesrepublik, die Frankfurter Jahre, Bauers Beteiligung an der Ergreifung Adolf Eichmanns, den Auschwitz-Prozess, Bauers Kampf gegen die Erbschaften der NS-Justiz, das Verfahren zu den Euthanasieverbrechen, sein Bemühen um die Strafrechtsreform und sein Engagement in der Humanistischen Union. Fritz Bauer stammte aus einem bürgerlichen jüdischen Elternhaus der Kaiserzeit. Das Versprechen der Assimilation nahmen Vater und Sohn jeweils auf eigene Weise ernst. Der Vater deutsch-national und autoritär, der Sohn linksradikal. Der Antisemitismus, dem Bauer oftmals begegnete, erschien ihm nur mehr als ärgerliche Rückschrittlichkeit. Den Zionismus hielt er daher für eine Art von überflüssigem Umweg; noch im dänischen Exil bezeichnete er sich als antizionistisch. Zu den jüdischen Gemeinden in Dänemark und Schweden suchte er keinen Kontakt. Aber auch dort holte ihn das Schicksal als Jude ein. Die Exilzeit bildet einen Schwerpunkt der Ausstellung. Erstmals können Auszüge aus der umfangreichen Akte gezeigt werden, die die dänische Ausländerbehörde über Jahre hinweg führte. Sie dokumentieren die Anerkennung als politischer Flüchtling mit Hilfe dänischer Sozialdemokraten sowie Bauers Bemühen, als Journalist und Vertreter von Textilwaren ein karges Auskommen zu finden, sie dokumentieren auch die Umstände von Bauers Observierung als Homosexueller im vergleichsweise liberalen Dänemark. Ein empörender Vorgang, der ihn auch im Exil zu einem Verfolgten machte. Bauers politische Heimat blieb die SPD. In Schweden lernte er Willy Brandt kennen. Nach dem Krieg war es Bauer, der Willy Brandt beim Parteivorsitzenden Kurt Schumacher einführte und so seine links: deutscher Pass von Fritz Bauer, ausgestellt am 23. April 1932 vom Polizeipräsidium Stuttgart unten: schwedischer Pass, ausgestellt am 13. November 1943 in Stockholm politische Karriere mit beförderte. Die gut funktionierenden Netzwerke der SPD halfen schließlich auch Bauer, nach 1945 beruflich wieder Fuß zu fassen. Vor diesem Hintergrund möchte die Ausstellung dem weitverbreiteten Narrativ vom einsam kämpfenden Außenseiter ein Stück entgegenwirken. Spätestens für die Frankfurter Jahre erscheint diese Sicht zu einseitig. Im »roten Musterland« Hessen der sozialdemokratischen Ära von Georg-August Zinn stand Bauer nicht auf verlorenem Posten. Als hessischer Generalstaatsanwalt unterstanden ihm 9 Staatsanwaltschaften, 13 Strafanstalten und 199 Staatsanwälte. Eine nicht geringe Macht, um rechtspolitische Geschichte in der Bundesrepublik zu schreiben. Bauers Wirkungskreis reichte wie im Fall Eichmann auch über die Bundesrepublik hinaus. Die Zusammenarbeit mit den israelischen Behörden blieb jedoch lange Zeit ein gut gehütetes Geheimnis, in das Bauer nur den Ministerpräsidenten Zinn eingeweiht hatte. Mit dem selten beleuchteten Kapitel Kalter Krieg erkundet die Ausstellung eine weitere Grenzüberschreitung: Für die umstandslose Wiedereingliederung ehemaliger Nationalsozialisten in die bundesrepublikanische Gesellschaft interessierten sich auch die Behörden der DDR. Immer wieder bot Einsicht 11 Frühjahr 2014 die Generalstaatsanwaltschaft der DDR sowohl der Bundesregierung als auch den Generalstaatsanwälten verschiedener Bundesländer die Einsicht und den Austausch von Beweisdokumenten an. Fritz Bauer gehörte zu den wenigen Generalstaatsanwälten, die das Angebot annahmen. Zweifelsohne verfolgte die DDR dabei eigene ideologische Zielvorgaben. Bauer war jedoch klar, dass die meist stichhaltigen Beweisdokumente auch den Druck auf eine juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik erhöhen würden. Kollegen und Freunde Fritz Bauers haben immer wieder die beeindruckende persönliche Präsenz des Generalstaatsanwaltes hervorgehoben. Neben Dokumenten, Fotografien und Exponaten aus dem persönlichen Nachlass sind es vor allem die zahlreichen Bild- und Tondokumente, mit denen die Besucher Fritz Bauer als glänzenden Rhetoriker, als streitlustigen Diskutanten und als nachdenklichen Gesprächspartner entdecken können. Das Begleitprogramm zur Ausstellung entnehmen Sie bitte der Anzeige des Jüdischen Museums Frankfurt auf den Seiten 14 f. Angaben zum im Campus Verlag erschienenen Begleitband finden Sie auf Seite 10. Monika Boll, Kuratorin der Ausstellung Fritz Bauer Institut 7 Lehrveranstaltung Interdisziplinäres Forschungskolloquium des Fritz Bauer Instituts Prof. Dr. Raphael Gross, Kolloquium, Montag, 16.00–18.00 Uhr (15. April bis 15. Juli 2014), Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, Hörsaalzentrum, HZ 14 In dem Forschungskolloquium werden laufende Forschungsprojekte aus dem Fritz Bauer Institut vorgestellt und erörtert. Daneben werden auf Einladung auch Projekte mit ähnlichen Forschungsschwerpunkten im Bereich der deutsch-jüdischen Geschichte und der Geschichte und Nachgeschichte der Shoah diskutiert. Teilnahme ausschließlich nach persönlicher Einladung. Lehrveranstaltung Kant und der Nationalsozialismus (2) Apl. Prof. Dr. Werner Konitzer, Seminar, Dienstag, 10.00–12.00 Uhr (22. April bis 15. Juli 2014), Goethe-Universität Frankfurt am Main, IG FarbenHaus, Raum 2.501 In dem Seminar soll der Frage nachgegangen werden, wieweit kantische Traditionen in der deutschen Universitätsphilosophie in den Nationalsozialismus eingingen, wieweit auf der anderen Seite der Kantianismus von Nationalsozialisten bekämpft wurde. Dabei soll nach einer einführenden Darstellung verschiedener Texte von Kant zunächst die Entwicklung des Neukantianismus skizziert werden, um dann den verschiedenen distanzierenden und affirmativen Bezügen 8 nationalsozialistischer Autoren auf Kant nachzugehen. Diskutiert werden also zunächst Texte von Hermann Cohen, dann von Houston Stewart Chamberlain, Hermann Schwarz, Bruno Bauch, Alfred Bäumler, Otto Dietrich und Martin Heidegger. Das Seminar schließt thematisch an einen Kurs des letzten Semesters an, dessen Besuch jedoch nicht vorausgesetzt wird. Lehrveranstaltung Fritz Bauer und die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Dr. Jörg Osterloh und Gottfried Kößler, Übung, Mittwoch, 14.00–16.00 Uhr (23. April bis 16. Juli 2014), Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum 3.401 Die Übung befasst sich in Anlehnung an die laufende Fritz-Bauer-Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt (siehe Seite 6 f.) sowohl mit der Biographie Bauers als auch mit dem von ihm initiierten Frankfurter Auschwitz-Prozess im Kontext der NSG-Verfahren. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive liegt der Fokus auf dem Frankfurter Verfahren. Aus didaktischer Sicht soll einerseits die Vermittlung von Bauers Biographie im Museum, andererseits der Umgang mit den Tondokumenten aus dem Prozess diskutiert werden. Teilnahme nur nach persönlicher Voranmeldung! Die Teilnehmerzahl ist auf zwanzig begrenzt. Anmeldung: Dr. Jörg Osterloh, Fritz Bauer Institut, j.osterloh@fritz-bauer-institut.de, oder Gottfried Kößler, Pädagogisches Zentrum, gottfried.koessler@stadt-frankfurt.de Veranstaltungen Lehrveranstaltung Wanderausstellung Gedenkstätte KZ Buchenwald (viertägige Exkursion) Pädagogische Möglichkeiten für Haupt- und Realschüler in Buchenwald Legalisierter Raub Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945 Monica Kingreen, Übung/Seminar, Vorbereitungssitzungen: Dienstag, 27. Mai und Dienstag, 3. Juni 2014; Nachbereitungssitzung: Dienstag, 17. Juni 2014, jeweils 18.00–20.00 Uhr; viertägige Exkursion: Dienstag, 10. bis Freitag, 13. Juni 2014 in Buchenwald Vor Ort in der Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar werden die TeilnehmerInnen das Gelände erkunden und sich mit der Geschichte des KZs Buchenwald vertraut machen. Wir lernen die Angebote der pädagogischen Abteilung der Gedenkstätte kennen, erproben auch selbst unterschiedliche Zugänge der pädagogischen Arbeit mit Haupt- und Realschülern und diskutieren sie im Hinblick auf ihre Relevanz für die schulische Praxis. Untergebracht sind die TeilnehmerInnen in der komfortablen Jugendbegegnungsstätte Buchenwald, die auch beste Verpflegung bietet. Die Anreise erfolgt individuell und wird bei der Vorbereitung organisiert. Anmeldung: Monica Kingreen, Pädagogisches Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt, monica.kingreen@stadt-frankfurt.de (Anzahlung € 30,–) Donnerstag, 16. Januar bis Sonntag, 1. Juni 2014 NS-Dokumentationszentrum Rheinland-Pfalz Gedenkstätte KZ Osthofen, Ziegelhüttenweg 38 67574 Osthofen, Tel.: 06242.9108-10, Fax: -20 info@ns-dokuzentrum-rlp.de www.gedenkstaette-osthofen-rlp.de Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag, 9.00–17.00 Uhr; an Wochenenden und Feiertagen, 13.00–17.00 Uhr Öffentliche Führungen: Sonntag, 27. April 2014, 14.30 Uhr Dienstag, 6. Mai 2014, 18.00 Uhr Sonntag, 18. Mai 2014, 14.30 Uhr Dienstag, 3. Juni 2014, 18.00 Uhr Treffpunkt: Foyer der Gedenkstätte KZ Osthofen (Die Führungen sind kostenlos, eine vorherige Anmeldung ist nicht erforderlich.) September bis November 2014: Kurhaus Bad Vilbel, Niddastraße 1, 61118 Bad Vilbel 1. Halbjahr 2015: Rüsselsheim/Flörsheim am Main 2. Halbjahr 2015: Michelstadt Die Ausstellung »Legalisierter Raub« beschäftigt sich mit jenen Gesetzen und Verordnungen, die ab 1933 auf die Ausplünderung jüdischer Bürger zielten. Sie stellt die Beamten der Finanzbehörden vor, die die Gesetze in Kooperation mit weiteren Ämtern und Institutionen umsetzten, und sie erzählt von denen, die Opfer dieser Maßnahmen wurden. Gezeigt wird, wie das Deutsche Reich durch die Reichsfluchtsteuer, zahlreiche Sonderabgaben und schließlich durch den vollständigen Vermögenseinzug sowohl an den Menschen verdiente, die in die Emigration getrieben wurden, wie an denjenigen, die blieben, weil ihnen das Geld für die Auswanderung fehlte oder weil sie ihre Heimat trotz allem nicht verlassen wollten. Nach den Deportationen kam es überall zu öffentlich angekündigten Auktionen aus »jüdischem Besitz«: Tischwäsche, Möbel, Kinderspielzeug, Geschirr und Lebensmittel wechselten den Besitzer. Einsicht 11 Frühjahr 2014 Regionaler Schwerpunkt Rheinhessen Für die Präsentation in Osthofen wurde die Ausstellung mit einem neuen Schwerpunkt versehen. Er beschäftigt sich mit der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung in der Region und erzählt unter anderem von Jacob Guthmann aus Eich, Sally Blum aus Bodenheim, Ludwig Ebert aus Osthofen, der Familie Reiling aus Mainz sowie von Moritz und Emmy Buchdahl. Weitere Informationen zur Ausstellung und ihrer Ausleihe auf Seite 118. Das umfangreiche Begleitprogramm finden Sie unter: www. fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html European Leo Baeck Lecture Series 2014 Vortrag von PD Dr. Ulrich Sieg Jüdische Intellektuelle im »Krieg der Geister« Mittwoch, 23. Juli 2014, 19.00 Uhr, Jüdisches Museum Frankfurt am Main, Untermainkai 14/15 Eine Kooperation mit dem Historischen Seminar der Goethe-Universität. Der Erste Weltkrieg stellt eine Zäsur der deutsch-jüdischen Geschichte dar. Der Vortag thematisiert am Beispiel herausragender jüdischer Intellektueller den grundstürzenden Charakter der zeitgenössischen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig steht zur Diskussion, warum dieses Phänomen nur selten mit voller Schärfe gesehen wird. Ulrich Sieg ist außerplanmäßiger Professor an der Philipps Universität in Marburg. Seine Habilitationsschrift Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe erschien in 2. Aufl. im Akademie Verlag 2008. (Erstausgabe 2001) European Leo Baeck Lecture Series 2014 Vortrag von Dr. Miriam Rürup Eine neue »Klasse internationaler Personen«: Staatenlosigkeit als Erfahrung und völkerrechtliche Herausforderung nach dem Ersten Weltkrieg Montag, 13. Oktober 2014, 18.15 Uhr, GoetheUniversität Frankfurt am Main, Campus Westend, Casino, Raum 1.801 Der Erste Weltkrieg rüttelte an den Grundfesten des noch jungen nationalstaatlichen Gefüges Europas. Infolge der territorialen Neuordnungen nach Kriegsende verloren zahlreiche Menschen ihre Staatsangehörigkeit und damit die mit ihr verknüpften Rechte. In einer Zeit, in der staatsbürgerliche Zugehörigkeit zunehmend bedeutsam wurde, erfuhren viele erstmals die mit der Staatenlosigkeit verbundene Schutzlosigkeit. Zugleich nahmen sich aber übernationale Institutionen wie der Völkerbund der Problemlösung aus diplomatischer wie humanitärer Sicht an. Vor allem Juden waren von dieser erneuten rechtlichen Unsicherheit betroffen. Sie setzten sich im Kampf um die Durchsetzung von Schutzrechten für Staatenlose ebenso ein, wie sie an den Diskussionen um die Minderheitenschutzrechte beteiligt waren. In dem Vortrag wird es sowohl um die – nicht nur jüdische – Erfahrung von Staatenlosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg gehen wie auch um die unterschiedlichen Bemühungen, das Problem zu überwinden. Miriam Rürup ist seit 2012 Leiterin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. In ihrer Habilitationsschrift beschäftigt sie sich mit Staatenlosigkeit nach den beiden Weltkriegen. 9 Neuerscheinungen Aktuelle Publikationen des Instituts Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Redaktion: Bettina Schulte Strathaus Fritz Bauer Gespräche, Interviews und Reden aus den Fernseharchiven 1961‒1968 kriminalität, dem Sexualstrafrecht oder der Humanisierung des Strafvollzugs. Nicht zuletzt sprach er über seine Biografie als politisch und antisemitisch Verfolgter und als jüdischer Remigrant. Auch fünfzig Jahre später haben die politischen Debatten nichts von ihrer Brisanz verloren. Bettina Schulte Strathaus ist Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main, von 1995 bis 1998 war und seit 2013 ist sie freie Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut. Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.) Fritz Bauer Der Staatsanwalt NS-Verbrechen vor Gericht Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main In Kooperation mit dem Thüringer Justizministerium, 9. April bis 7. September 2014 im Jüdischen Museum Frankfurt und 9. Dezember 2014 bis 1. Februar 2015 im Thüringer Landtag, Erfurt. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, 300 S., zahlr. Abb., € 29,90 ISBN: 978-3-5935-0105-5 Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 32 den Frankfurter Auschwitz-Prozess auf den Weg brachte, hat er bundesrepublikanische Geschichte geschrieben. Die öffentliche Wirksamkeit des Auschwitz-Prozesses und dessen politische Folgen sind für das Selbstverständnis der Westdeutschen nicht hoch genug einzuschätzen. Anlässlich des 50. Jahrestags des Auschwitz-Prozesses veranstaltet das Jüdische Museum Frankfurt am Main in Kooperation mit dem Fritz Bauer Institut eine umfassende Ausstellung zu Leben und Werk Fritz Bauers. Sie würdigt den politisch und gesellschaftlich engagierten Juristen und Strafrechtsreformer, den kämpferischen Sozialdemokraten – den Mitstreiter Kurt Schumachers, den ein gemeinsames Exil mit Willy Brandt verband –, den atheistischen Humanisten, aber auch den leidenschaftlichen Theatergänger und Kunstkenner. Informationen zur Ausstellung finden Sie auf den Seiten 6 f. Fritz Bauer gehört zu den bedeutendsten jüdischen Remigranten im Nachkriegsdeutschland. Als hessischer Generalstaatsanwalt, der Fritz Backhaus ist stellvertretender Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main. Monika Boll ist Philosophin, Publizistin und Kuratorin. Raphael Gross ist Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt, des Fritz Bauer Instituts und des Leo Baeck Institute London sowie Honorarprofessor an der GoetheUniversität Frankfurt am Main und Reader an der Queen Mary University of London. 10 Neuerscheinungen Eva Atlan, Raphael Gross, Julia Voss (Hrsg.) 1938 Kunst – Künstler – Politik Erstveröffentlichung historischer Fernsehaufnahmen anlässlich der Ausstellung »Fritz Bauer. Der Staatsanwalt«, 10. April bis 7. September 2014 im Jüdischen Museum Frankfurt Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4017, 2 DVDs, 298 Min., s/w, € 19,90 ISBN: 978-3-8488-4017-5 www.absolutmedien.de »Verfassungsschutz, Wahrung der Freiheitsrechte, Ungehorsam und Kampf gegen totalitäre Tendenzen sind viel zu wichtige Dinge, als dass sie amtlichen Funktionären überlassen werden könnten.« Fritz Bauer Fritz Bauer (1903–1968), bekannt als Initiator der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, betrachtete den Gerichtssaal als einen öffentlichen Ort der historischen und demokratischen Bewusstwerdung. Weniger bekannt ist, dass er als Interviewpartner, Diskutant oder Redner auch vor den Fernsehkameras Stellung bezog. Er äußerte sich zu den NS-Prozessen, zur politischen Verantwortung der Justiz, zu Geschichtsleugnung und Rechtsradikalismus, aber auch zu Fragen der Wirtschafts- Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main 27. November 2013 bis 23. Februar 2014 im Jüdischen Museum Frankfurt Göttingen: Wallstein Verlag, 2013, 340 S., 103 z. T. farb. Abb., € 24,90 ISBN: 978-3-8353-1412-2 Das Jahr 1938 war ein Schicksalsjahr der deutschjüdischen Geschichte. Die Pogrome im November 1938 trafen ganz unmittelbar die Einsicht 11 Frühjahr 2014 in Deutschland und Österreich lebenden jüdischen Gemeinschaften. Auch im deutschen Kunstbetrieb gab es in diesem Jahr Einschnitte, deren Folgen noch über das Jahr 1945 hinausreichten. Was 1938 geschah, schlug sich in den Lebensläufen von Künstlern, Sammlern, Händlern, Kritikern und Museumsmitarbeitern nieder. Durch die Arisierungsmaßnahmen wurde vielen von ihnen die Existenzgrundlage genommen. Wer von den Gewalttaten profitierte, lässt sich im Kunstsystem besonders deutlich aufzeigen. Die Autorinnen und Autoren korrigieren die gängige Vorstellung, im Zentrum der nationalsozialistischen Kunstpolitik hätte die Verfolgung der Avantgarde gestanden. Das Ziel war vielmehr, restlos zu kontrollieren, wer am Kunstbetrieb teilnimmt. Über die Teilnahme entschieden vor allem rassenpolitische Kriterien. Die vollständige Arisierung des Kunstbetriebs wurde 1938 durchgesetzt – und prägte auch die Nachkriegszeit. Viele der seinerzeit verfolgten jüdischen Künstler gerieten in Vergessenheit und wurden auch nach 1945 nicht mehr in Deutschland gesammelt oder sonst stärker rezipiert. Der Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung dokumentiert unter anderem Werke von verfolgten Künstlern und stellt sie anderen Künstlern und Kunstschaffenden gegenüber, die vom Nationalsozialismus gefördert wurden. Die Ausstellung wurde unterstützt von der Kulturstiftung des Bundes, dem Kulturfonds RheinMain, der Ernst von Siemens Kunststiftung und eXperimente – eine Kulturinitiative der Aventis Foundation. NORBERT KAMPE PETER KLEIN (HG.) DIE WANNSEEKONFERENZ AM 20. JANUAR 1942 DOKUMENTE FORSCHUNGSSTAND KONTROVERSEN 2013. 482 S. 43 S/W-ABB. GB. € 39,90 [D] | € 41,10 [A] ISBN 978-3-412-21070-0 Mit der Wannsee-Konferenz wurde der gesamte deutsche Staatsapparat zum Mitwisser und Mittäter bei der Ermordung der europäischen Juden. Der bereits stattfindende Massenmord wurde Eva Atlan ist Kunsthistorikerin und Kuratorin sowie seit 2005 Kustodin der Sammlungen »Kunst und Judaica« des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. Raphael Gross ist Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt, des Fritz Bauer Instituts und des Leo Baeck Institute London. Julia Voss ist Kunsthistorikerin und Journalistin. Seit 2007 leitende Redakteurin des Kunstressorts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. zum systematischen Völkermord. Das Buch bündelt den aktuellen Forschungsstand zur Geschichte der Konferenz und zeigt die Kontroversen um ihre Deutung auf. WWW.BOEHLAU-VERLAG.COM 11 Moritz Epple, Johannes Fried, Raphael Gross, Janus Gudian (Hrsg.) »Politisierung der Wissenschaft« Jüdische Wissenschaftler und ihre Gegner an der Universität Frankfurt vor und nach 1933 Zum 100-jährigen Bestehen der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Jahr 2014 Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs, hrsg. von Notker Hammerstein und Michael Maaser, Band 05, Göttingen: Wallstein Verlag, 2014, ca. 392 S., ca. 25 Abb., ca. € 29,90 ISBN: 978-3-8353-1438-2 lieferbar ab Juni 2014 In welchem Verhältnis standen politische Anschauung und Wissenschaftsverständnis der Universitätsgelehrten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Im Hinblick auf diese Fragestellung ist die Universität Frankfurt am Main ein einzigartiges Studienobjekt: Erst 1914 als städtische Stiftung mit maßgeblicher finanzieller Beteiligung jüdischer Bürger gegründet, betrieb die Hochschule eine liberale, die Konfessionen ausklammernde Berufungspolitik. Um 1930 war der Anteil jüdischer Professoren an der Frankfurter Universität einer der höchsten im Deutschen Reich. Als im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik alle der über hundert 12 jüdischen Hochschullehrer entlassen wurden, drohte der Universität die Schließung. Das institutionelle Miteinander der jüdischen Professoren und ihrer Gegenspieler, wie etwa der deutsch-völkischen Gelehrten, sowie Kommunikationsstrategien des wissenschaftlichen Diskurses im »Zeitalter der Extreme« stehen im Fokus der zum Teil englischsprachigen Beiträge. Mit Beiträgen unter anderem von Steven E. Aschheim, Mitchell Ash, Peter C. Caldwell, David Dyzenhaus, Moritz Epple, Emanuel Faye, Jeffrey Herf, Martin Jay, David Kettler, Carsten Kretschmann, Heinz D. Kurz, Robert E. Lerner, Alexander von Schwerin, John Stillwell, Shulamit Volkov, Michael Zank, Moshe Zimmermann Moritz Epple ist Professor für Wissenschaftsgeschichte und Leiter der Arbeitsgruppe »Wissenschaftsgeschichte« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Johannes Fried ist Professor für mittelalterliche Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Raphael Gross ist Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt, des Fritz Bauer Instituts und des Leo Baeck Institute London sowie Honorarprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Reader am Queen Mary College der University of London. Janus Gudian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der GoetheUniversität Frankfurt am Main. Neuerscheinungen Hartmut Schmidt, Monica Kingreen, Heinz Daume, Hermann Düringer, Renate Hebauf (Hrsg.) Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus Monica Kingreen, Renate Hebauf und Hartmut Schmidt in einem umfangreichen Band zusammengefasst. Anhand von Archivmaterial und Befragungen von Zeitzeugen wurden Hunderte von Einzelschicksalen erforscht. In Beiträgen von über dreißig Autorinnen und Autoren wird die nationalsozialistische Verfolgung der evangelischen Christen jüdischer Herkunft dokumentiert, die in vielen Bereichen Hessens oft mit deren Ermordung endete. Ihre Ausgrenzung aus der kirchlichen Gemeinschaft wird anhand von Regionalstudien aufgezeigt, am Beispiel etwa von Oberursel, Frankfurt am Main und Wiesbaden. Einen großen Raum nehmen die Lebensbilder verfolgter und ermordeter Christen jüdischer Herkunft ein. Auch von vereinzeltem Widerstand und Hilfe wird berichtet, doch macht dies das grundsätzliche Versagen der Kirchenleitung nur umso deutlicher. Ziel der Herausgeber war es, den Opfern ein Gesicht und einen Platz im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft zu geben. Das Buch ist sowohl als Arbeits-, Gedenk-, und Lesebuch wie auch als Lehrbuch für den Schulunterricht gedacht. Es soll bei Menschen aller Altersstufen und mit unterschiedlichen Vorkenntnissen Interesse wecken, der Geschichte der eigenen Gemeinde nachzugehen. Renate Hebauf ist freie Journalistin in Frankfurt am Main. Monica Kingreen ist Mitarbeiterin am Pädagogischen Zentrum des Jüdischen Museums Frankfurt am Main und des Fritz Bauer Instituts. Hartmut Schmidt ist Journalist und Vorsitzender der Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main. Heinz Daume ist Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises Christen-Juden der Evangelischen Kirche von Kurhessen Waldeck. Hermann Düringer ist ehemaliger Direktor der Evangelischen Akademie Arnoldshain in Schmitten/Taunus. Hanau: CoCon-Verlag, 2013, 468 S., € 29,80 ISBN 978-3-86314-255-1 www.cocon-verlag.de Die Geschichte der evangelischen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus gehört zu den dunklen Kapiteln der Kirchengeschichte. Es ist bis heute beklemmend, wie eng sich die evangelischen Kirchen in Hessen ab 1933 an die neuen Machthaber banden. Ein bislang wenig erhelltes, aber umso dramatischeres Schlaglicht aus dieser Zeit fällt auf den Umgang mit Christen, die jüdischer Herkunft waren. Nach und nach wurden diese sogenannten »nichtarischen« Mitglieder systematisch ausgegrenzt. Dies aufzuarbeiten hat sich ein Arbeitskreis aus Vertretern der beiden hessischen Landeskirchen zum Ziel gesetzt. Das Ergebnis ihrer über zehnjährigen wissenschaftlichen Forschungsarbeit haben Pfarrer Heinz Daume, Hermann Düringer, Einsicht 11 Frühjahr 2014 13 STAATSDER ANWALT FRITZ BAUER F I LM P R Ä S E NTATI O N M O NTAG , 5 . M AI 2 0 1 4 , 2 0 UHR NS-VERBRECHEN VOR GERICHT 10. APRIL – 07. SEPT. Begleitprogramm zur Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt 10. April – 07. September 2014 Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt Fritz Bauer. Gespräche, Interviews und Reden. Aus den Fernseharchiven 1961–1968 Präsentation der DVD mit Originalfilmmaterial zu Fritz Bauer mit anschließender Diskussion. Teilnehmer: Carl Bringer, Bettina Schulte Strathaus, Prof. Dr. Michael Stolleis und Dietrich Wagner Eine Veranstaltung der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums e. V. und des Fördervereins des Fritz Bauer Instituts e.V. Fritz Bauer, Initiator der Auschwitz-Prozesse und unermüdlicher Kritiker des deutschen Strafrechts, stellte sich der öffentlichen Auseinandersetzung. Auch das Fernsehstudio wusste er zu nutzen, um sich Handlungsspielräume zu erschließen. Deutsches Filmmuseum, Schaumainkai 41 B U C HVO R S TE LLU NG MONTAG, 26. MAI 2014, 18:15 UHR Von der Last, ein Zeuge zu sein. Hermann Diamanski (1910–1976) – eine deutsche Geschichte zwischen Auschwitz und Staatssicherheitsdienst Im Auschwitz-Prozess trat Hermann Diamanski als Zeuge auf. Seine Zeugenschaft emfpand er als Last und auf eine Entschädigung als Verfolgter des NS Regimes musste er lange warten. Heiko Haumanns Biografie erkundet die Verflechtungen von privatem Leben und weltpolitischen Ereignissen. Prof. Dr. Heiko Haumann (Basel) Universität Frankfurt, Campus Westend, Hörsaalzentrum Raum 11 VO R TR AG M I T T WO C H, 2 1. M AI 2 0 14 , 19 UHR Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt in Kooperation mit dem Thüringer Justizministerium. Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Joachim Gauck. mit freundlicher Unterstützung von und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur sowie von Nicolaus und Christiane Weickart Die Rosenburg – Der Umgang des Bundesjustizministeriums mit seiner NS-Vergangenheit Ein besonderes Interesse Fritz Bauers galt der strafrechtlichen Verfolgung der NS-Justiz. Wie aktuell das Thema noch heute ist, erörtert Christoph Safferling in seiner Untersuchung zum Umgang des Bundesjustizministeriums mit seiner NS-Vergangenheit. Prof. Dr. Christoph Safferling (Marburg) Jüdisches Museum F I LM MI T T WO C H , 1 1 . J U N I 2 0 1 4 , 1 9 U H R »Mörder unter uns. Fritz Bauers einsamer Kampf« (ZDF 2013) Die Regisseure Peter Hartl und Andrzej Klamt werden anwesend sein. Mit Hilfe von Filmfunden und Aussagen von Weggefährten zeichnet der Film die außergewöhnliche Geschichte Fritz Bauers nach. Es ist die Geschichte eines einzigartigen Verfechters des Rechts in einer restaurativen Gesellschaft, die in den sechziger Jahren bereits von den Geburtswehen einer freieren, kritischeren Zeit erfasst war – auch dank aufrechter Persönlichkeiten wie Fritz Bauer. Jüdisches Museum VO R TRAG MI T T WO C H , 2 . J U L I 2 0 1 4 , 1 9 U H R Im Kampf um die Demokratie. Der Sozialdemokrat Fritz Bauer Bereits 1920 trat Fritz Bauer der SPD bei. Der Vortrag thematisiert Bauers Freundschaft mit Kurt Schumacher, seinen Beitritt zum »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«, Bauers Verfolgung durch die Nationalsozialisten und das Exil, wo er sich der SOPADE um Willy Brandt anschloss. Prof. Dr. Walter Mühlhausen (Heidelberg) Jüdisches Museum VO R TRAG MI T T WO C H , 1 6 . J U L I 2 0 1 4 , 1 8 : 1 5 U H R »Ein verratenes Volk lässt sich nicht verraten«: Fritz Bauer und die Anerkennung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus Fritz Bauer hat wie nur wenige für ein noch heute tragfähiges Bild des Widerstands gestritten. Der Vortrag stellt die Rezeptionsgeschichte des Widerstands 20. Juli in der Bundesrepublik vor und berücksichtigt dabei insbesondere die Bedeutung von Fritz Bauer als geschichtspolitischem Akteur. Prof. Dr. Peter Steinbach (Mannheim) Universität Frankfurt, Campus Westend, Hörsaalzentrum, Raum 7 Zur Ausstellung erscheint der Katalog: Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht Herausgeber: Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross 300 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Campus Verlag, 2014, 29,90 € Einsicht Forschung und Vermittlung Zwischen Geschichtspolitik und Wissenschaft Der Holocaust in der slowakischen Historiografie nach 1989 von Miloslav Szabó Der Holocaust als Prüfstein nationalhistorischer Narrative? Die slowakische Vergangenheitsdebatte nach 1989 Miloslav Szabó, Dr. phil., geboren 1974, ist Research Fellow am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus in Zentral- und Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Zwischen 2007 und 2010 war er Projektmitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, zwischen 2010 und 2013 am Jüdischen Museum in Prag. Veröffentlichungen (Auswahl): Od slov k činom. Slovenské národné hnutie a antisemitizmus 1875–1922, Bratislava 2014 (deutsche Fassung: »Von Worten zu Taten«. Die slowakische Nationalbewegung und der Antisemitismus 1875–1922, Berlin 2014, im Druck); »Rasse, Orientalismus und Religion im antisemitischen Geschichtsbild Alfred Rosenbergs«, in: Werner Bergmann, Ulrich Sieg (Hrsg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 211–230; Rasa a vôľa. Alfred Rosenberg a Mýtus 20. storočia (Rasse und Wille. Alfred Rosenberg und »Der Mythus des 20. Jahrhunderts«), Bratislava 2005. 16 Die slowakische Geschichtsschreibung, deren Anfänge in die Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918–1938) zurückreichen, konnte sich paradoxerweise erst unter dem kommunistischen Regime in den 1960er und 1970er Jahren voll entfalten. Zu dieser Zeit war die Historikergemeinde nicht nur quantitativ angewachsen, sondern versuchte – zumindest in den 1960er Jahren – den früheren sozialistischen ideologischen Schematismus zu überwinden.1 Bis weit in die 1990er Jahre blieb allerdings ihr Gegenstand die Geschichte des »slowakischen Volkes« beziehungsweise der »Slowakei«, kaum jedoch jene der ethnischen und religiösen Minderheiten. Die Geschichte des Antisemitismus und des Holocaust, die – nach ersten Ansätzen in den 1960er Jahren, als der Historiker Ivan Kamenec seine frühen Studien publizierte – erst in den 1990er Jahren Gegenstand der akademischen Geschichtsschreibung wurde, spaltete den öffentlichen und akademischen Geschichtsdiskurs in der Slowakei in ein »nationales« und ein »kosmopolitisches Lager«.2 Diese Spaltung hing mit der »Rückkehr« eines alternativen Geschichtsnarrativs zusammen, das eine Gruppe slowakischer Remigranten, die persönliche oder emotionale Bindungen zum autoritären Regime in der Slowakei zwischen 1939 und 1945 hatten, in den frühen 1990er Jahren etablieren wollte. Exilhistoriker wie Milan S. Ďurica, der 1993 eine Professur an der Römisch-Katholischen 1 2 Vgl. Adam Hudek, Najpolitickejšia veda. Slovenská historiografia v rokoch 1948–1968 [Die am meisten politisierte Wissenschaft. Die slowakische Historiografie 1948–1968], Bratislava 2010. Eine scharfe analytische Trennung zwischen »nationaler« und »kosmopolitischer« Geschichtsschreibung ist allerdings kaum haltbar. Vgl. dazu Elena Mannová, »Clio auf Slowakisch. Probleme und neue Ansätze der Historiographie in der Slowakei«, in: Bohemia, 44 (2003), S. 316–325, hier S. 321–324. Einsicht Theologischen Fakultät der Comenius-Universität in Bratislava erhielt, verklärten so den autoritären Slowakischen Staat als ersten »Höhepunkt« der slowakischen Geschichte. Verbrechen des von »Hlinkas Slowakischer Volkspartei« getragenen Regimes und dabei insbesondere die »Lösung der Judenfrage«, die in der Entrechtung, Pauperisierung und schließlich Deportation der slowakischen Juden bestand, versuchten sie mit dem Hinweis auf die alleinige Schuld NS-Deutschlands und slowakischer »Radikaler« zu entkräften.3 Die Kehrseite solcher Bestrebungen waren nicht nur antisemitische Stellungnahmen radikalnationalistischer Politiker,4 sondern auch die Zunahme antisemitischer Einstellungen in der slowakischen Gesellschaft.5 Dem tschechisch-schwedischen Politikwissenschaftler Tomáš Sniegoň zufolge setzte sich in der Slowakei in Reaktion auf das »national-katholische« historische Narrativ im Laufe der 1990er Jahre ein »national-europäisches« durch, dessen Bezugspunkt der »Nationalaufstand« gegen das autoritäre slowakische Regime vom Herbst 1944 bildete.6 Im Einklang mit der europäischen Erinnerungskultur, in der der Holocaust als Paradigma des »Bösen« funktioniere, sei zwar das Gedenken hieran zum Bestandteil der slowakischen politischen Kultur geworden. Dies sei jedoch, so Sniegoň, weniger um seiner Opfer willen geschehen, sondern um »diejenige Gruppe von Menschen zu kompromittieren, die die Macht über den slowakischen Staat und das slowakische Volk gewann«.7 Diese Beobachtung mag auf die Geschichtspolitik des slowakischen Establishments – partiell bereits auf die »Hnutie za demokratické Slovensko« (Bewegung für die demokratische Slowakei) des autoritären Regierungsvorsitzenden Vladimír Mečiar8 und mehr noch auf seine Nachfolger, den bürgerlich-konservativen Politiker Mikuláš Dzurinda und den Sozialisten Róbert Fico9, – zutreffen. Solche Bestrebungen waren 3 4 5 6 7 8 9 Vgl. Eduard Nižňanský, »Der Holocaust in der slowakischen Historiographie der neunziger Jahre«, in: ebd., S. 370–389, hier S. 375 f. Vgl. Tomas Sniegon, »Their Genocide, or Ours? The Holocaust as a Litmus Test of Czech and Slovak Identities«, in: Klas-Göran Karlsson, Ulf Zander (Hrsg.), Echoes of the Holocaust. Historical Cultures in Contemporary Europe, Lund 2003, S. 177–200, hier S. 189 f. Vgl. Tatjana Tönsmeyer, »Der Holocaust im öffentlichen Bewusstsein der Slowakei. Antisemitismus, Geschichtsbild und Holocaustrezeption«, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 7 (1998), S. 82–92, hier S. 82–84. Vgl. Tomáš Sniegoň, »Postkomunismus a paměť holocaustu: kontinuita nebo změna?« [Der Postkommunismus und das Gedächtnis des Holocaust: Kontinuität oder Veränderung?], in: Acta Judaica Slovaca, 14 (2008), S. 117–130. Ebd., S. 128. Vgl. Sniegon, »Genocide«, S. 191. Der heutige Ministerpräsident Róbert Fico setzte noch als Parlamentsabgeordneter im Oktober 2000 im Slowakischen Nationalrat den »Tag des Gedenkens an den Holocaust« erfolgreich durch, der seither am 9. September begangen wird. Erst seit kurzem wird darüber diskutiert, ob das Datum, an dem der sogenannte »Judenkodex« durch den Landtag des autoritären slowakischen Regimes 1941 verabschiedet wurde, für einen »Tag des Gedenkens an den Holocaust« angemes- Einsicht 11 Frühjahr 2014 allerdings bei weitem nicht die einzigen oder gar die wichtigsten Beweggründe für jene slowakischen Historiker, die sich nach 1989 erstmals der Geschichte des Holocaust widmeten oder, wie etwa Ivan Kamenec, ihre früheren Studien fortsetzten. Geschichtspolitische Kontroversen: Jozef Tiso und János Esterházy und ihre Verantwortung für die antijüdische Politik des Slowakischen Staates In den vergangenen Jahren drehten sich die geschichtspolitischen wie -wissenschaftlichen Kontroversen vor allem um Persönlichkeiten wie Jozef Tiso, den ersten Präsidenten des autoritären Slowakischen Staates, und János Esterházy, den damaligen Repräsentanten der ungarischen Minderheit in der Slowakei, und ihren Anteil an der antijüdischen Politik zwischen 1938 und 1945. An diesen Diskussionen beteiligten sich nicht zuletzt kritische slowakische Historiker wie Ivan Kamenec, der sich als einer der wenigen bereits vor 1989 mit der Geschichte des Holocaust befasst hatte, jedoch seine Forschungsergebnisse nur teilweise publizieren durfte. Jozef Tiso, ursprünglich katholischer Priester, hatte schon zu seinen Lebzeiten und erst recht nach seiner Verurteilung und Hinrichtung durch das Volksgericht im Jahr 1947 eine quasi religiöse Verehrung erfahren. Vor allem ehemalige Politiker von Hlinkas Slowakischer Volkspartei, die nach 1945 ins Exil gingen, woben um ihn Legenden, die Eingang in die zahlreichen Biografien fanden.10 Diese relativierten nicht zuletzt Tisos Anteil an der »Lösung der Judenfrage« in der Slowakei.11 Nach 1989 versuchten einige slowakische Exilhistoriker dieses Deutungsmuster in der geschichtspolitischen und -wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu etablieren. So schob beispielsweise der Exilhistoriker František Vnuk 1990 in einem Interview die Verantwortung für die Deportation und Ermordung der slowakischen Juden ausschließlich auf Hitler und NS-Deutschland und bezeichnete den slowakischen Antisemitismus als berechtigte Reaktion auf die »Jewish hostility to the Slovak nation«.12 Nachdem der Kult um sen sei. Vgl. Fedor Blaščák, »Kedy spomínať na holokaust? V deň oslobodenia Osvienčimu« [Wann soll des Holocaust gedacht werden? Am Tag der Befreiung von Auschwitz], in: Sme, 8.9.2013 [http://komentare.sme.sk/c/6927403/kedy-spominat-na-holokaust-v-den-oslobodenia-osviencimu.html]. 10 Vgl. Ivan Kamenec, Tragédia politika, kňaza a človeka. Dr. Jozef Tiso, 1887– 1947 [Die Tragödie des Politikers, Priesters und Menschen. Dr. Jozef Tiso, 1887– 1947], 2. Aufl., Bratislava 2013, S. 9–17. 11 Stellvertretend siehe Milan S. Ďurica, »Dr. Joseph Tiso and the Jewish Problem in Slovakia«, in: Slovakia, 7 (1957), H. 3–4, S. 1–22, hier S. 15 f. 12 Zit. nach James Mace Ward, Priest, Politician, Collaborator: Jozef Tiso and the Making of Fascist Slovakia, Ithaca, London 2013, S. 270. 17 Tiso von einigen Vertretern der slowakischen Politik und Kirchenhierarchie positiv aufgenommen wurde und Bestrebungen um seine politische Rehabilitierung, ja sogar Heiligsprechung aufgekommen waren, regte sich seitens einiger Historiker des Historischen Instituts der Slowakischen Akademie der Wissenschaften Widerstand. Dieser schlug sich etwa in einem viel rezipierten Sammelband von 1992 nieder, in dem einzelne Aspekte von Tisos politischer Tätigkeit erstmals kritisch beurteilt wurden.13 Ivan Kamenec, der in seiner 1998 erschienenen und 2013 neu aufgelegten Biografie Tisos auch auf dessen Verantwortung für die »Lösung der Judenfrage« in der Slowakei einging, zog aus diesen Auseinandersetzungen folgendes Fazit: Tiso habe angesichts der antijüdischen Politik des slowakischen Regimes, auf die er zwar als Präsident keinen direkten politischen Einfluss hatte, moralisch versagt. Gleichwohl müsse er sich aber als Regierungschef 1938/39 für die ersten antijüdischen Maßnahmen, die er entschieden vorangetrieben hatte, politisch verantworten. Zudem, so Kamenec, kritisierte Tiso später als Präsident diese Politik kaum, im Gegenteil schürte er als die größte moralische und politische Autorität des Landes die Judenfeindschaft in der Öffentlichkeit weiter.14 Mit den Worten des amerikanischen Historikers James M. Ward, Kamenec’ »slim biography fullfilled its purpose well: it provided the historical revision demanded by the Velvet Revolution while disproving the émigré’s glorification of Tiso«.15 Neben Tiso geriet nach 1989 auch János Esterházy, Führer der Christlichsozialen Partei und zwischen 1939 und 1945 Vertreter der etwa 50.000 Ungarn im slowakischen Landtag, in den Blick der geschichtspolitischen und -wissenschaftlichen Kontroversen um die Deutung des Holocaust in der Slowakei. Einerseits fanden Versuche statt, Esterházy vollständig zu rehabilitieren, andererseits griffen ihn slowakische Historiker als »Irredentisten« an.16 Esterházy hatte zwar aus seinem Antisemitismus keinen Hehl gemacht, gleichwohl enthielt er sich bei der Abstimmung über das sogenannte 13 Valerián Bystrický, Štefan Fano (Hrsg.), Pokus o politický a osobný profil Jozefa Aussiedlungsgesetz, das im Sommer 1942 die Deportation der slowakischen Juden ins Generalgouvernement legitimierte, als einziger slowakischer Abgeordneter der Stimme.17 Nach 1989 wurde, ähnlich wie um Tiso, auch um Esterházy, der mehrere Jahre im Gulag verbracht hatte, anschließend zum Tod bzw. lebenslanger Haft verurteilt wurde und nach mehreren Jahren im Gefängnis 1957 verstarb, ein Märtyrerkult betrieben. Dieser schlug sich nicht zuletzt in populärwissenschaftlichen Biografien zu seiner Person nieder. So verharmloste etwa der ungarische Historiker Imre Molnár in seiner auf Ungarisch, Slowakisch und Englisch publizierten Biografie Esterházys Zustimmung zu den antijüdischen Verordnungen, die seiner Stimmenenthaltung vom Sommer 1942 vorausging, ebenso wie seine antisemitischen Reden im slowakischen Landtag.18 Darüber hinaus sorgte die US-amerikanische Anti-Defamation League, die sich dem Kampf gegen den Antisemitismus widmet, im Herbst 2011 für Aufsehen, als sie János Esterházy posthum den Courage to Care Award für »rescuers of Jews during the Holocaust era« verlieh.19 Damals kam es aus Anlass von Esterházys 150. Geburtstags erneut zu öffentlichen Auseinandersetzungen um dessen Person. Bei der Enthüllung seiner Büste in Košice (Kaschau) ereigneten sich Zwischenfälle zwischen seinen Verehrern und Kritikern, woraufhin das Historische Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften János Esterházy abermals als »Irredentisten« verurteilte.20 Zur selben Zeit erkannte der »Zentralverband der jüdischen Religionsgemeinden in der Slowakei« in seiner Stellungnahme zwar an, dass János Esterházy »als einziger Abgeordneter des slowakischen Landtages im Mai 1942 nicht für das sog. Aussiedlungsgesetz stimmte (er stimmte nicht dagegen, sondern enthielt sich seiner Stimme) […]«. Gleichzeitig kritisierte der Zentralverband jedoch, dass Esterházy »nie gegen die antisemitischen Maßnahmen und Politik« protestiert, im Gegenteil »für alle antisemitischen Gesetze mit Ausnahme des Aussiedlungsgesetzes« gestimmt habe. Zum Schluss nahm der Zentralverband in seiner Stellungnahme indirekt Bezug auf Auszeichnungen wie diejenige durch die Anti-Defamation League: »Den enormen Anstrengungen seiner Familie und Lobbyisten zum Trotz konnte seine Hilfe für ›Hunderte verfolgter Juden, Tschechen und Slowaken‹ nie nachgewiesen werden und er erhielt auch nie Tisu. Zborník materiálov z vedeckého sympózia Častá-Papiernička, 5.–7 mája 1992 [Versuch eines politischen Profils von Jozef Tiso. Eine Materialsammlung vom wissenschaftlichen Symposion in Častá-Papiernička, 5.–7. Mai 1992], Bratislava 1992. 14 Vgl. Kamenec, Tragédia, S. 116–129. 15 Ward, Tiso, S. 277. Am Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften entstand in den folgenden Jahren eine dreibändige Edition von Tisos Reden und Schriften. Vgl. Miroslav Fabrícius, Ladislav Suško (Hrsg.), Jozef Tiso. Prejavy a články. Zv. 1 (1913–1938) [Jozef Tiso. Reden und Aufsätze, Bd. 1 (1913–1938)], Bratislava 2002; Miroslav Fabrícius, Katarína Hradská (Hrsg.), Jozef Tiso. Prejavy a články. Zv. 2 (1938–1944) [Jozef Tiso. Reden und Aufsätze, Bd. 2 (1938–1944)], Bratislava 2007; Miroslav Fabrícius, Ladislav Suško (Hrsg.), Jozef Tiso. Prejavy a články. Zv. 3 (1944–1947) [Jozef Tiso. Reden und Aufsätze, Bd. 3 (1944–1947)], Bratislava 2010. 16 Vgl. Ladislav Deák, Political Profile of János Esterházy, Bratislava 1995. cie« [Die Persönlichkeit János Esterházys und ihre kontroversen Interpretationen], in: ders., Hľadanie a blúdenie v dejinách [Suchen und Irren in der Geschichte], Bratislava 2000, S. 356–362. 18 Vgl. Imre Molnár, The Life and Martyrdom of János Esterházy, Somorja 2011, S. 239. 19 ADL Honors Hungarian Aristocrat Who Helped Polish And Slovak Jews Flee To Hungary During The Holocaust, [http://www.adl.org/press-center/press-releases/ holocaust-nazis/adl-honors-hungarian.html#.UoYS-RCzJ8E]. 20 Vyhlásenie Historického ústavu SAV k osobe Jánosa Esterházyho [Die Stellungnahme des Historischen Instituts SAV zur Persönlichkeit János Esterházys], [www.history.sav.sk/esterhazy.htm]. 18 Einsicht 17 Vgl. Ivan Kamenec, »Osobnosť Jánosa Esterházyho a jej kontroverzné interpretá- Der slowakische Staatspräsident Dr. Jozef Tiso mit Adolf Hitler im sogenannten Führerhauptquartier »Wolfsschanze« bei Rastenburg in Ostpreußen. Hinter den beiden von links der militärische Chefadjudant Hitlers, Oberst Rudolf Schmundt, und der persönliche Chefadjudant SS-Gruppenführer Julius Schaub. 22. Oktober 1941. Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo die Auszeichnung ›Gerechter unter den Völkern‹.«21 Diese um zwei herausragende Politiker des Slowakischen Staates 1939–1945 geführten politischen und akademischen Kontroversen können nicht zuletzt als Ausdruck von Verdrängungsmechanismen gedeutet werden, die um der Geschichtspolitik willen die Rollen der übrigen Akteure – ob Täter, Opfer oder Zuschauer – ausblenden. Erst seit wenigen Jahren zeichnet sich in der slowakischen Historiografie ein langsamer Wandel ab. Ereignisse, Institutionen und Akteure: Von der »großen« Geschichte zur Regional- und Gesellschaftsgeschichte Tomáš Sniegoň charakterisierte das historische Bewusstsein in der kommunistischen Tschechoslowakei als »almost ›Holocaustless‹«.22 21 Stanovisko k osobe Jánosa Esterházyho [Die Stellungnahme zur Persönlichkeit János Esterházys], [http://www.uzzno.sk/en/stanovisko-k-osobe-janosaesterhazyho]. 22 Sniegon, »Genocide«, S. 181. Obwohl die offizielle Historiografie des kommu- Einsicht 11 Frühjahr 2014 Diese etwas saloppe Charakterisierung trifft insofern zu, als die Geschichte der jüdischen Bevölkerung, und erst recht ihr tragisches Ende, bis weit in die 1960er Jahre kein Gegenstand der historischen Forschung werden konnte. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust wurde erst durch das politische »Tauwetter« der 1960er Jahre begünstigt, in dessen Folge vor allem Ivan Kamenec’ Studien zur Geschichte der jüdischen Arbeitslager im autoritären Slowakischen Staat 1939–1945, zur »Judenfrage« in der autonomen Slowakei 1938/39, zur Rolle des slowakischen Landtags bei deren »Lösung« sowie – wenngleich schon im Einklang mit der offiziellen Ideologie – zur »Arisierung« des jüdischen Eigentums und zur antisemitischen Politik des slowakischen Establishments veröffentlicht werden nistischen Regimes den Holocaust in der Slowakei nicht thematisierte, legte sie eine eigene Interpretation vor. In den programmatischen »Thesen zur slowakischen Geschichte« heißt es etwa, dass die »Lösung der sog. Judenfrage […] die Faschisten insbesondere wirtschaftlich stärken sollte«. Dejiny Slovenska (Tézy). Príloha Historického časopisu, III (1955) [Geschichte der Slowakei (Thesen). Beilage der Historischen Zeitschrift, III (1955)], Bratislava 1955, S. 266. Diese Deutungslinie dominierte bis zum Ende des kommunistischen Regimes. Vgl. Jozef Klimko, Tretia ríša a ľudácky režim [Das Dritte Reich und das Regime der Volkspartei], Bratislava 1986, S. 166. 19 konnten.23 Kamenec’ 1971 entstandene Dissertation, in der er sich aus makrohistorischer Perspektive mit dem Prozess der Entrechtung, Beraubung und schließlich der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus der Slowakei beschäftigte, durfte hingegen erst 1991 erscheinen.24 Diese Gesamtdarstellung des Holocaust in der Slowakei setzte in den folgenden Jahren wesentliche Akzente für die slowakische Forschung. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass Kamenec in seiner erst nach zwanzig Jahren veröffentlichten Studie die neuere internationale Holocaustforschung nicht berücksichtigte, was sich sowohl in seiner Interpretation als auch in seiner Sprache deutlich zeigte. In seiner Untersuchung des »Destruktionsprozesses« der slowakischen Judenheit konzentrierte er sich auf dessen »höhere, das heißt auf die Regierungs-, politische und institutionelle Ebene«.25 Die slowakisch-kanadische Historikerin Nina Paulovičová ordnet Kamenec daher den »moderate intentionalists« zu, weil er bei den slowakischen Akteuren zwar den Willen zur »Lösung der Judenfrage« feststellte, diesen jedoch auf das Zusammenspiel von außenpolitischen Faktoren (Druck seitens NS-Deutschlands) und innenpolitischen Faktoren (Machtkampf zwischen Konservativen und Radikalen) zurückführte. Paulovičová zufolge hob Kamenec bei der Rekonstruktion der antijüdischen Gesetzgebung in der Slowakei, einen seiner wichtigsten Untersuchungsschwerpunkte, das ökonomische Motiv bei deren Umsetzung besonders hervor: die »Arisierung«. Er setzte hierbei die Bedeutung (und die Kontinuität) der antisemitischen Ideologie herab. Wie generell in seiner Untersuchung konzentriert sich Kamenec hier vor allem auf die Entscheidungsträger im Zentrum der politischen Macht.26 Die Tendenz, den Holocaust in der Slowakei aus der Perspektive der Entscheidungsträger und zentraler Institutionen zu erklären, wurde durch die slowakische Übersetzung der ursprünglich auf Deutsch erschienenen Arbeit Die Juden im Slowakischen Staat 1939–1945 des slowakischen Exilhistorikers Ladislav Lipscher zusätzlich verstärkt.27 Diese Tendenz schlug sich auch nieder in der Konzeption wichtiger Quelleneditionen zu den Reaktionen des Vatikans auf die Judenverfolgung in der Slowakei,28 zu den zentralen, an der »Lösung der Judenfrage« beteiligten slowakischen und deutschen Akteuren und Institutionen,29 zu den Deportationen von 194230 oder zur Rolle der Opfer.31 In diesen Zusammenhang gehört auch die »Täterforschung«, etwa die politische Biografie des deutschen »Beraters für jüdische Angelegenheiten« in der Slowakei, Dieter Wislicény,32 oder jüngst diejenige des Chefs der für die »Arisierung« zuständigen »Zentralen Wirtschaftsbehörde«, Augustín Morávek.33 Dennoch sind seit den 1990er Jahren auch Bestrebungen zu verzeichnen, über den Deutungsrahmen von Kamenec und Lipscher hinauszugehen. Einen ersten Antrieb erhielten sie durch die Forschungen Eduard Nižňanskýs über die Zeit der slowakischen Autonomie, der beispielsweise die Vertreibung von »staatenlosen« und »fremden Juden« vom Anfang November 193834 oder die antijüdische Gewalt nicht nur aus der zentralen Perspektive herausarbeitete, sondern bis in einzelne slowakische Regionen verfolgte.35 Die wachsende Bedeutung der Regionalgeschichte machte sich seit den 1990er Jahren in einer Vielzahl von historischen Arbeiten 28 29 30 23 Vgl. Ivanka Mikuličová, »Príloha – výberová bibliografia prác Ph. Dr. Ivana 24 25 26 27 20 Kamenca, CSc.« [Anhang – eine Auswahlbibliogafie der Arbeiten von Ph. Dr. Ivan Kamenec, CSc.], in: Edita Ivaničková (Hrsg.), Z dejín demokratických a totalitných režimov na Slovensku a v Československu v 20. Storočí. Historik Ivan Kamenec 70-ročný [Aus der Geschichte demokratischer und totalitärer Regimes in der Slowakei und Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert. Dem Historiker Ivan Kamenec zum 70. Geburtstag], Bratislava 2008, S. 393–400. Ivan Kamenec, Po stopách tragédie [Auf den Spuren der Tragödie], Bratislava 1991 (englische Ausgabe: On the Trail of Tragedy. The Holocaust in Slovakia, Bratislava 2007). Nina Paulovičová, »Pokus o komparáciu monografie Ivana Kamenca Po stopách tragédie s niektorými významnými dielami o holokauste v zahraničí« [Versuch über einen Vergleich der Monografie von Ivan Kamenec Auf den Spuren der Tragödie mit einigen wichtigen Werken über den Holocaust im Ausland], in: Ivaničková, Kamenec, S. 18–29, hier S. 21. Vgl. ebd. Ladislav Lipscher, Židia v Slovenskom štáte 1939–1945, Banská Bystrica 1992 31 32 33 34 35 (deutsche Originalausgabe: Die Juden im Slowakischen Staat 1939–1945, München 1980). Vgl. Ivan Kamenec, Vilém Prečan, Stanislav Škorvánek (Hrsg.), Vatikán a Slovenská republika. Dokumenty [Der Vatikan und die Slowakische Republik. Dokumente], Bratislava 1992. Vgl. Eduard Nižňanský (Hrsg.), Holokaust na Slovensku 1. Obdobie autonómie (6.10.1938–14.3.1939) [Der Holocaust in der Slowakei 1. Die Zeit der Autonomie (6.10.1938–14.3.1939)], Zvolen 2001; ders., Ivan Kamenec (Hrsg.), Holokaust na Slovensku 2. Prezident, vláda, Snem SR a Štátna rada o židovskej otázke (1939–1945) [Der Holocaust in der Slowakei 2. Präsident, Regierung, Landtag und Staatsrat über die Judenfrage (1939–1945)], Zvolen 2003; Eduard Nižňanský (Hrsg.), Holokaust na Slovensku 4. Dokumenty nemeckej proveniencie (1939– 1945) [Der Holocaust in der Slowakei 4. Dokumente deutscher Provenienz (1939–1945)], Zvolen 2003. Vgl. Eduard Nižňanský, Holokaust na Slovensku 6. Deportácie v roku 1942 [Der Holocaust in der Slowakei 6. Die Deportationen im Jahr 1942], Zvolen 2005. Katarína Hradská (Hrsg.), Holokaust na Slovensku 3. Listy Gisely Fleischmannovej (1942–1944) [Der Holocaust in der Slowakei 3. Briefe Gisela Fleischmanns (1942– 1944)], Zvolen 2003; dies., Holokaust na Slovensku 8. Ústredňa Židov (1940–1944) [Der Holocaust in der Slowakei 8. Die Judenzentrale (1940–1944)], Zvolen 2008. Katarína Hradská, Prípad Wislicény. Nacistickí poradcovia a židovská otázka na Slovensku [Der Fall Wislicény. Die nazistischen Berater und die Judenfrage in der Slowakei], Bratislava 1999. Stanislav Mičev, Augustín Morávek. Od arizácií k deportáciám [Augustín Morávek. Von Arisierungen zu Deportationen], Banská Bystrica 2010. Eduard Nižňanský, Veronika Slneková, »Deportácie Židov za autonómie Slovenska 4.–5.11.1938« [Deportationen der Juden zur Zeit der Autonomie der Slowakei], in: Studia historica Nitriensia, (1996), S. 66–163. Eduard Nižňanský, Židovská komunita na Slovensku medzi československou parlamentnou demokraciou a slovenským štátom v stredoeurópskom kontexte [Die Judengemeinschaft in der Slowakei zwischen der tschechoslowakischen parlamentarischen Demokratie und dem Slowakischen Staat im mitteleuropäischen Kontext], Prešov 1999, S. 64–76, S. 119–135. Einsicht Bratislava/Pressburg, o. D., Juden warten unter der Aufsicht von slowakischen Milizionären auf ihre Deportation. Foto: Yad Vashem Photo Archive bemerkbar.36 Obwohl auch hier der Nachdruck auf den Prozessen der Entrechtung und »Arisierung« liegt, werden in einigen Arbeiten auch die Handlungs- und Verhaltensweisen lokaler Akteure in den Blick genommen.37 So fügte beispielsweise der Historiker Ján Hlavinka in seiner Analyse des »Arisierungsprozesses« in der Ostslowakei der regionalen auch eine ethnische Dimension hinzu, indem er die Auseinandersetzungen zwischen slowakischen und ruthenischen bzw. deutschen Akteuren untersuchte.38 36 Vgl. Eduard Nižňanský, »Reflections of the Holocaust in Slovak Historigraphy«, in: Monika Vrzgulová, Daniela Richterová (Hrsg.), Holokaust ako historický a morálny problém v minulosti a súčasnosti/Holocaust as a Historical and Moral Problem of the Past and Present. Zborník príspevkov z vedeckej konferencie, Bratislava 2008, S. 386–409. 37 Vgl. Veronika Slneková, K osudom židovskej komunity v Trnave v rokoch 1938– 1945 [Zum Schicksal der jüdischen Gemeinschaft in Tyrnau in den Jahren 1938– 1945], Nitra 2010; Lokalen Akteuren im Prozess der »Arisierung« widmet sich auch der Historiker Peter Sokolovič in seiner Monografie über die Geschichte der »Hlinka-Garde«, die die antijüdischen Maßnahmen des slowakischen Regimes ausführte und überwachte. Befremdlich ist hingegen Sokolovič' Bestreben, gleichsam »positive Seiten« dieser Verbrecherorganisation herauszuarbeiten. Vgl. Peter Sokolovič, Hlinkova garda 1938–1945 [Hlinka-Garde 1938–1945], Bratislava 2009. 38 Ján Hlavinka, Židovská komunita v okrese Medzilaborce v rokoch 1938–1945 Einsicht 11 Frühjahr 2014 Den nächsten Schritt in Richtung Sozialgeschichte unternahm ebenfalls zunächst Eduard Nižňanský, der im siebten Band der Quellenedition Der Holocaust in der Slowakei die Beziehungen zwischen der Mehrheitsbevölkerung und der jüdischen Minderheit thematisierte und versuchte, eine entsprechende Typologie aufzustellen.39 Diese Tendenz in der Forschung zum Holocaust in der Slowakei wurde von der in Prag wirkenden slowakischen Historikerin Hana Kubátová weiterentwickelt, die vor kurzem eine Monografie über die »Stimmungen und Haltungen in der slowakischen Gesellschaft in Bezug auf die Judenfrage« vorlegte.40 Auch Kubátová, obwohl sie sich methodologisch auf die maßgebliche internationale Literatur zu NS-Deutschland stützt, rückt das »wirtschaftliche Interesse« der [Die jüdische Gemeinschaft im Kreis Medzilaborce in den Jahren 1938–1945], Bratislava 2007, S. 78–98 bzw. S. 98–107. 39 Eduard Nižňanský, Holokaust na Slovensku 7. Vzťah slovenskej majority a židovskej minority (náčrt problému) [Der Holocaust in der Slowakei 7. Das Verhältnis der slowakischen Majorität und der jüdischen Minorität (eine Problemskizze)], Bratislava 2005, insb. S. 14–28. 40 Hana Kubátová, Nepokradeš! Nálady a postoje slovenské společnosti k židovské otázce, 1938–1945 [Du sollst nicht stehlen! Stimmungen und Haltungen der slowakischen Gesellschaft zur Judenfrage, 1938–1945], Praha 2013. 21 slowakischen Bevölkerung an der »Judenfrage« zur Zeit der »Arisierung« in den Vordergrund ihrer Analyse. Beide Tendenzen der neueren slowakischen Holocaustforschung – die Zuwendung zur Regional- und Gesellschaftsgeschichte – sind grundsätzlich zu begrüßen. Gleichwohl ergeben sich auch hier Forschungsfelder, die in Zukunft mehr Aufmerksamkeit verdienen würden. So wurde eine wichtige Region bisher nahezu völlig ausgeklammert: die vorwiegend von der ungarischen Minderheit bewohnte Südslowakei, die im November 1938 von Ungarn annektiert wurde und deren jüdische Bevölkerung somit Opfer der »Lösung der Judenfrage« in einem anderen »nationalen Rahmen« wurde. Die ersten beiden Versuche, diese Forschungslücke zu schließen,41 blieben ohne Nachfolger.42 Bei den sozialgeschichtlichen Ansätzen sollten die internationale Forschungslandschaft und die Interdisziplinarität noch stärker berücksichtigt werden. Desiderata Trotz der Anstrengungen der slowakischen Historiografie in der Holocaustforschung nach 1989 und insbesondere der verdienstvollen regionalgeschichtlichen Arbeiten zur Verfolgung und Vernichtung der Juden in der Slowakei bleiben bis heute wesentliche Mängel und Desiderata bestehen. Hierfür ist bezeichnend, dass es seit Kamenec’ Monografie von 1991 keinen weiteren Versuch einer Gesamtdarstellung des Holocaust in der Slowakei – nicht zuletzt auch auf der Grundlage der internationalen Forschung – gegeben hat.43 Mindestens drei Problemkreise sollten zukünftig stärkere Berücksichtigung finden. Zunächst ist hier die mangelnde theoretisch-methodische Reflexion der slowakischen Holocaustforschung zu nennen, für die – im 41 Anna Jurová, Pavol Šalamon (Hrsg.), Košice a deportácie Židov v roku 1944 Unterschied etwa zur Nationalismusforschung44 – immer noch die Feststellung des amerikanischen Historikers James M. Ward gilt, dem zufolge die slowakische Historiografie nach 1989 »tended to be neoempiricist, favoring facts over interpretation, a typical post-Communist approach«.45 Dies ändert sich nur allmählich, wobei wesentliche Impulse nicht seitens der Geschichtswissenschaft, sondern vor allem von Vertretern der Sozialwissenschaften kommen.46 Für die Historiografie des Holocaust in der Slowakei ist nach wie vor eine starke Orientierung an Institutionen und Akteuren bezeichnend.47 Diese erforderte allerdings eine vergleichende Perspektive mit der antijüdischen Politik anderer verbündeter Staaten, und zwar nicht nur in Bezug auf von unterschiedlichen Nationalismen beanspruchte Regionen wie Siebenbürgen oder die Südslowakei.48 Zudem sollte die Alltags- und Mikrogeschichte stärker berücksichtigt werden.49 Unter diesem Gesichtspunkt wären insbesondere die Reaktionen der Juden auf die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung zu untersuchen. Neben der mangelnden methodisch-theoretischen Reflexion vernachlässigt die slowakische Holocaustforschung vor allem die Vorgeschichte, die unter anderem zu einer stärkeren Klärung der eng miteinander verflochtenen Phänomene von Ideologie und Propaganda beitragen könnte. Es mangelt nach wie vor an Analysen der antisemitischen Semantik vor und nach 1938: Die meisten slowakischen Historiker sprechen in diesem Zusammenhang von einem »autochthonen Antisemitismus« in der Slowakei, den sie schematisch in einen »religiösen«, »sozioökonomischen«, »nationalen« und »Rassenantisemitismus« gliedern.50 Diese einzelnen »Antisemitismen« werden als Grundlage für die antisemitische Propaganda des Slowakischen Staates 1939–1945 angesehen, deren Analyse jedoch immer noch aussteht.51 Die weitgehend undifferenzierte Auffassung der Rolle der antisemitischen Semantik und Propaganda für die Holocaustforschung spiegelt die Konzeptionslosigkeit wider, die für die Erforschung der Vorgeschichte des Holocaust in der Slowakei bezeichnend ist. Diese wird meistens durch literaturhistorische Analysen der »Judenbilder« in der slowakischen Literatur des 19. Jahrhunderts ersetzt,52 während die Geschichte des politischen Antisemitismus auf dem Gebiet der heutigen Slowakei und die Zusammenhänge zwischen dem slowakischen Nationalismus und modernen Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert nur zögernd berücksichtigt werden.53 Besser zu erforschen wäre schließlich die Nachgeschichte und der Stellenwert des Holocaust in der slowakischen Erinnerungskultur. Es gibt immer noch sehr wenige Arbeiten, die die Rückkehr der Überlebenden und ihre Situation in der Nachkriegsslowakei thematisieren, wobei auch hier der Nachdruck auf der Perspektive »von oben« liegt.54 Es fehlen ebenso umfassende Deutungen des Antisemitismus in der Nachkriegsslowakei, wenngleich Studien zu einzelnen Pogromen oder zum »offiziellen« Antisemitismus bereits vorliegen.55 Diese Feststellung gilt noch mehr für die raren 45 46 [Kaschau und die Deportationen der Juden im Jahr 1944], Košice 1994; Tomáš Lang, Sándor Strba, Holokaust na južnom Slovensku na pozadí histórie novozámockých židov [Der Holocaust in der Südslowakei vor dem Hintergrund der Geschichte der Juden von Nové Zámky], Bratislava 2006. 42 Die Notwendigkeit, sich mit dem Holocaust in der Südslowakei weiter und intensiver als bisher zu beschäftigen, zeigte sich nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Verhaftung und den Bestrebungen um die Wiederaufnahme des Prozesses gegen den Befehlshaber des Ghettos von Košice (Kassa/Kaschau), László Csatáry. Vgl. Mikuláš Jesenský, »Na juhu Slovenska máme zabudnutý holokaust« [Im Süden der Slowakei haben wir einen vergessenen Holocaust], in: Sme, 4.3.2013, [www.sme.sk/c/6722500/na-juhu-slovenska-mame-zabudnutyholokaust.html]. 43 Als solche Versuche können nur bedingt zwei synthetisierende Werke zur Geschichte der Juden in der Slowakei gelten: Ješajahu Andrej Jelínek, Dávidova hviezda pod Tatrami. Židia na Slovensku v 20. storočí [Davids Stern unterhalb der Tatra. Die Juden in der Slowakei im 20. Jahrhundert], Praha 2009; Ján Mlynárik, Dějiny Židů na Slovensku [Die Geschichte der Juden in der Slowakei], Praha 2005. 50 22 Einsicht 47 48 49 S. 420–432; Ivica Bumová, »Protižidovské výtržnosti v Bratislave v historickom kontexte (august 1946)« [Die antijüdischen Ausschreitungen in Bratislava im historischen Kontext (August 1946)], in: Pamäť národa [Gedächtnis der Nation], Jg. 4 (2007), H. 3, S. 14–29; Ivan Kamenec, »Protižidovský pogrom v Topoľčanoch v septembri 1945« [Der antijüdische Pogrom in Topoľčany vom September 1945], in: Studia historica Nitriensia, 8 (2000), S. 85–99. 56 Vgl. Ivan Kamenec, »Phenomenon of the Holocaust in Historiography, Art and in the Consciousness of Slovak Society«, in: Vrzgulová, Richterová, Holokaust, S. 331–339. 57 Saul Friedländer, »Deutungen und Erklärungen: Tendenzen der Holocaust-Historiografie«, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook, 12 (2013), S. 67–79, hier S. 78. 51 Ebd., S. 12 f. Vgl. auch Michala Lônčíková, »Nepriateľ podľa ľudáckej 52 44 Vgl. z. B. Andrej Findor, Začiatky národných dejín [Die Anfänge der Nationalge- schichte], Bratislava 2011; László Vörös, Analytická historiografia versus národné dejiny. »Národ« ako sociálna reprezentácia [Analytische Historiografie versus Nationalgeschichte. Die »Nation« als soziale Repräsentation], Pisa 2010. Ward, Tiso, S. 275. Vgl. z. B. Monika Vrzgulová, Peter Salner (Hrsg.), Reflexie holokaustu [Reflexionen des Holocaust], Bratislava 2010. Dies trifft übrigens auch nach wie vor auf die internationale Forschung zum Holocaust in der Slowakei zu. Vgl. aktuell die umfassende und gründlich gearbeitete Monografie von Lenka Šindelářová, Finale der Vernichtung. Die Einsatzgruppe H in der Slowakei, Darmstadt 2013. Vgl. Holly Case, »The Holocaust in Regional Perspective: Antisemitism and the Holocaust in Hungary, Romania and Slovakia«, in: Murray Baumgarten, Peter Kenez, Bruce Thompson (Hrsg.), Varieties of Antisemitism: History, Ideology, Discourse, Newark 2009, S. 75–92; Tatjana Tönsmeyer, »Der Raub des jüdischen Eigentums in Ungarn, Rumänien und der Slowakei«, in: Constantin Goschler, Philipp Ther (Hrsg.), Raub und Restitution. »Arisierung« und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa, Frankfurt am Main 2003, S. 73–91. Vgl. Tatjana Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn 2003; Hana Klamková [Kubátová], »Holocaust as Microhistory. The Case of Topoľčany and Vranov nad Topľou«, in: Vrzgulová, Richterová, Holokaust, S. 351–356. Vgl. Kamenec, Tragedy, S. 89; Nižňanský, Holokaust, S. 8–10 Studien zum Holocaust in der slowakischen Erinnerungskultur.56 Nur nach der Untersuchung all dieser weißen Stellen könnte auch für den slowakischen Fall eine »integrierte« Geschichte des Holocaust geschrieben werden, in der, mit den Worten Saul Friedländers, »die Ereignisgeschichte in einem einzigen Narrativ die Täter, die Zuschauer und die Opfer zusammenführt, da diese verschiedenen Facetten stets miteinander in Wechselwirkung standen«.57 53 54 55 propagandy. Antisemitizmus na stránkach tlače od autonómie do vypuknutia vojny proti Poľsku« [Der Feind nach der Propaganda der Volkspartei. Der Antisemitismus in der Presse von der Autonomie bis zum Ausbruch des Krieges gegen Polen], in: História, Jg. 11 (2011), H. 3–4, S. 38–43. Vgl. Hana Klamková [Kubátová], »The Universality of Anti-Semitism and the Uniquennes of the Holocaust: Slovakia as a Case Study«, in: Historický časopis. Historical Journal of the Institute of History of the SAS, 58 (2010), Supplement, S. 83–108, hier S. 95– 98; Henrich Jakubík, »Reflections of Jewry in Slovak Literature in the 19th Century and the Beginning of the 20th Century«, in: Vrzgulová, Richterová, Holokaust, S. 315–323. Vgl. Miloslav Szabó, »Obvinenia z ›rituálnych vrážd‹ v Hornom Uhorsku. Antisemitská propaganda, politický katolicizmus a národnostná otázka na prelome 19. a 20. storočia« [»Ritualmord«-Beschuldigungen in Oberungarn. Antisemitische Propaganda, politischer Katholizismus und Nationalitätenfrage um 1900], in: Historický časopis [Historische Zeitschrift], 60 (2012), S. 617–640; Petra Rybářová, Antisemitizmus v Uhorsku v 80. rokoch 19. storočia [Der Antisemitismus in Ungarn in den 1880er Jahren], Bratislava 2010. Vgl. auch Miloslav Szabó, Od slov k činom. Slovenské národné hnutie a antisemitizmus 1875–1922, Bratislava 2014 (deutsche Fassung: »Von Worten zu Taten«. Die slowakische Nationalbewegung und der Antisemitismus 1875–1922, Berlin 2014, im Druck). Vgl. Ivica Bumová, »The Jewish Community after 1945 – Struggle for Civic and Social Rehabilitation«, in: Vrzgulová, Richterová, Holokaust, S. 253–278; zur Perspektive »von unten« vgl. Peter Salner, »›Viditeľní‹ a neviditeľní židia v slovenskej spoločnosti po roku 1945« [›Sichtbare‹ und unsichtbare Juden in der slowakischen Gesellschaft nach 1945], in: Acta Judaica Slovaca, 4 (1998), S. 121–133. Ivica Bumová, »Official Anti-Semitism in Slovakia after the Second World War (1945–1951)«, in: Věra Tydlitátová, Alena Hanzová (Hrsg.), Anatomy of Hatred: Essays on Anti-Semitism, Plzeň 2009, S. 38–46; Jana Šišjaková, »Some Problematic Issues of Anti-Semitism in Slovakia durig the Years 1945–1948«, in: Vrzgulová, Richterová, Holokaust, S. 410–419; Michal Šmigeľ, »Murders of Jews in Northeastern Slovakia in 1945 – the Kolbasov Tragedy«, in: ebd., Einsicht 11 Frühjahr 2014 Christ lich-j üdischer Dialog Medien - Mat erialien - Informat ionen ImDialog. Evangelischer Arbeit skreis für das christ lich-j üdische Gespräch in Hessen und Nassau www.ImDialog.org Vor 75 Jahren: Die Nacht, in der die Synagogen brannten. Die Pogromnacht vom 9. November 1938. Eine Information in leichter Sprache für Menschen von 9 bis 99. Als Powerpoint- Präsent at ion für 9 Euro in unserem Online- Shop w w w .im dia log- sh op.or g ImDialog • Robert-Schneider-Str. 13a • 64289 Darmstadt Tel. 06151- 423900 • Fax 06151 - 424111 Email info@imdialog.org • Internet www.imdialog.org 23 Zwischen Dokumentieren und Erforschen Die Historiografie des Holocaust in Ungarn von Regina Fritz Regina Fritz, Dr. phil., ist wissenschaftliche Bearbeiterin des Bandes »Ungarn« im Editionsprojekt »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945« (Institut für Zeitgeschichte MünchenBerlin) und externe Lektorin an der Universität Wien. Veröffentlichungen (Auswahl): Nach Krieg und Judenmord. Geschichtspolitik in Ungarn seit 1944, Göttingen 2012; Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien u. a. 2011 (hrsg. zusammen mit Heinz Berger, Melanie Dejnega und Alexander Prenninger); Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008 (hrsg. zusammen mit Carola Sachse und Edgar Wolfrum). Am 30. Juni 2012 veröffentlichte der ungarische Historiker András Gerő unter dem Titel »Akademischer Antisemitismus« einen Artikel, in dem er behauptete, dass die ungarische Geschichtswissenschaft von Traditionen des intellektuellen Antisemitismus gekennzeichnet sei, und kritisierte dabei vor allem die Arbeiten des namhaften Professors Ignác Romsics.1 Die in den Zeitschriften und Zeitungen wie Élet és irodalom (Leben und Literatur), galamuscsoport.hu, Rubicon, Népszabadság (Volksfreiheit) oder Magyar Nemzet (Ungarische Nation) anschließend publizierten Reaktionen diskutierten nicht nur den gegenüber Romsics geäußerten Antisemitismusvorwurf, sondern setzten sich auch mit wichtigen Aspekten der ungarischen Kollaboration bei der Verfolgung und Ermordung der ungarischen Juden auseinander und fragten nach Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten der antijüdischen Politik der Jahre 1920 bis 1945. Obwohl ein Teil der Historikerzunft die Flut von Diskussionsbeiträgen als den lang ersehnten »Ungarischen Historikerstreit« begrüßte, ebbten die teilweise leidenschaftlich geführten Debatten bis Anfang des Jahres 2013 ab, ohne eine Neubewertung der Horthy-Ära in der Gesellschaft anzuregen. Tatsächlich zeigt nicht zuletzt die seit der Jahrtausendwende zu beobachtende Zunahme von Denkmälern zu Ehren des ehemaligen Reichsverwesers Miklós Horthy, dass über die Bewertung des Horthy-Regimes nach wie vor kein Konsens herrscht. Dies, obwohl in den letzten Jahrzehnten wichtige Werke erschienen, die die antijüdische Politik des autoritär-konservativen Regimes kritisch beleuchteten, und obwohl die historiographische Aufarbeitung des Holocaust aufgrund der Vielzahl an Publikationen bis in die 1970/80er Jahre als einzigartig in Osteuropa galt.2 1 2 24 Gerő András, »Akadémikus antiszemitizmus« (Akademischer Antisemitismus), www.galamuscsoport.hu/tartalom/cikk/147459 [10.2.2014]. Vgl. Thomas C. Fox, »The Holocaust under Communism«, in: Dan Diner Einsicht Dabei wurde die Historiografie des Holocaust seit ihrer Etablierung vor allem durch die Widersprüchlichkeit der antijüdischen Politik der Jahre 1920 bis 1945 herausgefordert: Einerseits richtete sich das Horthy-Regime bereits seit seiner Etablierung im Jahr 1920 mit zahlreichen, teilweise sehr radikalen Maßnahmen gegen die ungarischen Juden, deren Zahl durch verschiedene Gebietserweiterungen bis 1941 auf 725.000 wuchs. Es führte mehrere antijüdische Gesetze ein, ließ Tausende (vor allem) staatenlose Juden deportieren3 und war selbst an Massakern gegen die jüdische Bevölkerung beteiligt.4 Auf der anderen Seite widersetzte sich die ungarische Regierung bis zur Besetzung des Landes durch deutsche Truppen am 19. März 1944 den Forderungen Berlins nach der Deportation der ungarischen Juden. Als »Stolpersteine« für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust erwies sich, dass die nach dem deutschen Einmarsch einsetzenden Deportationen nur durch die Kollaboration ungarischer Behörden in dieser Schnelligkeit und in diesem Ausmaß möglich waren: Innerhalb von acht Wochen wurden über 437.000 Personen jüdischer Herkunft in erster Linie nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Eine Herausforderung erfuhr die Auseinandersetzung mit der Frage der ungarischen Mitverantwortung an der Ermordung der ungarischen Juden auch durch den Stopp der Deportationen durch Horthy in Juli 1944 und seinen Versuch, aus dem Krieg auszutreten. Im Oktober 1944 übernahm schließlich der Führer der ungarischen faschistischen Pfeilkreuzler, Ferenc Szálasi, die Macht, und dessen Regierung nahm die Deportationen wieder auf. Die Gesamtzahl der jüdischen Opfer aus ungarisch kontrollierten Gebieten wird heute insgesamt auf über eine halbe Million geschätzt. I. Lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Phase des »Schweigens« und »Vergessens« einsetzte, insbesondere hinsichtlich der im Rahmen des Holocaust begangenen Taten. Erst in den letzten Jahren machten Historiker zunehmend auf die umfangreichen Bestrebungen jüdischer und nichtjüdischer Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg aufmerksam, die Verbrechen an den europäischen Juden zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Entsprechend bezeichneten die amerikanische Historikerin Hasia R. Diner5 und der britische Historiker David Cesarani6 die Annahme, nach dem Krieg hätte unter den jüdischen Überlebenden über die Verfolgungserfahrung Schweigen geherrscht, kürzlich als Mythos. Auch in Ungarn erschienen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Erinnerungsberichte jüdischer Überlebender, und jüdische Organisationen begannen seit dem Frühjahr 1945 Protokolle mit überlebenden Juden aufzunehmen. Bis April 1946 protokollierte das Landesfürsorgekomitee der Deportierten (Deportáltakat Gondozó Országos Bizottság, DEGOB) die persönliche Geschichte von etwa 5.000 Überlebenden. Doch nicht nur auf jüdischer Seite war man an einer Dokumentation der begangenen Verbrechen interessiert. Mit der bereits wenige Tage vor der Befreiung der Stadt Budapest im Februar 1945 eingerichteten »Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen« (Náci és nyilas rémtettek kivizsgálására alakult bizottság) gehörte Ungarn zu den wenigen Staaten, die die Dokumentation von Kriegsverbrechen und das Sammeln historischer Materialien selbst in Auftrag gaben. Anlass für die Entscheidung, eine Untersuchungskommission einzurichten, war zunächst die Notwendigkeit, die Leichen aus den Budapester Ghettos bzw. der Opfer der Massaker in den jüdischen Krankenhäusern außerhalb der Ghettomauern zu exhumieren. Bald weitete die Kommission ihre Tätigkeit auf die Durchführung von Erhebungen und Zeugenvernehmungen an den Orten, wo Deportationen, Morde und Massaker stattgefunden hatten, aus. So bat sie die ungarische Bevölkerung in mehreren Aufrufen, beobachtete Verbrechen anzuzeigen, und sammelte noch im Jahr 1945 in Budapest 12.000 Erhebungsblätter. Neben den Dokumentationsbemühungen setzte auch bald die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema ein. Zunächst wurden vor allem in Verbindung mit der friedensvorbereitenden Tätigkeit der ungarischen Regierung Untersuchungen vorgenommen, die die Ermordung der ungarischen Juden zu beschreiben suchten. In diesem Zusammenhang publizierte der Journalist Jenő Lévai bereits 1946 drei Bücher, in denen er den Holocaust an den ungarischen Juden aufzuarbeiten suchte.7 Lévai bemühte sich, die Schuld der deutschen Besatzungsmacht und der im Oktober 1944 an die Macht gekommenen faschistischen Pfeilkreuzler aufzuzeigen und auf die Verantwortung von deutschen, aber auch ungarischen 5 3 4 (Hrsg.), The Historiography of the Holocaust, New York 2004, S. 420–439, hier S. 432. Zum Forschungsstand vgl. vor allem Randolph L. Braham, A Magyarországi Holokauszt Bibliográfiája (Die Bibliographie des Holocaust in Ungarn), 2 Bde., Budapest 2010. 1941 wurden mehr als 18.000 Juden nach Ostgalizien abgeschoben, in KamenezPodolsk wurde die Mehrzahl von ihnen massakriert. 1942 ermordeten ungarische Einheiten in Novi Sad ungefähr 1.000 Juden. Einsicht 11 Frühjahr 2014 6 7 Hasia R. Diner, We remember with reverence and love: American Jews and the myth of silence after the Holocaust, 1945–1962, New York u. a. 2009. David Cesarani, Eric J. Sundquist, After the Holocaust. Challenging the Myth of Silence, London u. a. 2012. Jenő Lévai, Fekete könyv a magyar zsidóság szenvedéseiről (Schwarzbuch über die Leiden des ungarischen Judentums), Budapest 1946; ders., Szürke könyv magyar zsidók megmentéséről (Graubuch über die Rettung der ungarischen Juden), Budapest 1946; ders., Fehér könyv. Külföldi akciók zsidók mentésére (Weißbuch. Ausländische Aktionen zur Rettung von Juden), Budapest 1946. 25 Politikern und Bürokraten deutscher Herkunft hinzuweisen. Die Erforschung der Abstammung der einzelnen verantwortlichen Personen spielte in seinen Werken genauso eine Rolle wie die Nennung der ursprünglich deutschen Namen ungarischer Akteure. Demnach hatten geschichtswissenschaftliche Arbeiten in diesen Jahren oft eine direkte politische Relevanz und dienten ersten Externalisierungsund Rechtfertigungstendenzen. Doch auch kritische Stimmen wurden laut. So forderte der Historiker, Sozialpsychologe und Politologe István Bibó bereits in den Jahren 1947/48, den Holocaust ins kollektive Bewusstsein der ungarischen Gesellschaft aufzunehmen. Seine Schrift »Zsidókérdés Magyarországon 1944 után« 8 widmete sich vor allem der Untersuchung des Antisemitismus in Ungarn und verwies bereits auf ungarische Verantwortlichkeiten bei der Ermordung der ungarischen Juden: »Die Deportationen wurden von den Deutschen mit Hilfe der den Pfeilkreuzlern unterstellten ungarischen Polizeiorgane, in erster Linie der Gendarmerie, ausgeführt. In der Praxis waren Form und Zeitplan von den Deutschen bestimmt, während die Sammlung und Waggonierung der Juden äußerst gnadenlos von ungarischen Gendarmen durchgeführt wurde. […] Die ungarische Armee und die ungarische Verwaltung führten – lustlos oder gern, menschlich oder gnadenlos – jene zweitrangigen Aufgaben aus, die mit der Deportation einhergingen.«9 Die Passivität der ungarischen Bevölkerung angesichts der Deportationen begründete Bibó mit dem »moralischen Verfall der ungarischen Gesellschaft«, der mit der Einführung der Judengesetze seit 1938 eingeleitet wurde. Der totalitär werdende Kommunismus beendete jedoch schließlich die bemerkenswerte Beschäftigung mit dem Thema. Erst Ende der 1950er Jahre begannen ungarische Wissenschaftler erneut mit der historischen Erforschung des Holocaust in Ungarn. Ilona Benoschofsky und Elek Karsai machten mit der Veröffentlichung von Dokumenten zur Verfolgung der ungarischen Juden den Anfang.10 Parallel dazu nahm Karsai auch einen besonderen Aspekt der Judenverfolgung in Ungarn in den Blick und publizierte eine Quellensammlung über den jüdischen Arbeitsdienst.11 Nach dem Sechstagekrieg 1967 und István Bibó, »Zsidókérdés Magyarországon 1944 után« (Judenfrage in Ungarn nach 1944), in: Válasz, Jg. 8, H. 10–11 (1948), S. 778–877. Die Studie ist auf Deutsch erschienen unter: István Bibó, Zur Judenfrage am Beispiel Ungarns nach 1944, Frankfurt am Main 1990. 9 Bibó, Zur Judenfrage, S. 28. 10 Ilona Benoschofsky, Elek Karsai, Vádirat a nácizmus ellen. Dokumentumok a magyarországi zsidóüldözés történetéhez (Anklageschrift gegen den Nationalsozialismus. Dokumente zur Geschichte der ungarischen Judenverfolgung), 3 Bde., Budapest 1958–1967. 11 Elek Karsai (Hrsg.), »Fegyvertelen álltak az aknamezőkön …« Dokumentumok a munkaszolgálat történetéhez Magyarországon (»Sie standen waffenlos auf den Minenfeldern …« Dokumente zur Geschichte des Arbeitsdienstes in Ungarn), 2 Bde., Budapest 1962. dem darauffolgenden Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel wurde die Veröffentlichung dieser Quellensammlung jedoch eingestellt.12 Eine neue, 1968 von György Ránki herausgegebene Quellenedition konzentrierte sich auf die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Ungarn.13 Der Jom-Kippur-Krieg 1973 und die folgende antizionistische und latent antisemitische Stimmung führten zu einer erneuten Verdrängungsphase. Erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kam es zu einem Durchbruch. Waren die bisherigen Forschungen nur einer kleinen interessierten (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich, fand das Thema der Verfolgung der ungarischen Juden nun durch Romane und Fernsehsendungen Zugang zu einem breiteren Publikum.14 Das Werk von György Száraz, der – eine ähnliche Herangehensweise wie Bibó wählend – den Antisemitismus in Ungarn zu untersuchen begann, löste schließlich zahlreiche Debatten aus.15 Mit seinem Werk Ítél a nép16 zeigte Elek Karsai 1977 auch einen möglichen neuen Weg zur Untersuchung des Holocaust auf: die Erforschung der Volksgerichtsprozesse in Ungarn nach 1945.17 In den anschließenden Jahren wurden grundlegende Quellensammlungen hierzu publiziert.18 Während die Erforschung des Holocaust bis Ende der 1970er Jahre in Ungarn vor allem auf Quelleneditionen beschränkt blieb, auf das Sammeln von Informationen ausgelegt war und das genaue Beschreiben der Vorgänge zum Ziel hatte, begannen ausländische Historiker erste analytische Abhandlungen zur Verfolgung und Ermordung der ungarischen Juden bzw. zum jüdischen Widerstand vorzulegen.19 Die monumentale Monographie von Randolph L. Braham Am 19. März 1944 begannen die Massenverhaftungen der Juden in Ungarn. Unter den neugierigen Blicken der Passanten wurden die jüdischen Familien zu den Sammelstellen transportiert. Von dort wurden sie ab Mitte Mai 1944 nach Auschwitz deportiert. Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo 12 Vgl. László Varga, »A holokauszt és a rendszerváltás Magyarországon« (Der 13 14 8 26 SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer, »Bevollmächtigter des Großdeutschen Reichs in Ungarn«. Foto: Bundesarchiv 15 16 17 18 19 Holocaust und der Systemwechsel in Ungarn), in: Randolph L. Braham (Hrsg.), Tanulmányok a Holokausztról I. (Studien über den Holocaust in Ungarn I.), Budapest 2001, S. 159–199, hier S. 159. György Ránki (Hrsg.), A Wilhelmstrasse és Magyarország. Német diplomáciai iratok Magyarországról 1933–1944 (Die Wilhelmstraße und Ungarn. Deutsche diplomatische Schriften über Ungarn 1933–1944), Budapest 1968. Vgl. z. B. die TV-Sendung von Péter Bokor mit dem Titel »Századunk« (Unser Jahrhundert), in der auch die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Ungarn und die Deportationen der Juden zur Sprache kamen. Auch Mária Embers Werk Hajtűkanyar (Schleuderkurve) und der zunächst wenig beachtete Roman eines Schicksalslosen von Imre Kertész wurden Mitte der 1970er Jahre publiziert. Vgl. Mária Ember, Hajtűkanyar (Schleuderkurve), Budapest 1974; Imre Kertész, Sorstalanság (Roman eines Schicksalslosen), Budapest 1975. György Száraz, Egy előítélet nyomában (Einem Vorurteil auf der Spur), Budapest 1976. Elek Karsai, Ítél a nép (Das Volk urteilt), Budapest 1977. Vgl. Varga, »A holokauszt«, S. 160. U. a. Elek Karsai, László Karsai, A Szálasi-per (Der Szálasi-Prozess), Budapest 1988; Pál Pritz (Hrsg.), Bárdossy László a népbíróság előtt (László Bárdossy vor dem Volksgericht), Budapest 1991; László Karsai, Judit Molnár (Hrsg.), Az Endre-Baky-Jaross per (Der Endre-Baky-Jaross-Prozess), Budapest 1994. Randolph L. Braham, The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, 2 Bde., New York 1981; Asher Cohen, The Halutz resistance in Hungary 1942– 1944, Boulder 1986. Einsicht Einsicht 11 Frühjahr 2014 27 über die Ermordung der ungarischen Juden wurde erst 1988, sieben Jahre nach dem Erscheinen des Buches auf Englisch, im Eigenverlag auf Ungarisch veröffentlicht, nachdem kein staatlicher Verlag bereit gewesen war, das Werk zu publizieren.20 Es gehört bis heute zu den umfangreichsten empirischen Arbeiten zum Thema, und Braham wurde zu einem der Gründer der Holocaustforschung in Ungarn. II. Nach der politischen Wende 1989/90 vereinfachte sich der Zugang zu den Archiven, was die Entstehung von neuen wissenschaftlichen Untersuchungen begünstigte. Dabei beleuchteten die einzelnen Forschungsarbeiten vor allem Aspekte der Handlungsspielräume bzw. der Kollaboration ungarischer staatlicher Stellen kritisch, diskutierten die Rolle des Reichsverwesers, der Gendarmerie und der ungarischen Verwaltung bei der Umsetzung der antijüdischen Maßnahmen in Ungarn und analysierten die historischen Voraussetzungen und Beweggründe für die Verfolgung und Ermordung der ungarischen Juden. Mit großer Verzögerung fanden dabei auch international etablierte bzw. diskutierte Methoden und Deutungsversuche des Holocaust in die ungarische Forschung Eingang, und analytische Fragestellungen gewannen an Bedeutung. Größere geschichtswissenschaftliche Debatten über die Darstellung des Holocaust blieben dennoch lange Zeit aus. Die Auseinandersetzung zwischen den ungarischen Historikern László Varga und László Karsai im Jahr 2005 blieb eine der wenigen Ausnahmen: Ausgangspunkt der Debatte war ein Artikel von Varga in der Zeitschrift Élet és Irodalom, in dem er Zweifel daran äußerte, dass die Verfolgung der ungarischen Juden ein Hauptmotiv für den deutschen Einmarsch im März 1944 in Ungarn dargestellt habe.21 Er versuchte dabei zu belegen, dass die Deutschen zum Zeitpunkt der Besetzung Ungarns keine ausgearbeiteten Pläne zur Deportation und Ermordung der ungarischen Juden hatten, die Entscheidung zur Deportation war seines Erachtens erst Mitte April gefällt worden. Einige Wochen nach dem Erscheinen des Artikels von Varga stellte der Historiker László Karsai dessen Thesen entgegen, dass die »Lösung der ungarischen Judenfrage« ein zentrales Thema der Verhandlungen am 18. März 1944 auf Schloss Kleßheim und ein wichtiger Grund für die Besatzung Ungarns gewesen war, und schloss sich damit der unter Historikern lange Zeit weitverbreiteten Meinung an, wonach beim Kleßheimer Treffen Horthy der Übergabe von 100.000 ungarischen jüdischen Zwangsarbeitern an das Deutsche Reich zugestimmt hätte.22 Tatsächlich liegen, wie László Varga in seiner Replik auf Karsai hervorhob, keine schriftlichen Protokolle über die Unterredung zwischen Horthy und Hitler in Kleßheim vor, die belegen würden, dass eine solche Abmachung getroffen wurde und dass die Deportation der ungarischen Juden von deutscher Seite von Anfang an intendiert war. Aufgrund des Fehlens dieser Dokumente zog Varga eine solche Vereinbarung zwischen Horthy und Hitler in Zweifel und schloss sich damit der Meinung der deutschen Historiker Christian Gerlach und Götz Aly an.23 Diese waren bereits 2004 in ihrer Studie Das letzte Kapitel zu dem Schluss gekommen, erst auf Drängen der ungarischen Behörden sei die Deportation aller ungarischen Juden ins Auge gefasst worden. Sowohl Varga als auch Aly und Gerlach gingen dabei davon aus, dass nicht die Tatsache der Besatzung, sondern das Verhalten der ungarischen Behörden und der Bevölkerung über das Schicksal der ungarischen Juden entschied. Ihrer Ansicht nach hätten die Deutschen angesichts stärkerer Widerstände auf ungarischer Seite von einer Deportation abgesehen bzw. hätte das ungarische Drängen die Deutschen zu beschleunigten Deportationen veranlasst. Die Thesen von Varga, Aly und Gerlach implizierten demnach größere ungarische Verantwortlichkeiten für die Ermordung der ungarischen Juden, nachdem die ungarischen Organe als radikalisierende und teilweise sogar initialisierende Elemente ausgemacht wurden, eine Ansicht, die mittlerweile von zahlreichen Historikern geteilt wird. So resümierte beispielsweise auch der ungarische Historiker Krisztián Ungváry in seinem 2012 erschienenen Buch, dass die ungarische Verwaltung die deutschen Erwartungen selbsttätig »übererfüllt« hätte.24 Wurde in den Werken von Randolph L. Braham noch die politische Irrationalität des Holocaust angesichts der immer offensichtlicher werdenden Kriegsniederlage Deutschlands hervorgehoben, verwiesen Wissenschaftler seit den 1990er Jahren nun auch zunehmend auf wirtschaftliche Überlegungen bei der Vernichtung der ungarischen Juden. Historiker wie Krisztián Ungváry,25 Gábor Kádár, Zoltán Vági, Christian Gerlach oder Götz Aly hoben erstmals die entscheidende Bedeutung des jüdischen Vermögens für den kollaborierenden ungarischen Staat hervor, welcher sich angesichts der deutschen Forderungen und der Kriegslage in einer wirtschaftlich schwierigen Situation befand: Die Enteignung der ungarischen Juden hätte theoretisch die Rettung des ungarischen Staatshaushalts bedeutet. Die chaotische Aufteilung des jüdischen Vermögens unter miteinander rivalisierenden Gruppen, die dabei auftretenden deutsch-ungarischen Konflikte, die Diebstähle und die Plünderungen stellten Vági und Kádár in den Mittelpunkt ihrer 2005 erschienenen Untersuchung, in der sie die wirtschaftlichen Überlegungen bei der Deportation der ungarischen Juden herausarbeiteten.26 Darin hoben sie hervor, dass die Passivität der ungarischen Bevölkerung während der Deportationen durch die finanzielle Beteiligung der Gesellschaft an den Enteignungen ermöglicht wurde – eine Meinung, die bereits Bibó in seiner Schrift Zur Judenfrage vertreten hatte.27 Durch Wohnungsübernahmen, Plünderungen und das Verschwinden der jüdischen Konkurrenz konnte ein Interesse daran entstehen, dass die Juden nach dem Krieg nicht mehr zurückkehrten. Damit warfen Kádár und Vági auch einen ersten kritischen Blick auf die Haltung der ungarischen Mehrheitsbevölkerung während der Deportationen und damit auf ein Thema, das lange Zeit vernachlässigt wurde und bis heute nur ungenügend erforscht ist. So gilt die vom britischen Historiker Tim Cole geäußerte Kritik, wonach die Haltung der Mehrheitsbevölkerung »auf vereinzelte und ziemlich allgemeine Aussagen in der Literatur und anekdotische Hinweise in Berichten von Überlebenden beschränkt«28 bleibt, bis heute. Lediglich kürzere Aufsätze (vor allem von Cole selbst) oder die Untersuchung lokaler Beispiele lieferten erste Ergebnisse zur Kooperation und Denunziationsbereitschaft, aber auch zur Gegenwehr eines Teiles der Bevölkerung.29 Dabei verschob sich seit der Jahrtausendwende mit der Erforschung lokaler Formen der Kollaboration und der Darstellung 25 Krisztián Ungváry, »›Nagy jelentőségű szociális akció‹. Adalékok a zsidó vagyon 26 22 Vgl. László Karsai, »1944 Márciusa« (März 1944), in: Élet és Irodalom, 8 táról« (Der ungarische Holocaust und die Historiker. Über einen Historikerstreit), in: ders., A Másik szeme. Zsidók és antiszemiták a háború utáni Magyarországon (Das Auge des Anderen. Juden und Antisemiten im Nachkriegsungarn), Budapest 2008, S. 297–316, hier S. 303. 21 Vgl. László Varga, »Az ›Endlösung‹. Német szándékok, magyar kivitelezés« (Die »Endlösung«. Deutsche Vorhaben, ungarische Ausführung), in: Élet és Irodalom, 50 (2005), Online-Ausgabe, http://www.es.hu/index.php?view=doc;12122 [10.12.2008]. (2006), zit. nach der Online-Ausgabe, http://www.es.hu/index. php?view=doc;12760 [9.2.2014]. Zur Reaktion von Varga auf Karsais Artikel siehe László Varga, »Mit akartak a németek?« (Was wollten die Deutschen?), in: Élet és Irodalom, 10 (2006), Online-Ausgabe, http://www.es.hu/index. php?view=doc;12852 [9.2.2014]. 23 Vgl. Christian Gerlach, Götz Aly, Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944–1945, Frankfurt am Main 2004. 24 Vgl. Krisztián Ungváry, A Horthy-rendszer mérlege. Diszkrimináció, szociálpolitika és antiszemitizmus Magyarországon (Die Waage des Horthy-Regimes. Diskriminierung, Sozialpolitik und Antisemitismus in Ungarn), Pécs 2012. 28 Einsicht 20 Vgl. András Kovács, »A magyar holokauszt és a történészek. Egy történészvi- 27 28 29 begyűjtéséhez és elosztásához Magyarországon 1944-ben« (»Eine sehr bedeutende soziale Aktion«. Angaben zur Sammlung und Verteilung des jüdischen Vermögens in Ungarn 1944), in: János Rainer, Éva Standeisky (Hrsg.), Évkönyv 2002 (Jahrbuch 2002), Budapest 2002, S. 287–321. Gábor Kádár, Zoltán Vági, Hullarablás. A magyar zsidók gazdasági megsemmisítése (Leichenraub. Die ökonomische Vernichtung der ungarischen Juden), Budapest 2005. Vgl. Bibó, Zur Judenfrage, S. 30. Tim Cole, »Ebenen der ›Kollaboration‹. Ungarn 1944«, in: Christoph Dieckmann, Babette Quinkert, Tatjana Tönsmeyer (Hrsg.), Kooperation und Verbrechen. Formen der »Kollaboration« im östliche Europa 1939–1945, Göttingen 2003, S. 55–77, hier S. 69. Vgl. dazu vor allem Tim Cole, Traces of the Holocaust. Journeying in and out of the Ghettos, London u. a. 2011; László Csősz, Tettesek, szemtanúk, áldozatok. A vészkorszak Jász-Nagykun-Szolnok megyében (Täter, Opfer, Zuschauer. Der Holocaust im Komitat Jász-Nagykun-Szolnok), Diss., Univ. Szeged 2010. Einsicht 11 Frühjahr 2014 Exilforschung in der edition text + kritik DOERTE BISCHOFF (Hg.) Exil Literatur Judentum Doerte Bischoff (Hg.) EXIL – LITERATUR – JUDENTUM etwa 250 Seiten, zahlreiche s/w-Abbildungen ca. € 35,– ISBN 978-3-86916-327-7 Vertreibung und Exil gehören zu den prägenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: Bereits in der Zwischenkriegszeit wird die Ordnung der europäischen Nationalstaaten durch hunderttausende Flüchtlinge fundamental erschüttert. Während der NS-Zeit fliehen abermals riesige Bevölkerungsgruppen aus dem besetzten Europa, darunter die überlebenden europäischen Juden und ein großer Teil der Künstler und Intellektuellen. Heute bieten die europäischen Länder selbst Verfolgten aus vielen Ländern Zuflucht – und verweigern sie anderen. Die Reihe »Exil-Kulturen« nimmt neuere kulturwissenschaftliche Perspektiven auf und zeigt die gesamte kulturelle Breite des Exils im 20. und 21. Jahrhundert auf. Der erste Band »Exil – Literatur – Judentum« rückt eine Konstellation in den Blick, deren drei Aspekte je unterschiedlich akzentuiert und verknüpft werden, und lädt zu einer Auseinandersetzung mit diesen ebenso geschichtsträchtigen wie aktuellen Fragen ein. Levelingstraße 6 a 81673 München info@etk-muenchen.de www.etk-muenchen.de 29 antijüdischer Maßnahmen in ausgewählten Verwaltungsbezirken bzw. Gendarmeriedistrikten der Blick von den hohen Entscheidungsträgern der Politik auf die untere Ebene der Verwaltung sowie auf die Gendarmerie und Polizei. Als Leitmodell für die zunehmende Zahl an lokalen Studien30 konnte die Arbeit von Judit Molnár dienen, die bereits im Jahr 1995 am Beispiel des V. (Szegeder) Gendarmeriedistrikts aufzeigte, dass die örtliche Verwaltung eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der Ghettoisierung in Ungarn gespielt hatte.31 Gleichzeitig nahmen Forschungsarbeiten zu, die die ideologischen Kontinuitäten und Traditionen des Antisemitismus in der ungarischen Gesellschaft und Politik beleuchteten und die Verfolgung der ungarischen Juden als Teil einer nationalen, ethnischen Homogenisierung interpretierten bzw. die antijüdische Politik in Zusammenhang mit sozialpolitischen Maßnahmen stellten.32 Wie die Rolle der Deutschen selbst bei der Organisation der Ghettoisierung und Deportation konkret aussah, wird in den Forschungsarbeiten dagegen bis heute nur am Rande behandelt. Jene wichtige Studien, die sich in den letzten Jahren mit Aspekten der deutsch-ungarischen Kooperation nach der deutschen Besatzung befassten,33 konzentrierten sich auf die ungarischen Akteure und konnten auf die Fragen, wer etwa namentlich Teil des Sondereinsatzkommandos unter Adolf Eichmann war und wie die Kooperation zwischen SS, ungarischer Verwaltung, Gendarmerie und Polizei bei der Umsetzung antijüdischer Maßnahmen konkret aussah, nur vage Antworten geben. Erste interessante Rückschlüsse lässt eine auf Deutsch erschienene Biographie über den »Bevollmächtigten des Großdeutschen Reiches in Ungarn«, Edmund Veesenmayer, zu, die die Funktionsweise der nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Ungarn anhand zentraler Bestände des Auswärtigen Amtes diskutiert.34 Als schlecht erforscht gilt auch die Geschichte der SzálasiRegierung. Seit der im Jahr 1989 veröffentlichten Monographie von Margit Szöllösi-Janze35 – einer Arbeit, die bislang nicht auf Ungarisch erschienen ist – wurden über das faschistische Regime nur vereinzelt historische Untersuchungen vorgelegt.36 Während die Rolle von Miklós Horthy bei den Deportationen nach wie vor Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Debatten ist, blieben entsprechende Diskussionen über die Natur des Pfeilkreuzlerregimes bislang aus, obwohl provokante Thesen, wie beispielsweise jene der Historiker Gábor Kádár und Zoltán Vági, wonach die Pfeilkreuzler »bei der Endlösung der Judenfrage mit den Deutschen weniger enthusiastisch kollaborierten als die zur Elite des Horthy-Regimes gehörende, überwiegend aus konservativen Gentlemen bestehende Sztójay-Regierung«37, interessante Auseinandersetzungen erwarten lassen würden. Bemerkenswert ist auch, dass kritische Arbeiten zum überschaubaren nationalen Widerstand in Ungarn seit dem Systemwechsel fehlen. Dies, obwohl (oder gerade weil) dieses Thema in den letzten Jahren zunehmend geschichtspolitisch instrumentalisiert wurde. So sind Aspekte der Gegenwehr gegen die deutsche Besatzung, gegen das Horthy- bzw. Szálasi-Regime oder gegen die Verfolgung der ungarischen Juden bis heute lediglich vor allem in den Werken der antifaschistischen Geschichtsschreibung abgebildet.38 Insgesamt blieben die Zugänge zu den einzelnen Themen bislang meist den Traditionen der klassischen Geschichtsschreibung verhaftet. So sind beispielsweise nicht nur kulturwissenschaftliche oder mentalitäts- bzw. alltagsgeschichtliche Ansätze rar,39 auch die Forderungen des Historikers Saul Friedländer nach einer integrierten Darstellung des Holocaust40 fanden trotz entsprechender Kritik41 bislang in der ungarischen Historiografie kein Gehör. Die Stimme der Opfer wird nur selten und wenn, dann oft nur zur Illustrierung historischer Vorgänge eingesetzt.42 31 32 33 34 35 30 von Hildrun Glass Hildrun Glass, Dr. phil., geboren 1961, studierte Geschichte Ost- und Südosteuropas, Neuere Geschichte und Sinologie in München und London. Sie war einige Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte Osteuropas und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München, arbeitete dann als freie Publizistin, zuletzt auch als verantwortliche Redakteurin der Zeitschrift Südosteuropa. Von 2003– 2004 war sie Mitglied der Internationalen Kommission zur Erforschung des Holocaust in Rumänien. Veröffentlichungen (Auswahl): Minderheit zwischen zwei Diktaturen. Zur Geschichte der Juden in Rumänien 1944–1949, München 2002; Deutschland und die Verfolgung der Juden im rumänischen Machtbereich 1940–1944, München 2014. 36 Vgl. kürzlich András Zoltán Kovács, A Szálasi-kormány belügyminisztériuma. 30 Vgl. nicht zuletzt die Studien in Randolph L. Braham, A Magyarországogi Holo- kauszt Földrajzi Enciklopédiája (Die geographische Enzyklopädie des Holocaust in Ungarn), 3 Bde., Budapest 2007. Judit Molnár, Zsidósors 1944-ben az V. (Szegedi) Csendőrkerületben (Jüdisches Schicksal 1944 im V. (Szegeder) Gendarmeriebezirk), Budapest 1995. Vgl. vor allem Mária Kovács, Törvénytől sújtva. A numerus clausus Magyarországon, 1920–1945 (Vom Gesetz getroffen. Der Numerus Clausus in Ungarn, 1920–1945), Budapest 2012; Gábor Kádár, Zoltán Vági, A végső döntés. Berlin, Budapest, Birkenau 1944 (Die letzte Entscheidung. Berlin, Budapest, Birkenau 1944), Budapest 2013; Ungváry, A Horthy-rendszer mérlege. Vgl. Kádár, Vági, A végső döntés, sowie Ungváry, A Horthy-rendszer mérlege. Igor-Philip Matić, Edmund Veesenmayer: Agent und Diplomat der nationalsozialistischen Expansionspolitik, München 2002. Margit Szöllösi-Janze, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn. Historischer Kontext, Entwicklung und Herrschaft, München 1989. Der Holocaust in Rumänien Wege der Forschung 1 37 38 39 40 41 42 Rendvédelem, állambiztonság, közigazgatás a nyilas korszakban (Das Innenministerium der Szálasi-Regierung. Polizeischutz, Staatssicherheit, Verwaltung in der Pfeilkreuzler-Ära), Máriabesnyő u. a. 2009; sowie die jüngsten Arbeiten von László Karsai, etwa »The ›Jewish Policy‹ of the Szálasi-Regime«, in: Yad Vashem Studies, Jg. 40 (2012), H. 1, S. 119–156. Gábor Kádár, Zoltán Vági, A végső döntés, S. 249 f. Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Szita Szabolcs dar bzw. jene Studien, die sich mit jüdischen Rettungsaktionen auseinandersetzen. Vgl. dazu vor allem Tim Cole, Holocaust city. The making of a Jewish ghetto, London u. a. 2003; oder Laura Palosuo, Yellow Stars & Trouser Inspections: Jewish Testimonies from Hungary, 1920–1945, Uppsala 2008. Saul Friedländer, »Eine integrierte Geschichte des Holocaust«, in: Saul Friedländer, Nachdenken über den Holocaust, München 2007, S. 154–167, hier S. 160. Vgl. Gábor Gyáni, »Helyünk a holokauszt történetírásában« (Unser Platz in der Holocaust-Geschichtsschreibung), in: Kommentár 3 (2008), S. 13–23. Auf Gyánis provokante Schrift über die Bedeutung der ungarischen Holocaustforschung im internationalen Fachdiskurs reagierten Attila Pók, Krisztián Ungváry, László Karsai und Kinga Frojimovics. Meist werden Auszüge aus DEGOB-Protokollen in einzelne Studien integriert. Einsicht Während des Zweiten Weltkriegs kamen im rumänischen Machtbereich hunderttausende von Juden zu Tode: Sie wurden ermordet, sie erfroren oder verhungerten auf endlosen Deportationsmärschen, sie gingen an Entbehrungen oder Krankheiten in Ghettos und Lagern zugrunde. Die Verantwortung für diese Verbrechen trug das eng mit dem »Dritten Reich« verbündete Regime von Marschall Ion Antonescu, das von September 1940 bis August 1944 bestand.1 Erst seit den 1990er Jahren ist die Forschung über dieses dunkle Kapitel rumänischer Geschichte in Gang gekommen. Nicht zuletzt begründet sich das mit der Unzugänglichkeit wichtiger Quellenbestände vor 1989/90. Noch in den ersten Jahren nach dem Ende der staatssozialistischen Regime in der Sowjetunion und ihrem Machtbereich waren die Umrisse der antisemitischen Politik Antonescus nur einer engeren Fachwelt bekannt und fanden praktisch keinerlei Echo in der breiteren Öffentlichkeit. Soweit die Verfolgung der Juden in Rumänien überhaupt Thema der Forschung war, wurde bis in die 1980er Jahre überwiegend die Ansicht vertreten, das AntonescuRegime sei aus reinem Opportunismus antisemitisch gewesen, indem es dem deutschen Druck nachgab. Erst auf neuen Archivfunden basierende Studien haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten ein ganz anderes Bild gezeichnet: Die Herrschaft Ion Antonescus war von einer antisemitischen und generell minderheitenfeindlichen Ideologie durchdrungen. Das Regime entwarf Pläne zur Entfernung der Juden und der Roma aus Rumänien und beabsichtigte darüber hinaus umfangreiche ethnische »Säuberungen«, die auch auf andere Minderheiten zielten. 1 Einsicht 11 Frühjahr 2014 Die folgenden Ausführungen sind eine gekürzte und überarbeitete Fassung des ersten Teils der Einleitung zu Hildrun Glass, Deutschland und die Verfolgung der Juden im rumänischen Machtbereich 1940–1944 (Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 152), München 2014, S. 1–10. 31 Diese Neudeutung dominiert inzwischen die Literatur zum Holocaust in Rumänien. Wichtige Grundlagen sind damit gelegt, indes stehen notwendige Vertiefungen und Differenzierungen noch aus. Nach wie vor hinkt der Kenntnisstand über die Verfolgung und -ermordung der Juden in Rumänien demjenigen über den Holocaust im unmittelbaren deutschen Machtbereich weit hinterher. Das Antonescu-Regime und die Juden Im Inneren stützte sich das Antonescu-Regime zunächst auf die Armee und auf die antisemitische Legionäre Bewegung (die aus der Eisernen Garde bzw. der Legion des Erzengels Michael hervorgegangen war), ab Februar 1941 nur noch auf die Armee. Außenpolitisch ging Rumänien ein enges Bündnis mit Deutschland ein und beteiligte sich am Angriff auf die Sowjetunion. Damit verbunden war eine Zäsur in der rumänischen »Judenpolitik«: Antonescu ging von der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung zum Massenmord an einem Teil der Juden über. Kein anderer Verbündeter des »Dritten Reiches« verfolgte seine jüdische Minderheit in den Jahren 1941/42 derart mörderisch. Indes kam diese Radikalisierung vom Sommer 1941 nicht im gesamten rumänischen Machtbereich gleichermaßen zum Tragen. Drei Regionen sind zu unterscheiden: Transnistrien: Hierbei handelt es sich um einen Gebietsstreifen in der südlichen Ukraine, der im Westen vom Dnjestr und im Osten vom Bug begrenzt wird. Im Sommer 1941 von deutschen und rumänischen Truppen erobert, wurde er am 30. August 1941 im Abkommen von Tighina unter rumänische Verwaltung gestellt. Anfangs scheint die rumänische Seite mit einer Annektion geliebäugelt zu haben; jedoch galt Transnistrien offiziell bis 1944 als temporär besetztes Territorium. Bessarabien und die Bukowina: Diese beiden rumänischen Provinzen waren im Sommer 1940 größtenteils von der Sowjetunion besetzt worden. Rumänien eroberte sie im Sommer 1941. Sie wurden in das rumänische Staatsterritorium, teilweise mit veränderter Grenzziehung, wieder eingegliedert. Aus der zurückgewonnenen Nordbukowina, der 1940 rumänisch gebliebenen Südbukowina sowie aus dem Bezirk Dorohoi erstand die neue Provinz Bukowina; hingegen wurden die Grenzen Bessarabiens nicht verändert. In Bessarabien und in der Bukowina wurde ein Sonderregime eingeführt mit Gouverneuren an der Spitze, die Ion Antonescu unmittelbar verantwortlich waren. »Kernrumänien«: Hierunter ist das Territorium des rumänischen Staates ohne die besetzten Gebiete Bessarabien, Bukowina und Transnistrien sowie ohne Nordsiebenbürgen, also demjenigen Landesteil, der mit dem Zweiten Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 an Ungarn gefallen war, zu verstehen. Die über Leben und Tod von Juden entscheidende Linie verlief zwischen »Kernrumänien« einerseits sowie Bessarabien, der Bukowina und Transnistrien andererseits. In »Kernrumänien« waren die 32 Juden einer Vielzahl von diskriminierenden Gesetzen unterworfen. So mussten sie unter anderem Zwangsarbeit leisten und willkürlich festgesetzte, erhebliche Geldsummen als Kontributionen für den Staatshaushalt aufbringen. Ihr Leben war aber nicht grundsätzlich durch das Antonescu-Regime bedroht. Anders sah es in den ehemals sowjetischen Territorien aus. Nach den Schätzungen der 2003 eingesetzten »Internationalen Kommission zur Erforschung des Holocaust in Rumänien« sind im gesamten rumänischen Machtbereich zwischen 280.000 und 380.000 Holocaust-Opfer zu beklagen, davon in »Kernrumänien« etwa 15.000, die übrigen in den besetzten Gebieten. Bereits in den ersten Wochen nach der Eroberung Bessarabiens und der Bukowina waren 45.000 bis 60.000 Juden ermordet und fast alle anderen nach Transnistrien deportiert worden. Dort fielen vor allem 1941/42 weitere 200.000 bis 300.000 aus Bessarabien und aus der Bukowina deportierte sowie einheimische ukrainische Juden dem Massenmord zum Opfer.2 Ab Herbst 1942 rückte Bukarest aber von der Vernichtungspolitik ab und verweigerte sich insbesondere den immer drängenderen Forderungen Berlins nach der Deportation der rumänischen Juden in die deutschen Vernichtungslager. Zugleich unternahm das Antonescu-Regime vorsichtige Schritte, die katastrophalen Lebensbedingungen der Überlebenden in Transnistrien zu bessern und deren Auswanderung nach Palästina zu ermöglichen. links: Vor dem Angriff auf die Sowjetunion empfängt Adolf Hitler den rumänischen Staatschef Ion Antonescu am 12. Juni 1941 im »Führerbau« an der Arcisstraße in München, um über ein gemeinsames militärisches Vorgehen gegen die UdSSR zu beraten. Hitler und Antonescu beim Verlassen des Gebäudes mit Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und Außenminister Joachim von Ribbentrop (ganz rechts). Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo unten: Menschenmenge vor einem Gebäude im Ghetto Kischinau (Chisinău/Kischinjow), ca. August 1941 Foto: Wamser/Scherl/Bundesarchiv Minimierung der Opferzahl und Externalisierung der Verantwortung als Teil der rumänischen Staatsräson nach 1945 Wesentliche Fakten zum Schicksal der Juden im rumänischen Machtbereich während des Zweiten Weltkriegs sind in Rumänien bereits in den ersten Nachkriegsjahren publiziert worden.3 Erwähnenswert ist vor allem das »Schwarzbuch« über die Leiden der Juden Rumäniens in der Zeit der Antonescu-Diktatur. Der erste Band dieser von Matatias Carp, dem Generalsekretär des Verbandes der rumänischen Juden, herausgegebenen Quellensammlung erschien 1946, bis 1948 folgten zwei weitere Bände.4 2 3 4 Vgl. Comisia Internaţională pentru Studierea Holocaustului în România, Raport final, Iaşi 2004, S. 176, 178. Im Internet ist der Bericht in rumänischer und englischer Sprache abrufbar unter: www.inshr-ew.ro/raportul-wiesel. Siehe dazu näher Hildrun Glass, »Die Rezeption des Holocaust in Rumänien (1944–47)«, in: Mariana Hausleitner, Brigitte Mihok, Juliane Wetzel (Hrsg.), Rumänien und der Holocaust. Zu den Massenverbrechen in Transnistrien 1941– 1944 (Nationalsozialistische Besatzungspolitik in Europa 1939–1945, Bd. 10), Berlin 2001, S. 153–166; dies., »Transnistrien in der Forschung: Anmerkungen zur Historiographie«, in: Wolfgang Benz, Brigitte Mihok (Hrsg.), Holocaust an der Peripherie. Judenpolitik und Judenmord in Rumänien und Transnistrien 1940–1944, Berlin 2009, S. 143–151. Matatias Carp, Cartea Neagră. Suferinţele Evreilor din România 1940–1944 în Einsicht Einsicht 11 Frühjahr 2014 33 Die von Carp seit 1940 systematisch zusammengetragenen Dokumente waren ganz unterschiedlicher Provenienz. Carp verfügte über Zugang zu den Archiven verschiedener jüdischer Organisationen in Bukarest; er wertete die Presse und andere Publikationen aus; er benutzte die Materialien der rumänischen Kriegsverbrecherprozesse und der 1945 begonnenen Enquête der rumänischen Sektion des World Jewish Congress. Bis heute ist das »Schwarzbuch« wichtig für die Forschung, weil die Originale vieler der darin abgedruckten Dokumente inzwischen unauffindbar sind. Unmittelbar war die Wirkung der Sammlung freilich gering. Nach Erscheinen wurde das »Schwarzbuch« in Rumänien nur in jüdischen Kreisen wahrgenommen. Und mit der Konsolidierung der kommunistischen Herrschaft verschwanden die ohnehin nur wenigen öffentlich zugänglichen Exemplare in den Geheimfonds der Bibliotheken. Ungleich größeren Einfluss auf das Bild der Ereignisse erlangten die noch vor Kriegsende von den Tätern selbst in Umlauf gesetzten Legenden. Deren langfristige Wirkung war umso durchschlagender, als zentrale Elemente in das von der kommunistischen Staatsmacht verordnete Geschichtsbild – wenn auch in veränderter Terminologie – integriert wurden: Dies betraf zum einen die Bagatellisierung der antijüdischen Maßnahmen durch eine Minimierung der Opferzahl, zum anderen die Externalisierung aller Verantwortung auf das nationalsozialistische Deutschland. Gemeinsam mit 23 weiteren ehemaligen Regierungsmitgliedern und Repräsentanten des Sicherheitsapparates stand Ion Antonescu im Mai 1946 vor Gericht. In seiner Aussage vom 6. Mai 1946 beharrte der ehemalige Staatschef darauf, keinerlei Massaker unter der jüdischen Bevölkerung angeordnet und Deportationen nur aus zwei Gründen durchgeführt zu haben: zum Schutz der Front sowie zum Schutz der Betroffenen vor fanatischen rumänischen Antisemiten und vor deutschen Truppen. »Herr Präsident«, wandte sich Ion Antonescu in Verdrehung der Tatsachen an den Vorsitzenden des Gerichts, »wenn ich sie dort gelassen hätte, wo sie waren, dann wäre heute kein einziger mehr von ihnen am Leben.«5 In seiner schriftlichen Erwiderung auf die Anklageschrift verwahrte sich Antonescu energisch gegen die ihm vorgehaltenen Opferzahlen, die, je nach Berechnung, von 150.000 bis zu 250.000 Ermordeten reichten, ohne sich selbst auf eine Zahl festzulegen.6 Generell rechtfertigte er seine 5 6 34 timpul dictaturii fasciste 1940–1944, Bd. 1: Legionarii şi rebeliunea, Bucureşti 1946; Bd. 2: Pogromul dela Iaşi, Bucureşti 1948; Bd. 3: Transnistria, Bucureşti 1947. Eine von Lya Benjamin betreute und kommentierte Neuauflage ist 1996 in Bukarest unter dem Originaltitel und dem Namen des Autors publiziert worden. Zuvor war in Ungarn 1992 eine einbändige Kurzfassung des Schwarzbuchs in englischer Sprache herausgekommen: Matatias Carp, Holocaust in Rumania 1940–1944, Budapest 1992. Marcel-Dumitru Ciucă (Hrsg.), Procesul Mareşalului Antonescu. Documente, Bd. 1, Bucureşti 1996, S. 203. Vgl. »Memoriul lui Ion Antonescu«, 15.5.1946, in: ebd., S. 172 f. antisemitische Politik: »Weiter oben habe ich bereits ausgeführt, dass es vielen Juden wegen des damals herrschenden Durcheinanders gelang, durch die Front zu schlüpfen. Aus Sicherheitsgründen konnte jedoch nicht geduldet werden, dass sie ins Landesinnere oder gar in die Hauptstadt vordringen. Die Sicherheitsdienste meldeten, viele von ihnen hätten Spezialschulen für Spionage absolviert und führten Funkausstattung mit sich (solche Geräte hat man auch gefunden). Der Generalstab forderte ihre Internierung aus Gründen der militärischen Sicherheit.«7 In dieser Lage habe er die Einrichtung eines Ghettos in der bessarabischen Hauptstadt Chișinău befohlen. Die Juden aus der ebenfalls in Bessarabien liegenden Kleinstadt Bălți seien hingegen von den Deutschen interniert worden. Die lokale Bevölkerung sei sehr aufgebracht über das Verhalten der Juden während der sowjetischen Okkupation gewesen und habe zusammen mit den Deutschen »eine rumänische Bartholomäusnacht« durchführen wollen. Da solche Ereignisse »entgegen unseren Plänen und Absichten« bereits in mehreren Städten geschehen seien, habe er entschieden, die Juden »aus den Zonen der Etappe, die deutsche Truppen in Richtung Front durchquerten, herauszubringen und in den Norden Transnistriens zu schicken«.8 Antonescu leugnete nicht, dass es viele Tote gegeben habe; Schuld seien aber allein die unglücklichen Umstände gewesen: »Die Durchführung [der Deportation] war jedoch miserabel, vor allem wegen der damals aufgeputschten Stimmung. Dann kam noch der frühe und sehr strenge Winter, der viele Opfer forderte, auch in den Reihen der kämpfenden Armeen und der russischen Bevölkerung, die vor der Invasion Richtung Ural flüchtete.«9 Diese Version war glatt erlogen. Es genügt ein Blick in die heute gedruckt vorliegenden Ministerratsprotokolle, um eines Besseren belehrt zu werden. So erklärte der Stellvertreter Ion Antonescus, der mit diesem nur entfernt verwandte Professor für Völkerrecht Mihai Antonescu, am 8. Juli 1941, der Angriff auf die Sowjetunion biete die einmalige Gelegenheit, eine »ethnische Säuberung« durchzuführen: »Selbst wenn einige Traditionalisten, die es unter Ihnen noch geben mag, mich nicht verstehen, ich bin für die Zwangsumsiedlung aller jüdischen Elemente aus Bessarabien und aus der Bukowina; sie müssen über die Grenzen getrieben werden. […] Mir ist es gleichgültig, ob wir als Barbaren in die Geschichte eingehen. […] Es hat in unserer Geschichte niemals eine so günstige Gelegenheit gegeben, um uns – so umfassend, so radikal, in solcher Freiheit – endgültig von den ethnischen Fesseln zu befreien und unser Volk national zu erneuern und zu säubern, damit es kommende Jahrhunderte der Unterdrückung oder des Eindringens von Fremden überdauern kann. […] Deshalb bitte ich Sie, seien Sie unerbittlich. 7 8 9 Ebd., S. 175. Ebd. Ebd. Einsicht Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel (rechts), der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, und der rumänische Staatschef Ion Antonescu bei den Feierlichkeiten zum Namenstag von König Michael I. von Rumänien in Bukarest, 8. November 1941 Foto: Scherl/ Süddeutsche Zeitung Photo Süßliche, verschwommene, philosophische Humanitätsduselei hat hier nichts zu suchen.«10 Am 6. September 1941 erklärte Ion Antonescu – gerade von der Front zurückgekehrt – seinem Kabinett, Ziel rumänischer Politik müsse es sein, »Bessarabien und die Bukowina von den Juden und Slawen zu säubern«. Er beabsichtige, zehntausende Juden »nach Russland hinauszuwerfen«.11 Schon im Prozess 1946 wurden solche Absichten belegende Dokumente präsentiert. Jedoch verschwanden sie schnell aus dem öffentlichen Bewusstsein. Auf Regierungsebene strickte man bereits an einer Rechtfertigungslegende für das Auftreten auf internationalem Parkett. Dies ist unverkennbar in den vom rumänischen Außenministerium für die Pariser Friedenskonferenz erarbeiteten Unterlagen vom 10 Bert Hoppe, Hildrun Glass (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europä- ischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I (Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien), München 2011, Dok. 284, S. 757 f. 11 Marcel-Dumitru Ciucă (Hrsg.), Stenogramele şedinţelor Consiliului de Miniştri. Guvernarea Ion Antonescu, Bd. 4: Iulie – Septembrie 1941, Bucureşti 2000, S. 597, S. 599. Einsicht 11 Frühjahr 2014 April 1946. Zwar gesteht ein Papier zum Schicksal der Juden ein, dass das Antonescu-Regime eine Reihe von Gesetzen zur Entrechtung und Enteignung erlassen und umgesetzt habe; auch finden die Deportationen aus Bessarabien und aus der Bukowina Erwähnung. Indes wird entlastend angeführt, alle antijüdischen Maßnahmen seien auf deutschen Druck hin erfolgt. Und gemessen am Schicksal der Juden in anderen Staaten, nicht zuletzt in Ungarn, seien die Entrechtungs- und Enteignungsmaßnahmen relativ milde ausgefallen. Dies wird dem anhaltenden Widerstand der rumänischen Regierung zugutegehalten.12 Auch dieser Bericht führte die Opfer unter den aus Bessarabien und aus der Bukowina deportierten Juden nicht zuletzt auf den harten Winter 1941/42 zurück. Von einem Massenmord war nicht die Rede, sondern vielmehr davon, dass in Rumänien vergleichsweise wenige Todesopfer zu beklagen gewesen seien. Diese Behauptung basierte auf einer einfachen Manipulation: Obwohl die Deportationen aus Bessarabien und aus der Bukowina genannt wurden, bezog sich die 12 Vgl. »Le traitement des Juifs en Roumanie pendant la deuxième guerre mon- diale«, 12.4.1946, in: Arhive Diplomatice ale Ministerului Afacerilor Externe, Fond Conferinţa de Pace Paris 1946, dosar 128, Bl. 51–80, hier Bl. 69. 35 Zahl der Todesopfer lediglich auf das rumänische Staatsgebiet von 1946 – also ohne die Nordbukowina, ohne Bessarabien und natürlich ohne Transnistrien. Mithilfe weiterer solcher Tricks berechneten die rumänischen Diplomaten eine Zahl von genau 1.528 ermordeten Juden und zählten noch 3.750 Opfer hinzu, die ihr Leben im »Landesinneren« (also in »Kernrumänien«) verloren hätten, zumeist während des Legionärs-Aufstandes im Januar 1941.13 Forschung im rumänischen Machtbereich vor 1989 In der nach dem Zweiten Weltkrieg unter kommunistischer Ägide betriebenen historischen Forschung in Rumänien blieben Juden als Opfergruppe zunächst völlig ausgeblendet.14 Sie tauchen allenfalls indirekt da auf, wo von »sowjetischen Bürgern« oder von »kommunistischen Helden« als Opfer die Rede ist.15 Diese Lesart wurde in den 1960er Jahren aufgeweicht. Nunmehr fanden Juden als Opfer von Verfolgung und Gewalttaten Erwähnung; es erschienen historische Studien über rechtsradikal-antisemitische Parteien oder über die Pogrome in Bukarest (Januar 1941) und Iași (Juni 1941).16 Allerdings war die Auswahl restriktiv: Einige spektakuläre antijüdische Exzesse wurden herausgegriffen, wobei die Verantwortung externalisiert wurde, indem die Taten direktem oder indirektem deutschen Einfluss zugeschrieben wurden. Hingegen bleibt der Massenmord in Transnistrien völlig ausgespart. Anschaulich macht die daraus folgende Relativierung ein vom Unterrichtsministerium 1983 herausgegebener Überblick der rumänischen Geschichte: »Im Mai 1941 ließ Antonescu viele Kommunisten in Lagern internieren. Im Juni 1941 wurde in Iași unter Beteiligung der Hitleristen ein Massaker organisiert, bei dem zum größten Teil Juden ermordet wurden. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass das Leben vieler Juden aufgrund der demokratischen Traditionen und des humanistischen Geistes, der unser Volk charakterisiert, gerettet wurden.«17 Im öffentlichen Diskurs wirkten diese Sprachregelungen auch nach 1989 weiter. Schlimmer noch: Die neu gewonnene Freiheit führte erst einmal dazu, dass antisemitische Tendenzen in den Fachdiskurs einsickerten und die Popularisierungen in Presse und Fernsehen sogar beherrschten.18 Auf vorkommunistische und antikommunistische Denktraditionen zu rekurrieren bot keine tragfähige Alternative, denn auch und gerade sie waren in hohem Maße mit antisemitischen Elementen durchsetzt.19 Forschung im Westen Angesichts der in Rumänien lange Zeit bestehenden Neigung, den Antisemitismus und dessen Folgen möglichst zu relativieren, etablierte sich die maßgebende Forschung zum Schicksal der Juden im rumänischen Machtbereich während des Zweiten Weltkriegs zunächst außerhalb des Landes. Die Grundlage aller Darstellungen bildete dabei vor allem die deutsche Aktenüberlieferung. Sie enthält reichliche Unterlagen über die Beziehungen des »Dritten Reiches« zum rumänischen Bündnispartner sowie über dessen Innen- und Außenpolitik. Namentlich interessierte sich Berlin insbesondere für 17 Probleme fundamentale ale istoriei României, Bucureţti 1983, S. 129. 18 Siehe zu dieser Problematik generell und in Sonderheit zum aufblühenden of World War II«, in: Soviet Jewish Affairs, Jg. 4 (1974), H. 1, S. 45–52; Bela Vago, »The Destruction of Romanian Jewry in Romanian Historiography«, in: Yisrael Gutman (Hrsg.), The Historiography of the Holocaust Period, Jerusalem 1988; Victor Eskenasy, »The Holocaust and Romanian Historiography: Communist and Neo-Communist Revisionism«, in: Randolph L. Braham (Hrsg.), The Tragedy of Romanian Jewry, New York 1994, S. 173–236; Alexandru Florian, »Treatment of the Holocaust in Romanian Textbooks«, in: ebd., S. 237–285; Radu Ioanid, »How Romania Reacted to the Holocaust, 1945–1992«, in: David Wyman (Hrsg.), The World Reacts to the Holocaust 1945–1992, Baltimore/MD 1996, S. 225–255; Liviu Rotman, »Memory of the Holocaust in Communist Romania: from Minimization to Oblivion«, in: Mihail E. Ionescu, Liviu Rotman, The Holocaust in Romania. History and Contemporary Significance, Bucharest 2003, S. 205–216. 15 Siehe hierzu etwa die Darstellung in Mihai Roller (Hrsg.), Istoria României, Bucureşti 1947, S. 743–787. 16 Siehe z. B. Mihai Fătu, Ion Spălăţelu, Garda de Fier, organizaţie de tip fascist, Bucureşti 1970 (2. Aufl. 1980); Aurică Simion, Regimul politic din România în perioda septembrie 1940–ianuarie 1941, Cluj-Napoca 1976; Aurel Kareţki, Maria Covaci, Zile însângerate la Iaşi (28–30 iunie 1941), Bucureţti 1978. Antonescu-Kult u. a. Mariana Hausleitner, »War Antonescu ein Kriegsverbrecher? Zur aktuellen Diskussion über den Nationalismus in Rumänien«, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Jg. 8 (1999), S. 312–328; Michael Shafir, Intre negare si trivializare prin comparaţie: Negarea Holocaustului în ţările postcomuniste din Europa Centrală şi de Est, Iaşi 2002; ders., »Memory, Memorials, and Membership: Romanian Utilitarian Anti-Semitism and Marshal Antonescu, in: Henry F. Carey (Hrsg.), Romania since 1989: Politics, Economics, and Society, Lanham/MD 2004, S. 67– 96; William Totok, »Antonescu-Kult und die Rehabilitierung der Kriegsverbrecher«, in: Benz, Mihok (Hrsg.), Holocaust, S. 197–212. Umfangreiche Materialien über die Versuche einer Rehabilitation Ion Antonescus im postkommunistischen Rumänien finden sich in dem von William Totok zusammengestellten Dossier »Der Fall Antonescu« unter: www.halbjahresschrift.homepage.t-online.de/ion.htm. 19 Eine Einführung zum Thema Antisemitismus in der neueren Geschichte Rumäniens bietet Mariana Hausleitner, »Antisemitism in Romania. Modes of Expression between 1866 and 2009«, in: Hans-Christian Petersen, Samuel Salzborn (Hrsg.): Antisemitism in Eastern Europe: History and Present in Comparison, Frankfurt am Main 2010, S. 199–226. Ein aktueller Überblick der Forschung zur antisemitischen Legionären Bewegung ist zu finden bei Armin Heinen, Oliver Jens Schmitt (Hrsg.), Inszenierte Gegenmacht von rechts. Die »Legion Erzengel Michael« in Rumänien 1918–1938 (Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 150), Regensburg 2013. 36 Einsicht 13 Vgl. ebd. 14 Siehe zu der Thematik u. a. Theodore Lavi, »Jews in Rumanian Historiography die »Judenpolitik« des Antonescu-Regimes. Die deutschen Vertreter in Bukarest sahen die rumänische Seite als Objekt, das auf Druck aus Berlin chaotisch reagierte, und nicht als Subjekt, das in kohärenter Weise agierte. Paradoxerweise schienen die deutschen Akten damit wesentliche Elemente der rumänischen Geschichtslegende zu bestätigen. So blieb die hinter dem rumänischen Vorgehen steckende Systematik der westlichen Forschung lange verborgen. 1954 etwa analysierte Andreas Hillgruber, die Politik der rumänischen Regierung gegenüber den Juden habe während des ganzen Krieges »ausschließlich unter taktischen und kommerziellen Gesichtspunkten« gestanden. Sie habe weder »moralische Verpflichtungen« gegenüber den eigenen Staatsbürgern gekannt, noch sei sie »doktrinär antisemitisch« gewesen. »Sie folgte vielmehr den großen Linien der rumänischen Außenpolitik. Daher fallen die Wendepunkte in der Behandlung der Judenfrage mit den außenpolitischen Kurswechseln zusammen.«20 Ebenfalls unter dem Eindruck deutscher Quellen schrieb Raul Hilberg über die rumänische Politik gegenüber den Juden: »Die rumänische Bürokratie vermittelte somit den Eindruck einer unzuverlässigen Maschine, die auf Kommandos nicht angemessen reagiert, deren Schritte unvorhersehbar sind, die manchmal stockt und manchmal durchdreht. Dieses ruckartige, durch Planlosigkeit, Launenhaftigkeit und Unregelmäßigkeit gekennzeichnete Vorgehen war das Produkt einer Mixtur aus Destruktivität und Opportunismus, einer von periodischen Gewaltausbrüchen unterbrochenen Lethargie. Das Resultat dieser Mixtur war ein beispielloses Register antijüdischer Ausschreitungen.«21 Die Opferdokumente als zweite Quellengruppe machen hingegen die verheerenden Folgen des rumänischen Vorgehens in Bessarabien, in der Bukowina und in Transnistrien überdeutlich.22 Freilich zeichnet die Opferdokumente eine Tendenz zur Atomisierung des Geschehens aus. Ähnlich wie die frühen Quellenpublikationen in Rumänien bis 1948 und die Unterlagen aus den rumänischen Kriegsverbrecherprozessen konzentrieren sie sich vornehmlich auf Einzelschicksale, auf Einzeltaten und Einzeltäter. Auf dieser Ebene wird das rumänische Vorgehen wiederum als unsystematisch erfahren; was nicht ohne Konsequenz für bloß auf diesen Quellen basierende Studien blieb. Das in deutschen Dokumenten gezeichnete Bild wird bestätigt und ergänzt: Die Politik der rumänischen Regierung gegenüber den Juden sei chaotisch, planlos und opportunistisch gewesen. Die ersten Schritte zur Aufdeckung des rumänischen Tatanteils am Massenmord an den Juden während des Zweiten Weltkriegs 20 Andreas Hillgruber, Hitler, König Carol und Marschall Antonescu. Die deutsch- rumänischen Beziehungen 1938–1944, Wiesbaden 1954, S. 246. 21 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 2. Aufl., Berlin 1982, S. 517. 22 Siehe vor allem Julius S. Fisher, Transnistria: The Forgotten Cemetery, South Brunswick/NY 1969; Dora Litani, Transnistria, Tel Aviv 1981; Avigdor Shachan, Burning Ice: The Ghettos in Transnistria, Boulder/COL 1996. Einsicht 11 Frühjahr 2014 illustrieren die Studien des israelischen Historikers Jean Ancel, der sein Lebenswerk dieser Thematik gewidmet hat. 1985/86 veröffentlichte er eine zwölfbändige Dokumentation,23 die auf verstreuten Dokumenten aus dem rumänischen Machtapparat basierte. Bereits auf dieser Grundlage veranschlagte er den rumänischen Tatanteil höher als die Forschung vor ihm.24 Wende der Forschung nach Öffnung der Archive im ehemaligen Ostblock Erst die Einbeziehung rumänischer, ukrainischer und russischer Akten, die nach Öffnung der vordem unzugänglichen Archive im früheren sowjetischen Machtbereich im vergangenen Vierteljahrhundert schrittweise in die internationale Forschung eingebracht worden sind, hat das Gebäude rumänischer Selbstrechtfertigung ebenso wie die Fehlurteile in der westlichen Forschung bröckeln lassen. Es war wiederum Ancel, der von 1992 bis 1997 Akten in Archiven in Moskau, Kiew, Nikolaev, Odessa, Cherson und Chișinău (Kischinew) sowie seit 1994 im United States Holocaust Memorial Museum in Washington/DC auswertete. Als Ergebnis seiner Recherchen beurteilte er das Geschehen neu, vor allem hinsichtlich des Ausmaßes und der Planmäßigkeit des rumänischen Vorgehens gegen die Juden.25 Zum einen arbeitete Ancel heraus, dass es bereits vor dem Angriff auf die Sowjetunion eine deutsch-rumänische Übereinkunft gegeben hatte, die Juden aus Bessarabien und aus der Bukowina über den Bug hinaus – also aus dem späteren rumänischen Besatzungsgebiet Transnistrien – in deutsches Besatzungsgebiet zu deportieren. Zum anderen erkannte er, dass dies nur ein erster Schritt zu einer Entfernung aller Juden aus dem rumänischen Machtbereich sein sollte. Keineswegs reagierte das Antonescu-Regime hierbei bloß auf deutschen Druck oder handelte aus reinem Opportunismus; es verfolgte eigenständige Planungen zur Schaffung eines ethnisch 23 Jean Ancel (Hrsg.), Documents Concerning the Fate of Romanian Jewry during the Holocaust, 12 Bde., New York 1985/86. 24 Vgl. z. B. Jean Ancel, »The Romanian Way of Solving the ›Jewish Problem‹ in Bessarabia and Bukovina, June–July 1941«, in: Yad Vashem Studies, Jg. 19 (1988), S. 187–232. Anfang der 1990er Jahre hatte Ancel eine umfangreiche Studie druckfertig vorbereitet, die nicht erschienen ist. 25 Vgl. Jean Ancel, Transnistria, 3 Bde., Bucureşti 1998. Eine erweiterte und überarbeitete Dokumentation findet sich in ders. (Hrsg.), Transnistria, 1941–1942: The Romanian Mass Murder Campaigns, 3 Bde., Tel Aviv 2003. Hinzu kommt die vierteilige Darstellung: ders., Contribuţii la istoria României. Problema evreiască 1933–1944, Bd. 1 (2 Tlbde.), Bucureşti 2001; Bd. 2 (2 Tlbde.), Bucureşti 2003. Inzwischen liegt sie in veränderter Form auch in englischer Sprache vor: ders., The History of the Holocaust in Romania, Lincoln/NE 2011. Die wirtschaftliche Ausbeutung wird abgehandelt in ders., The Economic Destruction of Romanian Jewry, Jerusalem 2007. 37 homogenen Staates und zur Entfernung aller Minderheiten. Die erste Stufe dieses Plans sollte der »einseitige Transfer« der jüdischen Bevölkerung sein, zunächst aus den 1941 von Rumänien eroberten sowjetischen Territorien und aus der Moldau, schließlich aus dem Rest des Landes. Mittels eines »Bevölkerungsaustauschs« sollten die anderen ethnischen Minderheiten aus Rumänien entfernt werden.26 Planlos war das Vorgehen der rumänischen Führung also durchaus nicht; planlos erschien das Vorgehen nur aus der Perspektive des Verbündeten und der Opfer. Eine weitere neue Erkenntnis seit den 1990ern betrifft die lange geübte Verharmlosung der Erfassung, Entrechtung und Enteignung der Juden im gesamten rumänischen Machtbereich. Auch hier gab das Antonescu-Regime nicht einfach dem – freilich vorhandenen und dokumentarisch gut belegten – deutschen Drängen nach; es verfolgte vielmehr durchaus eine eigene Agenda. Das haben erst die vor allem von Lya Benjamin unternommenen Forschungen offengelegt.27 Auf diesen Forschungskontext traf die 2003 aus tagespolitischen Erwägungen heraus gefällte Entscheidung des rumänischen Präsidenten Ion Iliescu, eine internationale Historikerkommission unter Vorsitz des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel mit der Aufgabe zu betrauen, den Stand der Forschung über das Schicksal der Juden im rumänischen Machtbereich zusammenzufassen und Empfehlungen zum Umgang mit dieser traurigen Erblast auszusprechen. Mit der offiziellen Entgegennahme des daraufhin erstellten Berichts im November 2004 bekannte sich die rumänische Regierung erstmals zur Verantwortung für die unter rumänischer Herrschaft an Juden und Roma begangenen Verbrechen. In wesentlichen Teilen basiert dieser Bericht auf den verdienstvollen Arbeiten Jean Ancels und Lya Benjamins28 sowie zahlreicher weiterer Forschungen.29 26 Siehe hierzu Viorel Achim, »The Romanian Population Exchange Project elabo- rated by Sabin Manuilă in October 1941«, in: Annali dell’Instituto storico italogermanico in Trento/Jahrbuch des italienisch-deutschen Instituts in Trient, Jg. 27 (2001), S. 593–617; ders., »Schimbul de populaţie în viziunea lui Sabin Manuilă«, in: Revista istorică, Jg. 13 (2002), H. 5/6, S. 133–150; ders., »RomanianGerman Collaboration in Ethnopolitics. The Case of Sabin Manuila«, in: Ingo Haar, Michael Fahlbusch, Georg Iggers (Hrsg.), German Scholars and Ethnic Cleansing, 1920–1945, Oxford 2004, S. 139–154; Vladimir Solonari, Purifying the Nation. Population Exchange and Ethnic Cleansing in Nazi-Allied Romania, Washington/DC 2010. 27 Lya Benjamin (Hrsg.), Legislaţia antievreiască (Evreii din România între anii 1940–1944, Bd. 1), Bucureşti 1993, sowie dies. (Hrsg.), Problema evreiască în stenogramele Consiliului de Miniştri (Evreii din România între anii 1940–1944, Bd. 2), Bucureşti 1996. Siehe auch dies., »Anti-Semitism as Reflected in the Records of the Council of Ministers, 1940–1944. An Analytical Overview«, in: Randolph L. Braham (Hrsg.), The Destruction of Romanian and Ukrainian Jews during the Antonescu Era, New York 1997, S. 1–18; dies., »Marschall Ion Antonescus Anschauungen über die ›Lösung der jüdischen Frage‹ in Rumänien«, Südost-Forschungen, Jg. 59/60 (2000/2001), S. 442–461. 28 Vgl. Raport final. 29 So etwa diejenigen von Radu Ioanid, The Holocaust in Romania. The Destruction of Jews and Gypsies under the Antonescu-Regime 1940–1944, Chicago 2000. 38 Seither hat die Beschäftigung mit dem Holocaust in Rumänien einen sichtlichen Aufschwung erfahren. Wegen der in der Vergangenheit aufgelaufenen Defizite ist erst einmal die Täterforschung in den Vordergrund gerückt.30 Besondere Beachtung haben dabei die Formen extremer Gewalt beim rumänischen Vormarsch auf sowjetisches Territorium gefunden.31 Damit hat die wissenschaftliche Arbeit über die jüdischen Opfer, über den Verfolgungsapparat sowie über Personen und Organisationen, über Widerstand und Kollaboration noch nicht Schritt halten können. Die deutsche Verantwortung für den Holocaust steht außer Frage. Erst das Bündnis mit Deutschland bot der rumänischen Regierung den Freiraum, aus jenen umfangreichen Planungen zu einer ethnischen »Säuberung« vorrangig die Deportation und Ermordung der Juden und der Roma in Angriff zu nehmen und teilweise durchzuführen. Dabei orientierte man sich 1941/42 weitgehend am Vorbild der deutschen Vorgehensweise in den besetzten sowjetischen Gebieten, und dies betraf sowohl die Judenverfolgung in »Kernrumänien« als auch den Massenmord in Bessarabien, der Bukowina und Transnistrien. Gleichzeitig stand aber hinter den Deportationen eine eigene Konzeption des Antonescu-Regimes; diese geschahen nicht planlos und aus reinem Opportunismus dem »Dritten Reich« gegenüber, sondern weil mit diesem Bündnis die eigenen ideologischen Ziele erreichbar schienen. Je weniger Deutschland den Sieg verbürgte, umso mehr wich das Antonescu-Regime zurück und verabschiedete sich von der weiteren Anwendung von Deportation und Massenmord. Diese nämlich standen zuallererst dem von der rumänischen Regierung angestrebten Kompromissfrieden mit den Westmächten im Weg. Keineswegs entsprang diese seit Herbst 1942 veränderte Politik einer Negierung der eigenen Absichten, sondern der nüchternen Erkenntnis, dass die angestrebte vollständige Entfernung der Juden und der Roma aus Rumänien nicht mehr wie 1941 geplant zu verwirklichen war. Zwischen Rettungsmythos und Bekenntnis zur Mitschuld Bulgariens schwieriger Weg zu einer Holocaustdebatte von Souzana Hazan Souzana Hazan, M.A., geboren 1979 in Bulgarien, ist Judaistin und Historikerin; 2009–2013 wissenschaftliches Volontariat und freie Mitarbeit für das Jüdische Kulturmuseum AugsburgSchwaben; seit 2011 Bearbeiterin für Bulgarien im Band Die Verbündeten Staaten: Slowakei, Rumänien, Bulgarien der Edition »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945«. Veröffentlichungen: »… dieser schönen Welt Lebewohl sagen.« Der Weg der Familie Sturm aus Augsburg, Augsburg 2010; Mitgebracht. Schach bei den Augsburger Juden, Augsburg 2011; »Ma Tovu …« – »Wie schön sind deine Zelte, Jakob …« Synagogen in Schwaben, Augsburg 2013. 30 Einen ersten Einblick in den Forschungsstand über Transnistrien geben die Ta- gungsbände Hausleitner, Mihok, Wetzel (Hrsg.), Rumänien, sowie Benz, Mihok (Hrsg.), Holocaust. 31 Zu den Formen der Gewalt und deren kulturellen Kontext siehe Armin Heinen, Rumänien, der Holocaust und die Logik der Gewalt, München 2007; Vladimir Solonari, »Patterns of Violence: The Local Population and the Mass Murder of Jews in Bessarabia and Northern Bukovina, July–August 1941«, in: Kritika, Jg. 8 (2007), H. 4, S. 749–787; Simon Geissbühler. Blutiger Juli. Rumäniens Vernichtungskrieg und der vergessene Massenmord an den Juden 1941, Paderborn 2013. Einsicht Einsicht 11 Frühjahr 2014 Bis in die Gegenwart hinein verharmlosen Spitzenpolitiker, Publizisten, aber auch namhafte Historiker die Mitschuld des bulgarischen Staatsapparats und von Teilen der Bevölkerung an der Verfolgung der bulgarischen Juden in den Jahren 1940 bis 1944. Das Thema Holocaust ist deshalb in Bulgarien eher Gegenstand von politischer Instrumentalisierung, Verschwiegenheit, Kontroversen und Frustration als von einem echten Dialog. Dieser Beitrag skizziert die Entstehung des Rettungsmythos in der bulgarischen Historiographie vor 1989, der sich aus dem Überleben der im Kernland von Bulgarien ansässigen Juden speist. Er beschreibt die Umdeutung jenes Mythos nach dem politischen Umbruch im Spannungsfeld zwischen Verdrängung, Instrumentalisierung und Aufarbeitung, um dann die zentralen Themen und Fragestellungen der jüngsten Holocaustforschung in Bulgarien vorzustellen. Der historische Hintergrund Bulgarien war dem Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan, wie 1940 bereits die Slowakei, Ungarn und Rumänien, am 1. März 1941 beigetreten. Durch das Kriegsbündnis erhoffte sich die bulgarische Regierung unter Zar Boris III. eine Revision der nach dem Ersten Weltkrieg erlittenen Gebietsverluste. Daher gestattete Bulgarien im April 1941 der Wehrmacht, ihren Feldzug gegen Griechenland und Jugoslawien von seinem Territorium aus anzutreten. Als Gegenleistung erhielt es Teile von Jugoslawien (VardarMakedonien, Pirot-Bezirk) und Griechenland (West-Thrakien und Teile Ägäisch-Makedoniens) zur Administration. Obwohl Bulgarien diese Gebiete nie förmlich annektierte, behandelte es sie als de facto angeschlossen, führte in ihnen eine bulgarische Verwaltung ein und stationierte dort Truppen. Mit einer Reihe von Sondergesetzen und Verordnungen, darunter ein Staatsbürgerschaftsverordnung, 39 verfolgte Bulgarien zum einen die rechtliche Angleichung der im offiziellen Sprachgebrauch als »neulich befreite Gebiete« bezeichneten Territorien an das Kernland, zum anderen ihre ethnische Homogenisierung. In Bulgarien lebten 1943 etwa 60.000 bis 63.000 Juden, rund 12.000 von ihnen mit zumeist griechischer bzw. jugoslawischer Staatsangehörigkeit in den besetzten Gebieten. Im November 1942 erklärte die bulgarische Regierung Berlin ihre Zustimmung zur Deportation von Juden. Daraufhin entsandte das Reichssicherheitshauptamt im Januar 1943 Theodor Dannecker als »Berater für Judenfragen« nach Sofia. Am 22. Februar unterzeichneten Dannecker und der bulgarische »Kommissar für Judenfragen«, Aleksandăr Belev, ein »Abkommen über die Aussiedlung von zunächst 20.000 Juden in die deutschen Ostgebiete«, das am 2. März vom bulgarischen Ministerrat bewilligt wurde. Als Erstes sollten die 12.000 »fremden« Juden aus den besetzten Gebieten und zudem etwa 8.000 Juden aus dem Kernland deportiert werden. Durch eine Verkettung verschiedener Faktoren, über die bis heute debattiert wird, nahm die bulgarische Führung wenig später die Deportationspläne für die Juden aus dem Kernland vorerst zurück. Im weiteren Verlauf des Jahres 1943 war sie angesichts der Kriegswende immer weniger bereit, sich durch die Auslieferung der bulgarischen Juden international in Misskredit zu bringen. So konnten die Juden des bulgarischen Kernlandes überleben.1 Als die Rote Armee Anfang September 1944 in Bulgarien einmarschierte und die Regierungskoalition der Vaterländischen Front die Macht übernahm, lebten dort noch etwa 49.000 Juden. Im Gegensatz zu den annähernd 11.400 jüdischen Männern, Frauen und Kindern, welche die bulgarischen Behörden im März 1943 aus den besetzten Gebieten in Nordgriechenland und Jugoslawien zur Deportation in das Vernichtungslager Treblinka ausgeliefert hatten, überlebten die im Kernland ansässigen Juden die Jahre der Verfolgung. Die Tatsache ihres Überlebens avancierte im sozialistischen Bulgarien zu einem Rettungsmythos, der nach dem politischen Umbruch der Jahre 1989/90 fortlebte und bis heute zur positiven Selbstdarstellung des Landes dient. Aufgrund der Zweideutigkeit der Geschichte – Überleben, aber auch Diskriminierung, Entrechtung und Vermögensentzug im Kernland auf der einen Seite und Deportation aus den Gebieten, die Bulgarien als Achsenpartner des Deutschen Reichs 1941 besetzt hatte, auf der anderen Seite – stellen in den letzten Jahren neue Forschungen und Quelleneditionen die gängige Lesart in Frage und zeichnen ein differenzierteres Bild von der bulgarischen »Judenpolitik«. Gleichzeitig tut sich die bulgarische Öffentlichkeit immer noch schwer, den vorbehaltlosen Mythos einer Nation der Retter aufzugeben. Die bulgarische Historiographie und der Holocaust bis 1989 Unmittelbar nach Kriegsende gab es eine Chance, das Thema der Judenverfolgung in Bulgarien aufzuarbeiten, denn jüdische Zeitzeugen veröffentlichten wichtige Quellen und berichteten über ihre Erfahrungen.2 Im Rahmen des als eine Serie landesweiter Schauprozesse inszenierten »Volkstribunals« von 1945 beschäftigte sich ein eigener Prozess mit den Verbrechen gegen die Juden. Allerdings nutzte die Regierung der Vaterländischen Front diesen auch für propagandistische Zwecke, um günstigere Bedingungen für Bulgarien im Friedensvertrag zu erwirken, was schließlich auch gelang.3 Mit der Auswanderung von fast 40.000 Juden zwischen 1948 und 19514 verlor deren Schicksal an öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit, um erst in den 1960er Jahren wieder aufgegriffen zu werden. Die Bulgarische Kommunistische Partei (BKP) instrumentalisierte fortan die »Rettung«, um das Image von Land und Partei im 2 1 40 Einen guten Gesamtüberblick über die Judenverfolgung in Bulgarien bieten Friedrich Chary, The Bulgarian Jews and the Final Solution 1940–1944, Pittsburgh 1972, und Larisa Dubova, Georgy Černjavskiy, Opyt bedy i vyživenija. Sud’ba evreev Bolgarii v gody Vtoroy mirovoy vojny [Vernichtungsversuch und Überleben. Das Schicksal der Juden Bulgariens während des Zweiten Weltkriegs], Sofia 2007. Vgl. auch Nissan Oren, »The Bulgarian Exception: A Reassessment of the Salvation of the Jewish Community«, in: Yad Vashem Studies, Jg. 8 (1968), S. 83–106; Hans-Joachim Hoppe, »Bulgarien«, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1996, S. 274–310; Jan Rychlík, »Zweierlei Politik gegenüber der Minderheit: Verfolgung und Rettung bulgarischer Juden 1940–1944«, in: Wolfgang Benz, Juliane Wetzel (Hrsg.), Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit, Bd. 7, Berlin 2004, S. 61–98; Jens Hoppe, »Juden als Feinde Bulgariens? Zur Politik gegenüber den bulgarischen Juden in der Zwischenkriegszeit«, in: Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner (Hrsg.), Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918–1945, Paderborn 2007, S. 217–252. 3 4 Vgl. Natan Grinberg, Dokumenti [Dokumente], Sofia 1945; Daniel Cion, Pet godini pod fašistki gnet. Spomeni [Fünf Jahre unter faschistischer Gewalt. Erinnerungen], Sofia 1945. So enthielt der Friedensvertrag mit Bulgarien keine besonderen Minderheitenschutzklauseln; vgl. Natan Grinberg, Hitleriskijat natisk za uništoženie na evreite v Bălgarija [Der hitleristische Druck zur Vernichtung der Juden in Bulgarien], Tel Aviv 1961, S. 5 f. Innerhalb der bulgarischen Judenheit gab es eine große Kontroverse darüber, ob sie nach ihren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg im Land bleiben oder die Emigration nach Palästina vorziehen sollten. Zu einem Exodus kam es erst 1948, als die BKP die freiwillige Ausreise der Juden erlaubte; vgl. Bojka Vasileva, Evreite v Bălgarija 1944–1952 [Die Juden in Bulgarien 1944–1952], Sofia 1992; Šlomo Šealtiel Jüdische Kulturmuseum, Ot Rodina kăm Otečestvo. Emigracija i ilegalna imigracija ot i prez Bălgarija v perioda 1939–1949 [Aus dem Geburtsland in die Heimat. Emigration und illegale Immigration aus und durch Bulgarien im Zeitraum 1939–1949], Sofia 2008 [zuerst hebräisch unter dem Titel Me-erets huledet le-moledet: aliyah ve-ha-apala mi-Bulgarya ve-darka ba-shanim 1939–1949, Tel Aviv 2004]. Einsicht Ausland aufzupolieren. In den 1960er und 1970er Jahren formulierte die nationale Historiographie die Kernthesen des Rettungsmythos: › Bulgarien sei das einzige Land unter deutschem Einfluss gewesen, das seine Juden gerettet habe. › Für die Judenverfolgung seien die deutsche »Okkupationsmacht« und das monarcho-faschistische Regime von Zar Boris III. und seiner Regierungen hauptverantwortlich gewesen. › Die große Mehrheit des demokratisch gesinnten und toleranten bulgarischen Volkes habe sich von Anfang an entschlossen der Judenverfolgung widersetzt. › Die Führung des Kampfes gegen die antisemitische Politik habe die illegal agierende BKP übernommen, und unter dem Eindruck ihres Widerstandes und der Siege der Roten Armee habe sich Zar Boris III. dazu gezwungen gesehen, die geplante Deportation aus dem Kernland zu stoppen.5 Eine Überprüfung dieser Sichtweise konnte in Bulgarien nicht erfolgen. Außerhalb des Landes waren kritische Stimmen zu hören, doch fehlte den Historikern der freie Zugang zu den bulgarischen Archiven.6 Eine Reihe von zentralen Dokumenten, die die offizielle Sichtweise untermauerten, erschien 1978 in einem Sammelband unter dem Titel »Der Kampf des bulgarischen Volks für den Schutz und die Rettung der Juden während des Zweiten Weltkriegs«.7 Historiographie und Debatte nach 1989 Die Pluralisierung der Meinungen, die nach dem politischen Umbruch von 1989/90 eintrat, vermochte zunächst nicht, den grundsätzlichen Konsens darüber zu erschüttern, dass Bulgarien seine Juden vor der Vernichtung bewahrt habe. Die Suche nach dem »Retter« war deshalb ein zentraler Punkt der Debatte im ersten Jahrzehnt nach der Wende. Ihre Impulse erhielt sie von Publikationen aus dem Ausland. Die Rolle der bulgarischen Kommunisten wurde schnell relativiert und die Bedeutung anderer Faktoren herausgestrichen. Bald zeichneten sich zwei Argumentationslinien ab, die mit einigen Nuancen bis heute gängig sind. Erstere hebt die Rolle von einzelnen Akteuren hervor, hier ganz prominent die Rolle von Zar Boris III.8 oder die 5 6 7 8 Vgl. z. B. Haim Oliver, Nie, spasenite ili kak evreite v Bălgarija bjaha iztrăgnati ot lagerite na smărtta. Hronika na blizkoto minalo, Sofia 1967; dt.: Wir, die Geretteten oder Wie die Juden in Bulgarien vor den Todeslagern bewahrt wurden, Sofia 1967. Oren, »The Bulgarian Exception«; Chary, The Bulgarian Jews; Viki Tamir, Bulgaria and Her Jews: The History of a Dubious Symbiosis, New York 1979. David Koen (Hrsg.), Borbata na bălgarskija narod za zaštita i spasjavane na evreite v Bălgarija prez Vtorata svetovna vojna [Der Kampf des bulgarischen Volks für den Schutz und die Rettung der Juden in Bulgarien während des Zweiten Weltkriegs], Sofia 1978. Vgl. Hristo Bojadžiev [Christo Bojadjieff], Spasjavaneto na bălgarskite evrei prez Vtorata svetovna vojna, Sofia 1991 [zuerst englisch unter dem Titel: Saving Einsicht 11 Frühjahr 2014 des stellvertretenden Vorsitzenden der Volksversammlung, Dimităr Pešev,9 während die andere von der »Kraft der Zivilgesellschaft« ausgeht, die dank eines vermeintlich fehlenden Antisemitismus und kraft der Proteste verschiedener gesellschaftlicher Akteure wie etwa der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche, bestimmter Berufsverbände, der bürgerlichen und linken Opposition oder auch dem Protest Peševs die Juden gerettet hätte.10 Tatsächlich hatte Pešev am 9. März 1943 durch seine Intervention bei Innenminister Petăr Gabrovski den (vorläufigen) Stopp der Deportation der Juden aus dem Kernland erwirkt und anschließend ein Manifest gegen die Deportation ausgearbeitet, das neben ihm 42 weitere der die Regierung stützenden Abgeordnete unterzeichneten (später zogen die meisten Unterzeichner ihre Unterstützung für das Manifest aber zurück, während Pešev seines Amtes enthoben wurde). Jenseits dieses Schemas argumentierte nur der israelische Autor bulgarischer Herkunft Nir Baruh, der die »Rettung« vielmehr der aktiven Gegenwehr jüdischer Persönlichkeiten und außenpolitischen Faktoren zuschreibt und die Motive von König, Regierung und Opposition vor diesem Hintergrund kritisch hinterfragt.11 Gleichwohl waren diese Thesen nicht ganz neu, sondern bauten auf Auffassungen auf, die Überlebende in Israel bereits vor 1989 geäußert hatten.12 Für diese ersten Publikationen war weniger ein historisch-kritischer Zugang charakteristisch als eine populärwissenschaftliche Herangehensweise. Voraussetzung für eine kritische Aufarbeitung war die Veröffentlichung neuer Quellen. Tatsächlich erschien 1995 eine Sammlung the Bulgarian Jews in World War II, Ottawa 1989]; Michael Bar-Zoar, Izvăn hvatkata na Hitler. Geroičnoto spasjavane na bălgarskite evrei, Sofia 1999 [zuerst englisch unter dem Titel: Beyond Hitler’s Grasp: The Heroic Rescue of Bulgaria’s Jews, Holbrook 1998]; Samuil Arditi, Čovekăt, koito izigra Hitler. Car Boris III – gonitel ili prijatel na bălgarskite evrei [Der Mann, der Hitler reinlegte. Zar Boris III. – Verfolger oder Beschützer der bulgarischen Juden], Ruse 2008. 9 Vgl. Gabriele Nissim, Čovekăt, koito sprja Hitler. Istorijata na Dimităr Pešev, spasil evreite na edna nacija, Sofia 1999 [zuerst italienisch unter dem Titel: L’uomo che fermò Hitler. La storia di Dimitar Pesev che salvò gli ebrei di una nazione intera, Mailand 1999]. 10 Vgl. Albena Taneva, Ivanka Gezenko, »Spasjavaneto na bălgarskite evrei kato alternativna graždanska politika: Roljata na Bălgarskata pravoslavna cărkva« [Die Rettung der bulgarischen Juden als alternative Bürgerpolitik: die Rolle der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche], in: Vitka Toškova, Marija Koleva, David Koen (Hrsg.), Obrečeni i spaseni. Bălgarija v antisemitskata programa na Tretija Rajch. Izsledvanija i dokumenti [Verdammt und gerettet. Bulgarien im antisemitischen Programm des Dritten Reichs. Studien und Dokumente], Sofia 2007. 11 Nir Baruh [Nir Barukh], Otkupăt. Car Boris i sădbata na bălgarskite evrei [Der Erlös. Zar Boris und das Schicksal der bulgarischen Juden], Sofia 1991, zuerst hebräisch unter dem Titel Ha-Kofer. Bulgarya ṿi-Yehudeha be-meshekh ha-dorot, Tel Aviv 1990. 12 Vgl. B. Arditi, Roljata na Car Boris III pri izselvaneto na evreite ot Bălgarija [Die Rolle von Zar Boris III. bei der Aussiedlung der Juden aus Bulgarien], Tel Aviv 1952; Grinberg, Hitleriskijat natisk; Albert Romano, Nisim Levi, Po koj păt bjaha spaseni evreite v Bălgarija? [Wie wurden die Juden in Bulgarien gerettet?], Tel Aviv 1961. 41 von 150 Dokumenten, die erstmals eine ausgewogenere Darstellung verschiedener Faktoren für das Überleben der Juden versuchte.13 Jedoch vermochte der Band nicht, die bulgarische Politik gegenüber den Juden ausführlich zu behandeln. Im Mittelpunkt einer anderen Quellenedition, die 2007 erschien, stehen die deutschen diplomatischen Dokumente über die Judenverfolgung in Bulgarien.14 Zwar enthält dieser Sammelband auch einige der wichtigsten bulgarischen Dokumente über die Vorbereitung der Deportation, doch das Überwiegen der deutschen Zeugnisse vermittelt den Eindruck eines starken deutschen Drucks auf die bulgarische Führung, dem eine genauso bedeutende Opposition verschiedener gesellschaftlicher Kreise gegen die offizielle Judenpolitik gegenübergestellt wird. Dieser Zugang illustriert die verbreitete Tendenz, die Judenverfolgung in Bulgarien mit dem Kriegsbündnis mit dem »Dritten Reich« zu erklären.15 Neben der selektiven Edition von Quellen und ihrer einseitigen Interpretation wirkte sich die politische Instrumentalisierung der »Rettung« hemmend auf die Entstehung einer kritischen Debatte aus. Der Rettungsmythos blieb auch für die Selbstdarstellung der nunmehr demokratisch gewählten Regierungen zentral, und seine Popularisierung gehört bis heute zu ihren außenpolitischen Akzenten. Nachdem in der ersten Dekade nach der Wende innenpolitisch über Detailfragen, etwa über die Rolle von Zar Boris III.,16 gestritten wurde, gelang es um die Jahrtausendwende, einen parteiübergreifenden Konsens zu erreichen. Dabei rückte die These von einem kollektiven Verdienst der bulgarischen Gesellschaft um die »Rettung« in den Mittelpunkt. Sie versprach offensichtlich eine größere Integrationskraft nach innen und ein stärkeres Wirkungspotenzial nach außen.17 Die »Rettung« ist seitdem ein wichtiges Element in der außenpolitischen Selbstdarstellung des Landes als Vorbild für ethnische Toleranz.18 Über die Vermittlung im Geschichtsunterricht ist sie zudem ein positives Autostereotyp vieler Bulgaren geworden. Erste kritische Stimmen kamen bezeichnenderweise nicht etwa von bulgarischen Historikern, sondern von jüdischen Intellektuellen.19 Die kleine jüdische Gemeinschaft Bulgariens hatte keinen leichten Stand in der Kontroverse. Sie musste sich zum einen mit der Rolle auseinandersetzen, die sie vor 1989 für die Entstehung des Rettungsmythos der BKP gespielt hatte. Zum anderen wurde sie in der Debatte um ihre vermeintlichen Retter immer wieder als Zeugin zugunsten der einen oder der anderen Seite aufgerufen. Nicht zuletzt hatte sie sich den Erwartungen von Überlebenden und ihren Nachkommen aus den besetzten Gebieten zu stellen, die auf eine Wiedergutmachung warteten.20 Eine Reaktion auf diese komplexe Situation war die Präzisierung der Begrifflichkeit, die jüdische Autoren zunehmend durchsetzten, indem sie nicht mehr von »Rettung«, sondern vom »Überleben« schrieben.21 2003 veröffentlichte der jüdische Filmregisseur Anžel Vagenštajn, ein Augenzeuge der Deportation der thrakischen Juden, einen wichtigen Essay, in dem er den Rettungsmythos in drei Punkten angriff.22 Erstens könne in den alten Landesteilen keine Rede von einer »Rettung« sein, denn die Juden wurden enteignet, in Arbeitslager gesteckt und in die Provinz zwangsumgesiedelt. Zweitens seien die Festnahme und Auslieferung der Juden in den besetzten Gebieten zur Deportation nicht etwa von deutschen Einheiten durchgeführt worden, sondern von bulgarischer Polizei und Armee. 13 David Koen (Hrsg.), Oceljavaneto. Sbornik ot dokumenti 1940–1944 [Das Über14 15 16 17 42 leben. Ein Dokumentenband 1940–1944], Sofia 1995. Toškova u. a., Obrečeni. Für weitere Beispiele dieses Zugangs vgl. Petko Dobčev (Hrsg.), Antievrejskoto zakonodatelstvo i negovoto preodoljavane (1942–1945) [Die antijüdische Gesetzgebung und ihre Überwindung (1942–1945)], Sofia 2010; Archives State Agency (Hrsg.), Tough Choices That Make Difference: The Fate of the Bulgarian Jews 1943. A Documentary Exhibition, Sofia 2013; sowie die im März 2013 präsentierte Online-Dokumentation des Zentralen Staatlichen Archivs in Sofia Evrejskite obštnosti v Bălgarija [Die jüdischen Gemeinden in Bulgarien]: https://archives. bg/jews. Für die These einer schützenden Rolle von Zar Boris III. zugunsten der Juden gibt es keine direkten Nachweise. Sie sorgte innen- und außenpolitisch für Aufsehen, als der Jewish National Fund (KKL) im Jahr 2000 auf Wunsch von Überlebenden die Demontierung einer Gedenktafel beschloss, die 1996 zu Ehren des Zaren bei Jerusalem aufgestellt worden war; vgl. Nir Barukh (Hrsg.), Annihilation and Survival in the United Bulgaria 1943 and the Conclusion of Justice Beiski’s Commissions, Jerusalem 2003. Seit 2002 begeht Bulgarien jedes Jahr am 9. März den Jahrestag der »Rettung der bulgarischen Juden und Ehrung der Holocaustopfer« mit öffentlichen Veranstaltungen und Gedenkstunden im In- und im Ausland; vgl. Joseph Benatov, » Debating the Fate of Bulgarian Jews During World War II«, in: John-Paul Himka, 18 19 20 21 22 Joanna Beata Michlic (Hrsg.), Bringing the Dark Past to Light. The Reception of the Holocaust in Postcommunist Europe, Nebraska 2013, S. 108–130 ; vgl. auch die vom bulgarischen Außenministerium in Auftrag gegebene und im April 2013 präsentierte Website »Silata na graždanskoto obštestvo. Šădbata na evreite v Bălgarija« [Die Kraft der Zivilgesellschaft. Das Schicksal der Juden in Bulgarien]: www.bulgarianjews.bg. Vgl. Stefan Troebst »Rettung, Überleben oder Vernichtung? Geschichtspolitische Kontroversen über Bulgarien und den Holocaust«, in: Südosteuropa, Jg. 59 (2011), H. 1, S. 97–127. Vgl. z. B. Emi Baruh, »Mităt za spasenieto na bălgarskite evrei« [Der Mythos über die Rettung der bulgarischen Juden], in: Kultura v. 28.7.2000; dies. [Emmy Barouh], »The Convenient Cliches of Remembrance«, in: dies. (Hrsg.), History and Memory. Bulgaria: Facing the Holocaust, Sofia 2003, S. 33–44; Lea Koen, Ti vjarvaš. Osem pogleda vărhu holokosta [Du glaubst. Acht Essays über den Holocaust], Sofia 2012. Vgl. Juliana Dadova-Mihajlova, »Spasjavaneto na bălgarskite evrei – meždu mitovete i realnostta« [Die Rettung der bulgarischen Juden zwischen Mythen und Wirklichkeit], in: Istoričesko bădešte, Jg. 15 (2011), H. 1–2, S. 162–177. Vgl. Vladimir Paunovski, Josif Ilel, Evreite v Bălgarija meždu uništoženieto i spasenieto [Die Juden in Bulgarien zwischen Vernichtung und Rettung], Sofia 2000. Anžel Vagenštajn, »Spasi li Bălgarija vsičkite si evrei?« [Rettete Bulgarien alle seine Juden?], in: Trud v. 5./6.3.2003; für die englische Fassung siehe ders. [Angel Wagenstein], »Collective Memory: The Bulgarian Case«, in: Barouh, History, S. 71–81. Einsicht Adolf Hitler empfängt am 7. Juni 1941 im Berghof auf dem Obersalzberg Zar Boris III. von Bulgarien. Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo Drittens sei das Überleben der Juden im Kernland ein glücklicher Zufall, der eher durch den Kriegsverlauf als durch gesellschaftliche Proteste bedingt war. Zwar provozierte Vagenštajns Essay in der Öffentlichkeit vor allem ablehnende Reaktionen,23 doch in historischen Arbeiten, die in den folgenden Jahren erschienen, fand sich zunehmend Unterstützung für seine Thesen. 2004 veröffentlichte der Historiker Ivan Hadžijski eine Studie, die sich den Deportationen aus den besetzten Gebieten und ihrem Scheitern im Kernland widmete.24 Der Autor unterstreicht, dass das 23 Vgl. beispielsweise die Antwort von Petăr Stojanovič, »Vagenštajn za boj se stja- ga« [Vagenštajn rüstet zum Kampf auf], in: Trud v. 6.3.2003. 24 Ivan Hadžijski, Sădbata na evrejskoto naselenie v Belomorska Trakija, Vardarska Einsicht 11 Frühjahr 2014 Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Thrakien und Makedonien von den bulgarischen Staatsorganen und der bulgarischen Administration bestimmt wurde. Entschieden lehnt er die Versuche ab, Zar und Regierung damit zu entlasten, dass sie unter deutschem Druck gehandelt hätten. 2007 legten die ukrainischen Historiker Larisa Dubova und Georgy Černjavskiy eine Gesamtdarstellung über das Schicksal der Juden Bulgariens im Zweiten Weltkrieg vor.25 Die Autoren widmen Makedonija i Jugozapadna Bălgarija prez 1941–1944 [Das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Ägäisch-Thrakien, Vardar-Makedonien und Südwestbulgarien 1941–1944], Dupnica 2004. 25 Dubova, Černjavskiy, Opyt. 43 sich ausführlich einer Reihe von vernachlässigten Themen wie der Verwurzelung des Antisemitismus in Bulgarien vor 1940, den Deportationen oder den Arbeitslagern für jüdische Männer und hinterfragen eine große Zahl von bislang vorausgesetzten Selbstverständlichkeiten. Als ausschlaggebend für das Überleben der Juden im Kernland sehen sie die deutschen Niederlagen, die letztlich die bulgarische Führung zu einem Umdenken gezwungen hätten. 2008 erschien in Bulgarien die Monographie des israelischen Historikers bulgarischer Abstammung Šlomo Šealtiel über legale und illegale Alija aus Bulgarien als Reaktion auf die Verfolgung.26 Es handelt sich um die erste Arbeit, die die Opferperspektive eingehend erforscht. Dieser Blick führt weg von der einseitigen Konzentration auf das Handeln des Staatsapparats und macht auf die aktive Gegenwehr der Juden als Grund ihres Überlebens aufmerksam. Indes stellt Šealtiel die Rettungsthese nicht gänzlich in Frage. Im Gegenteil, er unterstreicht die positive Rolle, die die Bulgarisch-Orthodoxe Kirche oder die guten nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Bulgaren und Juden für ihr Überleben gespielt hätten. Damit gelingt dem Autor eine Annäherung an die offizielle bulgarische Lesart, ohne die grundsätzliche Verantwortung der bulgarischen Führung für Verfolgung und Deportation zu verharmlosen.27 Die vermeintlich guten nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Juden und Bulgaren stellt hingegen der Wirtschaftshistoriker Rumen Avramov mit seiner 2012 erschienenen Monographie über die wirtschaftlichen Aspekte der Judenverfolgung in Frage.28 Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen die Methoden der Aneignung des jüdischen Eigentums. Überzeugend demonstriert der Autor, wie neben dem Staat ein breites Spektrum der Bevölkerung an dem Raub des jüdischen Vermögens beteiligt war; die These einer einmütigen »Rettung« der Juden durch die bulgarische Gesellschaft oder ihre Eliten lehnt er kategorisch ab. Parallel zum Erscheinen von Avramovs Monographie rückte das Thema der historischen Verantwortung Bulgariens für das Schicksal der Juden in den besetzten Gebieten in den Mittelpunkt der Debatte, die nun auch eine außenpolitische Dimension erhielt.29 Das Bulgarische Helsinki-Komitee brachte deshalb 2012 Überlebende und Historiker aus Makedonien, Griechenland und Bulgarien an einen Tisch zusammen. Die Organisatoren der Konferenz setzten sich zum Ziel, die Politik des bulgarischen Staates gegenüber den Juden während des Zweiten Weltkriegs in ihrer Komplexität zu erschließen und sowohl die »Rettung« als auch die »Beteiligung am Genozid« zu thematisieren.30 Die Historische Fakultät der Sofioter Universität organisierte darauf in Kooperation mit der »Organisation der Juden in Bulgarien ›Šalom‹« eine Konferenz zum Thema »Die Juden in Osteuropa und der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs«, die jedoch stärker im Zeichen der »Rettung« stand. Die Beiträge über das Schicksal der Juden in den besetzten Gebieten widerspiegeln die zwei gegensätzlichen Pole der Kontroverse. Während einige Autoren eine bulgarische (Mit-)Verantwortung für die Deportation unter dem Verweis auf den deutschen Druck und den ungeklärten Status der Gebiete zu relativieren31 oder gar zu negieren32 suchen, sprechen andere unmissverständlich von einer bulgarischen Mittäterschaft bei der »Endlösung«.33 Ambivalenz kennzeichnete auch die offizielle Begehung des »70. Jahrestags der Rettung« im März 2013. Im Vorfeld hatte die jüdische Gemeinschaft erstmals dazu aufgerufen, dass Bulgarien die moralische Verantwortung für die Judenverfolgung der Jahre1941–1944 und (vor allem) für die Deportationen übernehmen solle.34 Stattdessen machte eine Erklärung, die die Volksversammlung in Sofia einstimmig annahm, das »Hitler-Kommando« für die Deportation allein verantwortlich.35 Zwei neue Quelleneditionen dürften künftig unkritische Darstellungen erheblich erschweren. Im Frühling 2013 erschien eine 30 Alle Materialien der Konferenz können eingesehen werden unter: http://past.bg- helsinki.org/. 31 Vgl. Valeri Kolev, »Da bădeš evrein v Carstvoto i novite zemi: istoričeski i 32 33 26 Šealtiel, Ot Rodina. 27 Dieser Standpunkt wurde in den nächsten Jahren zur offiziellen Position der jüdischen Gemeinschaft; vgl. das Interview mit dem Vorsitzenden der »Organisation der Juden in Bulgarien ›Šalom‹«, Maksim Benvenisti, vom 20.4.2012, in: http://focus-news.net/opinion/0000/00/00/21020/. 28 Rumen Avramov, »Spasenie« i padenie. Mikroikonomika na dăržavnija antisemitizăm v Bălgarija 1940–1944 [»Rettung« und Fall. Mikroökonomie des staatlichen Antisemitismus in Bulgarien 1940–1944], Sofia 2012. 29 Grund hierfür war u. a. die Einweihung eines Holocaust-Memorials im März 2011 in Skopje. 44 34 35 juridičeski aspekti na problema« [Jude zu sein im Zarenreich Bulgarien und in den neuen Gebieten: historische und juristische Aspekte des Problems], in: Kostadin Grozev, Rumjana Marinova-Hristidi (Hrsg.), Evreite v Iztočna Evropa i Săvetskija săjuz v godinite na Vtorata svetovna vojna i Studenata vojna (1939– 1989) [Die Juden in Osteuropa und der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs (1939–1989)], S. 97–104. Vgl. Spas Tašev, »Bălgarskata administracija văv Vardarska Makedonija prez 1941–1944 g. i sădbata na evrejskoto naselenie« [Die bulgarische Administration in Vardar-Makedonien 1941–1944 und das Schicksal der jüdischen Bevölkerung], in: ebd., S. 114–134. Vgl. z. B. Vanja Stojanova, »Bălgarija i evreite ot prisăedinenite teritorii prez Vtorata svetovna vojna« [Bulgarien und die Juden in den angeschlossenen Gebieten während des Zweiten Weltkriegs], in: ebd., S. 105–113; Ivan Hadžijski, »Deportacijata na evreite ot Belomorieto, Vardarska Makedonija i Pirotsko i spasjavaneto na evreite ot Dupnica i Kjustendil« [Die Deportierung der Juden aus Ägäisch-Thrakien, Vardar-Makedonien und Pirot und die Rettung der Juden in Dupnica und Kjustendil], in: ebd., S. 135–151. »›Šalom‹ iska Bălgarija da poeme otgovornost za evreite ot Vardarska Makedonija i Belomorska Trakija« [›Šalom‹ verlangt, dass Bulgarien die Verantwortung für die Juden in Vardar-Makedonien und Ägäisch-Thrakien übernimmt], v. 14.2.2013, in: www.mediapool.bg/shalom-iska-bulgaria-da-poeme-moralnata-otgovornostza-evreite-ot-vardarska-makedoniya-i-egeiska-trakiya-news202880.html. Der komplette Text der Erklärung v. 8.3.2013 kann in bulgarischer Originalsprache und englischer Übersetzung abgerufen werden unter www.parliament.bg/bg/ news/ID/2582. Einsicht Sammlung mit ausgewählten Materialien des Prozesses von 1945 gegen Verantwortliche für die Judenverfolgung.36 Neben der Anklageschrift und dem Urteil enthält sie Zitate aus Originaldokumenten und Zeugenaussagen, die verschiedene Aspekte der Verfolgung berühren und neue Einzelheiten über eine Reihe von Repressalien offenbaren. Eine andere Quellenedition widmet sich ausschließlich dem Schicksal der Juden in den besetzten Gebieten.37 Mit zwei überzeugend herausgearbeiteten Studien und über 600 Dokumenten, die ausschließlich aus bulgarischen Archiven stammen und größtenteils zum ersten Mal veröffentlicht werden, erweitert die Dokumentation den Forschungsstand erheblich. Die Dokumente umfassen ein breites Spektrum an Themen: von den Veränderungen, die im sozialen und wirtschaftlichen Leben der Juden mit dem Beginn der bulgarischen Verwaltung im April 1941 eintraten, über die Planung und Durchführung der Deportationen und den darauffolgenden Entzug des Vermögens der Deportierten bis hin zum Prozess gegen einige der Täter. Fazit sich vollständig von der Rettungsthese zu distanzieren. Diese wird im Gegenteil angesichts einer zunehmenden Aktivierung rechtsextremer Parteien in der politischen Landschaft Bulgariens als Aufruf zur Toleranz weiterhin beschworen. Trotz des Aufkommens einer kritischen Holocaustdebatte harren noch zahlreiche Fragen ihrer historischen Aufarbeitung. Der Fokus der Forschung liegt immer noch auf der Bereitstellung von Quellen, auf dem Herausarbeiten der grundsätzlichen Fakten und dem Bemühen, das Geschehene begrifflich zu fassen. Auch werden die Arbeitsergebnisse der internationalen Holocaustforschung selten aufgegriffen. Es fehlt insbesondere der kritische Blick auf die Nachbarstaaten und andere Bündnispartner Deutschlands, der tatsächliche Besonderheiten, aber auch zahlreiche Gemeinsamkeiten aufzeigen könnte. Themen wie die Bedeutung des Antisemitismus und seine sozialgeschichtliche Basis, die Kontextualisierung der Politik gegenüber den Juden in der allgemeinen Minderheitenpolitik Bulgariens oder der jüdische Widerstand sind noch kaum behandelt worden, ebenso wie alltags- und mentalitätsgeschichtliche Darstellungen noch ausstehen. In Bulgarien ist in den letzten Jahren eine Reihe von kritischen Arbeiten und Quelleneditionen über die Politik des Landes gegenüber den Juden erschienen, die den Stand der Forschung über den Holocaust vorangebracht und viele Mythen hinterfragt haben. Als Ergebnis beobachten wir eine zunehmende Differenzierung der Sprache. Wenn davon die Rede ist, dass »alle bulgarischen Juden« gerettet wurden, wird in der Regel zugegeben, dass es sich nur um diejenigen handelt, die im Kernland lebten, während die in den besetzten Gebieten lebenden Juden deportiert wurden. Immer mehr Autoren sprechen von einer bulgarischen Mitschuld am Holocaust. Kritische Arbeiten unterstreichen, dass das Überleben der Juden im Kernland durch eine Reihe von Faktoren bedingt wurde und nicht ausschließlich den Protesten der bulgarischen Gesellschaft und ihrer Eliten zu verdanken war. Zunehmend befassen sich Arbeiten auch konkret mit den Repressalien, die Juden während des Kriegs in Bulgarien erfahren haben. Für die öffentliche und politische Debatte bleibt jedoch die Einzigartigkeit des jüdischen Schicksals in Bulgarien im Vordergrund. Obwohl die jüdische Gemeinschaft zur Übernahme der Mitverantwortung für die Deportation der Juden aus den besetzten Gebieten aufgerufen hat, fällt es auch ihr schwer, 36 Vărban Todorov, Nikolaj Poppetrov (Hrsg.), VII săstav na Narodnija săd. Edno zabraveno dokumentalno svidetelstvo za antisemitizma v Bălgarija prez 1941– 1944 [Der Siebente Prozess des Volkstribunals. Ein vergessenes Zeugnis über den Antisemitismus in Bulgarien 1941–1944], Sofia 2013. 37 Nadia Danova, Rumen Avramov (Hrsg.), Deportiraneto na evreite ot Vardarska Makedonija, Belomorska Trakija i Pirot: Mart 1943 [Die Deportation der Juden aus Vardar-Makedonien, Ägäisch-Thrakien und Pirot: März 1943], 2 Bde., Sofia 2013. Einsicht 11 Frühjahr 2014 45 Beiträge zu Leben und Wirken Fritz Bauers Fritz Bauer und Erwin Schüle Annäherung an ein schwieriges Verhältnis von Kerstin Hofmann Kerstin Hofmann, M.A., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Mannheim. Seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. Sie arbeitet an einer Dissertation über die Mitarbeiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Anhand der dort tätigen Staatsanwälte und Ermittler untersucht sie, welche Bedeutung und Funktionen eine spezifische Gruppe von Akteuren für die Selbstaufklärung der bundesdeutschen Gesellschaft hatte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der juristischen Zeitgeschichte und der Aufarbeitung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik sowie der Ideen- und Mentalitätsgeschichte. Von Beginn an bot die Beziehung zwischen dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) und dem ersten Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Erwin Schüle (1913–1993), Konfliktpotenzial. Ihre durch unterschiedliche Lebenserfahrungen und Mentalitäten geprägten Persönlichkeiten waren zu verschieden, um eine reibungslose Zusammenarbeit zu gewährleisten. Denn im Gegensatz zu Bauer kam Schüle nur durch »Zufall« mit der strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen in Kontakt. Im Frühjahr 1958 begann vor dem Schwurgericht Ulm ein folgenreicher Prozess. Auf der Anklagebank saßen zehn Angeklagte, davon neun ehemalige Mitglieder des Einsatzkommandos Tilsit. Ihnen wurde vorgeworfen, zwischen Juni und September 1941 im deutsch-litauischen Grenzgebiet mehr als 5.500 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet zu haben. Auslöser des Verfahrens, das als »Zufallsprodukt einer Zufallsjustiz«1 zu bezeichnen ist, war die Klage Bernhard Fischer-Schweders (1904–1960) auf Wiedereinstellung in den Staatsdienst. Im Zuge der lokalen Berichterstattung erhoben ehemalige Untergebene schwere Vorwürfe gegen den einstigen Polizeidirektor von Memel: Fischer-Schweder habe als Leiter eines Einsatzkommandos Erschießungen von Juden befehligt. Obwohl die zuständige Ulmer Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnahm, blieben die zutage geförderten Erkenntnisse unzureichend. Erst nachdem der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann (1895–1968) seinen persönlichen Sachbearbeiter, Staatsanwalt Erwin Schüle, im Juni 1956 mit den Ermittlungen betraut hatte, wurde die Dimension der Verbrechen sichtbar: »Ich war schockiert. Es war für mich unfaßbar, daß man solche Befehle gibt und daß man sie ausführt, wenn man sie bekommt.«2 In mühevoller Kleinarbeit rekonstruierten Schüle und seine Ulmer Kollegen Erkenntnisse aus den Nürnberger Prozessen, erschlossen neue Beweismittel und suchten nach Zeugen für die Mordaktionen. Die Anklage vertrat Schüle selbst. In seinem Plädoyer betonte er, dass die Angeklagten nicht wegen ihrer früheren NSDAP-, SA- oder SS-Mitgliedschaft vor Gericht stünden, sondern einzig deswegen, weil ihnen die Mitwirkung bei einer Reihe von Verbrechen zur Last gelegt werde. Ein Aspekt lag ihm dabei besonders am Herzen, den er in seinem Schlussvortrag hervorhob: Die Bedeutung des Prozesses »liegt […] darin, dass auch dem letzten Deutschen die Augen darüber geöffnet werden [sollen], wer jene Menschen waren, die als Führer damals des Reiches Geschicke leiteten. Meine hohen Richter, dieser Prozess hat die Tötung von Hunderten und Tausenden von Menschen zum Gegenstand. Vergessen Sie ob der Größe der Zahlen nicht, dass hinter jeder Zahl das Schicksal eines einzelnen Menschen steht!«3 Als das Urteil im August 1958 erging, berichteten die Medien ausführlich über Umfang und Grausamkeit der verübten Verbrechen. Obwohl das Strafmaß als zu mild bewertet wurde, würdigten die Kommentatoren das Urteil als wichtigen Schritt der juristischen Selbstreinigung. Dennoch oder gerade deswegen wurde die Forderung laut, die Ahndung von NS-Verbrechen auf eine systematische Grundlage zu stellen. So forderte der Journalist Ernst Müller-Meiningen jr. (1908–2006) in der Süddeutschen Zeitung ein Umdenken: »Was zu tun bliebe, wäre die endliche Beschaffung und Sichtung des alliierten Materials über Untaten, die Aufstellung einer zentralen Kartei unter Bemühung des Instituts für Zeitgeschichte, endlich eine zwischen Justiz- und Innenministerium von Bund und Ländern zu schaffende Absprache, um in den nächsten Jahren im Rahmen des überhaupt noch Möglichen reinen Tisch zu machen, bevor jener so beliebte ›Schlußstrich‹ wirklich guten Gewissens gezogen werden kann.«4 Jenen »Schlussstrich« wollten der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Nellmann und der baden-württembergische Justizminister Wolfgang Haußmann (FDP, 1903–1989) abwenden. Innerhalb kürzester Zeit erarbeiteten Nellmann und Schüle ein Konzept zur Errichtung einer zentralen Ermittlungsstelle. Die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen sollte fortan nicht mehr dem »Staatsanwalt Zufall« überlassen werden, sondern auf eine systematische Grundlage gestellt werden. Unterstützung erhielten sie von Fritz Bauer, der schon in Frankfurt am Main mit viel Elan begonnen hatte, die 2 3 1 46 Ernst Müller-Meiningen jr., »Gespenstische Vergangenheit vor Gericht zitiert«, in: Süddeutsche Zeitung vom 30./31.8.1958. Einsicht 4 Erwin Schüle zitiert nach: »Ohne Schelle im Wald«, in: Der Spiegel vom 12.8.1959. Audiomitschnitt »Plädoyer des Staatsanwalts [Schüle] im 1. Tilsiter Einsatztruppen-Prozess [sic!] (1.8.1958)«, aus: SWR Archiv. Müller-Meiningen jr., »Gespenstische Vergangenheit«. Einsicht 11 Frühjahr 2014 nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den Fokus zu nehmen. Bereits Anfang Oktober 1958 verhandelten die Justizminister der Länder auf ihrer jährlichen Konferenz in Bad Harzburg über die Gründung einer entsprechenden Behörde. Unter dem Eindruck der »Blutrichter«-Kampagne der DDR gegen höhere bundesdeutsche Justizbeamte und um das publik gewordene Problem der NS-Richter möglichst »sanft« zu bereinigen, einigten sich die Anwesenden auf eine Kompromisslösung: die temporäre Einrichtung einer zentralen Vorermittlungsbehörde mit Sitz im baden-württembergischen Ludwigsburg. Aufgabe der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen war und ist es, das gesamte verfügbare Material über NS-Verbrechen im In- und Ausland zu sammeln, zu sichten und auszuwerten. Das Hauptziel der Ermittler ist dabei, nach Ort, Zeit und Täterkreis begrenzte Tatkomplexe herauszuarbeiten und festzustellen, welche an den Tatkomplexen beteiligten Personen noch verfolgt werden können. Nach Abschluss der Vorermittlungen leitet die Zentrale Stelle den Vorgang an die zuständige Staatsanwaltschaft weiter. Sie koordiniert zudem die bei den bundesdeutschen Staatsanwaltschaften anhängigen Verfahren gegen NS-Verbrecher. In der entsprechenden Verwaltungsvereinbarung der Landesjustizverwaltungen vom 6. November 1958 wurde die Kompetenz der Behörde allerdings deutlich eingeschränkt: Die Zentrale Stelle sollte zunächst nur für solche NS-Verbrechen zuständig sein, deren Tatort außerhalb des Bundesgebietes lag und die im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen, jedoch außerhalb der eigentlichen Kriegshandlungen, gegenüber der Zivilbevölkerung verübt worden waren. Erst Mitte der 1960er Jahre wurde die Zuständigkeit auf die im Bundesgebiet begangenen NS-Verbrechen, auf Vorermittlungen gegen Angehörige der obersten Reichsbehörden, der obersten Parteidienststellen sowie der Lagermannschaften der im Bundesgebiet gelegenen Konzentrationslager erweitert. Verbrechen gegenüber Kriegsgefangenen gehören seither ebenfalls in den Kompetenzbereich der Zentralen Stelle. Fritz Bauer, der von Beginn an ein Verfechter einer zentralen Ermittlungsbehörde war und dessen Rat Nellmann im Vorfeld der Harzburger Konferenz eingeholt hatte,5 äußerte sich 1958 in einem Kommentar mit dem Titel »Mörder unter uns!« kritisch zum dortigen Beschluss. Mit Blick auf seine eigenen Erfahrungen lieferte er eine nüchterne Bestandsaufnahme des Justizalltags und der zum Teil hartnäckigen Ablehnung der Ahndung von NS-Verbrechen. »Eine zentrale Stelle tut not, sie sollte aber keine ausschließlich strafrechtliche Zielsetzung haben. Unbeschadet etwaiger strafrechtlicher Konsequenzen sollten Juristen und Historiker zunächst einmal das erschreckende Material – Urkunden, Zeugenaussagen 5 Marc von Miquel, Ahnden oder Amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004, S. 163. 47 und dergleichen – sammeln, sichten, würdigen und der deutschen Öffentlichkeit in geeigneter Weise vorlegen.«6 Bauer wollte, dass die Zentrale Stelle einen politischen Bildungsauftrag übernehmen und einen Beitrag zu einem demokratischen Selbstverständnis der westdeutschen Gesellschaft leisten sollte: »Nachdem 15 bis 20 Jahre seit den entsetzlichen Geschehnissen verflossen sind, sind einer umfassenden strafrechtlichen Bereinigung Grenzen gesetzt, nicht aber einer Feststellung und allseitigen Erkenntnis der Wahrheit. Sie sollte unter allen Umständen angestrebt werden. Schon sie könnte die heimische Flut bequemen Vergessens eindämmen, zu einer Klärung dessen führen, was rechtlich gut und böse war, und – frei von jeder Splitterrichterei – die vergangene und zukünftige Verantwortung aller Bürger für das politische und menschliche Geschehen in ihrem Staat ins öffentliche Bewußtsein rücken.«7 Entscheidend für den Erfolg der Zentralen Stelle sei die Auswahl der Staatsanwälte und Richter: »Die Rekrutierung der Zentralstelle aus Kreisen der deutschen Staatsanwaltschaft wird nicht leicht sein. Schon seither stieß es auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten, Staatsanwälte für die politischen Referate zu gewinnen. Diejenigen, die sich in der Bundesrepublik aus freien Stücken bereitfanden, werden sich leicht zählen lassen. Es wird bestimmt kein Run zur Zentralstelle einsetzen, zumal Familie und Wohnung an den Heimatort binden und schwer abzusehen ist, wie lange eine Abordnung dauern wird. Persönliche Neigung und Eignung der Beamten ist aber selbstverständlich Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit der Zentrale.«8 Einer, der die nötige Erfahrung, Engagement und ebenjene unabdingbare Leidensfähigkeit mitbrachte, die von Nöten war, war Erwin Schüle. Aufgrund seiner Verdienste im Ulmer Einsatzkommandoprozess wurden ihm die Leitung und der Aufbau der Zentralen Stelle übertragen. Doch außergewöhnliche Eigeninitiative wurde nicht nur im juristischen Bereich gefordert: Schüles erste Amtshandlung im Dezember 1958 bestand darin, die im Ludwigsburger Gefängnis zur Verfügung gestellten Räume eigenhändig zu entrümpeln.9 Bereits wenige Tage nach Aufnahme der Vorermittlungstätigkeit gelang ihm ein erster Achtungserfolg: die Festnahme des ehemaligen SS-Oberführers und RSHA-Amtschefs Erich Ehrlinger (1910–2004). Bis Ende 1959 eröffnete die Zentrale Stelle 400 Vorermittlungsverfahren. Wie Bauer prognostiziert hatte, mussten in Ludwigsburg die komplexen historischen Tatvorgänge mühsam rekonstruiert, im In- und Ausland lebende Zeugen sowie untergetauchte mutmaßliche NS-Verbrecher gefunden werden. Von Vorteil waren hier die Erfahrungen und Kontakte, die Schüle im Vorfeld des Ulmer Prozesses gesammelt hatte. Aus jener Zeit wusste Schüle, welche Bedeutung die Aussagen vornehmlich jüdischer NS-Verfolgter vor Gericht hatten und wie schwer es war, diese meist im Ausland lebenden Zeugen zu finden. Erschwerend kam hinzu, dass seinerzeit keine diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel bestanden; sie wurden erst 1965 aufgenommen. Auf eigene Faust nahm Schüle daher im Juni 1959, vermittelt durch den NS-Verfolgten und Wiedergutmachungsanwalt Edward Kossoy (1913–2012), Kontakt zum Leiter des Institute of Documentation in Israel for the Investigation of Nazi War Crimes (Haifa), Tuviah Friedman (1922–2011), auf.10 Friedman reagierte erfreut auf das Interesse des Oberstaatsanwalts an der Arbeit seines Instituts und erklärte sich bereit, Ludwigsburg durch die Beschaffung von Zeugenaussagen, Dokumenten und sonstigen Beweismitteln zu unterstützen. Im Gegenzug bat er Schüle um Mithilfe bei der Hauptaufgabe seiner Tätigkeit: der Suche nach dem SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann (1906–1962).11 Da Fritz Bauer Schüle hinsichtlich seiner eigenen Nachforschungen zu Eichmann nicht ins Vertrauen gezogen hatte, ahnte der Ludwigsburger Dienststellenleiter nicht, wie dicht Bauer und der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad Eichmann bereits auf den Fersen waren.12 Schüle handelte folglich nach bestem Wissen und Gewissen, als er im August 1959 an Friedman schrieb, ihm sei vertraulich mitgeteilt worden, dass sich Eichmann in Kuwait aufhalte.13 Neben Friedman berichtete er auch Bauer umgehend von dieser Neuigkeit. Schüle lag im Sinne seiner Ludwigsburger Tätigkeit sehr daran, den Kontakt zu Friedman und zu dessen Institut zu festigen und zugleich die eigenen und die Frankfurter Ermittlungen zu unterstützen, wo seit 1956 ein Verfahren gegen Eichmann anhängig war. Dass er damit genau das Gegenteil dessen erreichte, was er ursprünglich bezweckte, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. Wie Irmtrud Wojak ausführt, informierte Friedman die Presse über Eichmanns angeblichen Aufenthaltsort. Bauer reagierte ungehalten auf diese ungeplante Veröffentlichung. Er fürchtete, dass Eichmann gewarnt werden und in der Folge seinen Wohnsitz ändern könnte.14 10 Schüle an Friedman vom 26.6.1959, in: Tuviah Friedman (Hrsg.), Die Korre- 6 7 8 9 48 Fritz Bauer, »Mörder unter uns!«, in: Stimme der Gemeinde zum kirchlichen Leben, zur Politik, Wirtschaft und Kultur, Jg. 10 (1958), H. 22, S. 789–792, Nachdruck in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt am Main 1998, S. 97– 100, hier S. 98. Ebd., S. 100. Ebd., S. 98. Vgl. Miquel, Ahnden oder Amnestieren, S. 180. 11 12 13 14 spondenz zwischen der Zentralen Stelle und der Dokumentation in Haifa 1959– 1990, Haifa 1993. Die Briefe zwischen Friedman und Schüle werden im Folgenden nur noch mit Datum zitiert. Friedman an Schüle vom 13.7.1959. Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München 2009, S. 297 f. Schüle an Friedman vom 20.8.1959. Wojak, Fritz Bauer, S. 298. Zum »taktischen« Vorgehen Bauers siehe Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich 2011, S. 435–444. Einsicht Erwin Schüle, Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen (Ludwigsburg), bei einem Besuch in Warschau am 4. Februar 1965. Foto: picture alliance/dpa/ap In der Hoffnung, den entstandenen Schaden einzugrenzen, wandte sich der von Bauer entsprechend instruierte Schüle erneut an Friedman: Er, Schüle, sei Friedman »nicht böse«, auch wenn er durch die Veröffentlichung in Schwierigkeiten geraten sei, doch hätte sich Eichmann wirklich in Kuwait aufgehalten, so hätte er in Folge der medialen Aufmerksamkeit die Gelegenheit zur Flucht gehabt. Auch wenn die ihm, Schüle, zur Verfügung stehenden Informationen falsch gewesen seien, könnte Friedman sicher sein, dass Generalstaatsanwalt Bauer jedem eingehenden Hinweis gewissenhaft nachgehe.15 Friedman, der in Schüle einen Verbündeten bei der Aufklärung von NS-Verbrechen sah, wandte sich kurz darauf erneut an Ludwigsburg, um dem Behördenleiter gegenüber anzudeuten, dass er nun über den wahren Aufenthaltsort Eichmanns informiert sei.16 Schüle, der nach Bauers Zurechtweisung dessen Ermittlungen keinesfalls abermals gefährden wollte, wandte daraufhin besorgt ein: »Bitte unterstützen Sie mich darin, daß der ›Fall Eichmann‹ für die nächste Zeit absolut tabu ist. […] keine Veröffentlichungen, keine Reden, keine wie auch immer gearteten Prozesse. Damit soll der Fall Eichmann in keiner Weise totgeschwiegen werden, aber zur Zeit stört jede Erörterung und insbesondere jede private Ermittlung unsere Bemühungen zur Aufklärung des Falles Eichmann. Seien Sie bitte überzeugt, daß ich gewichtige Gründe für meinen Appell habe.«17 Anhand dieses Schreibens wird deutlich, dass Schüle bei der Suche nach Eichmann sprichwörtlich zwischen den Stühlen saß. Obwohl er der Leiter der Behörde war, die sämtliche (Vor-)Ermittlungen bei NS-Verbrechen koordinieren sollte, war er auf die Informationen angewiesen, die ihm Bauer und andere zugestanden. Er selbst war zu keiner Zeit »Herr der Information«. In der Literatur ist viel spekuliert worden, warum Bauer Schüle über den genauen Ermittlungsstand im Unklaren ließ: aus persönlichem Misstrauen oder aus ermittlungstaktischen Gründen? Bauer hielt den Kreis der Eingeweihten bewusst möglichst klein und behandelte seine Erkenntnisse absolut vertraulich. Eine eindeutige Antwort ist bis heute nicht gefunden. Fest steht jedoch, dass Bauer zu diesem Zeitpunkt bereits über Schüles einstige 15 Schüle an Friedman vom 26.10.1959. 16 Friedman an Schüle vom 8.11.1959. 17 Schüle an Friedman vom 13.11.1959. Einsicht 11 Frühjahr 2014 49 Mitgliedschaft in der SA und der NSDAP Bescheid wusste und dies für ihn kein Hinderungsgrund für die weitere Zusammenarbeit mit der Zentralen Stelle war.18 Nach Friedmans Presseveröffentlichung wandte sich auch Nehemiah Robinson (1898–1964) vom World Jewish Congress (WJC) an die Zentrale Stelle. Er merkte empört an, dass der WJC nicht über den Aufenthaltsort Eichmanns informiert worden sei.19 Abermals war Schüles diplomatisches Geschick gefragt. Durch die Erfahrungen, die er bei der Weitergabe von Informationen an Friedman gemacht hatte, vorsichtig geworden, verwies er floskelhaft auf den Mangel an Beweisdokumenten und die Schwierigkeiten bei ihrer Beschaffung.20 Obwohl sich Schüle im Fall Eichmann Robinsons Diskretion zusichern ließ, musste er mehrfach die Wogen glätten. Schüle bat Robinson, den Namen des ehemaligen SS-Obersturmbannführers aus ermittlungstaktischen Gründen aus öffentlichen Verlautbarungen zu entfernen, wenn nötig unter Aufbietung seiner ganzen Autorität als Direktor des WJC. Er selbst habe die Hoffnung, »dass wir in absehbarer Zeit doch noch zum Ziele kommen werden«.21 Robinson ließ sich durch diese Worte zunächst besänftigen, horchte jedoch erneut auf, als die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 24. Dezember 1959 berichtete: »Wie der hessische Generalstaatsanwalt Dr. Bauer am Mittwoch mitteilte, scheint es ziemlich sicher, daß Eichmann als einflußreicher Mittelsmann zwischen deutschen Konzernen und Kuwait im Stab des dortigen Scheichs arbeitet.«22 Irritiert fragte er Schüle, ob es denn im Fall Eichmann keine einheitliche Linie gebe.23 Beschwichtigend klärte dieser den erbosten Robinson auf, dass es sich hierbei nur um einen scheinbaren Widerspruch handle, denn Bauer habe einzig auf einen israelischen Presseartikel reagiert. Prinzipiell seien die Zentrale Stelle, namentlich Schüle selbst, und Fritz Bauer in Bezug auf das Vorgehen bei den Ermittlungen einig. Sie beide verträten quasi im Schulterschluss die Ansicht, dass alle weiteren Veröffentlichungen im Fall Eichmann unterbleiben sollten.24 Volker Rieß vermutet, Schüle und Bauer hätten abgesprochen, ihren Schriftwechsel »als eine Art Verneblungstaktik« zu führen.25 Er kommt zu dem Schluss, dass Schüle von Bauers Zeugen und 18 Vgl. Vermerk Justizministerium BW vom 6.2.1961, in: Hauptstaatsarchiv Stutt- gart (HStAS), EA 4/106, Bü 1. 19 Robinson an Schüle vom 21.10.1959, in: Generalakten der Zentralen Stelle Lud- 20 21 22 23 24 25 50 wigsburg (ZStL GA), III-6/5. Vgl. Volker Rieß, »Fritz Bauer und die Zentrale Stelle: Personen zwischen Konsens und Dissens«, in: Katharina Rauschenberger (Hrsg.), Rückkehr in Feindesland? Fritz Bauer in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte, Frankfurt am Main 2013, S. 131–149, hier S. 132–134. Schüle an Robinson vom 26.10.1959, in: ZStL GA, III-6/6. Schüle an Robinson vom 18.12.1959, in: ZStL GA, III-6/13. »Eichmann soll ausgeliefert werden«, in: FAZ vom 24.12.1959. Robinson schrieb fälschlicherweise, der Artikel sei am 28.12.1959 erschienen. Robinson an Schüle vom 4.1.1960, in: ZSt GA, III-6/17. Schüle an Robinson vom 12.1.1960, in: ZStL GA, III-6/18. Vgl. Rieß, »Fritz Bauer«, S. 134. dessen entscheidendem Hinweis zu »Ricardo Clement« wusste. Als Beleg zitiert Rieß einen Briefwechsel zwischen Schüle und Felix E. Shinnar (1903–1985), dem Leiter der Israelischen Handelsmission in Köln, in dem Schüle auf ein Gespräch mit Bauer verweist, in dem die Übereinkunft getroffen wurde, Friedman von weiteren »privaten Ermittlungen« abzuhalten.26 Ferner verweist er auf einen Vermerk in den Akten des Justizministeriums Baden-Württemberg, demzufolge Eichmann nicht noch einmal durch Friedman gewarnt werden solle.27 Obwohl die Suche nach Eichmann beinahe gescheitert wäre, unterstützte Fritz Bauer Schüle und die Zentrale Stelle weiterhin, indem er den Kontakt zu Shinnar vermittelte. Der Leiter der Israelischen Handelskommission hatte aufgrund der nicht vorhandenen diplomatischen Beziehungen den Rang eines Botschafters inne, jedoch ohne diplomatischen Status. Dank Bauers Fürsprache, Schüles Verweis auf die temporäre Einrichtung seiner Behörde und der Bedeutung der in Israel vorliegenden Kopien polnischer Beweisdokumente stimmte das Justizministerium Baden-Württemberg zu, dass die Zentrale Stelle zwecks Zeugenvernehmungen und Beschaffung von Beweismaterial über Shinnar direkten Kontakt mit Israel pflegen durfte. Es ist Bauer zu verdanken, dass hierbei der »kleine Dienstweg« ohne Hinzuziehung des Auswärtigen Amtes beschritten werden konnte und es der Zentralen Stelle fortan möglich war, Rechtshilfeersuchen direkt an Israel zu richten.28 Auch die Zusammenarbeit der Zentralen Stelle mit der polnischen Hauptkommission zur Untersuchung der nationalsozialistischen Verbrechen in Polen (Główna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce), insbesondere mit Jan Sehn (1909–1965), geht auf die Vermittlung und die persönlichen Kontakte Fritz Bauers zurück.29 Dem hessischen Generalstaatsanwalt war daran gelegen, die Arbeit der Zentralen Stelle zu fördern und voranzutreiben. Gemeinsam mit Schüle setzte er sich dafür ein, Tatkomplexe im Ganzen und nicht als aufgespaltete Einzelverfahren zu verhandeln, um neben der juristischen Feststellung der Schuld den historischen Hintergrund der NS-Verbrechen zu erarbeiten.30 Auch wenn beide in der Frage nach der Notwendigkeit von NS-Verfahren ähnliche Auffassungen vertraten, war ihr Engagement unterschiedlich motiviert. Fritz Bauer lag die juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus am Herzen; sein Ziel war die »Bewältigung der Vergangenheit«. Erwin Schüle hingegen sah seine Arbeit in der Zentralen Stelle pragmatischer und karriereorientierter, zumal er zeitweise auch noch an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Stuttgart abgeordnet war. Als frisch 26 27 28 29 30 gekürter Behördenleiter ging er 1958 voller Elan und Tatendrang daran, seine Dienststelle aufzubauen, neue Ermittlungswege zu beschreiten und Kontakte zu Personen und Institutionen im In- und Ausland zu knüpfen. Wie Bauer anfangs prognostiziert hatte, stieß Schüle dabei rasch auf Widerstände in der Bürokratie und Mauern des Schweigens. Anders als Bauer oder sein Nachfolger bei der Zentralen Stelle, Adalbert Rückerl (1925–1986), war Schüle jedoch nicht bereit, seine Karriere oder seine Gesundheit der Aufarbeitung von NS-Verbrechen zu opfern. Er strebte vielmehr danach, die steile Hierarchieleiter in der Stuttgarter Staatsanwaltschaft hinaufzusteigen. Ein Ziel, bei dem ihn sein Dienstvorgesetzter, Justizminister Haußmann, maßgeblich unterstützte.31 Auch bei der 1965 anstehenden Verjährung von Mord vertraten die beiden Juristen unterschiedliche Auffassungen: Während Bauer für eine Aufhebung der Frist eintrat, betonte Schüle mehrfach, dass 32 Vgl. Meusch, Diktatur, S. 315. Zu Dietrich Zeug siehe Ruth Bettina Birn, »Ein 31 Haußmanns Initiative ist es zu verdanken, dass Schüle 1970 (als Leiter der Staatsanwaltschaft Stuttgart) die Amtsbezeichnung »Generalstaatsanwalt beim Landgericht Stuttgart« verliehen wurde. deutscher Staatsanwalt in Jerusalem. Zum Kenntnisstand der Anklagebehörde im Eichmann-Prozess und der Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik«, in: Werner Renz (Hrsg.), Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften, Frankfurt am Main 2012, S. 93–117. Vom Naziverbrecher zum BND-Spion Neues von der NS-Forschung Die Terrorherrschat in der Slowakei »Cüppers hat beeindruckend viel Archivmaterial ausgewertet und rekonstruiert zum ersten Mal das gesamte Leben von Walther Rauff.« Die Welt Kriegsverbrechen, Täterforschung, Nachkriegsstrategien beim Umgang mit dem Nationalsozialismus – 20 renommierte Historiker präsentieren neueste Positionen der Forschung, von Donald Bloxham und Christopher R. Browning bis Gerhard Paul und Wolfram Pyta. »Ein sehr solider Beitrag zur Erforschung von Besatzung, Besatzungsrealität und Aufarbeitung im Zweiten Weltkrieg.« Frankfurter Allgemeine Zeitung Martin Cüppers Walther Rauff – In deutschen Diensten Vom Naziverbrecher zum BND-Spion 440 S. mit 13 s/w Abb., geb. ISBN 978-3-534-26279-3 € 49,90 Schüle an Shinnar vom 13.11.1959, in: ZStL GA, III-32. Vermerk für Minister [Haußmann] vom 16.12.1959, in: HStAS, EA 4/106, Bü 4. Vgl. Rieß, »Fritz Bauer«, S. 137–139. Dokumentation der Rechtshilfe mit Polen: ZStL GA, 9-1. Vgl. Matthias Meusch, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956–1968), Wiesbaden 2001, S. 197. Einsicht die Arbeit der Zentralen Stelle bis Ende 1964 »im Wesentlichen« abgeschlossen sei und die Verjährung daher fristgerecht in Kraft treten könne. Ein Standpunkt, dem neben Bauer auch Mitarbeiter der Zentralen Stelle heftig widersprachen. Bauer warnte in diesem Zusammenhang gar einen Mitarbeiter vor Schüle: Sämtliche seiner Äußerungen sollten fortan »mit Vorbehalt« betrachtet werden. Für zuverlässige Angaben solle stattdessen der vom Land Hessen abgeordnete Mitarbeiter Dietrich Zeug (1930–1997) kontaktiert werden.32 Bauer distanzierte sich mehr und mehr von Schüle. Dies wird zum einen an der Kontroverse um Barbara Just-Dahlmann (1922–2005) und ihren 1961 in Loccum gehaltenen Vortrag deutlich. Die Mannheimer Staatsanwältin war im Mai 1960 aufgrund ihrer Sprachkenntnisse einige Tage nach Ludwigsburg abgeordnet worden, um dort die Auswertung polnischer Zeugenaussagen und Martin Cüppers / Jürgen Matthäus / Andrej Angrick (Hrsg.) Naziverbrechen Täter, Taten, Bewältigungsversuche 397 S. mit 48 s/w Abb., geb. ISBN 978-3-534-26311-0 € 59,90 Lenka Šindelárová Finale der Vernichtung Die Einsatzgruppe H in der Slowakei 1944/1945 360 S., mit 1 Karte, geb. ISBN 978-3-534-25973-1 € 49,90 www.wbg-wissenverbindet.de Einsicht 11 Frühjahr 2014 51 Beweisdokumente zu unterstützen. In besagtem, frei vorgetragenen Referat schilderte sie die Arbeit der Zentralen Stelle und sprach in einem Nebensatz mögliche personelle Kontinuitäten bei Polizeibeamten nach 1945 an. Die Zentrale Stelle müsse aufpassen, an welche Polizeidienststelle sie sich wende, denn es bestünde die Gefahr, dass »die Akten dort […] in die Hände eines Beamten [gerieten], der zu dem […] gesuchten Täterkreis« gehöre.33 Eine Aussage, die Schüle wenige Monate zuvor auf der Tagung der Generalstaatsanwälte in Bremen in ähnlicher Form selbst getätigt hatte. Durch die in Loccum anwesende Presse waren die öffentlichen Reaktionen immens und Just-Dahlmann wurde zur Anhörung ins Justizministerium nach Stuttgart geladen. Unterstützung erhielt sie in jenen Tagen von Fritz Bauer, der ihr in einem Telefonat mitteilte, dass sie sich nicht auf Schüle verlassen könne: »Er habe ›die Hosen voll‹, er wolle leitender Oberstaatsanwalt in Stuttgart werden, u. die ganze Sache käme ihm sehr ungelegen.« Er, Bauer, hingegen »halte [ihr] die Stange«. Just-Dahlmann dokumentierte auch Schüles Reaktion: Dieser bat sie telefonisch, »ihn doch möglichst raus[zu]halten«.34 Dass Bauer Schüles Verhalten missbilligte, äußerte er auch mehrfach gegenüber Thomas Harlan (1929–2010).35 Harlan unterstützte die Zentrale Stelle seit 1960 mit Beweisdokumenten, Namenslisten und Zeugenaussagen, die er in polnischen Archiven fand und an Ludwigsburg weiterleitete. Nach einem überraschenden Besuch Schüles bei Harlan schrieb Bauer: »Es ist mir nicht recht verständlich, was er bei Ihnen will. Berlin plant ein grosses Verfahren gegen das gesamte RSHA […] Schüle hat sich bislang – auch vor den deutschen Justizministern – gegen dieses Verfahren gewandt u. er ist – nachdem er vor 1½ Jahren Oberstaatsanwalt in Stuttgart wurde – überhaupt für einen Abschluss der Dinge. Die Geschichte ist mir nicht ganz geheuer.«36 Generell kommt im Briefwechsel der beiden – es sind leider nur noch Bauers Briefe erhalten – Bauers zunehmende Abneigung gegenüber Schüles Handeln zum Ausdruck. Hauptkritikpunkte sind dessen Befürwortung der Verjährung und sein immer offensichtlicher zutage tretendes Karrieredenken: »Schüle ist schwer zu verstehen. Seitdem er Oberstaatsanwalt in Stgt. ist, ist sein Ehrgeiz befriedigt.«37 33 Barbara Just-Dahlmann, Helmut Just, Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz Das Verhältnis zwischen Bauer und Schüle ist schwer zu erfassen, zumal von beiden keine Nachlässe überliefert sind. Auch wenn Bauer zunehmend von der Person Erwin Schüle Abstand nahm, unterstützte er dennoch weiterhin die Arbeit der Zentralen Stelle und der dort tätigen Ermittler. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechern stand für ihn stets im Vordergrund, zumal sich Bauer und Schüle in zwei entscheidenden Punkten einig waren: Beide warnten sowohl vor der Aufsplitterung von Tatkomplexen in Einzelverfahren wie auch davor, Prozesse gegen NS-Verbrecher als politische Prozesse zu bezeichnen.38 Ein Grund für die magere Quellenlage ist auch, dass sie angesichts der straffen Hierarchien in der damaligen Justiz dienstlich nur wenig persönlichen Kontakt miteinander hatten. Ihre Zusammentreffen beschränkten sich auf besondere Anlässe wie zum Beispiel die Vorbereitung des ersten Auschwitz-Prozesses, bei dem die Zentrale Stelle von Oktober 1958 an bis zur Abgabe des Verfahrens nach Frankfurt am Main Mitte 1959 an der Vorermittlung beteiligt war. 1966 übergab Erwin Schüle die Leitung der Zentralen Stelle an Adalbert Rückerl. Ein Jahr zuvor hatte die Nachrichtenagentur der DDR, ADN, Schüles frühere NSDAP- und SA-Mitgliedschaft publik gemacht. Auf einer Polen-Dienstreise hatten ihn ADN-Journalisten noch auf dem Flugplatz in Warschau öffentlich nach seiner NSVergangenheit befragt.39 Von sowjetischer Seite wurde daraufhin der Vorwurf erhoben, Schüle sei während des Zweiten Weltkrieges an Verbrechen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung beteiligt gewesen, weshalb er 1949 in Kriegsgefangenschaft in einem Schnellverfahren vor einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt worden sei. 1950 erfolgte jedoch seine Entlassung in die Bundesrepublik. Das daraufhin 1965 von der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart gegen Schüle eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde zwei Jahre später mangels begründeten Tatverdachts endgültig eingestellt. 1970 wurde Schüle Generalstaatsanwalt beim Landgericht Stuttgart, 1978 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz.40 Die Zentrale Stelle arbeitet noch heute mit den von Erwin Schüle initiierten Arbeitsmethoden und Dokumentensammlungen. Die während seiner Dienstzeit eingerichtete Zentralkartei ist mit inzwischen circa 1,7 Millionen Karteikarten (gegliedert in Personen-, Orts- und Einheitenkartei) bis heute eine unverzichtbare Arbeitsgrundlage für die Ahndung von NS-Verbrechen. Starke Emotionen (Sozial-)psychologische Perspektiven auf die Wahrnehmung des Nahostkonfliktes in Deutschland von Micha Brumlik Prof. Dr. Micha Brumlik, geboren 1947 in Davos in der Schweiz, lebt heute in Berlin; emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main; von 2000 bis 2005 Leiter des Fritz Bauer Instituts zur Geschichte und Wirkung des Holocaust; von 1989–2001 Stadtverordneter der GRÜNEN in Frankfurt am Main; seit 2013 Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/ Brandenburg; Mitherausgeber von BABYLON – Beiträge zur jüdischen Gegenwart und der Blätter für deutsche und internationale Politik. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Bildung und Erziehung, moralische Sozialisation, Antisemitismusforschung, jüdische Religions- und Geschichtsphilosophie. Ausführliche Publikations- und Vortragsliste: www.michabrumlik.de nach 1945, Frankfurt am Main 1988, S. 43. 34 Handschriftlicher Vermerk Just-Dahlmanns vom 12.12.1961, in: Bundesarchiv (BArch) Koblenz, N 1415/1. Schüle wurde am 1.2.1962 zum Leiter der Staatsanwaltschaft Stuttgart ernannt und mit einem Teil seiner Arbeitszeit als Oberstaatsanwalt dorthin abgeordnet. 35 Vgl. Jean-Pierre Stephan, »Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan. Eine deutsche Freundschaft«, in: Einsicht 09, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frühjahr 2013, S. 36–44. 36 Bauer an Harlan vom November 1963, in: Fritz Bauer Institut, Archiv, Nachlass Bauer, NL 08/03. 37 Bauer an Harlan vom 28.3.1964, in: ebd. Zeitweise wurde Schüles Tätigkeit als Leiter der Zentralen Stelle auf ein Drittel seiner Arbeitszeit reduziert. 52 38 Vgl. Meusch, Diktatur, S. 197 und S. 201. 39 Nach anfänglichem Abstreiten räumte Schüle ein, 1937 die Parteimitgliedschaft Lassen Sie mich mit einer persönlichen Vorbemerkung beginnen. Ich bin gebeten worden, sozialpsychologische Perspektiven zu entfalten, also so etwas wie eine Beobachterperspektive einzunehmen. Damit ist wohl auch eine unbestimmte Erwartung von Neutralität verbunden. Dass das bei dieser Problematik nicht geht, das ist uns und Ihnen allen klar, man ist letzten Endes immer Partei. Deswegen kann es hier natürlich keinen falschen Schein von Objektivität geben. Das wird an einer Reihe von Ereignissen der letzten Zeit deutlich. Erstens: Im Herbst 2012 wurde in Berlin der Rabbiner Daniel Alter, der in einem bürgerlichen Wohnviertel in Begleitung seines Sohnes spazieren gegangen ist, von Jugendlichen aus einem eher muslimisch geprägten Umfeld zusammengeschlagen, erniedrigt und zu Boden getreten. Er hat es einigermaßen gut verwunden. Aber heute gibt es auch in der jüdischen Gemeinschaft international eine Debatte darüber, ob es in Berlin für Juden, die sich als solche bekennen, nämlich die, die mit einer Kippa auf dem Kopf herumgehen, No-goAreas gibt. Das wird man, meiner Einschätzung nach, so nicht sagen können, obwohl es schon Stadtviertel und S-Bahnstationen gibt, wo man vielleicht, wenn der allgemeine Publikumsverkehr aufgehört hat, nicht mehr hingehen würde. Ich würde da auch nicht mehr gerne hingehen mit einer Kippa auf dem Kopf. Das hat allerdings nicht nur etwas mit muslimischen Jugendlichen zu tun, sondern genauso, 1 beantragt zu haben. Sowohl seine NSDAP- als auch seine SA-Mitgliedschaft waren seit 1958 sämtlichen Landesjustizverwaltungen wie auch dem Bundesjustizministerium bekannt. 40 Vgl. Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2009, S. 86–99. Einsicht Vortrag auf der Tagung »Blickwinkel. Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft: Kontext Nahostkonflikt« am 9. September 2013 in Nürnberg1 Einsicht 11 Frühjahr 2014 Der Text folgt dem gesprochenen Wort und wurde geringfügig überarbeitet. »Blickwinkel. Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft« ist eine Tagungsreihe der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft in Zusammenarbeit mit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, dem Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und dem Pädagogischen Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. 53 Antisemitismusleugnung verstanden. Wenn darüber hinaus noch andere Publizisten oder Rednerinnen in diesem Zusammenhang den Ausdruck »Islamophobie« gebraucht haben, gerieten sie in den Verdacht, Parteigänger des fundamentalistischen Irans zu sein. Angeblich ist nämlich der Begriff Islamophobie von Ayatolla Khomeini geprägt worden. Eine Behauptung, für die ich übrigens – ich habe wirklich viel gegoogelt – nie einen einzigen Beleg gefunden habe. Wie stark die Emotionen in diesem Bereich sind, wird auch an der publizistischen Diskussion deutlich. Angela Merkel hat in ihrer Ansprache in der Knesset gesagt, dass die Bundesrepublik Deutschland hinter dem Staat Israel steht, was immer er auch tue. Hier würde ich gerne sagen, dass das meinen Beobachtungen nicht ganz entspricht, denn, auch das wird Ihnen nicht verborgen Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik bei seinem Vortrag. Fotos oben und rechts: Karl-Friedrich Hohl geblieben sein, die Bundesregierung ist mit ihren Partnern in der Europäischen Union einer Richtlinie beigesprungen, die darauf wenn man sich dann nach Osten begibt, mit Rechtsextremisten, im hinausläuft, dass israelische Projekte, die in den besetzten Gebieten Berliner Jargon sind das dann die Bio-Deutschen. ablaufen und abgewickelt werden, nicht mehr mit EU-Geldern unterZweitens: Vor etwas mehr als einem Jahr gab es innerhalb der stützt werden. Darüber hinaus, und das geht zurück auf einen schon Hamburger Linken – und jetzt reden wir eher über die studentischen jahrelang zurückliegenden europäischen Urteilsspruch, werden in der Linke – eine erbitterte Auseinandersetzung. Ein Programmkino wollWestbank produzierte Waren, die nach Maßgabe der privilegierten te den Film TSAHAL von Claude Lanzmann zeigen. Dieser Film ist Handelsbeziehungen zwischen Israel und der EU nach Deutschland bei aller Kritik letzten Endes doch ein Lobpreis auf die israelische eingeführt werden, nicht mehr als solche privilegiert, sofern sie nicht Armee. Diese Vorstellung konnte nicht stattfinden, weil sogenannte eindeutig aus Israel kommen. Und es wird sogar erwogen, zuzulasAnti-Imperialisten eine Sperrkette vor dem Kino gebildet hatten, um sen, dass derartige Waren als solche gekennzeichnet werden. Was Zuschauerinnen und Zuschauer nicht hineinzulassen. Das Argument sofort eine Debatte darüber provoziert hat, ob das nicht etwas mit war, der Film sei ein ideologisches Machwerk zur Rechtfertigung dem Boykott jüdischer Waren zu tun habe, was an die Geschehnisse der brutalen Besetzungs- und Besiedlungspolitik des Staates Israel. von Anfang 1933 gemahnt. Und wenn man die entsprechenden PuUnd bei diesem Anlass sind zwei Extremgruppen, über die ich gleich blikationen liest, etwa verschiedener angelsächsischer Freunde des noch mehr sagen werde, in einer Deutlichkeit aufeinandergeprallt, Staates Israel, wird darüber hinaus argumentiert, das sei auch völkerwie man das nur selten erlebt hatte. rechtlich unfair. Denn erstens sei es völkerrechtlich nicht klar, wem Ein weiteres Ereignis: Vor ein paar Jahren geriet der damalige diese Gebiete tatsächlich gehören, zweitens würden ja auch Produkte Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU in aus dem von China besetzten Tibet nicht als solche gekennzeichnet. Berlin, Wolfang Benz, ins Gerede. Ich würde sagen: Er wurde zum Also dann doch wieder eine besondere Kennzeichnung jüdischer Ziel einer Rufmordkampagne. Warum? Weil er sich für die Frage Produkte. Auch da gingen – jedenfalls in der Publizistik – die Wellen interessiert hat, ob man Islamfeindlichkeit in einem Atemzug mit Anaußerordentlich hoch. tisemitismus nennen dürfe und ob man das am Ende auch noch mit Und den letzten Fall haben Sie alle verfolgt, das war der Fall des den gleichen theoretischen Mitteln untersuchen dürfe. Nun würde ich Journalisten Jakob Augstein, der auf der Liste der Top-10-Antiseauch sagen, dass der methodologische Ansatz, mit dem Benz diese miten des Jahres 2012/2013 einen namhaften Rang einnahm. Diese Fragen zu beantworten versuchte, nämlich die Vorurteilsforschung, Top-10-Liste wird vom Simon Wiesenthal Center in Los Angeles ein bisschen schmal war. Aber das wurde zum Teil von Leuten, die publiziert, durch Rabbi Abraham Cooper. Das Center schwankihm nicht wohlwollten, geradezu als eine Form der Holocaust- oder te erst ein bisschen; als die Empörung in Deutschland groß war, war die nächste Reaktion, nein, er ist kein Antisemit, er habe sich nur antisemitisch geäußert. Aber dann, in allerletzter Instanz, galt er doch als Antisemit. Warum? Weil er die Haredim – die hat er mit den nationalreligiösen Siedlern verwechselt –, also die Ultraorthodoxen, als genauso schlimm wie islamische Selbstmordattentäter bezeichnet hat. Das ist der Sache nach tatsächlich nicht richtig. Augstein erhielt dann doch Platz 10 unter den Top-10-Antisemiten des Jahres 2012/2013. Das Ergebnis war meiner Meinung nach, dass der Begriff Antisemit überhaupt nichts mehr besagt. Er ist, zumal durch diese Aktion, dermaßen inflationiert worden, dass ihn eigentlich keiner mehr wirklich ernst nimmt. Und damit komme ich jetzt drittens zu den extremen Gruppen, die ich oben schon angesprochen habe und die ich jetzt etwas näher betrachten möchte. Die Frage war ja, was das alles mit uns selbst zu tun hat, und dazu empfiehlt es sich, einen Schritt zurückzugehen, nämlich 40 Jahre. Vor kurzem ist das wichtige umfangreiche Buch von Wolfgang Kraushaar über die verschiedenen Attentate auf jüdische Gemeinden in den 1970er Jahren herausgekommen, auch über den Anschlag auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen in München im Jahre 1972. Wie konnte es sein, müssen wir uns ja heute auch im historischen Rückblick fragen, dass eine deutsche Linke, eine antifaschistische Linke, die in großer Empörung und in großer Wut gegen ihre ehemals nationalsozialistischen Eltern aufbegehrte, sich nun plötzlich nicht nur an Aktionen beteiligte, die im öffentlichen Raum den Staat Israel oder Juden schlechtmachten? Sondern Personen aus dieser Linken waren in der Tat an mörderischen Aktionen beteiligt, und diese mörderischen Aktionen wurden auch ausführlich begrüßt. Etwa die später tragisch ums Leben gekommene Ulrike Meinhof, die den Münchner Anschlag begrüßt hat, etwa die Attentäter von Entebbe, die bei dieser Flugzeugentführung Juden von Nicht-Juden getrennt haben. Bei der Befreiung der Geiseln in Entebbe ist übrigens der Bruder des jetzigen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, Jonathan Netanjahu, ums Leben gekommen. Wie war diese Entwicklung in der deutschen Linken möglich? Wie kam es dazu? Das ist eine Frage, der man sich wirklich sozialpsychologisch zuwenden muss. Nach meiner Erinnerung ging das so: Bis 1967 war der Staat Israel für den größten Teil der deutschen Linken ein geliebtes Objekt. Es war der sozialistische Staat der Holocaust-Überlebenden, der darüber hinaus von einer Bundesregierung, in der immer noch der eine oder andere alte Nazi saß, nicht anerkannt wurde. Westdeutsche 54 Einsicht 11 Frühjahr 2014 Einsicht Bundesregierungen haben lange, lange Zeit den Staat Israel nicht anerkannt, aus Angst, dass dann die arabischen Staaten die DDR anerkennen würden. Die Anerkennung erfolgte daher erst im Jahre 1965. Mit dem Junikrieg 1967 ändert sich das alles – und zwar schlagartig. Der Kontext war wiederum ein häuslicher, a domestic problem, weil nämlich die Springer-Presse, die der damaligen Studentenbewegung extrem feindlich gesonnen gewesen ist, aufgrund ihres Redaktionsstatuts solidarisch mit dem Staat Israel war. Das ging so weit, dass manche Journalisten der Springer-Presse Mosche Dayan mit dem Nazigeneral Rommel, dem »Wüstenfuchs«, verglichen haben. Damit war es aus Sicht der Linken klar: Der Krieg war letzten Endes ein Angriff des »Kettenhundes der imperialistischen USA«, nämlich des Staates Israel, der – heute würde man sagen: in einem neokolonialen Ausgriff, damals war das noch kein Begriff – die arabischen Staaten eindämmen sollte, die sich auf einer sozialistischen Linie befanden. Ganz zu schweigen von der jahrelangen Diskussion, die auf den Junikrieg folgte, in der die israelische Besatzungsherrschaft über das damals eroberte Westjordanland, die Golanhöhen und den Sinai von vielen zu einer Art genozidalem Verbrechen erklärt wurde. Eine Meinung, die sich auch noch angesichts des Libanon-Krieges des Jahres 1982 wiederholt hat, ohne dass sie dadurch wahrer geworden wäre. Ich möchte nicht im Geringsten bestreiten, dass da auch viele arabische, libanesische Zivilisten ums Leben gekommen sind. Aber es war eben auf keinen Fall ein Genozid. Dennoch wurde damals bis weit in die Kreise der Sozialdemokratie hinein die Rede von den »Opfern der Opfer« gebräuchlich. Das sozial- und moralpsychologische Problem besteht darin, dass man nicht den geringsten Grund hat, an 55 dem hohen moralischen Standard dieser Linken zu zweifeln. Die waren universalistisch, die waren kosmopolitisch, die waren internationalistisch, wie konnte es sein, dass sie gleichwohl gleichsam im Laufe von zwei, drei Wochen all das, was sie bis dahin, ohne dass das immer sehr tiefgehend gewesen ist, über den Holocaust und die Massenvernichtung der europäischen Juden wussten und gegen ihre Eltern gekehrt haben, vergessen haben? Das ist für mich bis heute ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Eine übliche tiefenpsychologische Erklärung würde lauten, der Aufstand gegen die Eltern war halbiert, er war nur moralisch munitioniert, er war nur moralistisch; daher wurde vieles, was von diesen Eltern unbewusst mit transportiert wurde, auch unbewusst übernommen. Vielleicht war es sogar so, dass unbewusste Entlastungswünsche bezüglich der Elterngeneration dabei mitgespielt haben. Das ist heute immer noch eine Diskussion wert. In dieser Pauschalität wird man das so nicht lösen können. Hier kommt es tatsächlich sehr auf einzelne Lebensgeschichten an. Also das war so bis etwa 1982. Sieben oder acht Jahre später, im Zuge der deutschen Einigung, entsteht dann die entgegengesetzte Richtung, die sogenannte antideutsche Linke. Strikte orthodoxe Marxisten, zum Teil theoretisch hoch ambitioniert, demonstrieren nicht nur unter dem Slogan »Nie wieder Deutschland «, sondern erdenken jetzt ein theoretisches Konstrukt, wonach die europäischen Juden und ihr Leidensweg Ausdruck einer der schlimmsten Krise des Kapitalismus geworden sind. Diese Krise des Kapitalismus habe nun ausgerechnet im Deutschen Reich, im Nationalsozialismus ihren Akteur gefunden. Und nun komme alles darauf an, dass mindestens die Juden überleben müssen, solange auf der Welt der Kapitalismus nicht aufgehoben ist – und zwar wo? Im Staat Israel. So argumentiert etwa der hervorragende Theoretiker dieser Gruppierung, Stephan Grigat (Lehrbeauftragter an der Universität Wien). Er hat in diesem Zusammenhang eine »Kritische Theorie des Zionismus« entwickelt. Die Anti-Deutschen selbst hatten dafür noch weitere Motive und Interessen, bemerkenswert war etwa auch ihre Haltung in den Nachfolge- und Zerfallskriegen des ehemaligen Jugoslawien, wo es vor allem die Anti-Deutschen gewesen sind, die gegen die Beteiligung am Krieg gegen Serbien gewesen sind. Sie sind der Überzeugung gewesen, dass in diesem Krieg gegen Serbien wiederum eine alte deutsch-österreichische Stimmung, »Serbien muss sterbien« (so hieß es 1914), zum Ausdruck kommt. Wenn Sie heute zu entsprechenden Demonstrationen gehen, dann werden Sie sehen, dass diese marxistischen Anti-Deutschen allemal die Politik von Premierminister Netanjahu rechtfertigen und bei beliebigen proisraelischen Demonstrationen unter der israelischen Flagge mit demonstrieren. Ich würde mir das vorläufig so zurechtlegen, dass sie einer Art von Negativnationalismus verpflichtet sind. Und ich würde sagen, dass daran deutlich wird, dass es ihnen ebenso wenig wie ihrer Vorgängergeneration von ’68 gelungen ist, sich aus dem Bann der deutschen Geschichte zu lösen. Das müssen wir diskutieren. Und damit komme ich jetzt zu meinen sozialpsychologischen Überlegungen.2 Ich möchte drei sozialpsychologische Modelle vorschlagen, die man zur Analyse an das Phänomen herantragen kann: die Theorie der moralischen Entwicklung nach Lawrence Kohlberg, die Psychoanalyse sowie die kritische Rollentheorie. Die aus Wien stammende Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswick – Theodor Adorno arbeitete mit ihr zusammen in den USA – setzte sich kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges in den USA mit der Fähigkeit, Ambivalenzen ertragen zu können, auseinander. Und sie stellte aus entwicklungspsychologischer Perspektive fest, »… dass manche Individuen eher dazu befähigt sind, positive und negative Eigenschaften ihrer Eltern zu sehen und Gefühle von Liebe und Hass ein und derselben Person gegenüber ohne allzu große Angst oder Konflikte zu akzeptieren, während andere das Bild der Eltern entweder als ganz und gar gut oder schlecht dramatisierten«.3 Diese kindliche Haltung stellt sich moralpsychologisch, wie ich meine, als ein Privileg der Jugend dar. Jugendliche – hier spricht der Erziehungswissenschaftler – dürfen und sollen, zumindest in modernen Gesellschaften, Eindeutigkeit und Entschiedenheit sowohl fordern als auch an den Tag legen. Erst die Konfrontation starker eindeutiger Haltungen mit der meist komplexen Wirklichkeit kann dann schließlich zu Standpunkten und Überzeugungen führen, die der Realität und auch den moralischen Realitäten gerecht werden. Für den Bereich weltanschaulicher Differenzen hat die von Frenkel-Brunswick untersuchte Haltung mangelnden Ertragens von Ambivalenzen ihren prägnantesten Ausdruck in der 1927 erstmals publizierten Schrift des politischen Theoretikers und Juristen Carl Schmitt über den »Begriff des Politischen« gefunden, in der dieser begabte, korrupte und zugleich zutiefst antisemitische Autor die Beziehung zwischen Freund und Feind als Grundkonstellation aller Politik zu bestimmen suchte. Über die Tauglichkeit dieser Unterscheidung kann man nicht lange streiten; obwohl sie auch in den neuen marxistischen Diskussionen merkwürdigerweise wieder eine Rolle spielt. Ich meine, es kann keinem Zweifel unterliegen, dass eine solche Haltung für jede Form demokratischen Zusammenlebens zerstörerisch ist. Wenn überhaupt, so glaube ich, besteht Politik eben auch im Suchen nach alternativen Lösungen für vermeintlich unlösbare Probleme, das Freund-FeindSchema ist dagegen nichts anderes als ein Ausdruck des seinerzeit von Kanzler Gerhard Schröder so genannten TINA-Prinzips, »there is no alternative«. Und entsprechend ist das Freund-Feind-Schema, jedenfalls in Deutschland und in Österreich, mit Bezug auf Israel fundiert. Ich glaube nicht, dass es das in anderen Ländern in dieser 56 Einsicht 2 3 Das Folgende basiert auf meinen Ausführungen im Vorwort zu Peter Ullrich, Deutsche Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs, Göttingen: Wallstein Verlag, 2013, S. 7 ff. Else Frenkel-Brunswik, »Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Personality Variable«, in: Journal of Personality, Volume 18, Issue 1, 1949, S. 115 Diskussionsfreudige Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer. Foto: Karl-Friedrich Hohl Form gibt. Jenseits paranoider Sekten ist es im Allgemeinen kaum noch zu finden. Mit einer Ausnahme, in der politischen Kultur der deutschen Linken in ihrer ganzen Breite, und zwar dort, wo es um die Einschätzung und Bewertung des Staates Israel und seiner Politik geht. Hier stehen sich selbst ernannte Israel-Freunde hier und Israel-Kritiker dort in und mit einer Unversöhnlichkeit gegenüber, die jedenfalls mich in der Tat an die letzten Tage der Weimarer Republik erinnert. Auffällig ist auch hier die Semantik. Niemand käme auf die Idee, etwa mit Bezug auf China oder die USA, von China-Kritik oder China-Freunden beziehungsweise USA-Kritik oder US-Freunden zu sprechen. Mit Blick auf den Staat Israel aber ist es in der deutschen Umgangssprache der Jahrtausendwende ganz selbstverständlich, den Ausdruck Israel-Kritik zu verwenden. Ansonsten findet sich diese Semantik, wenn ich recht sehe, nur noch in den Begriffen Kapitalismus-Kritik, Islam-Kritik oder Staats-Kritik. Dieser linguistische Befund verweist darauf, dass der Staat Israel im politischen Bewusstsein vieler Deutscher, auch der meisten Linken, mehr und anderes ist als irgendein Staat mit all seinen Licht- und Schattenseiten. Man kann hinzufügen: Das kann auch gar nicht anders sein. Dass dem so ist, kann nicht weiter verwundern. Der von Deutschen nach 1938/1939 arbeitsteilig an sechs Millionen europäischen Juden begangene Massenmord, die Shoah, Holocaust genannt, hat in der Geschichte der Bundesrepublik – weniger übrigens in der Einsicht 11 Frühjahr 2014 Geschichte der DDR, die das über Jahrzehnte verdrängt hat – tiefe Spuren hinterlassen, sowohl in der politischen Kultur als auch in persönlichen Lebensgeschichten. Es war die Generation der Großoder, aus der Sicht von heute 15-Jährigen, sogar der Urgroßeltern, die – individuell allerdings sehr unterschiedlich – an diesen Verbrechen beteiligt gewesen ist. Eine Generation, die geschwiegen hat und erst spät, im Rahmen einer dann doch liberalen Kultur, die durch die Studentenbewegung ausgelöst wurde, gezwungen war, Antworten zu geben oder verbissen und damit Schuld zeigend und bezeugend zu schweigen. Sich zu all dem politisch und moralisch zu verhalten, war sowohl für die Generation der sogenannten Achtundsechziger als auch für all diejenigen, die dieser in ihrer Kritik an deutscher Politik und Kultur folgten, unvermeidlich und unumgänglich. Da sich aber die Auseinandersetzung mit deutscher Politik allemal auch auf Außenpolitik zu beziehen hatte, lag es nahe, nein, war es geradezu unvermeidlich, sich auch mit dem Staat Israel auseinanderzusetzen. Der Staat Israel aber hat seit nunmehr bald 50 Jahren jene zunächst Jordanien zugehörigen Teile des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina, die nach mehrheitlicher, aber nicht eindeutiger völkerrechtlicher Meinung nicht zu Israel gehören, besetzt, besiedelt und kolonisiert. Daher konnte im selbstverständlichen Diskurs der deutschen Linken, sofern sie radikal sein wollte, der Staat Israel und seine Politik 57 In einem ersten Brainstorming wurde das Tagungsthema eingekreist. Foto: Karl-Friedrich Hohl entweder nur als aggressiver vom deutschen Kapital unterstützter imperialistischer Staat gelten oder eben, für die Anti-Deutschen, nur als letzter Rest eines kritischen linken Projekts. So etwa bei dem schon genannten österreichischen Theoretiker Stephan Grigat, bei dem die antideutsche, proisraelische Variante linker Politik ihren prägnantesten und genauesten Ausdruck gefunden hat. »Solange die emanzipative Überwindung von Staat und Kapital keine Aussicht auf Erfolg hat«, so Grigat, »gilt es, kritische Theorie als entfaltetes Existenzialurteil zu betreiben (vgl. Max Horkheimer, »Traditionelle und Kritische Theorie«, 19374) und an einem materialistisch zu interpretierenden zionistischen kategorischen Imperativ festzuhalten: alles [sic! M.B.] zu tun, um die Möglichkeiten reagierender und präventiver Selbstverteidigung des Staates der Shoahüberlebenden aufrecht zu erhalten.« Hier wird man rückfragen müssen: wirklich alles zu tun? Grigat jedenfalls ist nicht vorzuwerfen, sich Illusionen zu machen. »Vor diesem Hintergrund ist die Parteinahme für Israel, für die man sich keine Sekunde lang darüber hinwegzutäuschen braucht, dass staatliche Verteidigungsmaßnahmen immer auch zu grauenerregenden Übergriffen führen, eine zwingende Konsequenz aus der kommunistischen Kritik.«5 Kommunistische Kritik als Legitimation für grauenerregende Übergriffe? Hier könnte man sagen, dass die Geschichte der Linken und ihrer Verstrickungen in den Stalinismus die Aporien einer solchen Haltung zur Genüge bewiesen hat. Dazu kommt – und das ist ein weiteres schmerzliches Problem –, es leben im Staat Israel zwar viele Überlebende der Shoah, sie wurden aber, wie Tom Segev in seinem bekannten Buch Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung6 gezeigt hat, in der Gründungszeit keineswegs respektiert und geehrt, sondern, wie er auf reiches Quellenmaterial gestützt gezeigt hat, im Gegenteil instrumentalisiert, anfangs sogar verhöhnt. Sosehr es schließlich zutrifft, dass die Gründung des Staates Israel auch eine Folge des Holocaust, genauer des Zweiten Weltkrieges war, so wenig waren Zweiter Weltkrieg und Holocaust letztlich die Ursache dieser Staatsgründung. Der staatsgründende Zionismus entsprang zwei Quellen, der nationaljüdischen Reaktion auf den europäischen, nicht zuletzt russisch-zaristischen Antisemitismus sowie 5 4 58 In: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften in 19 Bänden, Band 4: Schriften 1936–1941, Frankfurt am Main 1988, S. 201 6 Stephan Grigat (Hrsg.), Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus, Freiburg 2006, S. 115–129. Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek 1995. Einsicht der damals gängigen nationalistischen Denkweise, die natürlich auch jüdische Intellektuelle ergriffen hatte. Und nicht zuletzt war es ja der erste Premierminister Israels, David Ben-Gurion, der immer wieder betont hat, dass der Zionismus kein philanthropisches Unternehmen sei. Und dass der Staat Israel schließlich gegründet werden und sich auch militärisch behaupten konnte, verdankte er – auch das wird gern verdrängt – in erster Linie dem Sieg der britischen Truppen über die deutsche Wehrmacht bei el-Alamein im Jahr 1942. Und sodann, in den Vereinten Nationen, auch das wird gerne vergessen, den Stimmen der Sowjetunion und ihrer Satelliten. Und schließlich der militärischen Unterstützung des jungen Staates durch die kommunistisch werdende Tschechoslowakei. Später, das ist allerdings festzuhalten, haben die arabischen Staaten gegen jedes Völkerrecht die von den UN beschlossene Teilung Palästinas nicht akzeptiert und den jungen Staat angegriffen. Aus diesen historischen Fakten aber folgt, dass es nichts weiter als eine nachgeholte Rettungsphantasie ist, sich zum Staat Israel heute so zu verhalten, als ob er die einzige Zuflucht verfolgter Juden sei. Damit sind wir wieder bei der deutschen Sozialpsychologie. Es fällt dabei zudem auf, dass sich diese Sichtweise, wenn man das jetzt auf die Gegenwart bezieht, ihre Antisemiten immer so zurechtlegt, wie sie gerade passen. Sie denkt sich also solche Antisemiten, die die Juden vielleicht ungern, aber doch überhaupt entfliehen lassen würden. Das muss ja nicht sein, es könnte ja sein, dass in irgendeinem Staat eine antisemitische Regierung an die Macht kommt, die die Juden nicht nach Israel auswandern lässt. Das könnte sein. Was aber, so wäre dann zu fragen, wenn heutige Verfolger die Juden ebenso wenig aus ihrem Herrschaftsbereich entlassen würden, wie das die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure nach 1940/41 taten? Nun, da kann man jetzt lange drüber diskutieren, das ist eine zum Teil hypothetische Geschichte, und ich will auch nicht den Anspruch erheben zu sagen, dass das unbedingt so stimmt. Aber ich komme zurück auf das, was ich am Anfang gesagt habe. Offensichtlich ist diese ganze Geschichte, wenn man sie sich in allen Einzelheiten sorgfältig vor Augen führt, doch so komplex, dass es unumgänglich ist, Ambivalenzen ertragen zu müssen. Bei dem aktuellen politischen Diskurs fällt auf, dass es zu Parteibildungen kommt, bei denen diejenigen, die sie vorantreiben, nicht willens sind, diese Ambivalenzen auszuhalten, und das, ich will es noch mal betonen, bei Teilnehmern, bei denen ich selbst nicht bezweifeln würde, dass sie eigentlich ein hohes moralisches Bewusstsein haben. Aber irgendetwas fehlt. Damit komme ich jetzt also zu meinem abschließenden pädagogischen Teil – welche Fähigkeiten wollen wir also mit Blick auf diesen Nahostkonflikt vermitteln? Ich meine, es geht vor allem um die Fähigkeit, bei der Betrachtung historischer und aktueller moralischer und politischer Konflikte in der Lage zu sein, Ambivalenzen zu ertragen. Es kommt darauf an, zum Maßstab des eigenen Handelns das zu machen – und das ist schwierig genug zu lernen –, was mit der Erklärung der Menschenrechte gemeint war, und zu verstehen, was die ersten Einsicht 11 Frühjahr 2014 Sätze des deutschen Grundgesetzes sagen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und es kommt nicht nur darauf an, Ambivalenzen ertragen zu können, sondern auch, sich in die Perspektiven anderer hineinversetzen zu können, während des Rollenhandelns gelegentlich auch neben sich selbst zu treten und die eigene Überzeugung vielleicht zu beobachten, also zu sich selbst Distanz zu gewinnen. Wenn wir jetzt bildungspolitisch reden, ist die Situation durch drei Schwellen gekennzeichnet, mindestens in Deutschland und Österreich und vielleicht auch weltweit. Schwelle eins ist, das gibt es dann eben doch, schlicht und ergreifend die Zeit. Die Täter, das waren von heute aus gesehen für Schülerinnen und Schüler, welcher Schulart auch immer – und jetzt rede ich von den Deutschen – die Urgroßeltern. Es gibt interessante Studien, auch von Harald Welzer, darüber, wie in einzelnen Familien diese Familiengeschichten angeeignet oder eben verdrängt werden, aber all das ändert nichts daran, dass die Zeit einen merkwürdigen Diskontierungseffekt hat. Zweite Schwelle, wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft. Zehn Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, wenn wir in diesem nationalstaatlichen Rahmen denken, sind keine ethnischen Deutschen mehr, und mindestens in den großen Städten werden in naher Zukunft 50 Prozent aller Schülerinnen und Schüler einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Auch das ist nicht mehr zu verändern. Und dann kommt natürlich drittens die Globalisierung hinzu, aber diese hat natürlich auch Bewusstseinseffekte; vor dem Hintergrund der Globalisierung wird klar, dass es auch andere furchtbare Menschheitsverbrechen gegeben hat. Damit sind auch drei Voraussetzungen benannt, auf die eine politische Bildung, die sich heute dem Grundgesetz, der Würde des Menschen, der Menschenrechtserklärung verpflichtet fühlt, wird achten müssen. Noch vor 20 bis 25 Jahren und vor 50 Jahren erst recht wurde intensiv das Problem der Schuld und der Kollektivschuld diskutiert, im Laufe der letzten 20 bis 30 Jahre wurde klar, dass das bei Menschen, die an all dem nicht beteiligt gewesen sind, keinen Sinn hat. Dann bleibt die Frage übrig: Was heißt es dann, mit den Folgelasten des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen als Staatsbürger zu leben? Heißt das, dass man irgendwie die Haftung zu übernehmen hat? Aber Haftung ist etwas ganz und gar Unpersönliches. Pädagogisch würde ich dann lieber davon sprechen wollen, dass man Verantwortung übernimmt, das ist was anderes als Haftung. Also Verantwortung zu übernehmen. Aber, und das gilt dann auch für Jugendliche aus durch Migration geprägten Familien, Verantwortung übernehmen kann man nur, wenn man in irgendeiner Weise akzeptiert, Teil dieser besonderen politischen Gemeinschaft zu sein. Über die Bedingungen, die dazu beitragen können, dass sowohl junge Leute aus der Immigration wie die Urgroßenkel der Wehrmachtsoldaten und SS-Leute bereit sind, als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Verantwortung im Sinn von Menschenrechten und im Sinn des Grundgesetzes zu übernehmen, werden wir uns in den nächsten Jahren verstärkt Gedanken machen müssen. 59 Grüße aus Bergen-Belsen István Irsais Ansichtskarten und das Leben im KZ von Ladislaus Löb Ladislaus Löb ist emeritierter Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der University of Sussex in Brighton, England. 1933 in Cluj/ Klausenburg (Rumänien) geboren, war Löbs Kindheit und Jugend vom Holocaust gezeichnet. Er war elf Jahre alt, als er im Juli 1944 im KZ Bergen-Belsen ankam. Fünf Monate später überquerte er in einer Gruppe von 1.670 jüdischen Männern, Frauen und Kindern die Grenze in die neutrale Schweiz. Ihre Rettung verdankten sie dem ungarischen Juden Rezső Kasztner, der sie von den Nazis freigekauft hatte. Nach seiner Rettung besuchte Löb das Internat Ecole d’Humanité im Berner Oberland. Darauf folgte das Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität Zürich, das Ladislaus Löb 1961 mit seiner Promotion abschloss. Neben dem Studium war er im Schuldienst wie auch als Journalist tätig, bis er 1963 mit seiner Frau nach Brighton zog. Veröffentlichung: Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezső Kasztner. Bericht eines Überlebenden, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag, 2010 60 Vor 70 Jahren, am 30. Juni 1944, verließ ein Zug aus 35 Viehwagen Budapest mit beinahe 1.700 Juden an Bord. Einer von ihnen war mein verwitweter Vater. Ein anderer war ich, elf Jahre alt. Unser Ziel war Palästina, aber unsere Fahrt endete am 9. Juli im Konzentrationslager Bergen-Belsen in Deutschland. Von dort wurden wir in zwei Transporten – 318 im August und die restlichen l.370 im Dezember – in die neutrale Schweiz gebracht. Unsere Freilassung gegen ein beträchtliches Lösegeld verdankten wir einem erstaunlichen Geschäft zwischen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann und einem illegalen jüdischen »Hilfs- und Rettungskomitee« unter Leitung des zionistischen Aktivisten Rezső Kasztner.1 Nach dem Krieg wurde Kasztner in Israel der Kollaboration beschuldigt. Er habe Eichmann geholfen, eine halbe Million ungarische Juden zu deportieren, indem er ihnen die Wahrheit über Auschwitz verschwieg. Dafür habe Eichmann Kasztners 1.700 prominente 1 Zu den Verhandlungen zwischen Kasztner und Eichmann: Shlomo Aronson, Hitler, the Allies, and the Jews, Cambridge 2004, S. 88–96, 170–180, 227–261 [Deutsche Zusammenfassung: ders., »Die Dreifache Falle: Hitlers Judenpolitik, die Alliierten und die Juden«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 32 (1984), H. 1, S. 29–65; Yehuda Bauer, Jews for Sale?Nazi-Jewish Negotiations,1933–1945, New Haven and London 1994, S. 152–195 [dt.: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945, Frankfurt am Main 1996; Yehuda Bauer, »The Holocaust in Hungary: Was Rescue Possible?«, in: David Cesarani (Hrsg.), Genocide and Rescue. The Holocaust in Hungary, Oxford, New York 1997, S. 193–209; Randolph Braham, The Politics of Genocide: The Holocaust in Hungary, New York,1994, 2 Bde., S. 943–1018, 1069–1088; Rezső Kasztner, Der Kasztner-Bericht über Eichmanns Menschenhandel in Ungarn, München 1961, S. 31–96, 146–246; Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem, www.nizkor.org/hweb/people/e/eichmann-adolf/transcripts; Ladislaus Löb, Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezső Kasztner. Bericht eines Überlebenden, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 50–84, 137–158; Alex Weissberg, Advocate for the Dead. The Story of Joel Brand, London 1958, S. 15–185 [dt.: Die Geschichte von Joel Brand, Berlin 1956]. Einsicht Freunde und Verwandte aus Bergen-Belsen freigelassen. Nach einem sensationellen Prozess wurde Kasztner von der Kollaboration freigesprochen, aber ein paar Monate zuvor, im März 1957, war er von jüdischen Extremisten ermordet worden. Bis heute heftig umstritten, gilt er den einen als Held, den anderen als Verräter.2 Tatsächlich befanden sich in der Gruppe viele Prominente – Geschäftsleute, Wissenschaftler, Politiker, Rabbiner, Künstler –, unter denen 150 besonders wohlhabende das Lösegeld für alle lieferten. Aber andere, die nicht zahlen konnten, bekamen Plätze auf Grund bestimmter vom Rettungskomitee festgelegter Richtlinien oder durch reinen Zufall. In Ungarn lebten vor dem Holocaust ungefähr 800.000 Juden. Die Kontakte mit der SS und die Auswahl von 1.700 Personen stellten das Komitee vor unlösbare moralische Probleme. Kasztner hatte kein Interesse an solchen prinzipiellen Fragen. Er tat, was die Umstände erlaubten. Die Befreiung der Massen, die uns folgen sollten, gelang ihm nicht, aber er rettete mehr Juden das Leben als Oskar Schindler, mit dem man ihn oft vergleicht. Als kostbare Ware wurden wir in Bergen-Belsen relativ gut behandelt. Die Befehle des Lagerkommandanten erreichten uns über unsere interne Leitung, und die SS belästigte uns relativ wenig. Wir mussten nicht arbeiten. Wir trugen Zivilkleider ohne Judenstern. Wir hatten Bücher und Schreibzeug mitbringen dürfen. Als in BergenBelsen während der letzten vier Kriegsmonate etwa 50.000 Insassen an krimineller Vernachlässigung durch die Deutschen starben, waren wir bereits in der Schweiz.3 Unsere Gefangenschaft in Bergen-Belsen 2 3 Zum Prozess und zur Ermordung von Kasztner: Shoshana Barri (Ishoni), »The Question of Kasztner’s Testimonies on Behalf of Nazi War Criminals«, in: The Journal of Israeli History, Vol. 18 (1997), No. 2 & 3, S. 139–165; Leora Bilsky, »Judging Evil in the Trial of Kasztner«, in: Law and History Review, Vol. 19 (Spring 2001), No. 1, S. 117–160; Ben Hecht, Perfidy, Jerusalem 1999, passim; Löb, Geschäfte, S. 197–230; Asher Maoz, »Historical Adjudication: Courts of Law, Commissions of Inquiry, and ›Historical Truth‹«, in: Law and History Review, Vol. 18 (Fall 2000), No. 3, S. 559–606; Tom Segev, The Seventh Million. The Israelis and the Holocaust, New York 1991, S. 255–295 [dt.: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek 1995];Yechiam Weitz, The Man Who Was Murdered Twice. The Life, Trial and Death of Israel Kasztner, Jerusalem 2011, passim. Zum Alltagsleben im Lager: Rolf Keller u. a. (Hrsg.), Konzentrationslager BergenBelsen. Berichte und Dokumente, Göttingen 2002, passim; Eberhard Kolb, BergenBelsen. Vom »Aufenthaltslager« zum »Konzentrationslager«, 1943–1945, Göttingen 2002, passim; Löb, Geschäfte, S. 104–136; Thomas Rahe, »Kultur im KZ. Musik, Literatur und Kunst in Bergen-Belsen«, in: Claus Füllberg-Stollberg u. a. (Hrsg.), Frauen in Konzentrationslagern, Bremen 1994, S. 193–206; Thomas Rahe, »Die ›Kasztner-Gruppe‹ im Konzentrationslager Bergen-Belsen: Soziale Struktur, Lebensbedingungen und Verhaltensformen« (Unveröffentlichtes Manuskript); Alexandra-Eileen Wenk, Zwischen Menschenhandel und ›Endlösung‹. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen, Paderborn 2000, S. 272–337. Ferner: Unveröffentlichte Memoiren und Interviews von Überlebenden aus den Archiven von Yad Vashem, der USC Shoah Foundation und der Gedenkstätte Bergen-Belsen, ergänzt durch meine eigenen Erinnerungen und Unterhaltungen mit anderen Überlebenden. Einsicht 11 Frühjahr 2014 István Irsai: »Stacheldrahtzaun, Baracken 10 und 11« war schlimm, aber einigermaßen erträglich. Eine wichtige Rolle spielte dabei ein improvisiertes Kulturleben, und eine der herausragenden kreativen Persönlichkeiten hieß István Irsai. Irsai, geboren in Budapest am 6. Oktober 1896, war ein äußerst vielseitiger Künstler. Seine Tochter, Miryam Ettlinger-Sommerfeld, beschreibt ihn als »Musiker, Architekt, Bühnenbildner, Fotograf, Grafiker, Maler, Bildhauer und Autor zahlreicher Artikel und Bücher«.4 International bekannt war er für seine »Jumbo«-Plakate, in denen er die Darstellungsmittel der Moderne virtuos handhabte und gleichzeitig einen eigenen grafischen Stil entwickelte. Nach dem 4 Für Auskünfte über Irsais Leben, in Gesprächen und einer unveröffentlichten biographischen Skizze, Biographical CV – Stefan P. Irsai (1896–1968), danke ich seiner Tochter, Frau Miryam Ettlinger-Sommerfeld; ebenso für ihre Bewilligung, seine Werke zu reproduzieren. Hier Sommerfeld, Biographical CV, S. 6. 61 Holocaust – und einem früheren Aufenthalt im Land – wanderte er endgültig nach Israel aus, wo er seinen Namen in Pesach Ir-Shay änderte. Er starb am 31. Juli 1968 in Tel Aviv. In Bergen-Belsen, wo er, so seine Tochter, »keine Zeichenmaterialien außer einer Feder und einer winzigen Schachtel AnilinWasserfarben hatte« , verfertigte Irsai in Schwarz auf braunem Packpapier neun »minimalistische Zeichnungen, die Szenen aus dem Alltagsleben im Lager darstellen und intensive Gefühle mit großer Zurückhaltung ausdrücken«.5 Als Ansichtskarten konzipiert, aber nie als solche ausgeführt, gehören sie zu den bemerkenswertesten Abbildungen eines Konzentrationslagers. Jede aufs Wesentlichste reduzierte Ansicht ist ein Symbol, das mit der Topografie des Lagers auch unsere Hoffnungen und Ängste heraufbeschwört. Wie viel Irsai mit den sparsamsten Mitteln auszudrücken vermag, erkennt man, wenn man seine Zeichnungen gleichzeitig mit den Erzählungen anderer Gefangener betrachtet. Was diese mit vielen Worten berichten, teilt Irsai jeweils durch ein paar typische Gegenstände in einem einzigen Bild unvergessbar mit. Ich reproduziere hier die sieben gelungensten Zeichnungen. Die Texte beruhen auf meinen eigenen Erinnerungen, den Zeugnissen anderer Überlebender und den Forschungen von Historikern. Wir waren in Baracke 10 und einem Teil von 11 untergebracht. Ein Stacheldrahtzaun am Außenrand des Lagers isolierte alle Insassen von der Außenwelt, Stacheldrahtzäune im Inneren des Lagers trennten die einzelnen Gruppen voneinander. Der Stacheldraht, der in der Zeichnung »Stacheldrahtzaun. Baracken 10 und 11« die ganze Bildfläche zudeckt und die Baracken fast zu erdrücken scheint, ist nicht nur ein konkretes Mittel, Menschen die Freiheit zu rauben, sondern auch eine Metapher der Gefangenschaft überhaupt. Wenn viele Menschen auf engem Raum zusammengepfercht werden, reagieren sie mit Aggression. Wie Szidonia Devecseri notierte, wurden wir hinter dem Stacheldraht »reizbar, streitsüchtig und nervös, die Eltern mit ihren Kindern, Freunde untereinander und auch Fremde miteinander«.6 Aber dies galt nicht nur für Einzelne. Die Kommunisten stritten mit den Kapitalisten, die Orthodoxen mit den Neologen, die Zionisten mit den Antizionisten, das Kontingent aus Kolozsvár mit dem aus Budapest. Jenő Kolb führte in Bergen-Belsen ein höchst aufschlussreiches Tagebuch. Dort prägte er den Ausdruck »Drahtzaunkrankheit« für alle physischen und psychischen Beschwerden unseres Lagerlebens. Als »Symptome« nennt er »Aufgeregtheit, Misstrauen, streitsüchtiges Gezänke, Niedergeschlagenheit« und »Verfall moralischer Hemmungen«; als mögliche Ursachen »die große Abmagerung [...], eine gesteigerte Schilddrüsenfunktion, das ewige Hungergefühl, die István Irsai: »Baracke 11 mit Wachturm« Unsicherheit, das ewige Zusammensein, das vollständige Fehlen eines Privatlebens, die sexuelle Ungeordnetheit usw.«.7 »Zwischen Drahtzӓunen« heißt ein Gedicht in einem schmalen Band, den der Dichter Ferenc Ábrahám im Lager schrieb und aus leeren Margarinekartons, Konservenbüchsen und Drahtabfällen unter dem Titel In der Gefangenschaft zusammenbastelte. Die letzte Strophe meldet das traurige Ende des Traums von der Befreiung: Nur ein paar Momente, ein paar Schritte Dauerte mein Flug nach der Freiheit. Ich stolperte in den Stacheldrahtzaun Und lag da, blutend und blöde.8 Kurz, der Stacheldraht steht für alle Aspekte der Gefangenschaft, die unseren Aufenthalt in Bergen-Belsen so traumatisch machten. Er kehrt als Leitmotiv in jeder Zeichnung wieder. »Es war der Stereotyp eines Lagers – die langen schmalen Baracken, der Stacheldraht, die Trennung zwischen den Lagerteilen, die Minen zwischen den Stacheldrahtzäunen, so dass, wenn jemand fliehen sollte, weder Hoffnung noch Gebet sie irgendwo hinbringen würde.«9 So berichtet Judy Jacobs über ihren ersten Eindruck von Bergen-Belsen. Die gleichen Stereotypen erscheinen in Irsais Zeichnung. 7 8 5 6 62 Sommerfeld, Biographical CV, S. 4. Szidonia Devecseri, Unser Schicksal. Das Tagebuch der Devecseri Szidonia, Gedenkstätte Bergen-Belsen, S. 6. 9 Jenő Kolb, Bergen-Belsen Tagebuch, hrsg. von Shoshanna Hasson-Kolb, Alexander Barzel, Thomas Rahe, Gedenkstätte Bergen-Belsen, 2000, 14.–15. Oktober 1944 [Privatdruck der deutschen Übersetzung]. Ferenc Ábrahám, Rabságban, Ábrahám Ferenc versei és műforditásai [In der Gefangenschaft, Gedichte und Übersetzungen von Ferenc Ábrahám], Bergen-Belsen 1944, S. 16. Judy Jacobs, Interview 1.4.1966, Shoah Foundation. Einsicht Baracke Nummer 11 bestand aus acht Sälen von je 180 Quadratmetern. Ein Saal diente als Lagerraum und Krankenstation; ein anderer enthielt durchlöcherte Bleiröhren, aus denen kaltes Wasser zum Waschen tröpfelte; im dritten logierte unsere interne Leitung; in den übrigen fünf schliefen getrennt bis zu 160 Männer oder Frauen. In Nummer 10 gehörten, füreinander unzugänglich, fünf Säle uns und drei einer polnischen Gruppe. Die Daten unserer Einlieferung und Freilassung fügte Irsai später zur Zeichnung hinzu. In der Zeichnung »Baracke 11 mit Wachturm« versprechen auf den ersten Blick die sauberen Linien eine relativ bequeme Unterkunft. Aber das abbröckelnde Pflaster verrät Vernachlässigung und Zerfall. Tatsächlich eigneten sich die Baracken kaum als Behausung für Menschen. Wir hielten uns daher möglichst lang im Freien auf. Allerdings mussten wir dann durch den Stacheldraht die Torturen der holländischen Juden mit ansehen, die den gelben Stern trugen, Sklavenarbeit verrichteten und von den Deutschen misshandelt wurden. Im Oktober traf dort ein Transport zerlumpter, ausgemergelter Frauen ein, die auch Holländisch sprachen. Wie wir verbotenerweise erfuhren, kamen sie aus Auschwitz. Was wir nicht wussten, war, dass eine von ihnen Anne Frank hieß und dort sterben sollte. An der gleichen Stelle fand jeden Tag und bei jeder Witterung der Zählappell statt. Zwei der SS-Leute, die uns zählten, waren unübersehbar. Der eine war groß und schlecht gelaunt; wir nannten ihn »Schnittmund« nach seiner Hasenscharte oder »Betar« nach der militanten zionistischen Organisation. Der andere war klein, freundlich und rauchte dauernd Pfeife; ihn nannten wir »Popeye« nach dem Trickfilm-Helden oder »Misrachi« nach den religiösen Zionisten. So rächten wir uns für die Mühsale, die sie uns verursachten. An den Zählappell erinnern wir uns alle mit Abscheu. Das körperliche Leiden beschreibt George Brief anschaulich: »Sie stellten uns im Hof auf [...] und es regnete und schneite sogar und wir mussten dort stehen und stehen, bis die SS-Offiziere vorbeigingen und die Gefangenen zählten, als ob man von dort verschwinden könnte. Und die Appelle waren, wenigstens in meiner Erinnerung, unglaublich lang, unglaublich anstrengend und kalt und drohend.«10 Die seelische Verletzung fasst Frau Tibor Adler treffend zusammen: »Sie zählten uns wie die Tiere. Es war erniedrigend, wie Nummern behandelt zu werden, was wir in ihren Augen natürlich auch waren.«11 Und ich sehe noch, wie ich mit schmerzenden Beinen in einer Pfütze stehe, in durchnässten Kleidern vom Nordwind gepeitscht werde und mich bald fürchte, bald langweile. Der Eindruck friedlich schlafender Gefangener in der Zeichnung »Baracke 10, Raum C« täuscht. Der Aufenthalt in den Baracken war viel weniger gemütlich. Edit Goldstein schreibt etwa: 10 George Brief, Interview mit Kenneth Aran, 2.11.1997, Shoah Foundation. 11 Frau Tibor Adler, Manuskript ohne Titel, Januar–August 1945, Memorial Muse- um of Hungarian Speaking Jewry, Zefat, und Gedenkstätte Bergen-Belsen. Einsicht 11 Frühjahr 2014 István Irsai: »Baracke 10, Raum C« »Es gab kein Licht und keine Luft. Wenn es anfing zu regnen, kam der Regen rein, direkt auf mein Bett. Ich hatte eine Schüssel, die meine Essschüssel war. Ich habe sie dahin gestellt, wo der Regen hereinkam, aber dann kam er auch von einem anderen Ort herein [...] Mit der Zeit wurden die Anziehsachen schimmlig, denn es gab keine Möglichkeit sie zu lüften, denn, wenn ich etwas nach draussen hängte, konnte man von dort nicht weggehen, weil sie das sofort gestohlen hätten [...] In der Nacht [...] gab es lange Schlangen vor der Toilette.«12 Nachts durfte man die Baracken nicht verlassen, auch wenn man nur die Latrine aufsuchen wollte. Um das Anstehen vor der 12 Edit Goldstein, Interview mit Bertram von Boxberg, Gedenkstätte Bergen-Bel- sen, S. 12–13. 63 einzigen Toilette pro Saal zu vermeiden, stellten viele von uns einen improvisierten Nachttopf in eine Ecke unseres Bettes. Meiner war ein Confitüre-Eimer, der zur Wut des alten Mannes unter mir mehrmals umkippte. Ich werde die Nächte nie vergessen: die engen dreistöckigen Betten; die holprigen Strohsäcke; die angeblich aus Menschenhaar gewobenen Decken; die Wanzen, Flöhe und Läuse; das Husten, Rülpsen, Furzen, Seufzen und Stöhnen; die geflüsterten oder lauten Streitigkeiten; das Tropfen des Regenwassers durch das Dach; den kreisenden Scheinwerferstrahl des Wachturms vor dem Fenster; Männerrufe und Hundegebell in der Ferne – während ich im klammen, stinkenden Dunkel liege und mich weit weg wünsche. Stille fand man nirgends. Wie Szidonia Devecseri schreibt, zehrte entweder der Lärm oder die Sorge um Angehörige an unseren Nerven: »In den 24 Stunden des Tages gibt es keine Minute Ruhe. Um Tagesanbruch hat der Lärm ein wenig nachgelassen, und ich schmerze, denke ich an die viel größeren Torturen der Deportierten, unter ihnen unsere Lieben.«13 Über die Unmöglichkeit, allein zu sein, klagt Blanka Gador: »Wer weinen wollte, konnte das nur nachts, und auch da assistierten ihm mindestens fünfzig Aufgewachte unter den hundertfünfzig schlafenden und schnarchenden Bewohnern der Baracke.«14 Allerdings fanden in den Baracken auch unterhaltende und bildende Veranstaltungen statt. Beliebt waren die Auftritte der Sänger und Schauspieler unter uns und die fingierten Sendungen von »Radio Ojweh«, die sich im Stil des politisch-literarischen Kabaretts über das Leben im Lager lustig machten. Sachverständige hielten Vorträge über die verschiedensten Themen, die mich nicht interessierten, aber die Erwachsenen von ihrer Misere ablenkten. Viele suchten Trost im Gebet. Für die großen Feste wurden die Barakken in provisorische Synagogen umfunktioniert, und die Rabbiner leiteten je nach Orientierung ihrer Gemeinden Gottesdienste. Aber auf Dauer konnten alle diese Beschäftigungen unsere Moral nicht aufrechterhalten. Zu den schlimmsten Plagen gehörte der Hunger. Wir dachten dauernd ans Essen. Tags redeten wir unablässig von leckeren Mahlzeiten, nachts träumten wir davon. Wir tauschten komplizierte Rezepte aus. Für Festlichkeiten modellierten wir aus Brot, Margarine und Konfitüre kunstvolle »Torten«. Wir stritten über das Essen, kämpften um das Essen und stahlen einander das Essen. Als tӓgliche Ration erhielten wir 330 Gramm Brot, 15 Gramm Margarine, 25 Gramm Konfitüre, 1 Liter Suppe, 1,5 Liter Ersatzkaffee und manchmal ein kleines Stück Käse oder Wurst. Dazu kamen unsere mitgebrachten Vorräte, aber beide reichten nicht aus. Die Hauptmahlzeit war eine Suppe aus ungewaschenen Wurzelgemüsen, die wir höchstens als Viehfutter kannten. Anfangs ließen wir sie in den Behältern, schütteten sie aus oder versuchten, sie durch den Stacheldrahtzaun an unsere weniger privilegierten Mitgefangenen weiterzugeben. Aber bald konnten wir sie kaum erwarten. In welche Verfassung uns der Hunger versetzte, lässt sich an William Sterns Beobachtung ermessen, wie »ein früher wohlhabender und ehrbarer Herr mit seinem Finger die Reste vom Boden des Behälters zusammenkratzte, weil die Ration, die jedem zugeteilt war, ihm offensichtlich nicht genügte.«15 Die Verteilung verursachte viel Reibung. Jeder war gereizt, und oft kam es zu Streitigkeiten, die sich leicht zu Handgemengen entwickelten. Ich selbst erinnere mich an den Schock, den ich empfand, als ich zum ersten Mal nach einem Streit um das Essen auf dem Gesicht eines angesehenen Juristen Blut sah. Zum Frühstück und Abendessen bekamen wir eine dünne Flüssigkeit, die sich Kaffee nannte, aber mit Kaffee nur die schwarze Farbe gemeinsam hatte. Sie bestand aus einem unbekannten Ersatzstoff und schmeckte nach nichts. Das Brot wurde in grauen Laiben geliefert, deren Form und Gewicht an Ziegelsteine erinnerte. 330 Gramm pro Tag schien geradezu üppig, aber dieses Brot war äußerst schwer und sein Nährwert minimal. In hitzigen pseudowissenschaftlichen Debatten wurde erörtert, ob zwei dickere oder drei dünnere Scheiben nahrhafter seien. Die exakten Maße wurden mit dem Zollstock nachgeprüft. Die einen unter uns teilten den Laib in gleiche Teile für jeden Tag der Woche. Die anderen aßen ihn in zwei oder drei Tagen auf. Der Kalender, der sich in der Zeichnung »Brot, Oh!« zwischen den Baracken ausbreitet wie der Hunger in uns, illustriert, wie jemand, der sein Brot in drei Tagen aufisst, am vierten – nach der ungarischen Redewendung für ein starkes Schmerzgefühl – »die Sterne sieht«. Je länger unsere Gefangenschaft dauerte, umso abgerissener wurde unsere Garderobe. Die Schneider und Schuhmacher unter uns bekamen viel Arbeit. Sie sanierten beschädigte Kleidungsstücke mit Flicken aus unrettbaren, nähten aus Wolldecken Wintermäntel und schnitzten aus Brettern der Bettgestelle Sohlen für durchlöcherte Schuhe. Geschickte Frauen lösten abgenutzte Strickwaren auf und machten aus der Wolle neue. Dabei entstanden bunte Kombinationen, wenn auch nicht im Ausmaß der Zeichnung »Kindermode in Bergen-Belsen«. Aber es ging um mehr als die bloße Karikatur. Der Verfall unserer Garderobe war ein Symbol unseres körperlichen und seelischen Niederganges. Vor allem die rund 320 Kinder drohten ohne eine sinnvolle Beschäftigung zu verwildern. Deshalb wurde beschlossen, dass die 30 ausgebildeten Lehrer und Lehrerinnen in der Gruppe uns regelmäßig unterrichten sollten. Allerdings fehlte es an Lehrmaterial und geeigneten Räumlichkeiten. Bei gutem Wetter konnten die Lektionen unbehelligt im Freien stattfinden. Als der Herbst kam, flohen wir in die lärmigen, überfüllten Baracken. Der Fleiß der Schüler ließ bald nach, die Absenzen mehrten sich, und der Unterricht verlief im Sand. Mir ist nur eine blasse Erinnerung an diese »Schule« geblieben. Ich muss viel geschwänzt haben. Trotz der Anstrengungen der Erwachsenen wurde unser Benehmen immer schlechter. Laut Kolb wussten die Kinder nicht mehr, dass »eine minimale Erziehung und Höflichkeit auch für sie verbindlich sind«.16 Sie hatten »enorm viel vergessen, können kaum noch lesen und rechnen. Ihr Gedächtnis ist verschwommen wie das der Erwachsenen. Ihre Fantasie kreist um die alltäglichen Dinge, sie können sich die Zukunft bzw. ein normales Leben kaum vorstellen«.17 Das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen ist für beide Seiten schädlich: »Sie leiden unter der Nervosität der Eltern, aber sie selber nerven auch die Eltern.«18 Letztlich waren wir Kinder deshalb verwahrlost, weil die Erwachsenen über ihre eigenen Leiden vergaßen, auf unser Wohlergehen zu achten. Ági Hendell erklärt treffend, wie deren Verhalten uns der notwendigen Vorbilder beraubte: »Wir schauten zu, wie schnell die Erwachsenen ihre Haltung, ihre Menschlichkeit verloren. Alles, was man uns erzählte, dass die Erwachsenen alles wissen und dass sie weise sind und wir auf sie 13 Devecseri, Unser Schicksal, S. 36–37. 14 Blanka Gador, Bergen-Belsen, Gedenkstätte Bergen-Belsen, S. 7. 15 William Stern, Interview mit Israel Abelis, 23.7.1997, Shoah Foundation. 16 Kolb, Tagebuch, 20.–23. Oktober 1944. 17 Kolb, Tagebuch, 8.–9. November 1944. 18 Kolb, Tagebuch, 13.–20. September 1944. 64 Einsicht Einsicht 11 Frühjahr 2014 István Irsai: »Brot, Oh!« István Irsai: »Kindermode in Bergen-Belsen« 65 hören müssen, verdunstete in Bergen-Belsen, weil die Erwachsenen sich nicht sehr gut benahmen.«19 Trotzdem scheinen wir ohne gravierende Neurosen aufgewachsen zu sein. Bergen-Belsen hinterließ seine Spuren an allen. Aber während viele der Erwachsenen mit Mühe über das Trauma hinwegkamen, konnten wir die Vergangenheit leichter abstreifen – vielleicht weil wir im Gegensatz zu den Erwachsenen nicht verstanden hatten, was uns erwartete, wenn Kasztners Verhandlungen mit Eichmann misslungen wären. Wir hatten Budapest im Glauben verlassen, dass wir nach Palästina reisten. Während der Fahrt gab es zwei Zwischenfälle. Als der Zug, noch auf ungarischem Gebiet, drei Tage stehen blieb, verbreitete sich das Gerücht, dass wir nach Auschwitz gebracht würden. Die Panik legte sich erst, als wir offensichtlich nach Westen weiterfuhren. Als wir in Linz zur Desinfektion marschieren mussten, wurden fünfzig Frauen, die als erste die Anlage betraten, von ukrainischen Aufseherinnen – in der Meinung, dass unser Ziel Auschwitz sei – kahl rasiert. Der erneuten Panik folgte ein Gefühl tiefer Erniedrigung, wie Miriam Buck erklärt: »Vermögen, Arbeit, Heim – von all dem konnte man sich leichter trennen als vom Haar. Es war der einzige Schmuck, der geblieben war, die Schönheit, das Frauentum selbst.«20 Auch weiß ich heute, dass die nervösen Erwachsenen sich fragten, ob die Duschen Wasser oder Gas liefern würden. Neun Tage nach unserer Abfahrt aus Budapest hielt der Zug in der Lüneburger Heide, wo uns SS-Wachen mit zähnebleckenden Schäferhunden erwarteten. Ich war wie betäubt von der langen Fahrt, aber Judy Jacobs erinnert sich gut: »Wir müssen in perfekter Formation laufen, zu viert oder fünft nebeneinander, in gerader Linie, die Wachen haben Peitschen in der Hand. [...] Alle 30 Sekunden brüllt jemand eine neue Beleidigung. [...] Es kam mir schrecklich lang vor [...] weil wir Durst und Hunger hatten und in diesen Viehwagen gerade gesessen hatten, bis unsere Knochen und Gelenke knarrten.«21 Dieser Marsch brachte uns nach Bergen-Belsen. In der Zeichnung »Türme« verkündet der Kontrast zwischen dem Turm der Davidszitadelle in Jerusalem und dem Wachturm in Bergen-Belsen, unterstrichen durch den trennenden Stacheldraht, den Bruch zwischen Wunschtraum und Wirklichkeit. Der als »Willi« bekannte Autor eines langen Briefes charakterisiert unsere Lage in Bergen-Belsen statt Palästina schonungslos: »Jetzt standen die tausendmal klugen, prominenten Juden in Bergen-Belsen da – in einem Block mit Wachen, elektrisch geladenem Drahtverhau, Beobachtungstürmen mit Reflektoren und István Irsai: »Türme« drehbaren Maschinengewehren und kein Laut, kein Hauch konnte in die Umwelt heraus.«22 Als unsere Gefangenschaft nicht zu enden schien, begannen viele zu bedauern, dass sie die Freiheit gesucht hatten, indem sie sich selbst den Nazis auslieferten. So bekennt Szidonia Devecseri: »Wer weiß, ob wir jemals lebendig aus diesem ›Höllenschlund‹ herauskommen werden, in den wir beinahe freiwillig hineinspaziert sind in unserer Angst vor der Deportation … an den Stacheldraht gelehnt heulte ich.«23 In unseren dunkelsten Augenblicken gaben wir – in der Symbolsprache der Zeichnung – die Hoffnung fast auf, jemals die Welt des Wachturms zu verlassen, durch den Stacheldraht zu schreiten und uns in der Welt des David-Turmes wiederzufinden. Dank Kasztners Entschlossenheit wurden wir schließlich aus BergenBelsen freigelassen, aber nur wenige Wochen, bevor Zehntausende an Hunger und Seuchen starben. Wir hätten leicht das gleiche Schicksal erleiden können. Die Zeichnung »Baracke, Wachturm, Dampfer« lässt die entscheidende Frage offen. Die dunkle Masse der Baracke und des Wachturms erinnert an unsere prekäre Lage in der Hand der Nazis, die uns jeden Augenblick freilassen oder umbringen konnten. Der elegante Dampfer konnte uns ins Gelobte Land bringen oder unserem Schicksal im Lager überlassen. Unsere Ankunft in Bergen-Belsen rückte Palästina in die Ferne. Nach der Abreise der ersten 318 in die Schweiz im August wünschten wir Übrigen nichts sehnlicher, als ihnen zu folgen. Ich hatte vorher Fantasien von Kasztner gehabt, wie er mit bloßen Händen den Stacheldrahtzaun zerriss und uns zwischen den Barackenreihen der Lagerstraße – ähnlich wie Moses die alten Israeliten durch das geteilte Rote Meer aus Ägypten – in die Freiheit führte. Jetzt fragte ich immer ungeduldiger, wann wir in diesem Mӓrchenland der Schokolade sein würden. Im Laufe der Zeit quälte uns die Unsicherheit immer mehr. Je nach den Gerüchten schwankten unsere Gefühle heftig zwischen Zuversicht und Resignation. Jedes Ereignis, das wir als ein gutes Omen deuten konnten – eine beiläufige Bemerkung von einem Deutschen, eine Sendung Pakete vom Schweizer Roten Kreuz –, erfüllte uns mit Euphorie, das Gegenteil mit Verzweiflung. Kolbs Tagebuch berichtet dieses Auf und Ab exakt. Am 18. November teilte der Lagerkommandant unserer Leitung mit, dass wir in der nahen Zukunft abfahren würden. Kolb notierte: »Innerhalb von Sekunden ist das ganze Lager auf den Beinen, lautes Freudengeschrei.« Als weiter nichts passierte, schrieb er am 22. November: »Die Stimmung der Menschen befindet sich auf dem Nullpunkt, sie haben uns das Schlimmste angetan. Anstatt uns in unserer Lethargie zu belassen [...] hat die Nachricht unser Leben durcheinander gebracht, die Gemüter erregt, und jetzt ist wieder jeder in die Talsohle der Welle gestürzt.« Am 23. November verbesserte sich die Stimmung dramatisch, als ein Brief von Kasztner unsere unmittelbar bevorstehende Abfahrt anzeigte. Kolb schrieb sarkastisch: »Jeder ist aufgeregt, im ganzen Lager gibt es keine Pessimisten.« Als wieder nichts geschah, notierte er am 28. November: »Die Stimmung ist von den Höhen in das Tal der Wellenlinie gestürzt [...] Keine Nachricht über die Abreise, viele Kranke mit Kopfschmerzen und Magenverstimmung.« Am 1. Dezember schrieb er niedergeschlagen weiter: »Warten. Die Hoffnung schwindet. Eine äußerst schlechte Stimmung. [...] Jeder explodiert gegen jeden.«24 Sechs Tage später, 19 Ági Hendell, Interview mit Elisabeth Pozzithanner, 5.5.1996, Shoah Foundation. 20 Miriam Buck, Aufzeichnungen, 1945, Yad Vashem und Gedenkstätte Bergen- 22 Unbekannt: Brief mit Unterschrift Willi, 1954, Yad Vashem und Gedenkstätte Belsen, S. 2. 21 Judy Jacobs, Interview, 1.4.1966, Shoah Foundation. 23 Devecseri, Unser Schicksal, S. 5. 24 Kolb, Tagebuch, 18. November – 1. Dezember 1944. 66 Einsicht Einsicht 11 Frühjahr 2014 István Irsai: »Baracke, Wachturm, Dampfer« am 7. Dezember, waren wir – mit Ausnahme von 17 Unglücklichen, die die Deutschen aus Pedanterie oder Rachsucht nicht freiließen – in der Schweiz. Nach einer Mitteilung von Irsai an Miryam Sommerfeld trägt das Schiff glückliche Juden in ein freies jüdisches Land. Als er die Zeichnung vollendete, konnte er nicht wissen, welches Schicksal uns erwartete. Aber wir wurden befreit, und im August 1945 reiste ungefähr die Hälfte der Gruppe gemeinsam nach Palästina weiter, während die Übrigen nach Ungarn zurückkehrten oder sich sonstwo niederließen. So wurde Irsais künstlerische Vision gewissermaßen Wirklichkeit. Wie diese Wirklichkeit siebzig Jahre später aussieht, gehört auf ein anderes Blatt. Bergen-Belsen. 67 Rezensionen Buch- und Filmkritiken 78 79 81 Hansjörg Quaderer (Hrsg.): Jener furchtbare 5. April 1933. Pogrom in Liechtenstein. Franz-Josef Schmit: Novemberpogrom in Wittlich 1938. Ablauf – Hintergründe – offene Fragen – juristische Aufarbeitung von Kurt Schilde, Berlin/Potsdam 91 Thomas Gerhards: Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert von Nicolas Berg, Leipzig 92 Rainer Höß: Das Erbe des Kommandanten. Rudolf Höß war ein Henker von Auschwitz von Werner Renz, Fritz Bauer Institut Witold Pilecki: Freiwillig nach Auschwitz. Die geheimen Aufzeichnungen des Häftlings Witold Pilecki von Jochen August, Berlin/Oświęcim 94 Ralph Dobrawa: Der Auschwitz-Prozess. Ein Lehrstück deutscher Geschichte von Werner Renz, Fritz Bauer Institut Agata Tuszyńska: Die Sängerin aus dem Ghetto. Das Leben der Wiera Gran von Hans-Christian Dahlmann, Hamburg 95 Horst Dieter Schlosser: Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus von Jérôme Seeburger, Leipzig Patricia Pientka: Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Verfolgung und Deportation von Nico Bobka, Frankfurt am Main 96 Marie-Luise Kindler, Luise Krebs, Iris Wachsmuth, Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg.): »Das ist einfach unsere Geschichte«. Lebenswege der »zweiten Generation« nach dem Nationalsozialismus von Alexandra Senfft, Hofstetten (Hagenheim) 97 Lucyna Aleksandrowicz-Pędich: Memory and Neighborhood: Poles and Poland in Jewish American Fiction after World War Two von Katrin Stoll, Warszawa 98 Klaus J. Bade: Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ›Islamkritik‹ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft Gert Krell: Schafft Deutschland sich ab? Ein Essay über Demografie, Intelligenz, Armut und Einwanderungsgesellschaft von Türkân Kanbıçak, Pädagogisches Zentrum Frankfurt 100 Ernst Klee: Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon von Jochen August, Berlin/Oświęcim Günther Jikeli, Kim Robin Stoller, Joëlle AlloucheBenayoun (Hrsg.): Umstrittene Geschichte. Ansichten zum Holocaust unter Muslimen im internationalen Vergleich von Florian Zabransky, Frankfurt am Main 101 Bernhard Sauer: »Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stiche lassen«. Abituraufsätze im Dritten Reich von Werner Konitzer, Fritz Bauer Institut Elke Gryglewski: Anerkennung und Erinnerung. Zugänge arabisch-palästinensischer und türkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust von Gottfried Kößler, Pädagogisches Zentrum Frankfurt 103 Nathan Englander: Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden von Birgit M. Körner, Frankfurt am Main/Gießen 104 DAS RADIKAL BÖSE, Buch und Regie: Stefan Ruzowitzky von Michael Elm, Beer-Sheva, Israel Rezensionsverzeichnis Liste der besprochenen Bücher und Filme 82 70 Hans Mommsen: Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa von Christoph Dieckmann, Keele, England 83 Marco Sennholz: Johann von Leers. Ein Propagandist des Nationalsozialismus von Remko Leemhuis, Berlin 71 Wolfgang Benz: Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung von Karel Margry, Utrecht 84 Insa Meinen, Ahlrich Meyer: Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938–1944 von Dorothee Lottmann-Kaeseler, Wiesbaden 73 Sybille Steinbacher (Hrsg.): Transit US-Zone. Überlebende des Holocaust im Bayern der Nachkriegszeit Rebecca Boehling, Susanne Urban, René Bienert (Hrsg.): Freilegungen. Überlebende – Erinnerungen – Transformationen von Markus Nesselrodt, Berlin 85 Tilman Plath: Zwischen Schonung und Menschenjagden. Arbeitseinsatzpolitik in den baltischen Generalbezirken des Reichskommissariats Ostland 1941–1944 von Christoph Dieckmann, Keele, England 86 Robert Grunert: Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940–1945 von Mathias Schütz, München 74 76 77 68 Jim G. Tobias: Neue Heimat Down Under. Die Migration jüdischer Displaced Persons nach Australien von Siegbert Wolf, Frankfurt am Main Jürgen Finger, Sven Keller, Andreas Wirsching: Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933–1945 von Rudolf Walther, Frankfurt am Main Heinz Daume, Hermann Düringer, Monica Kingreen, Hartmut Schmidt (Hrsg.): Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus von Birgit Seemann, Frankfurt am Main 88 89 90 Elisabeth Gallas: »Das Leichenhaus der Bücher«. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945 von Katharina Rauschenberger, Fritz Bauer Institut Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 69 Kumulative Radikalisierung? Hans Mommsen Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa Göttingen: Wallstein Verlag, 2014, 234 S., € 19,90 Hans Mommsen, emeritierter Professor an der Universität Bochum, gehört im In- und Ausland zu den wichtigsten Vertretern der deutschen Zeitgeschichtsforschung und -lehre. Mit seinen Werken über die Weimarer Republik und das Dritte Reich prägte er Generationen von Historikern, engagierte sich immer auch öffentlich, provozierend und anregend. Gemeinsam mit Martin Broszat, dem 1989 verstorbenen ehemaligen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, prägte er maßgeblich den sogenannten funktionalistischen Ansatz, um die Strukturen des NS-Regimes und seine Dynamik zu erklären, insbesondere in Hinsicht auf den Versuch, alle europäischen Juden zu ermorden.1 Nicht die Intentionen Einzelner könnten die Shoah erklären, sondern die permanenten Konkurrenzen der unterschiedlichen Machtsäulen im Dritten Reich müssten untersucht werden, um die zunehmende Radikalisierung der antijüdischen Politik in Deutschland und im deutsch besetzten Europa zu verstehen. Damit stellt er die zentrale Rolle Hitlers in Frage und rückt die diversen Einflüsse der Funktionseliten in den Mittelpunkt des Interesses. Zum anderen beschäftigt ihn immer wieder die Frage der Mitschuld der deutschen Gesellschaft an der Shoah. Judenhass, erschreckende Amoralität und Gleichgültigkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft stehen im Zentrum seiner Überlegungen, warum es nicht mehr Widerstand gegeben habe. 2002 veröffentlichte Mommsen für eine breitere Öffentlichkeit die auf einer Vorlesungsreihe basierende Studie Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen »Endlösung der Judenfrage« (München: Deutscher Taschenbuch Verlag). Diesen Band macht nun der Wallstein Verlag in leicht veränderter Form erneut zugänglich. Das abschließende Kapitel von 2002 (»Ausblick«) ist durch »Der Holocaust und die Deutschen« ersetzt. Manche neuere Forschungen wurden für die Neuauflage berücksichtigt, vor allem was Fragen 1 70 Hier ist vor allem an seinen vor 30 Jahren erschienen bahnbrechenden Aufsatz »Die Realisierung des Utopischen. Die ›Endlösung der Judenfrage‹ im Dritten Reich«, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 381–420, zu denken. innerhalb Deutschlands angeht. Ansonsten beschränken sich die Änderungen auf einige Formulierungen. Wer sich mit den Argumenten Mommsens, seiner Sprache und seinem Stil vertraut machen will, findet hier einen guten Einstieg. Mommsen legt gebündelt dar, welche Etappen er als zentral ansieht, die zum Holocaust geführt haben. Die ersten fünf Kapitel befassen sich mit dem Antisemitismus in der Weimarer Republik und in der NSDAP, den Nürnberger Gesetzen, der Vertreibung von jüdischen Deutschen aus der Wirtschaft und dem reichsweiten Pogrom im November 1938. Die übrigen Kapitel befassen sich mit der Umsiedlungspolitik im deutsch besetzten Polen, den Erschießungen der Einsatzkommandos in der besetzten Sowjetunion, der Besatzungs- und Mordpolitik im Generalgouvernement (hervorgehoben werden der Distrikt Lublin und Galizien) sowie kurzen Abschnitten zu den Vernichtungslagern und dem übrigen Ost- und Südosteuropa. Wie ist Mommsens Argumentationslinie? Er betont den radikalen Antisemitismus einer relativ kleinen Gruppe von NSDAPMitgliedern (etwa 10 Prozent, S. 43), die aus ideologischen Gründen auf permanente Radikalisierung gedrängt hätten. Aufgrund von mangelnder Gegenwehr seitens staatlicher Behörden seien deutsche Juden dem schutzlos ausgeliefert gewesen. Die übrige deutsche Gesellschaft habe diesen Prozess zwar nicht unterstützt, aber hingenommen und teilweise von ihm profitiert. Im Kern des Geschehens in Deutschland stehen somit von Parteimitgliedern radikalisierte Institutionen. Außerhalb Deutschlands und insbesondere in Ost-und Südosteuropa hätten gleichzeitig rechtsfreie Räume und autoritäre bürokratische Strukturen geherrscht, in denen »sich der Mord an den Juden mit einer nicht zu überbietenden Perfektion gleichsam selbsttätig vollzog« (S. 212). Vor allem hebt er die »Selbstermächtigung« (S. 140) von SS- und Polizeitruppen sowie die Beteiligung an den Morden von »Polen, Ukrainer[n], Rumänen, Serben und Kroaten« (S. 7) hervor. Als entscheidendes Politikfeld sieht Mommsen die Deportationen von Juden im Kontext nationalsozialistischer Siedlungs- und Lebensraumpolitik. Selbstgeschaffene Sachzwänge hätten den Übergang von territorialen »Lösungen« zum Massenmord an den europäischen Juden bewirkt. »Der Vernichtungsprozess, einmal mittels bürokratischer Prozeduren auf den Weg gebracht, konnte sich weitgehend selbstläufig vollziehen.« (S. 176) Christian Gerlach hat in einer Besprechung von Mommsens Studie 2003 auf viele sehr vage Formulierungen und widersprüchliche Argumente hingewiesen. Er hat darüber hinaus gefragt, ob Mommsens Konzept der oft subjektlosen »kumulativen Radikalisierung« nicht zu begrenzt sei, um als Interpretationsrahmen für unser heutiges Wissen über die Massenvernichtung zu dienen.2 Liest 2 In: Kooperation und Verbrechen. Formen der »Kollaboration« im östlichen Europa 1939–1945, Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 19, hrsg. Rezensionen man die Studie elf Jahre später, verstärkt sich dieser Eindruck. Da Mommsen sich vor allem für die Spannungen zwischen Partei und Staat im Dritten Reich interessiert und ansonsten von weitgehend selbstläufigen Radikalisierungsprozessen ausgeht, werden vom übrigen Geschehen im deutsch besetzten Europa – man muss es so hart sagen – fast nur Einseitigkeiten und Zerrbilder präsentiert. Das gilt sowohl für die wenigen Bemerkungen über die jüdischen Opfer der Shoah (das Judentum sei »zersplittert«, S. 209), als auch für die Gesellschaften unter deutscher Herrschaft, die vor allem als »paralysiert« und »extrem antisemitisch« (S. 176) auftauchen. Vor allem im zweiten Teil der Studie finden sich ungewöhnlich viele faktische Irrtümer, falsche Daten, irreführende Angaben zu Abläufen und falsche Opferzahlen, auch Falschschreibungen von Orts- und Personennamen. Selbst die sachlichen Hinweise Gerlachs von 2003, dass Himmler am 19. Juli 1942 nicht die Vernichtungsstätten Bełżec und Chełmno besucht hat, oder dass im Literaturverzeichnis nie erschienene Bücher auftauchen, wurden nicht berücksichtigt. Leider hat auch der Verlag nicht seine sonst übliche Sorgfalt walten lassen. Ein Lektorat hätte geholfen, viele Redundanzen, manche sprachliche Ausrutscher sowie viele Rechtschreibfehler zu vermeiden. Es ist schade, doch die Neuauflage der Studie wird der bleibenden Bedeutung Mommsens für unser Nachdenken über das Dritte Reich und seine Verbrechen nicht gerecht. Christoph Dieckmann Keele, England von Christoph Dieckmann, Babette Quinkert, Tatjana Tönsmeyer, Göttingen 2003, S. 274–276. Einsicht 11 Frühjahr 2014 Monografie über Theresienstadt Wolfgang Benz Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung München: Verlag C.H. Beck, 2013, 281 S., Abb., € 24,95 In der Geschichte der Nazi-Judenverfolgung nimmt Theresienstadt eine einzigartige Position ein. Errichtet als Durchgangslager für böhmische Juden, dann zusätzlich unter der irreführenden Bezeichnung »jüdisches Siedlungsgebiet« umgewandelt in einen Internierungsort für alte und »privilegierte« Juden aus Deutschland und Österreich, später auch aus den Niederlanden und Dänemark, wurde es dann, immer noch in Ergänzung zu seiner Funktion als Transitlager nach Auschwitz, zum »Vorzeige-Lager« und Instrument der Täuschung und Propaganda. Über die Zwangsgemeinschaft in Theresienstadt hat Wolfgang Benz jetzt eine Monografie vorgelegt. Sein Anliegen ist es nicht so sehr, etwas Neues zu bringen, sondern vor allem ein von Mythen und Legenden befreites Bild von Theresienstadt zu zeichnen. Seine wichtigste These, schon früher in anderen Veröffentlichungen des Autors dargelegt, ist, dass die Nazis mit ihren Lügen über Theresienstadt nicht erfolglos geblieben sind. Das hat dafür gesorgt, dass die Wahrnehmung von Theresienstadt vor allem in Deutschland auch heute noch von dem Gedanken bestimmt wird, dass es ein bevorzugter Ort für deutsche Juden, für Prominente, Künstler und Wissenschaftler war, dass die Lebensbedingungen dort besser waren als in anderen Lagern. Die Folge dieser verfehlten Wahrnehmung ist, dass ein entscheidender Teil der Wirklichkeit von Theresienstadt – der furchtbare Hunger, das Elend und die hohe Sterblichkeit – ausgeblendet wird. Den gleichen verharmlosenden Effekt hat auch das große Interesse in der Nachkriegszeit an den vielen kulturellen Leistungen und Ereignissen im Ghetto auf den Gebieten der Musik, des Theaters und Kabaretts, der Kunst (Kinderzeichnungen) und der Erziehung (Vorträge) gehabt. Wie Benz mit Recht feststellt, sind sie allesamt beeindruckende Beweise des Überlebenswillens und der Selbstbehauptung der Ghettoinsassen, aber zugleich tragen sie zum Zerrbild bei, das sich viele von der Realität im Ghetto Theresienstadt machen. Dazu kommen noch zwei weitere, bis heute vorkommende Fehldeutungen: erstens, dass Theresienstadt vor allem eine Station des Untergangs deutscher (und österreichischer) Juden war; und zweitens, dass der bürokratisierte, korrupte und selbstherrliche Apparat 71 der jüdischen Selbstverwaltung die Lage der Ghettoinsassen nur verschärft habe. Die moralische Verurteilung der Ghetto-Selbstverwaltung und seiner Hauptfiguren – »so ungerecht wie wirkungsvoll und nachhaltig« (S. 8) – ist vor allem durch die Standardwerke von H.G. Adler (1958, 1960) geprägt worden. Benz betont den nach wie vor geltenden wissenschaftlichen Wert von Adlers monumentalen Studien, rügt aber dessen Tendenz zu negativen Urteilen über Menschen und ihr Tun unter apokalyptischen Bedingungen. Seit Adler »hat es keine neue Monografie über Theresienstadt gegeben«, behauptet Benz (S. 8). Offensichtlich ist ihm das seinem eigenen Buch recht ähnliche und leider in Deutschland fast unbemerkte Übersichtswerk des amerikanischen Historikers George E. Berkley, Hitler’s Gift. The Story of Theresienstadt (1993), nicht bekannt. Benz präsentiert sein Werk als eine Gesamtgeschichte von Theresienstadt. Anders als viele andere Veröffentlichungen über das Thema beschränkt es sich aber nicht nur auf die NS-Zeit oder nur auf das Ghetto. Benz beschreibt auch detailliert die Gründung, den Bau und die Vorkriegsgeschichte der K.u.K.-Festung – ein einzigartiges Vorbild von europäischer Festungsbaukunst aus dem späten 18. Jahrhundert – sowie die Geschichte der sogenannten Kleinen Festung, von 1940 bis 1945 ein Polizeigefängnis der Prager Gestapo, wo politische Gegner, Widerstandskämpfer und auch mancher Jude aus dem Ghetto unter KZ-ähnlichen Bedingungen dem SS-Terror ausgeliefert waren. Erst dann fängt er an mit der Geschichte des Ghettos in der »Grossen Festung«. In relativ kurzen Kapiteln, geschrieben in einem klaren und sachlichen Stil, behandelt Benz die wichtigsten Aspekte der Ghettogeschichte, teils chronologisch, teils thematisch: Gründung und Anfangszeit, SS-Kommandanten und Judenälteste, Alltagsleben im Ghetto, die Todestransporte »nach dem Osten«, nach Auschwitz und in andere Vernichtungsstätten. Weiter das Kulturleben, das religiöse Leben, das Schicksal der Kinder, die »Verschönerung« der Stadt zum Zwecke des Inspektionsbesuchs vom Internationalen Roten Kreuz (IRK), der im Spätsommer 1944 gedrehte Propagandafilm, die Endphase April/Mai 1945, mit Gerüchten von Gaskammerbau, Ankunft von Evakuierungstransporten aus anderen Lagern, dann endlich die Übernahme des Lagers durch das IRK und die Befreiung durch die Sowjet-Armee. Dankbar verwendet Benz die Ergebnisse neuer Recherchen der letzten Jahre, vor allem diejenigen, die in den Jahrbüchern der Theresienstädter Studien und Dokumente (1994–2008) erschienen sind. Das erlaubt ihm, auch früher oft vernachlässigte Aspekte, wie zum Beispiel die Außenlager und Außenkommandos des Ghettos oder aber die Benutzung der Kleinen Festung als Internierungslager für Deutsche (NS-Täter bzw. böhmische Heimatvertriebene) in den Jahren 1945–1948 zu beschreiben. In den Diskussionen um Theresienstadt bezieht Benz deutlich Position. Die Frage, ob Theresienstadt ein Konzentrationslager war, verneint er eindeutig (sowohl für das Ghetto als auch für die Kleine Festung) aufgrund seiner formellen Position und Funktion innerhalb des NS-Systems und der Struktur seiner Organisation. Aber er gesteht, dass die Existenzbedingungen und Mortalität in beiden Haftstätten denen eines Konzentrationslagers sehr nahekamen und dass die Insassen es sicher als solches erfahren haben können. Zur Ergänzung der faktischen Beschreibungen lässt Benz in den meisten Kapiteln ausgewählte Biografien von Inhaftierten folgen, die das entsprechende Kapitelthema informativ illustrieren. Diese Kurzgeschichten, zumeist der Sammlung von Augenzeugenberichten der Wiener Library in London entnommen, sind überaus erhellend. Seine Auswahl ist vielleicht nicht immer überraschend – der Komponist Viktor Ullmann repräsentiert das kulturelle, Rabbiner Leo Baeck das religiöse Leben –, aber es erlaubt ihm zum Beispiel in der Person von Baeck, die Entwicklung des deutschen Judentums und die Geschichte der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in seine Erzählung mit einfließen zu lassen. Wohl alle gewählten Persönlichkeiten sind deutscher oder österreichischer Herkunft, keine ist tschechisch, niederländisch oder dänisch. Benz’ Buch mag für deutsche Leser geschrieben sein, eine Variation der verschiedenen Nationalitäten wäre hier vielleicht historiografisch repräsentativer gewesen. Benz erstreckt seine Darstellung bis in die Gegenwart. Er beleuchtet, wie die Geschichtsschreibung und Erinnerungsarbeit in der Tschechoslowakei durch die im Kalten Krieg vorherrschende Ideologie jahrzehntelang nur die Kleine Festung als Opferstätte kommunistischer Widerstandskämpfer wahrnahmen und die Leiden der Juden erst nach der Wende 1989 ins Bewusstsein traten. Er beschreibt den schwierigen Kampf um der Errichtung eines Ghettomuseums in Terezin, aber auch die Tragik der Kleinstadt, die nach dem Abzug des Militärs 1997 einen wirtschaftlichen Niedergang erfuhr, viele Bewohner durch Wegzug verlor und langsam zerfiel. Die katastrophale Überschwemmung im Jahr 2002 verschlimmerte die Situation zusätzlich. Benz’ Buch ist eine gelungene Synthese, vielleicht ein bisschen zu viel aus deutscher Sicht verfasst, aber überzeugend in seiner Argumentation, kompetent geschrieben und geschickt komponiert. Ein kleiner, aber irritierender Mangel ist der Stadtplan auf dem Deckplatt des Buches: Wohl mehr der frühen Garnisonszeit als der Ghettozeit verhaftet, fehlen die charakteristischen Straßen- und Gebäudebezeichnungen (wie z. B. »L-4 Hauptstrasse«, »Hamburger Kaserne C III«, oder »Haus L-417«), die auch von Benz in seinem Text immer wieder gebraucht werden. Dem Leser ist die Karte deshalb kaum von Nutzen. 72 Rezensionen Karel Margry Utrecht Erfahrungen jüdischer Überlebender Sybille Steinbacher (Hrsg.) Transit US-Zone. Überlebende des Holocaust im Bayern der Nachkriegszeit Göttingen: Wallstein Verlag, 2013, 248 S., € 20,– Rebecca Boehling, Susanne Urban, René Bienert (Hrsg.) Freilegungen. Überlebende – Erinnerungen – Transformationen Jahrbuch des International Tracing Service Göttingen: Wallstein Verlag, 2013, 396 S., € 29,90 Zwei Veröffentlichungen des vergangenen Jahres widmen sich der Geschichte jüdischer Überlebender in der unmittelbaren Nachkriegszeit, ihren frühen Zeugnissen und ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Der Sammelband Transit US-Zone. Überlebende des Holocaust im Bayern der Nachkriegszeit ist das Ergebnis des Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte, welches 2012 in der KZ-Gedenkstätte Dachau stattfand. Die Beiträge des von Sybille Steinbacher herausgegebenen Bandes beschreiben die Erfahrungen jüdischer Überlebender in Lagern für Displaced Persons (DP) im amerikanisch besetzten Bayern. Großen Anteil an der wachsenden Aufmerksamkeit für die DP-Erfahrung jüdischer Überlebender nach dem Zweiten Weltkrieg haben zweifellos die Arbeiten der US-amerikanischen Historikerin Atina Grossmann. Ihr Text leitet in die Geschichte der jüdischen DPs im besetzten Deutschland ein und steckt das bereits erforschte Feld routiniert ab. Grossmanns Überblick umfasst die Jahre 1945 bis 1957, also jene Zeit von der Einrichtung des ersten DP-Lagers in Feldafing bis zur Schließung des letzten Camps in Föhrenwald. Mit Blick auf die in Deutschland gebliebenen DPs verweist sie jedoch auch auf die lang andauernde Wirkung eines als transitorisch empfundenen Aufenthalts im Land der Täter. Nach Grossmanns Einführung folgen einige Beiträge zur Geschichte des Ortes Dachau. Die ehemalige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, Barbara Distel, hebt in ihrem Text die besondere Bedeutung des aus Siebenbürgen stammenden KZ-Überlebenden Nikolaus Lehner für die Entstehung der Gedenkstätte hervor. Dirk Riedel liefert mit seinem Beitrag über die Deportation von Juden Einsicht 11 Frühjahr 2014 aus Ungarn in das KZ Dachau den historischen Rahmen für die Leidenserfahrung Lehners. Zugleich kritisiert er das häufig falsch wiedergegebene Bild der »ungarischen Juden« als ein Kollektiv, welches nicht der Realität einer multiethnisch zusammengesetzten Gruppe entspreche. Den Zusammenhang zwischen den DP-Lagern und der Staatsgründung Israels nimmt Jim G. Tobias in seinem Artikel über jüdische DPs in Dachau und Umgebung in den Blick. Tobias stellt mithilfe von Dokumenten aus dem New Yorker YIVO Institute for Jewish Research die umfangreichen zionistischen Aktivitäten in den Kibbuzim Bayerns dar. Annette Eberle untersucht die oftmals marginale Rolle der DP-Episode in lebensgeschichtlichen Erzählungen anhand von elf videografierten Interviews mit jüdischen Dachau-Überlebenden aus dem Videoarchiv der Gedenkstätte Dachau. Bei allen Interviewten habe die Zeit nach der Befreiung zu einer intensiven Reflexion über den Verlust der Heimat durch den Holocaust geführt. Andrea Sinn widmet sich in ihrem Text über die Neuorganisation jüdischen Lebens in Deutschland der Entstehung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dabei legt sie ihr Hauptaugenmerk auf den Streit um die Führung, der das gesamte erste Jahrzehnt seiner Existenz durchzogen habe. Auch Jürgen Zarusky verlässt die DP-Phase und untersucht anhand von Sozialgerichtsprozessen der 2000er Jahre den juristischen Kampf ehemaliger DPs um die Auszahlung einer DP-Rente. Zarusky stellt hierbei eindringlich dar, dass ein Teil der erwerbstätigen DPs mit großer Wahrscheinlichkeit Versicherungsabgaben leistete, die Nachweise hierfür bei den zuständigen Behörden jedoch überwiegend zerstört wurden. Folglich, so Zarusky, obliege es den Sozialgerichten, Geschichte zu schreiben, ohne dabei die Erkenntnisse und die Kompetenzen der Geschichtswissenschaft ausreichend zu berücksichtigen. Der Sammelband bietet einen informativen Einstieg in die Geschichte jüdischer DPs in Deutschland, weist jedoch auch kleine Schwächen auf. So wird in fast jedem Text erneut der Stand zur DP-Forschung zusammengefasst. Dabei wird diese Aufgabe durch den einleitenden Aufsatz von Atina Grossmann bereits hervorragend gelöst. Hier hätte es die Möglichkeit zu Kürzungen bzw. Raum für die ausführlichere Darstellung eigenständiger Forschungsleistungen gegeben. Das zweite Jahrbuch des International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen widmet sich frühen Zeugnissen von Überlebenden des Holocaust, der nationalsozialistischen Verfolgung und der Zwangsarbeit. Das Jahrbuch versteht sich nach Aussage der HerausgeberInnen einerseits als Forum für wissenschaftliche Erkenntnisse, die aus dem seit 2007 der akademischen Fachwelt zugänglichen Archiv gewonnen wurden, andererseits aber auch als Ort des Austauschs über Potenziale und Herausforderungen einer pädagogischen Arbeit mit diesem einzigartigen Bestand. Aus Platzgründen konzentriert sich diese Rezension auf jene Beiträge, die sich dezidiert mit den Beständen des ITS und seiner 73 Besonderheit als außerschulischem Lernort auseinandersetzen. Diese Doppelfunktion des ITS spiegelt sich bereits im kurzen Prolog von Otto R. Romberg über die Hilfe der ITS-MitarbeiterInnen bei der Suche nach Informationen zum Verbleib seines verschollenen Vaters. Sechzig Jahre nach Kriegsende gelang es MitarbeiterInnen des ITS, mittels der in Bad Arolsen vorhandenen Akten Sterbeort und -datum von Rombergs Vater zu bestimmen. Die häufig im Zusammenhang mit dem ITS-Archiv verwendete Rede von der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen ist auch Thema des Aufsatzes von Akim Jah über eine mehr als 30.000 Dokumente umfassende Kartei aus den Beständen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Anhand dieser einzigartigen Sammlung personenbezogener Karteikarten verdeutlicht Jah, welche Möglichkeiten für die Geschichtswissenschaft das ITS-Archiv bietet. So ließe sich ein Teilbestand der Kartei für die historische Forschung über im Deutschen Reich lebende ausländische und staatenlose Juden nutzen. Ein anderer Teilbestand wiederum könne die Rekonstruktion von Biografien jüdischer SchülerInnen in Berlin während des Nationalsozialismus ermöglichen. Auch Susanne Urban berichtet über einen beeindruckenden Fund im Archiv des ITS. Im Frühjahr 1950 wurden Fragebögen an Tausende Holocaustüberlebende verschickt, deren Rücklauf heute in Bad Arolsen vorliegt. Die Fragebögen entstanden im Rahmen eines Forschungsprojektes über die Todesmärsche sowie die nationalsozialistischen Lager und Gefängnisse, welches die Vorgängerinstitutionen des ITS unmittelbar nach Kriegsende begannen. Ziel war es unter anderem, gesicherte Informationen über die Existenz aller NS-Haftstätten zu sammeln, um Überlebenden einen Nachweis über erlittene Leiden ausstellen zu können. Ein solcher Beweis war in vielen Fällen dringend nötig, beispielsweise bei ausreisewilligen DPs oder notleidenden Invaliden, denen ohne entsprechende Belege oft die Einreise bzw. der Zugang zu Hilfen verwehrt blieb. Bislang sei lediglich ein kleiner Teil der über 1.100 zurückgeschickten Fragebögen ausgewertet worden. Dabei stehe, so Urban, dieser Fund früher Zeugnisse auf einer Stufe mit den unlängst von Laura Jockusch ausgewerteten Dokumenten der Jüdischen Historischen Kommissionen im Nachkriegseuropa. Der zweite Schwerpunkt des Jahrbuchs befasst sich mit pädagogischen Annäherungen an frühe Zeugnisse. Leitend, so stellen Elisabeth Schwabauer und René Bienert fest, sei dabei der Gedanke des ITS als »Bewahrer von Millionen Geschichten«. Folglich stehe die Arbeit mit lebensgeschichtlichen Narrationen und der Rekonstruktion individueller Schicksale im Zentrum der pädagogischen Praxis. Durch die Recherche und Analyse einzelner personenbezogener Dokumente aus dem ITS-Archiv sollen SchülerInnen an konkreten Beispielen historische Vorgänge verstehen lernen. Dieses Vorgehen habe sich im Rahmen zahlreicher schulischer Kooperationen in Hessen bewährt, so Schwabauer und Bienert. Doch auch Schulen in Bad Arolsen selbst profitierten von der Zusammenarbeit mit dem ITS, wie der Geschichtslehrer Marcus von der Straten in seinem Beitrag unterstreicht. Besonders nachhaltig seien vor allem jene Projekte, die sich der regionalen Geschichte zuwenden und auf diese Weise eine Brücke in die Lebenswelten der SchülerInnen bauen. Freilegungen stellt einen informativen Einblick in die Arbeit des ITS dar. Einige Beiträge, die sich nicht explizit mit dem Archiv beschäftigen und bereits an anderer Stelle in ähnlicher Form veröffentlicht wurden, hätten gekürzt werden können. Das schmälert aber nicht den insgesamt positiven Gesamteindruck dieser anregenden Aufsatzsammlung. Mit diesem Buch legt der Nürnberger Historiker Jim G. Tobias, ein ausgewiesener Kenner auf dem Gebiet der Erforschung der jüdischen Displaced Persons (DP) im Nachkriegsdeutschland, seine neuesten Forschungsergebnisse vor. Seit vielen Jahren spürt er den Biographien jüdischer Überlebender des Nationalsozialismus nach. Die vorliegende Studie widmet sich der bislang nur Spezialisten bekannten Emigration jüdischer DPs nach Australien – mit einem Exkurs: »Fluchtpunkt Neuseeland« (S. 101 ff.). Neben seinen Recherchen in US-amerikanischen und australischen Archiven befragte der Autor sieben Zeitzeugen, denen nach der Shoa die Auswanderung auf den »fünften Kontinent« gelang: Dasia Black Gutman, Alex Ferson, Lena Goldstein, Philipp Maisel, Eva Rapp, Yola Schneider und Mala Sonnabend. Die dem Buch beigelegte DVD mit der TVDokumentation DESTINATION: DOWN UNDER hält diese Gespräche in Wort und Bild fest. Jüdisches Leben in Down Under lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Seit den 1930er Jahren kamen vor allem deutsche und österreichische Juden auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Australien. Zwischen 1933 und 1954 verdoppelte sich so die Zahl der australischen Juden von 24.000 auf 48.000 Personen (S. 10). Unmittelbar nach 1945 fanden sich in Deutschland als vorübergehendem Zufluchtsort etwa 200.000 Menschen, vor allem osteuropäische Überlebende, ein, die nur so lange im Land der Täter verweilen wollten, bis ihnen ein neues Zuhause in Nordamerika (USA und Kanada), Israel, Australien und Neuseeland gewährt wurde. Die westliche Welt – auch Australien – zögerte zunächst, jüdische DPs dauerhaft aufzunehmen. Zwar hatte der Einwanderungsminister Arthur Calwell im Sommer 1945 versprochen, »alles zu tun, um die Einreise dieser unglücklichen Überlebenden […] zu beschleunigen« (S. 44). Dahinter verbarg sich die Absicht, »Australiens wirtschaftliche und soziale Entwicklung mittels Einwanderung voranzubringen« (S. 58). Zunächst musste allerdings der restriktiven Einwanderungspolitik (Quotierung) und vor allem dem latenten Antisemitismus im Lande entgegengewirkt werden – was trotz erheblicher Widerstände auch gelang. Die wochenlange, albtraumhafte Fahrt der jüdischen DPs über den Panamakanal nach Australien gestaltete sich als äußerst anstrengend. Die Einschiffung erfolgte nach teilweise monatelangem, ergebnislosem Ausharren in Marseille. Auf überfüllten Schiffen in engen Quartieren und bei schlechter Verpflegung kamen die Migranten nach zehnwöchiger Reise schließlich im Hafen von Sydney an. Das erste Schiff traf am 25. November 1946 ein. Die allgemeine Zuwanderung nach Australien erfolgte mittels des Resettlement-Programms der International Refugee Organization (IRO). Zwischen 1947 und 1951 erreichten so rund 200.000 Menschen Australien, allerdings auch zahlreiche NS-Kriegsverbrecher, um sich einer Bestrafung zu entziehen. Die Forschung spricht von bis zu 5.000 NS-Tätern, vor allem aus Litauen, Lettland, der Ukraine und Jugoslawien – ein Thema, das die australische Gesellschaft lange Zeit verdrängte. Finanzielle Mittel für die DPs, die nach Down Under immigrierten, stammten von Familienangehörigen oder von jüdisch-australischen Organisationen, des Weiteren von der US-amerikanischen Hilfseinrichtung American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC) in New York und der Australian Jewish Welfare Society. Von 1946 bis 1954 erreichten immerhin 17.600 jüdische Flüchtlinge Australien: »Damit nahm Australien – nach dem Staat Israel – im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung die meisten Überlebenden auf und bot ihnen eine sichere Zukunft.« (S. 12) Der Anteil der jüdischen »New Australians« blieb dabei immer unter einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Was erwartete die jüdischen DPs nach ihrer Ankunft? Zunächst erfolgte die Unterbringung in sogenannten Migrant Hostels in Sydney, Melbourne und Brisbane, wo sie sich von den Reisestrapazen erholen und in der neuen Heimat akklimatisieren konnten. Danach 74 Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 Markus Nesselrodt Berlin Shoa-Überlebende in Australien Jim G. Tobias Neue Heimat Down Under. Die Migration jüdischer Displaced Persons nach Australien Nürnberg: ANTOGO Verlag, 2014, 120 S., 15 Abb., mit DVD, € 21,90 wurden die Migranten nach einem zuvor festgelegten Schlüssel auf einzelne Bundesstaaten verteilt. Trotz anhaltender administrativer und finanzieller Widerstände wuchs die jüdische Bevölkerung in Australien von 1946 bis 1950 um 10.000 Personen an (S. 89). In den 1950er Jahren ging die Zahl der DP-Einwanderer deutlich zurück: Waren es 1951 noch 2.300 Migranten, so verringerte sich die Zahl im Jahr 1954 auf 950 Menschen (S. 96). Zum beliebtesten Ansiedlungsort wurde Melbourne, »etwa 60 Prozent der Shoa-Überlebenden ließen sich dort nieder. In dieser Stadt verfügte man über eine Vielzahl von jiddischsprachigen Einrichtungen und hielt im Unterschied zum eher kosmopolitischen Sydney nachhaltig an der Kultur und Tradition der Juden Osteuropas fest.« (S. 95) Die aufwendige Migration jüdischer Einwanderer nach Australien bedeutete für die dortige Gesellschaft »eine Periode der kulturellen Öffnung« (S. 109), vor allem in den Bereichen Musik, Wissenschaft, Wirtschaft und der Gastronomie: »Der Anteil an selbständigen Geschäftsleuten und Freiberuflern unter den Zuwanderern war im Vergleich zur nichtjüdischen Bevölkerung enorm. Im Unterschied zu den vor dem Krieg eingewanderten jüdischen Flüchtlingen, die sich immer noch als Europäer fühlten, waren die DPs anpassungsfähiger und einfallsreicher. Dadurch gelang es, die Barrieren innerhalb der australischen Gesellschaft langsam, wenngleich nicht immer ohne schmerzliche Erfahrungen, erfolgreich zu überwinden und somit die erhoffte Akzeptanz zu erreichen.« (S. 110) Trotz des grassierenden Antisemitismus in Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung mussten sich die jüdischen Einwanderer nun »nicht mehr vor Angriffen fürchten, dass irgendwer nachts an ihre Haustür klopft und sie bedroht, überfällt oder gar verschleppt; sie waren gleichberechtigte Bürger und genossen den Liberalismus einer demokratischen Gesellschaft« (S. 112). Endlich hatten sie eine sichere Heimat gefunden. Siegbert Wolf Frankfurt am Main 75 Unternehmen im NS Jürgen Finger, Sven Keller, Andreas Wirsching Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933–1945 München: Verlag C.H. Beck, 2013, 624 S., € 29,95 Die Firma Dr. Oetker gehört zu Bielefeld wie Krupp zu Essen. Rudolf-August Oetker, der Enkel des Firmengründers August Oetker, finanzierte deshalb der Stadt Bielefeld 1959 eine Kunsthalle und taufte sie in Erinnerung an seinen Stiefvater »Richard-Kaselowsky-Haus«. Und diese Namenswahl provozierte im politischen Klima um 1968 einen Skandal. Erst 1998 wurde der Name in »Kunsthalle Bielefeld« geändert. Die drei Historiker Jürgen Finger, Sven Keller und Andreas Wirsching erzählen in ihrem Buch, was das Bielefelder Backpulverimperium mit diesem Namensstreit zu tun hat. Wenn man davon absieht, verlief die Oetker-Geschichte wenig spektakulär und ist gerade deshalb lehrreich und von geradezu beklemmender Normalität. Rudolf Oetker, der Erbe und Sohn des Firmengründers, starb 1916 im Ersten Weltkrieg vor Verdun. Zwei Jahre später starb auch sein Vater August. Der Sohn hinterließ eine Frau und zwei Kinder, eines im Alter von knapp zwei Jahren und ein zwei Monate altes Baby mit dem doppelten Vornamen von Vater und Großvater: Rudolf-August. Die Witwe heiratete Richard Kaselowsky, der die beiden Kinder (und Oetker-Erben) wie seine eigenen erzog. Kaselowsky wurde durch die Heirat 1918 zum Chef der Firma Dr. Oetker. Zwischen 1918 und seinem Tod 1944 prägte und leitete er die Firma quasi-treuhänderisch für den männlichen Erben Rudolf-August Oetker, den er nach einer Banklehre auf seine zukünftige Arbeit als Direktor ins Geschäft einführte. Paradigmatisch ist die Oetker-Geschichte nicht wegen dieses familiären Hintergrunds, sondern weil sie – wie die Autoren schreiben – »nicht das ›Schicksal‹ eines Unternehmens in der Diktatur beschreibt, sondern als wechselseitige Beziehungsgeschichte von Dr. Oetker und dem Nationalsozialismus erzählt werden muss« (S. 19). Kaselowsky steuerte die Bielefelder Firma mit Niederlassungen in Hamburg und Danzig, bald auch in Ungarn, Österreich, in der Tschechoslowakei und anderen Ländern, mit Geschick durch die Zeit der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg. Die Firma expandierte nicht nur, Kaselowsky modernisierte sie auch und leitete sie autokratisch als »Fabrikherr« (S. 106). Nach 1933 wurde aus diesem der »Betriebsführer« an der Spitze der »Betriebsgemeinschaft«. Als »Betriebsführer« (S. 129) trat Kaselowsky am 1. Mai der NSDAP bei, aber er wurde weder zum 76 Rassenantisemiten noch zum militanten Nationalsozialisten. Er blieb, was er zeitlebens war, bürgerlich, im Sinne von konservativ, und deutsch-national, aber nicht extremistisch. Freilich hatten in seinem Betrieb, wie er im März 1937 schrieb, »Leute, die erklären, dass sie international eingestellt seien« (S. 170), keine Chancen mehr zum innerbetrieblichen Aufstieg. Von seinen 22 Prokuristen waren 15 NSDAP-Mitglieder, und deren Geschäftsbriefe schlossen nun »mit deutschem Gruß« oder mit »Heil Hitler«. Kaselowsky verstand sich selbst als »Nationalsozialist des Herzens« (S. 202), und dazu wollte er auch seine Mitarbeiter erziehen. 1937 wurde die Firma Dr. Oetker zum »NS-Musterbetrieb« (S. 170) gekürt und Kaselowsky zum »Ehrengast des Führers« (S. 191) auf dem Parteitag. Er beteiligte sich diskret an »Arisierungen«, am liebsten mit dem Erwerb von Aktien, da er und seine Firma dabei anonym blieben. Mit Zwangsarbeit hatte Dr. Oetker nur wenig zu tun, denn die Firma beschäftigte hauptsächlich Frauen und Mädchen. Das Regime belohnte Kaselowskys treue Gefolgschaft: Als einziger Vertreter der Konsumgüterindustrie wurde er Mitglied in Himmlers exklusivem »Freundeskreis Reichsführer SS«. In diesem Rahmen knüpfte er Kontakte zu wichtigen Exponenten des Regimes, besuchte Konzentrationslager und folgte Vorträgen hochrangiger SS-Chargen, die die Unternehmer auf die Ziele des Regimes einschworen – also »Lebensraum im Osten«, »Kampf gegen den Bolschewismus und die Juden« (S. 230). Noch im Mai 1944 berichtete er von einem Treffen des »Freundeskreises«: »Der schöne Abend, den wir im Kasinogarten der Reichsbank wie in einer Oase des Friedens inmitten einer in Trümmer gegangenen Welt verleben konnten, wird mir eine dauernde Erinnerung sein.« (S. 201) Den Verbrechen gegenüber, die vor seiner Haustür passierten – ein Lager für Zwangsarbeiter lag in Sichtweite seiner Bielefelder Villa –, blieb Kaselowsky indifferent. Die Autoren belegen mit vielen Beispielen, wie er die Nähe zum Regime suchte, den Statusgewinn sichtlich genoss und seinen großbürgerlichen Lebensstil weiter pflegte, als das Land buchstäblich in den Abgrund regiert wurde. »[…] das Politische diente nicht nur dem Firmeninteresse, sondern gründete in eigenen Vorstellungen. Für beides war der Erfolg als Unternehmer das Fundament.« (S. 411 f.) Nach Kaselowskys Tod 1944 kümmerte sich darum Rudolf-August Oetker, der Enkel des Firmengründers. Er wurde von der britischen Besatzungsmacht zwar zeitweise von der Geschäftsführung suspendiert und einige Monate interniert, aber schließlich als »unbelastet« (S. 379) entnazifiziert. Als ehemaliges NSDAP- und SS-Mitglied pflegte er über 1945 hinaus Kontakte nach rechts, die aber seiner Karriere im Wirtschaftswunderland nicht schadeten. 2007 starb er mit 90 Jahren. Die gründliche Studie verdient Respekt und Beachtung, obwohl sie natürlich viel zu spät kommt. Aber dieses Defizit kann man nicht den Autoren ankreiden. Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Heinz Daume, Hermann Düringer, Monica Kingreen, Hartmut Schmidt (Hrsg.) Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus Hanau: CoCon-Verlag, 2013, 468 S., € 29,80 Rudolf Walther Frankfurt am Main »Wir sind die nichtarischen Christen. / Sind wir nicht auch ganz nett? / Als erster auf unseren Listen / steht Jesus von Nazareth.« Mit diesem Reim (S. 306) thematisierte Franz Hessel, 1941 im Exil verstorbener Schriftsteller, Übersetzer und Rowohlt-Lektor (sowie Vater des Publizisten Stéphane Hessel), geborener Jude und evangelischer Christ, den Verrat der NS-gleichgeschalteten Kirchen – an ihren antisemitisch verfolgten Mitgliedern, den eigenen jüdischen Wurzeln, dem Sakrament der Taufe. Das soziale Gift jahrhundertelanger Judenfeindschaft hatte den Boden bereitet. Unter den NS-Rassengesetzen wurden Christinnen und Christen jüdischer Herkunft entrechtet, vertrieben, inhaftiert, zur Zwangsarbeit gezwungen, in Vernichtungslagern ermordet. Zuvor hatte sie die eigene Religionsgemeinschaft verstoßen und den Schergen ausgeliefert: Zum 15. Januar 1942 vollzog etwa die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau – die Deportationen hatten längst begonnen – den endgültigen Ausschluss aller »rassejüdischen Christen« (S. 30); ähnlich verfuhren die anderen mehrheitlich von den »Deutschen Christen« dominierten evangelischen Landeskirchen. Nach Jahrzehnten des Verschweigens startete eine engagierte Minderheit in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) ein gemeinsames Forschungs- und Gedenkprojekt. Wichtige Anstöße gab Marlies Flesch-Thebesius, Zeitzeugin (S. 268–273), Buchautorin, pensionierte Pfarrerin und Frankfurterin mit jüdischen Wurzeln. Aus den Ergebnissen zehnjähriger intensiver Recherchearbeit entstand ein profunder Sammelband, koordiniert von Pfarrer Heinz Daume (Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises Christen-Juden der EKKW), Dr. Hermann Düringer (ehemaliger Direktor der Evangelischen Akademie Arnoldshain), Monica Kingreen (Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main), Hartmut Schmidt (Vorsitzender der Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main e. V.) und Renate Hebauf (Journalistin). Nach dem Forschungsstand von 2013 (S. 16) wurden 287 hessische Protestantinnen und Protestanten jüdischer Herkunft, davon die Hälfte aus Frankfurt, in der Shoah ermordet oder in den Suizid getrieben, ebenso etwa 400 jüdische Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 Opfer mit evangelischen Familienangehörigen. Mehrere Hundert Evangelische jüdischer Herkunft überlebten Zwangsarbeit und KZ. Der Sammelband umfasst komplexe Themengebiete wie »Zum Verhalten der hessischen Landeskirchen«, »›Nichtarische‹ Pfarrer und Angestellte«, »Staatliche Verfolgung von ›Mischehen‹ und ›Mischlingen‹«, »Hilfe aus dem Raum der Kirche« sowie den für weitere Nachforschungen sehr hilfreichen Anhang »Namen und Biografien der Opfer«. Leider fehlen in einigen Beiträgen die Quellenangaben. Es ist ein düsterer Befund, dass lediglich eine evangelische Minderheit der antisemitischen Ideologie und dem Druck des NS-Regimes standhielt; sie half existenziell bedrohten Glaubensgenossen, wo sie konnte, und setzte sich dabei selbst großer Gefahr aus. Die Bandbreite reicht insgesamt von aktivem Widerstand (S. 144–151) über stille Verweigerung (S. 81) bis hin zu völligem Versagen, so dem Ausschluss eines langjährigen Diakons aus dem Hephata-Brüderhaus (S. 88–89), ermordet am 30. Oktober 1943 in Auschwitz; an ihn erinnert im nordhessischen Schwalmstadt-Treysa inzwischen der Richard-Altschul-Weg. Wagten sich Überlebende wieder in das »Land der Täter«, hatten sie nicht nur den Neuaufbau ihrer Existenz und den Kampf um eine zumindest materielle Entschädigung zu bewältigen. Statt ihre in der NS-Zeit erlittenen Verletzungen und Traumata verarbeiten zu können, bewahrten sie über die antisemitische Verfolgung ebenso wie über ihre jüdische Herkunft Stillschweigen, teils aus »Angst vor merkwürdigen Reaktionen« (S. 116) der von Tätern und Mitläufern majorisierten Umgebung. Sie wollten nicht wieder Außenseiter sein. Manche trafen wie Elisabeth Neumann (S. 85–87) – nach ihrer Rückkehr aus dem Schweizer Exil, in das sie dank christlicher Retter/ -innen fliehen konnte, wieder Gemeindeschwester der Frankfurter evangelisch-reformierten Kirche – auf damalige Gegner wie jenen Pfarrer, der in der NS-Zeit ihre Entlassung forcierte und nach dem Krieg trotzdem im Amt blieb. Neumann stand bereits kurz vor der Deportation, Mutter und Bruder wurden im Ghetto Litzmannstadt/ Łódź umgebracht. Sie hat dem Pfarrer nie verziehen. Wie Kirchenpräsident Dr. Volker Jung und Bischof Prof. Dr. Martin Hein in ihrem Geleitwort anregen, sollte die hervorragende Edition »viele Menschen in Kirche und Gesellschaft erreichen und bewegen« (S. 9) – zumal die Thematik in der NS-Zeit in »viele Familien« einbrach (S. 96–98) und intergenerationell weiterwirkt. Das »Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch« (mit zahlreichen Abbildungen) und ergänzend die von Pfarrer Volker Mahnkopp vorgestellte Wanderausstellung »Getauft, ausgestoßen und – vergessen?« (S. 321–323) laden vor allem die junge Generation zur weiteren biografischen Spurensuche ein. Möge die Erinnerungsarbeit dazu beitragen, den Antisemitismus in seinen aktuellen Formationen zu reflektieren und nachhaltig zu bekämpfen. Birgit Seemann Frankfurt am Main 77 Antijüdische Gewalt 1933 und 1938 Die historisch-kritischen Schriften über die Pogrome 1933 in Liechtenstein und 1938 in Wittlich sowie die folgenden Gerichtsverfahren fanden erst 80 bzw. 75 Jahre nach den historischen Ereignissen statt. Es ist beschämend, dass diese – und sicherlich noch viele andere antijüdische Gewaltaktionen andernorts – nicht längst erforscht wurden. Die Untersuchungen stammen in beiden Fällen nicht aus der institutionalisierten geschichtswissenschaftlichen Forschung, sondern von lokalhistorisch engagierten und ehrenamtlich tätigen Personen. Beispielhaft zeigen die sich kritisch mit der Geschichte ihrer Heimatorte auseinandersetzenden Veröffentlichungen, dass die Untersuchung der nationalsozialistischen Vergangenheit noch lange nicht abgeschlossen werden kann. In Liechtenstein hat 1933 ein – relativ unbekannt gebliebener – Akt antijüdischer Selbstjustiz stattgefunden, der sich gegen zwei kurz zuvor zugezogene Berliner Juden richtete: Die unter dem Künstlernamen Rotter bekannt gewordenen Theaterdirektoren Alfred und Fritz Schaie wohnten seit Januar 1933 in Liechtenstein, dessen Staatsbürgerschaft sie 1931 erworben hatten. Die lange Zeit erfolgreichen Brüder leiteten in Berlin zahlreiche Theater, die aber zunehmend Schulden verursachten und im Januar 1933 zum Zusammenbruch ihres Bühnenkonzerns führten. Nachdem ein Antrag auf Auslieferung wegen »verbrecherischen Konkurses« an das nationalsozialistische Deutschland vom Fürstentum Liechtenstein abgelehnt wurde, versuchte eine Bande von Liechtensteiner und deutschen Nationalsozialisten in einem Akt der Selbstjustiz an »jenem furchtbaren 5. April 1933« eine Entführung. Auf der Flucht vor den Attentätern stürzten Alfred Schaie und seine Frau Gertrud in den Tod. Fritz Schaie und die zu Besuch weilende Julie Wolff überlebten das Pogrom verletzt und traumatisiert. Fritz starb – nach den Recherchen des Historikers Peter Kamber, dessen Veröffentlichung noch aussteht – 1939 in Colmar. Die Todesursache ist nicht bekannt. Im Juni 1933 kommt es zu einem Strafprozess gegen die Liechtensteiner Attentäter, der mit milden Strafen endet. Das Plädoyer des von Fritz Schaie engagierten Rechtsanwalts Wladimir Rosenbaum aus Zürich wird vom Gericht nicht zugelassen. Der Titel »Jener furchtbare 5. April 1933« ist dem nicht gehaltenen Plädoyer entnommen. Zu den Liechtensteinern, die sich nicht mit der »Geschichtsschreibung« abgefunden haben, gehört auch der Illustrator Hannes Binder, der eingangs den Tatverlauf in der Schwärze des Schabkartons als Graphic Novel zeigt. Diese interessante Form der Darstellung des historischen Ereignisses wird durch eine von Hansjörg Quaderer – Dozent für bildnerisches Gestalten – stammende Montage von Dokumenten (zahlreiche Zeitungsartikel, Vernehmungsprotokolle, Kurzbiografien der Opfer, Anwälte und Täter) sowie weiterführenden Hinweisen ergänzt. Herausgekommen ist eine zusammenfassende und – bis zur Veröffentlichung der genannten Studie von Kamber – vorläufige Darstellung des aus der Liechtensteiner Zeitgeschichte weitgehend verdrängten »politischen Kriminalfall« (S. 37). Ebenfalls ein weitgehend verdrängtes Verbrechen mit einem nachfolgenden Gerichtsverfahren steht im Zentrum der von FranzJosef Schmit stammenden Broschüre über das »Novemberpogrom in Wittlich 1938«. Der Lehrer hat – nach Reflektionen über die Bedeutung des 9./10. November 1938 und neuerer Sichtweisen – den Ablauf des Pogroms sowie die Folgen für die Wittlicher Juden und Jüdinnen, die Haupttäter und die juristische Aufarbeitung umfassend untersucht. Das Pogrom begann am 10. November 1938 vormittags um 9 Uhr und dauerte bis in die Nachmittagsstunden. Eine Horde von etwa 30 Personen, der eine »große Zahl Zivilisten« (S. 29) folgte, drang in die Synagoge ein und verursachte große Zerstörungen. Das erst im Juni 1953 vor dem Landgericht Bonn verhandelte Geschehen richtete sich letztlich nur gegen zwei Rädelsführer: den NSDAPKreisleiter und den Führer der lokalen SA-Standarte. Wie bei vergleichbaren Strafprozessen – und dem erwähnten Verfahren 1933 in Liechtenstein – erhielten sie eine sehr milde »Gefängnisstrafe von einem Jahr und zwei Monaten wegen schwerem Landfriedensbruch« (S. 94). Nach tatsächlich nur fünf Monaten Haft sind sie nach einer Amnestie des nordrhein-westfälischen Justizministers vorzeitig entlassen worden. Das von Schmit untersuchte Verfahren wird zu Recht als »Verantwortungs-Verschiebe-Prozess« (S. 23) charakterisiert. Bei seiner Untersuchung geht er ausführlich und kritisch auf Aussagen von unmittelbaren und mittelbaren Zeugen ein. Insbesondere hat er sich mit der Legende der lokalen Geschichtsüberlieferung auseinandergesetzt, wonach der NSDAP-Bürgermeister und -Ortsgruppenleiter zur Rettung der Synagoge beigetragen habe. In seinen Spruchkammerakten befindet sich folgende Aussage aus dem Jahr 1948: »Im Jahre 1938 war eine antijüdische Aktion in Vorbereitung gegen die Synagoge, und dank meines Eingreifens wurde dieses Gebäude nicht verbrannt.« (S. 56) Schmit setzt sich unter Einbeziehung zahlreicher Dokumente mit dieser und anderen Einlassungen auseinander und widerlegt sie in vielen Einzelheiten. Diese Form der Rechtfertigung und die Art der Aufarbeitung eines Pogroms ist etwas Besonderes in lokalhistorischen Geschichtsdarstellungen. 78 Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 Hansjörg Quaderer (Hrsg.) Jener furchtbare 5. April 1933. Pogrom in Liechtenstein Mit einer Dokumentensammlung versehen von Hansjörg Quaderer. Mit einer Graphic Novel von Hannes Binder. Zürich: Limmat Verlag, 2013, 112 S., 80 Dokumente, Abb. und Fotos, € 27,– Franz-Josef Schmit Novemberpogrom in Wittlich 1938. Ablauf – Hintergründe – offene Fragen – juristische Aufarbeitung Butzweiler: Trier Verlag 2013, 110 S., Abb., € 12,80 Interdisziplinäre Antisemitismusforschung Interdisziplinäre Antisemitismusforschung Interdisciplinary Studies on Antisemitism l1 Antisemitismus Samuel Salzborn Antisemitismus Geschichte, Theorie, Empirie Kurt Schilde Berlin/Potsdam Nomos Widerstand von Polen in Auschwitz 1940–1943 NEUE REIHE Geschichte, Theorie, Empirie Von Samuel Salzborn 2014, ca. 211 S., ca. 39,– € ISBN 978-3-8487-1113-0 (Interdisziplinäre Antisemitismusforschung | Interdisciplinary Studies on Antisemitism, Bd. 1) Erscheint ca. März 2014 www.nomos-shop.de/22201 Der Band fasst wesentliche Erkenntnisse der Antisemitismusforschung zusammen und berücksichtigt dabei gleichermaßen historische, theoretische wie empirische Dimensionen des Themas. Aus dem Programm Judenforschung im Dritten Reich Witold Pilecki Freiwillig nach Auschwitz. Die geheimen Aufzeichnungen des Häftlings Witold Pilecki Aus dem Englischen von Dagmar Mallett. Zürich: Orell Füssli Verlag, 2013, 256 S., € 19,95 Witold Pileckis 1945 geschriebener Bericht über seine konspirative Arbeit im Konzentrationslager Auschwitz von September 1940 bis April 1943 und seine Flucht aus dem Lager gehört zu den frühen Erinnerungen ehemaliger Häftlinge. Der Verfasser leitete ihn im Oktober 1945 seinen militärischen Vorgesetzten zu, bevor er Ende November 1945 nach Polen zurückkehrte, um (wie der Herausgeber der amerikanischen Ausgabe, Jarek Garliński, schreibt) »einen Auftrag als Verbindungsoffizier zu den antikommunistischen Widerstandsgruppen innerhalb Polens« (S. 30) anzunehmen. Dass Pilecki schließlich verstärkt ins öffentliche Bewusstsein kam, hängt jedoch nicht allein mit seiner konspirativen Arbeit in Auschwitz zusammen. Mehr noch trug dazu bei, dass er 1944 während des Warschauer Aufstands kämpfte und nach seiner Rückkehr nach Polen verhaftet, zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet wurde. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie Von Dirk Rupnow 2011, 494 S., geb., 69,– €, ISBN 978-3-8329-6421-4 (Historische Grundlagen der Moderne, Bd. 4) www.nomos-shop.de/13407 Die Studie nimmt erstmals umfassend die sogenannte ‚Judenforschung‘ im ‚Dritten Reich‘ in den Blick. Die geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten, die sich aus antisemitischer Perspektive mit Geschichte und Kultur des Judentums beschäftigten, stellen den markantesten Schnittpunkt von Wissenschaft und antisemitischer Propaganda sowie antijüdischer Ideologie und nationalsozialistischer Politik dar. Bestellen Sie jetzt telefonisch unter 07221/2104-37. Portofreie Buch-Bestellungen unter www.nomos-shop.de 79 Anders als der Titel annehmen lässt, konnte Pilecki nicht wissen, was mit ihm nach seiner Verhaftung geschehen würde. Noch am 30. August und am 17. September 1940 wurden in Warschau inhaftierte Polen unweit der polnischen Hauptstadt erschossen.1 Aus seinem Bericht geht hervor (S. 37 ff.), dass er erst in Auschwitz selbst erfuhr, wo er sich befand. Die 1939 von Pilecki mitbegründete Untergrundorganisation war eine von vielen anfänglich verhältnismäßig kleinen Gruppen2, die später im Zuge der Konsolidierungsbemühungen der in London amtierenden Exilregierung Polens weitgehend zu den politischen und militärischen Gliederungen des polnischen Untergrundstaats zusammengefasst wurden. Als er im Herbst 1940 begann, zunächst Offizierskameraden ausfindig zu machen und Mithäftlinge zum gemeinsamen Widerstand zu ermuntern, wirkten seit Juni 1940 in das Konzentrationslager Auschwitz eingelieferte Häftlinge bereits in dem gleichen Sinn und setzten damit ihr Engagement aus der Zeit vor ihrer Verhaftung durch die deutsche Besatzungsmacht fort. Ebenso wie Pilecki suchten auch andere politisch aktive Häftlinge Möglichkeiten, konspirativ Nachrichten an ihre Gefährten außerhalb des Lagers weiterzugeben; ebenso wie später Pilecki waren auch andere aus dem Lager entlassene (wie Władysław Bartoszewski) oder geflohene Häftlinge für den polnischen Untergrund eine wichtige Quelle über die Vorgänge in dem in Warschau anfänglich noch unbekannten Konzentrationslager Auschwitz.3 Neben seinen persönlichen Erlebnissen und seiner Flucht4 beschreibt Pilecki vor allem den Aufbau von konspirativen Zellen, deren Angehörige später als Kaderstruktur für eine bewaffnete Aktion zur Verteidigung der Häftlinge und einen Ausbruch aus dem Lager vorgesehen waren (S. 20 f., 152 f., 177 f., 180 f., 190, 249 ff.). Seine Vorgesetzten hielten so eine Operation nicht für durchführbar; auch der Herausgeber stellt fest (S. 21), dass dies unrealistisch war. Ungeachtet der Bedeutung von Pilecki für den Aufbau von Widerstandsgruppen im Lager5, ist mit dieser Frage die Konzeption 1 2 3 4 5 80 Władysław Bartoszewski, Der Todesring um Warschau 1939–1944, Warszawa 1969, S. 65 ff., 357. Wolfgang Jacobmeyer, Heimat und Exil. Die Anfänge der polnischen Untergrundbewegung im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1973, S. 23 ff., 122 f., 174 ff. Władysław Bartoszewski, »Publikacje konspiracyjne o Oświęcimiu« [Konspirative Publikationen über Auschwitz], in: Więź, Jg. 28 (1985), H. 1–3, S. 42–47. Vgl. den Bericht eines der mit Pilecki geflohenen Häftlinge: Edward Ciesielski, Wspomnienia oświęcimskie [Erinnerungen an Auschwitz], Kraków 1968. Von diesen berichteten bereits 1968 Władysław Bartoszewski und Stanisław Kłodziński: »Raport Komórki Więziennej Delegatury Rządu z 1944 r. o Pawiaku, Oświęcimiu, Majdanku i Ravensbrück« [Der Rapport des Referats für Gefängnisse und Haftlager der Inlandsdelegatur der Regierung aus dem Jahre 1944 über den Pawiak, Auschwitz, Majdanek und Ravensbrück], Einleitung und Kommentar Władysław Bartoszewski, Wanda Kiedrzyńska, Stanisław Kłodziński (Verfasser der Einleitung zu dem das Konzentrationslager Auschwitz betreffenden Teil des Dokuments) und Józef Marszałek, in: Najnowsze Dzieje Polski 1939–1945, Bd. 12, Warszawa 1968, S. 158, 187. seiner Arbeit angesprochen. Schon die Verwendung eines Ausweises mit den Personalien von Tomasz Serafiński, einem anderen Offizier, der zudem ebenfalls im Untergrund tätig war, konnte diesen gefährden und hatte tatsächlich zur Folge, dass dieser nach der Flucht von Pilecki aus dem Konzentrationslager Auschwitz als der von der deutschen Sicherheitspolizei gesuchte KZ-Häftling Tomasz Serafiński verhaftet wurde6. Zwar schrieb Pilecki in seinem wenige Tage vor der Abreise zu seiner neuen konspirativen Mission in Polen verfassten Begleitbrief, dass er seinen Bericht »nicht mitnehmen kann« (S. 33). Offensichtlich nahm er ihn jedoch mit nach Polen, denn eines der zwei bekannten Exemplare seines Berichts wurde 1947 vom damaligen Sicherheitsministerium beschlagnahmt, das derartige Informationen gegen frühere Angehörige der Armia Krajowa (Heimatarmee) verwendete, um sie als Agenten der polnischen Exilregierung anzuklagen (er wurde 1991 Pileckis Sohn ausgehändigt). Das der amerikanischen Edition zugrunde liegende Exemplar wird jedoch in London, also im Westen, im Archiv des Polish Underground Movement Study Trust verwahrt, und der im Klappentext der deutschsprachigen Edition zu lesende Vorwurf, Pileckis Aufzeichnungen seien mehr als fünfzig Jahre unterdrückt worden, verliert damit an Substanz. Unverständlich ist, dass der Text nach der amerikanischen Ausgabe aus dem Englischen übersetzt wurde, nicht aus dem polnischen Original. Dadurch finden sich in der deutschsprachigen Edition Wörter wie »Insasse«, »Lazarett« und »Lagerleitung«, die zwar dem englischen Text entsprechen mögen, nicht jedoch der polnischen Originalfassung. Jochen August Berlin/Oświęcim 6 Wie Adam Cyra unter Berufung auf im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz verwahrte Berichte von Tomasz Serafiński und seiner Ehefrau Ludmiła Serafińska schreibt: Adam Cyra, Ochotnik do Auschwitz. Witold Pilecki (1901–1948) [Freiwillig nach Auschwitz. Witold Pilecki (1901–1948)], Oświęcim 2000, S. 133 f. Rezensionen Vom Kollaborationsvorwurf verfolgt Agata Tuszyńska Die Sängerin aus dem Ghetto. Das Leben der Wiera Gran Aus dem Französischen von Xenia Osthelder. Berlin: Insel Verlag, 2013, 368 S., € 26,95 Wiera Gran, geboren als Weronika Grynberg, Jahrgang 1916, war in der Zwischenkriegszeit in Polen eine bekannte Chansonsängerin. Als sie, wie die anderen Warschauer Juden, 1940 ins Ghetto gesperrt wurde, konnte sie sich ein Leben ohne Musik und ohne Auftritte nicht vorstellen. So sang sie auch im Ghetto, im Café Sztuka, Abend für Abend ihre Lieder und verschaffte ihren Zuhörern Momente eines normalen Lebens und der Ablenkung. Am Klavier begleitete sie der Pianist Władysław Szpilman, dessen Erinnerungen Roman Polański 2001 verfilmt hat. Gran überlebte den Holocaust außerhalb des Ghettos in einem Versteck. Doch nach dem Krieg warfen ihr andere Überlebende vor, mit der Gestapo zusammengearbeitet zu haben. Sie wies dies stets zurück. 1950 emigrierte sie nach Israel, von wo sie nach nur eineinhalb Jahren nach Paris zog. Die polnische Publizistin Agata Tuszyńska hat Grans Geschichte mehr als acht Jahre lang recherchiert. Es gelang ihr, die Sängerin 2003, wenige Jahre vor ihrem Tod, in Paris aufzusuchen und in mehreren Gesprächen zu befragen. Das daraus entstandene Buch ist nicht nur die Dokumentation einer spannenden Recherche auf den Spuren der Vergangenheit, sondern vor allem ein Lehrstück über die Erinnerung. Tuszyńska hat neben Gran auch zahlreiche andere Zeitzeugen befragt, deren Erinnerungen jedoch recht widersprüchlich sind. So beschuldigte Marek Edelman, einer der Anführer des Ghetto-Aufstands, Gran 1945 der Kollaboration. Im Gespräch mit Tuszyńska 2008 nahm er diesen Vorwurf zurück und konstatierte, an den Vorwürfen sei nichts dran. Man habe ihn zu der Aussage überredet. Auch Grans Berichte, wonach sie im Ghetto Waisenkindern geholfen und für sie Geld gesammelt habe, werden von einigen Zeitzeugen bestätigt und von anderen in Zweifel gezogen. Selbst in einer so scheinbar banalen Frage wie der, ob Gran mit ihrem Retter und Lebenspartner verheiratet war, machen die beiden unterschiedliche Angaben. Tuszyńska gelingt es, die Erinnerungen in hervorragender Weise zu kompilieren. Außerdem sucht sie soweit wie möglich nach den dahinterstehenden Tatsachen. Sie zitiert seitenweise aus Dokumenten Einsicht 11 Frühjahr 2014 und ergänzt diese durch Reflexionen über das Ghettoleben oder das Problem der Kollaboration. Dabei gehen die einzelnen Ebenen in einigen Kapiteln ineinander über, und immer wieder werden Zitate von Wiera Gran dazwischengeschnitten. Alles in allem eine »literarische Reportage mit meditativen Elementen«, wie Marta Kijowska zutreffend in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb (17.5.2013). Jedoch ging Tuszyńskas starke Sprache in der aus der französischen Übersetzung übertragenen deutschen Ausgabe häufig verloren, wie im Übrigen auch die großartige Bebilderung des polnischen Originals. In ihrem Urteil hält sich Tuszyńska zurück, doch am Ende ihres Buches entsteht ein klarer Eindruck: Die Vorwürfe gegen Gran sind haltlos und waren nichts anderes als Rufmord. Bereits 1949 wurde sie bei einem Prozess vor einem Bürgertribunal des Zentralkomitees der Juden in Polen freigesprochen. Der polnische Historiker Michał Borowicz kam zu dem Schluss, dass sich niemand, der Gran beschuldigte, auf etwas anderes habe berufen können als auf Gerüchte. Doch die Vorwürfe hafteten ein Leben lang an Gran. Eine für 1971 geplante Konzert-Tournee durch Israel musste abgesagt werden. Überlebende hatten gedroht, in Häftlingskleidung zu erscheinen. Gran versuchte sich immer wieder zu wehren, auch mit juristischen Mitteln, doch die Gerüchte verstummten nicht. In der Folge litt sie unter Verfolgungswahn und starb 2007 als gebrochener Mensch. Als Tuszyńska sie in Paris aufsuchte, wollte Gran ihre Wohnung nicht öffnen, und die beiden führten die ersten Gespräche im Treppenhaus. Dabei hielt auch Gran sich mit massiven Vorwürfen nicht zurück. Bereits 1980 schrieb sie in ihrer Autobiographie, Władysław Szpilman sei bei der Ghetto-Polizei gewesen. Eine Behauptung, die sie bis ans Ende ihres Lebens aufrechterhielt. Besonders niederschlagend war dann für sie der Kino-Erfolg des PIANISTEN. Obwohl sie der Star im Ghetto war und Szpilman sie begleitete, kommt sie in dem Film nicht vor, da er sie in seinen Erinnerungen verschweigt. Sein Sohn erkannte schnell, welche Wirkung Grans Vorwürfe haben könnten und verklagte Tuszyńska vor dem hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg. Mit Erfolg. In künftigen Auflagen werden 18 Zeilen zu schwärzen sein. Vor einem Gericht in Warschau konnte sich Szpilman junior dagegen nicht durchsetzen (Die Welt, 2.10.2013). Jenseits der juristischen Auseinandersetzung stellt sich die Frage, ob es legitim ist, die von Gran gegen Szpilman erhobenen Vorwürfe an die Öffentlichkeit zu ziehen, oder ob nicht hätte erwogen werden sollen, darüber hinwegzugehen. Denn wie das Leben Wiera Grans zeigt: Erinnerungen können vernichtend sein. Hans-Christian Dahlmann Hamburg 81 Zum »Zigeuner« gemacht Patricia Pientka Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Verfolgung und Deportation Berlin: Metropol Verlag, 2013, 240 S., € 19,– Im Juli 1936 verschleppten Berliner Polizisten mehr als 600 Männer, Frauen und Kinder an den östlichen Stadtrand der Reichshauptstadt. Zwischen Rieselfeldern, Bahngleisen und einem Friedhof wurden bis April 1945 etwa 1.200 als »Zigeuner« verfolgte Menschen in das Lager BerlinMarzahn gezwungen. Die meisten von ihnen sind nach Auschwitz deportiert und ermordet worden. Bis heute ist die Geschichte dieses Lagers weder in die breite Öffentlichkeit gedrungen noch überhaupt ausführlicher erforscht worden. Nun hat die Historikerin Patricia Pientka die erste umfassende Studie vorgelegt. Sie rekonstruiert die Umstände der Gründungsphase des Lagers, die unmenschlichen Lebensbedingungen, die verschiedenen Formen der Gewalt gegen die Internierten sowie die Deportationen in die NS-Todesfabriken. Dass die Errichtung des Lagers häufig nur im Kontext der Olympischen Spiele (1936) betrachtet wird, gilt der Autorin als »einseitig« (S. 32). Sie weist nach, dass das Sportereignis nur der Anlass war, die Vorbereitungen jedoch mindestens zwei Jahre vorher durch lokale Behörden initiiert und durch reichsweite Erlasse realisiert wurden. Einmal mehr wird damit die Bedeutung lokaler Initiativen für die NS-Verfolgungspraxis und deren »Radikalisierung ›von unten‹« (S. 212) belegt. Doch Pientka ist in ihrer historischen Studie nicht nur um die Vermittlung der Lokalgeschichte des Lagers mit der nationalsozialistischen Zigeunerverfolgung überhaupt bemüht. Durch die Auswertung der wenigen Berichte und Erinnerungen der Überlebenden entschied sie sich auch für einen biografischen und akteurszentrierten Ansatz. Dieser erlaubt es ihr, »Widerstands- und Selbstbehauptungsstrategien der Verfolgten« (S. 14) zu erkennen. Pientka thematisiert so, wie die Inhaftierten sich verschiedene Handlungsräume erschlossen, sich der Verfolgung zu widersetzen versuchten, sich für ihre bereits deportierten Angehörigen einsetzten, Mundraub organisierten oder die strikten alltäglichen Verbote, etwa Gaststätten oder Kinos zu besuchen, umgingen. Gleichwohl wird die Ohnmacht der Verfolgten auch nicht verschleiert und immer wieder die Grenze der erschließbaren Handlungsräume thematisiert. Darüber hinaus lassen sich durch die Studie auch weitere theoretische Einsichten in das Wesen des Antiziganismus und seine 82 Funktion für die »Volksgemeinschaft« gewinnen. So betont Pientka, dass antiziganistische Einstellungen und Praktiken nicht etwa in einer vermeintlichen Fremdheit der Verfolgten gründen, die Lebensweise zahlreicher Inhaftierter sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum vom Alltag anderer Berlinerinnen und Berliner unterschied, sondern dass ein enger Zusammenhang zwischen der »inkludierenden Mobilisierung mit der Formel ›Volksgemeinschaft‹ und der exkludierenden mit der Formel ›Zigeuner‹« (S. 16) besteht. Sie macht deutlich, dass die Internierung in das Zwangslager zunächst entlang sozialer Kriterien organisiert war und erst ab 1937 rassenbiologische Kategorien ausgearbeitet und für die Verfolgung wirksam wurden. Nicht zuletzt durch eine ausführliche Darstellung der Arbeit des Rassenforschers Gerhard Stein, eines »Vordenker[s] der Vernichtung« (S. 206), im Lager Berlin-Marzahn wird die enge Zusammenarbeit von Kriminalpolizei und Rassenbiologie deutlich, mithin also der Zusammenhang von sozialer Diskriminierung und rassistischer Exklusion. »Wer als ›Zigeuner‹ galt, definierten die Verfolger« (S. 41), bringt Pientka die antiziganistische Feindbestimmung also auf den Punkt und stößt immer wieder auf die »Verschränkung der Verfolgtengruppen ›Zigeuner‹ und ›Asoziale‹« (S. 211). Irritierend ist vor diesem Hintergrund die enge Fokussierung auf die sich heute als Sinti und Roma verstehende ethnisierte Gruppe, deren Geschichte im Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts sogar mit einem einleitenden Kapitel umrissen ist. Den Zusammenhang von Zigeuner- und Asozialenverfolgung zu klären möchte Pientka stattdessen einer späteren Erforschung der in Berlin als »asozial« Diffamierten vorbehalten. Eine solche Studie würde allerdings nicht nur eine weitere lokalgeschichtliche Wissenslücke schließen, sondern auch die theoretischen Einsichten in das Wesen des Antiziganismus und seine immanente Einheit von Sozialdiskriminierung und Rassismus präzisieren und damit das leisten, was Pientka nur andeuten konnte. Wenn die Historikerin daher im letzten Kapitel ihrer Studie erste Ansätze zur Erforschung der Nachgeschichte des Lagers vorlegt und dabei die Bemühungen der Überlebenden um Entschädigungszahlungen umreißt, wird das Fortbestehen der Ohnmacht angesichts des Antiziganismus auch nach der Niederschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands deutlich. Schon während des »Dritten Reichs« führten die als »Zigeuner« Stigmatisierten immer wieder und zumeist erfolglos ihre soziale Angepasstheit an, um der Verfolgung zu entgehen. Und auch im Nachkriegsdeutschland waren die Bemühungen um Entschädigungszahlungen auf die Anerkennung der Überlebenden als rassisch Verfolgte fokussiert. In beiden Fällen wurde das Verdikt über die »kriminalpräventiv« Verfolgten bestätigt. Erst weitere Einsichten in das Wesen des Antiziganismus könnten dazu beitragen, solchen janusköpfigen Widerstand zu überwinden. Von Hitler zu Allah Marco Sennholz Johann von Leers. Ein Propagandist des Nationalsozialismus Berlin: be.bra Wissenschaft Verlag, 2013, 460 S., 14 Abb., € 48,– Nico Bobka Frankfurt am Main Zu seinem Abschied waren sie noch mal alle gekommen. Als Johann von Leers 1956 auf Einladung des Muftis von Jerusalem sein Exil in Argentinien Richtung Ägypten verließ, glich seine Verabschiedung einem Stelldichein der meistgesuchten NS-Verbrecher und der wichtigsten nationalsozialistischen Ideologen im südamerikanischen Exil. Neben Josef Mengele und Adolf Eichmann waren Hans-Ulrich Rudel, der erfolgreichste Kampfpilot des Zweiten Weltkrieges, sowie Eberhard Fritsch, Leiter des seinerzeit wichtigsten Organs der nationalsozialistischen Emigration, Der Weg, anwesend. Die Zusammensetzung seiner Abschiedsfeier verdeutlicht den Stellenwert, den Leers als Ideologe des Nationalsozialismus weit über dessen militärische Niederlage hinaus hatte. Trotz dieser Relevanz und seiner immensen publizistischen Produktivität, dem breiten inhaltlichen Spektrum seiner Veröffentlichungen sowie der beachtlichen Reichweite seiner Traktate wurde Leers bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei bilden sich gerade in seinem Denken die »weltanschaulichen Formierungskämpfe« (S. 13) der Weimarer Republik ab und gleichsam alle zentralen Topoi nationalsozialistischer Ideologie. Johann von Leers, 1902 als Sohn eines Gutsbesitzers in Mecklenburg geboren, schloss sich früh der völkischen Bewegung an, trat 1929 in die NSDAP ein und war fortan insbesondere im Umfeld von Georg Strasser aktiv. Hier hatte er mit seinem extremen antibürgerlichen Gestus – dass er zeitweise im gleichen Haus wie Ernst Jünger wohnte, ist wohl mehr als eine Ironie der Geschichte – und seiner revolutionär antikapitalistischen Attitüde eine ideologische Heimat gefunden. Im aufgeheizten Klima Berlins der 1920er Jahre war Leers, nach einer kurzen Beschäftigung im Auswärtigen Amt, in verschiedenen Publikationen ein wichtiger und weithin vernehmbarer Vertreter eines »Nationalsozialismus von links«. Auch wenn er sich rechtzeitig vor dem Bruch Hitlers mit Strasser in das Lager des Parteiführers begeben hatte, so bedeutet dies keineswegs, dass er mit den ideologischen Prämissen gebrochen hätte. Sein diffuser Sozialismus blieb über die gesamte NS-Herrschaft ein zentrales Element seines Weltbildes, das später allerdings vor allem in biologistischen Kategorien aufging und von anderen Themen in den Hintergrund gedrängt wurde. Dabei war es insbesondere seine Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 religiöse Sinnsuche, welche seit seinen Studententagen einen wesentlichen Faktor in seinem Denken ausmachte und sich deutlich in seinen publizistischen Sujets widerspiegelt. Ganz in der Tradition der völkischen Bewegung lehnte er das Christentum aufgrund seiner Verwurzelung im Judentum ab (»Wer gegen das Judentum kämpft, der tut das Werk des Herrn«) und forderte stattdessen eine »arteigene Religion« und eine »nordische Sittlichkeit«. Es ist das Verdienst von Marco Sennholz, erstmals eine kohärente Biographie verfasst zu haben, die sich mit der gebotenen Detailliertheit insbesondere dem breiten inhaltlichen Spektrum von Leers Arbeit widmet. Vor allem die sorgsam editierte Bibliographie ermöglicht nun zum ersten Mal eine vollständige Übersicht seines publizistischen Werkes. Betrachtet man aber das weite Feld der ideologischen Schauplätze, so wird man den Verdacht nicht los, dass Leers seinen mangelnden Intellekt und die Unfähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten – es hatte wiederholt Beschwerden über seinen Arbeitsstil gegeben – mit einem enormen Fleiß kompensierte. Auch wenn seine thematischen Schwerpunkte bisweilen eine gewisse Wahllosigkeit vermuten lassen – zu erwähnen wären hier noch seine Einlassungen zur modernen Kunst, zum Feminismus und zur Bauerntumsforschung sowie sein Engagement in der Antiraucher- und Antialkoholbewegung –, so ist der Antisemitismus ohne Zweifel die Klammer, die sein Werk zusammenhält. Auch seine nach dem Ende des Krieges erfolgte Konversion zum Islam kann nicht allein als Ausdruck seiner religiösen Sinnsuche verstanden werden, sondern ist vor allem durch seinen Judenhass motiviert. Der Islam war in den Kategorien seines eschatologischen Denkens die letzte Bastion gegen das Phantasma des Weltjudentums. Ein Ideologem, das wohl nicht zuletzt auf seinen Mentor Mohammed Amin Aimin al-Husseini zurückzuführen ist. Mit der Konversion hatte er seinen Antisemitismus somit auf eine neue Grundlage gestellt. Mit der Übersiedlung nach Ägypten – ein gesuchter NS-Verbrecher zu sein, war seinerzeit im Nahen Osten kein Makel, sondern fast schon ein Ehrentitel – war er zum Ende seines Lebens publizistisch kaum mehr vernehmbar. Vielleicht liegt hier der Grund dafür, dass ihm eine prominente Rolle in der antisemitischen Agitation gegen den jüdischen Staat innerhalb des ägyptischen Regimes angedichtet wurde, eine Legende, die sich bis in die Gegenwart gehalten hat, aber von Sennholz erstmals seriös korrigiert wurde. Mit dem Blick auf seine Konversion und die Übersiedlung nach Ägypten wäre allerdings eine ideengeschichtliche Kontextualisierung aufschlussreich gewesen, lassen sich doch aus diesen biographischen Stationen größere Traditionslinien antisemitischer Ideologie bis in die Gegenwart nachzeichnen. Die alltägliche antisemitische Propaganda in den arabisch-islamischen Ländern erinnert nämlich keineswegs zufällig an jene des Nationalsozialismus. Remko Leemhuis Berlin 83 Verfolgt von Land zu Land Insa Meinen, Ahlrich Meyer Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938–1944 Unter Mitarbeit von Jörg Paulsen. Paderborn u. a.: Verlag Ferdinand Schöningh, 2013, 332 S., € 39,90 Die beiden Autoren sind Spezialisten für die Shoah in Frankreich und Belgien, haben eine Fülle von Arbeiten veröffentlicht – nur so konnten sie dieses komplexe Forschungsvorhaben überhaupt durchführen. »Zwangsmigration« ist der von ihnen eingeführte Begriff, mit dem sie deutlich machen, in welcher Lage die Menschen sich befanden, um die es im Buch geht: Juden aus Deutschland und Österreich (überwiegend nach dem Anschluss 1938), mit deutscher, österreichischer, polnischer, aber auch ohne Staatsangehörigkeit, die 1938 bis 1940 nach Westeuropa, vorrangig nach Belgien flohen. Dies ist keine Emigration ins Exil, sondern eine Flucht vor den Verfolgungsinstanzen am letzten Wohnort, vor der Gewalt von Vertreibung, Beraubung, Verhaftung, Deportation. Es ist aber auch der Versuch, sich zu wehren, alles daranzusetzen, nicht ausgeliefert zu sein, die Familie und sich selbst zu retten. Schwerpunkt ist die Erforschung der Situation der Flüchtlinge mit Ziel Belgien, der vielfältigen Schwierigkeiten, die Grenzen zu überwinden. Dazu bedurfte es oft mehrfacher Versuche, ungewisser Fluchthelfer, Trennung von Familien. In Belgien blieben die meisten in unsicherer Lage, ohne legale Arbeit, in der Regel ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis oder Visum für ein anderes Land. Viele von ihnen unternahmen ab 1940 den Versuch, ins unbesetzte Frankreich zu gelangen. Dazu kommen Flüchtlinge, die zunächst in den Niederlanden geblieben waren, dann aber über Belgien auch nach Frankreich zu fliehen versuchten. Den Autoren zufolge wird »man die Gesamtheit aller nach Westeuropa geflohenen und dort noch unter der Besatzungsherrschaft lebenden Juden aus Österreich und Deutschland auf etwa 50.000 ansetzen können«. (S. 273) Und: »Mehr als 24.500 von ihnen wurden später interniert, deportiert und ermordet.« (ebd.) Nicht nur die Größenordnung, sondern vor allem auch die »Datenlage« sind für das (ab 1940 besetzte) Belgien, wie nicht anders zu erwarten, dramatisch anders als für Osteuropa. Denn es gibt eine Fülle von Unterlagen zum bürokratischen, »aktenkundigen« Vorgehen der beteiligten belgischen und deutschen Instanzen – von den Grenzen, grenznahen Gerichten und Dienststellen über Polizei und 84 Besatzungsbehörden bis hin zu den akribisch geführten Listen in den Durchgangslagern Mechelen (Belgien) und Drancy (Frankreich). Die Ermordung findet fast ausschließlich im »Osten« statt. Die Autoren hatten Zugang zu vielfältigen Quellen. Außerdem konnten sie die inzwischen digitalisierten Deportationslisten systematisch auswerten. Gerade in der Verbindung der detaillierten Suche nach Informationen in allen überlieferten Quellen über ihnen »namentlich bekannte« Personen mit dem Abgleich der Deportationslisten liegt die besondere Stärke dieser Arbeit. So ließen sich einerseits viele Einzelschicksale klären. Dem Buch sind eine Menge Details zu entnehmen: ausführliche Schilderungen der Verfolgungsgeschichte zahlreicher Personen, oft von ganzen Familien. Wenn ihre Flucht mit der Deportation endet, bleiben sie nicht anonym. Daher lassen sich auch manche Fragen nach Personen aus der Ortsund Regionalgeschichte genauer beantworten. Andererseits leistet die Veröffentlichung einen wichtigen Beitrag zur differenzierten Quantifizierung in der Holocaust-Forschung. Die Daten sind in mehreren Karten und zahlreichen Tabellen aufbereitet und ermöglichen so neue Erkenntnisse. Sie genügen vermutlich nicht immer den Anforderungen der Sozialwissenschaften, aber die Autoren stellen sich in ihrer Einleitung ohnehin die Frage, wie der Umgang mit statistischem Material zu beurteilen sei: »Wir wollen nicht den Nutzen rechnergestützter Verfahren in der Geschichtswissenschaft bestreiten, ohne die wir unsere eigene Untersuchung von Fluchtbewegungen kaum hätten durchführen können. Zugegebenermaßen war uns die Dimension unseres Vorhabens nicht von vornherein klar. Eben darin liegt aber das nächste Problem beschlossen. Mit den genannten Verfahren können historische Forschungsprojekte in Angriff genommen werden, die ohne Datenverarbeitung gar nicht erst begonnen worden wären; es lassen sich Forschungsfragen beantworten, die man zuvor gar nicht erst gestellt hätte. Aber wer weiß, ob nicht ein anhand qualitativ ausgewählter Dokumente gewonnenes Ergebnis aufschlussreicher ist als mancher zeitaufwendig erhobene Befund, der auf Massendaten beruht. Es wäre für eine künftige Holocaust-Forschung, die nicht dem akademischen Selbstlauf gehorcht, wichtig und vielleicht sogar geboten, sich ihre Fragestellungen nicht vom Stand des technisch Möglichen vorschreiben zu lassen.« (S. 14) Dorothee Lottmann-Kaeseler Wiesbaden Rezensionen Die Mobilisierung von Zwangsarbeitern im Baltikum 1941–1944 Tilman Plath Zwischen Schonung und Menschenjagden. Arbeitseinsatzpolitik in den baltischen Generalbezirken des Reichskommissariats Ostland 1941–1944 Essen: Klartext Verlag, 2012, 502 S., € 34,95 Tilman Plath hat sich viel vorgenommen. Im Zuge der in den letzten Jahren sich allmählich entfaltenden Erforschung der Zwangsarbeit im deutsch besetzten Europa untersucht er die deutschen Mobilisierungen zur Zwangsarbeit in drei Regionen, die zum sogenannten Reichskommissariat Ostland gehörten. Sein Schwerpunkt liegt auf Lettland, Estland und Litauen werden vergleichend mit einbezogen. Die Geschichte des ebenfalls zum Reichskommissariat Ostland gehörenden Generalkommissariats Weißruthenien wird gestreift, um die spezifische Geschichte der drei baltischen Republiken von 1941 bis 1944 herauszustellen. Für alle drei Regionen erläutert Plath im ersten Hauptteil die Akteure und Strukturen auf deutscher Seite und den beteiligten einheimischen Verwaltungen. Im zweiten Hauptteil widmet er sich den Wirkungen auf die einheimischen Bevölkerungen, »mit Perspektive auf die Betroffenen« (S. 299), wie er es nennt. Die Studie entstand am Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte der Universität Flensburg, unterstützt von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, die nicht nur die Auszahlungen von Entschädigungen an ehemalige Zwangsarbeiter organisierte, sondern auch Forschungen initiiert und begleitet. Neben den einschlägigen Beständen in deutschen Archiven basiert die Arbeit auf Quellen der Staatsarchive in Tallin, Riga und Vilnius. Da Plath in der lettischen Sprache arbeiten kann, hat er auch die lettische Sekundärliteratur ausgewertet, was ein großes Verdienst darstellt. Die Teile zu Lettland gehören klar zu den Stärken der Studie. Ob Plath sich hingegen einen Gefallen getan hat, indem er die Studie auch auf Estland und Litauen ausgedehnt hat, ist fraglich. Da er einen umfassenden Ansatz gewählt hat, bezieht er alle verschiedenen Bevölkerungsgruppen, alle Akteure auf den verschiedenen Handlungsebenen und alle Zeitphasen mit ein – für jeden einzelnen Generalbezirk, die jeweils noch einmal in unterschiedliche lokale Teile zu differenzieren sind. Durch Plaths Entscheidung, die Akteure im ersten Hauptteil, die Betroffenen sodann im zweiten Hauptteil Einsicht 11 Frühjahr 2014 zu behandeln, geht er alle Phasen in jeder Region zweimal durch. Schon für einen Generalbezirk wäre das eine große Herausforderung gewesen. Für drei Generalbezirke muss es gewissermaßen zu einer riesigen Zahl von bruchstückhaften Unterabschnitten kommen, die den Text in manchen Teilen eher als Notizbuch denn als durchformulierten Text erscheinen lassen. Warum Plath sich nicht die Zeit genommen hat, den Text noch einmal zu redigieren, ist dem Rezensenten unklar. Die Sprache ist sehr sperrig, eine relativ hohe Anzahl von Tippfehlern und offensichtliche Probleme mit dem Setzen des Textes wären leicht zu vermeiden gewesen. Ebenso hätte man ein Orts- und Namenregister erstellen können, was für ein Buch von 500 Seiten sehr nützlich gewesen wäre. Inhaltlich schwerwiegender ist der oft etwas zu holzschnittartige und leider oft fehlerhafte Charakter der Darstellung und Argumentation. Wie erwähnt, auf dem Terrain Lettlands bewegt sich Plath souverän und arbeitet vor allem die besondere Rolle Lettgallens mit seiner russischen Bevölkerung heraus. Doch zahlreiche andere Abschnitte wirken nicht überzeugend, sei es, weil die empirische Grundlage zu mager ist, sei es, weil die angewandten Analysekategorien nicht wirklich durchdacht und auf das reichhaltige Quellenmaterial bezogen sind. Um ein Beispiel anzuführen: Das Verhältnis von Rassenideologie auf der einen Seite und kriegsökonomischen Kalkülen auf der anderen Seite kommt über einen behaupteten einfachen Gegensatz nicht hinaus – entgegen dem Material, das Plath präsentiert. Er beurteilt etwa die Vorgehensweise der Wehrmachtsbehörden in der »Arbeitseinsatzpolitik« so, dass sie »nur« durch den praktischen Nutzen für die Interessen der Wehrmacht bestimmt gewesen sei. Alle »rassenideologisch motivierten Differenzierungsbestrebungen« seien »nur« von der Zivilverwaltung und der Polizei ausgegangen. (S. 155) Schon der Blick auf die Politik gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen widerspricht dieser Einschätzung sehr deutlich, die Plath auch erläutert. (S. 346–366) Darüber hinaus zeigen die von ihm ausgewerteten Akten der Rüstungsinspektion Ostland klar, dass auch die Wehrmachtsinstanzen eine rassistische und antisemitische Arbeitspolitik betrieben. Man denke nur an die Einsamkeit eines Mannes wie Major Karl Plagge in Vilnius, der sich für jüdische und nichtjüdische Arbeitskräfte einsetzte. Positiv hervorzuheben ist, dass Plath die Differenziertheit der Gesellschaften unter deutscher Besatzung plastisch herausarbeitet. Die russischen und polnischen Bevölkerungen in allen drei Generalkommissariaten sollten nicht mit den Mehrheitsbevölkerungen über einen Kamm geschoren werden. Hier wirkten nicht nur die deutsche Besatzungspolitik, sondern in massiver Weise auch die Politik der einheimischen nichtdeutschen Verwaltungen mit, die auf nationalistische Homogenisierung zielten, gerade in Lettgallen und in Litauen. Desgleichen zeigt Plath die ganze Skala der deutschen Mobilisierungsbemühungen auf, die, wie der Titel der Studie es ausdrückt, 85 zwischen »Schonung und Menschenjagden« schwankte – oft wurde gleichsam eine Gruppe geschont und eine andere gejagt. Der permanente extreme Personalmangel auf deutscher Seite wird ebenso betont wie das sonst kaum untersuchte grausame Schicksal der »Evarussen«, ein deutscher Quellenbegriff, der die Zwangsevakuierten aus weiter östlich gelegenen Regionen der Sowjetunion bezeichnet. Die Studie hat eine Menge zu bieten, wirkt allerdings in vielem unfertig. Tilman Plath hatte sich leider zu viel vorgenommen, das war in dieser kurzen Zeit nicht zu bewältigen. Christoph Dieckmann Keele, England Europäisches Ticket Robert Grunert Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940–1945 Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh, 2012, 318 S., € 44,90 Als Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft in Berlin bemerkte George F. Kennan während des Zweiten Weltkriegs, »daß Hitler selbst, wenn auch aus unedlen Zwecken, die europäische Vereinigung technisch bereits weitgehend vollzogen hatte«.1 Tatsächlich schufen die Nationalsozialisten einen kontinentalen »Großraum« (Carl Schmitt), der von Kollaborateuren in West- und Mitteleuropa als Möglichkeit gesehen wurde, eigene innen- wie außenpolitische Interessen durchzusetzen. Robert Grunert hat nun eine ausführliche Analyse der Motive und Strategien jener westeuropäischen Faschisten vorgelegt, die sich für das nationalsozialistische »Neue Europa« einsetzten. Für die Niederlande konzentriert sich Grunert auf die 1931 gegründete, von Anton Mussert geführte Nationaal-Socialistische Beweging, für Belgien auf die Rexisten unter Léon Degrelle, die schon kurz nach ihrem Entstehen 1935 ins Parlament einzogen. Sowohl in den Kapiteln über die Niederlande als auch über Belgien spielte zudem der Vlaams 1 86 George F. Kennan, Memoiren eines Diplomaten. Memoirs 1925–1950, 3. Aufl., Stuttgart 1968, S. 417. Nationaal Verbond eine wichtige Rolle, der aktiv auf die Vereinigung Flanderns mit den Niederlanden hinarbeitete. Für Frankreich, das eine Vielzahl an (proto-)faschistischen Parteien und Splittergruppen aufwies, beschränkt sich Grunert auf die einflussreichsten und eifrigsten Kollaborateure: die Parti Populaire Français des ehemaligen Kommunisten Jacques Doriot und das nach der deutschen Eroberung ins Leben gerufene Rassemblement National Populaire Marcel Déats, der als einziger der genannten Faschistenführer als kurzzeitiger Arbeitsminister im Vichy-Kabinett ein politisches Amt bekleiden konnte. Die Europavorstellungen dieser Bewegungen orientierten sich vorerst am »internationalistischen« Faschismus Mussolinis, sie wiesen zum Teil ideologische Schnittmengen auf, waren letztlich jedoch vollkommen unvereinbar – insbesondere hinsichtlich einer anvisierten völkischen Grenzverschiebung zwischen den drei Ländern. Die Darstellung erfolgt in stetem Rekurs auf die wechselvolle Politik deutscher Besatzungsbehörden. Die Europavorstellungen der behandelten Bewegungen wurden daher insbesondere der Ideologie der SS bis zu einem gewissen Grad angepasst – Doriot war sogar bereit, Elsass-Lothringen aufzugeben. Aber auch wenn sich die Franzosen als zweitwichtigste Größe des faschistischen Europa in Stellung zu bringen versuchten, auch wenn sich Flamen wie Wallonen vermehrt als Teil der germanischen Völkerfamilie gerierten und ihre als »großdietsch« oder »belgizistisch« verfemte Propaganda einschränkten – eine signifikant größere Berücksichtigung konnten sie durch ihren ideologischen Gesinnungswandel allein nicht erreichen. Frustration und Kritik an einem reaktionären deutschen »Imperialismus« teilten die Faschisten in den Niederlanden, Belgien und Frankreich gleichermaßen. Die abschätzige Bewertung der westeuropäischen Faschisten durch den Nationalsozialismus rührte maßgeblich daher, dass sie den politischen Umsturz in ihren Ländern nicht selbst hatten bewerkstelligen können. So bemerkte Himmler Anfang 1942, dass die Herrschaft dieser Parteien »doch nur errichtet werden könnte aus dem Blut und dem Opfer der deutschen Armee heraus, die durch ihre Taten in diesem Krieg erst die Möglichkeiten für diese Herren Politiker schuf, an die praktische Durchführung ihrer Privat-Reichspläne zu denken« (S. 134). Angesichts der Ablehnung nationaler wie kontinentaler Neuordnungsvorstellungen, die die Faschisten nicht nur von Seiten des Dritten Reichs, sondern vor allem in ihren eigenen Ländern erfuhren und die allerorts zu internen Zerwürfnissen und Abspaltungen führten, flohen Degrelle und Doriot im Rahmen westeuropäischer Freiwilligenverbände regelrecht an die Ostfront. Insbesondere Degrelle konnte durch seinen Einsatz in der wallonischen Legion massiv an Ansehen gewinnen und zumindest auf eine begrenzte Machtübertragung hoffen – mit dem Fronteinsatz einher ging dann auch sein weitgehendes Einschwenken auf den ideologischen Kurs der SS und die »Germanisierung« der Wallonie. Aus Grunerts gut strukturiertem Buch lässt sich insofern schließen, dass die Europapropaganda westeuropäischer faschistischer Bewegungen ein Ausdruck ihrer Schwäche war. Auf dem europäischen Ticket sollte dem Nationalsozialismus die Kollaborationsbereitschaft bewiesen werden und somit doch noch eine Durchsetzung nationaler Interessen gelingen. Dass dies nicht geschah, hatte mit der Ablehnung zu tun, die die Faschisten in ihren Heimatländern erfuhren, sowie mit den Widersprüchen, die zwischen den Parteien der einzelnen Länder bestanden. Vor allem basierte das Scheitern der Europapläne aber auf dem konstitutiven Unvermögen des Nationalsozialismus, eine positive Idee des »Neuen Europa« zu entwickeln, wie es Joseph Goebbels schon 1940 artikulierte: »Wenn heute einer fragt, wie denkt ihr euch das neue Europa, so müssen wir sagen, wir wissen es nicht […]. Heute sagen wir ›Lebensraum‹. Jeder kann sich vorstellen, was er will. Was wir wollen, werden wir zu rechten Zeit schon wissen.«2 Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 Mathias Schütz München 2 Zit. nach Mark Mazower, Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, München 2009, S. 119. Ein Auschwitz-Personenlexikon Ernst Klee Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2013, 512 S., € 24,99 Bereits während seiner Forschungen über die »Euthanasie«-Morde stieß Ernst Klee auf Auschwitz-Täter wie den Arzt Horst Schumann.1 Mit der Ausweitung seiner Recherchen kamen immer mehr Namen von NS-Tätern 1 Ernst Klee, »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt am Main 1983, S. 345 ff., 374. Wenn man ihm doch nur getraut hätte € [D] 19,95 | CHF 26.9 90 ISBN 978-3-280-055111 -3 Überalll erhältlich, erhält wo es Bücher gibt! Folgen Sie un ns www.ofv.ch 87 in seinen Blick. Aussagen von als Zeugen befragten Opfern der von Schumann, Josef Mengele, dem SS-Standortarzt Eduard Wirths und anderen NS-Medizinern im Konzentrationslager Auschwitz begangenen Verbrechen sowie Berichte von in diesem Zusammenhang befragten früheren Häftlingen trugen schließlich dazu bei, dass Klee die Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz seitdem kontinuierlich erforschte.2 Als Fazit seiner Forschungen erarbeitete Klee ein AuschwitzPersonenlexikon, das einige Monate nach seinem Tod veröffentlicht wurde. An Personennamen ansetzende Recherchen eröffnen einen Zugang zu solchen Tatkomplexen; gleichzeitig wird es damit unmöglich, über Auschwitz zu disputieren, als ob das dort von Menschenhand anderen Menschen zugefügte Leid von namenlosen Tätern verursacht worden sei. Dass dies nicht so war, zeigen bereits Klees frühere Bücher, die ohne Umschweife die Täter nannten und auch mit Empathie darstellten (soweit dies überhaupt nachträglich möglich ist), was sie ihren Opfern zufügten. Im Mittelpunkt dieses Personenlexikons stehen die Namen von SS-Angehörigen des Konzentrationslagers Auschwitz (wenn keine oder nur wenige Hinweise über ihre Tätigkeit in Auschwitz vorlagen, sind die Namen in einem Anhang, S. 455–489, genannt). Klee beschränkte sich jedoch nicht auf die Darstellung von Angehörigen der Konzentrationslager-SS, sondern nennt in seinen biographischen Artikeln weitere Namen: SS-Führer aus zentralen SS-Ämtern; Angehörige der Besatzungsverwaltung; Mitarbeiter Eichmanns bei der Deportation der Juden nach Auschwitz; Ingenieure und Mechaniker der Firma Topf und Söhne; SS-Führer wie den Höheren SS- und Polizeiführer Schlesien, Ernst-Heinrich Schmauser, der Himmler bei seinen Besuchen in Auschwitz begleitete, und den Chef der Gestapo Kattowitz, Johannes Thümmler; den deutschen Bürgermeister der Stadt Auschwitz ab 1940, Heinrich Gutsche; Universitätsmediziner wie Otmar Freiherr von Verschuer, die in Auschwitz durchgeführte Versuche deckten und ermöglichten. Ebenso sind Häftlinge des Lagers genannt, deren Namen Klee in seine Recherchen einbezog: Häftlingsärzte, Häftlingspfleger und andere Funktionshäftlinge; Opfer der Verbrechen von Schumann, Mengele, Carl Clauberg und anderen KZ-Medizinern; die Namen von jüdischen Deportierten, die zum Einsatz in den bei der Leichenverbrennung eingesetzten »Sonderkommandos« gezwungen wurden. Die vielen Ungenannten unter den Deportierten und den Häftlingen werden durch Einträge wie »Unbekannter Häftling« (S. 410) und »Mit Zyklon B Ermordeter« (S. 453) angedeutet; Ernst Klee war sich angesichts der großen Zahl der Häftlinge und Deportierten3 durchaus bewusst, dass ein Personenlexikon hier an eine Grenze stößt. Auf der Grundlage seiner eingehenden Beschäftigung mit Auschwitz hat Ernst Klee so manche seiner Kurzbiographien über Häftlinge des Lagers gegen den Strich geschrieben. Wer dies liest, muss die vorgetragene Einschätzung nicht teilen, kann sie jedoch als Anregung zum Nachdenken über die damit gestellten Fragen aufnehmen. Neben Aleksander Lasik, dessen Feststellungen über Angehörige der Besatzung des Konzentrationslagers Auschwitz in diesem Buch häufig angeführt sind, hat Klee die umfassendsten Informationen über diesen Personenkreis zusammengetragen. Sein letztes Buch ist damit hinsichtlich der KonzentrationslagerSS in Auschwitz sowie der in diesem Zusammenhang genannten Angehörigen von vorgesetzten SS- und NSDAP-Gliederungen, der Gestapo und der Besatzungsverwaltung ein nützliches Kompendium. Dies schließt bei dieser schwierigen Materie nicht aus, dass im Einzelfall weitere Recherchen erforderlich sind; zum Beispiel gibt es Hinweise, dass die am 4. September 1946 aus der amerikanischen Besatzungszone nach Polen ausgelieferte frühere SS-Oberaufseherin Johanna Langefeld (S. 249) am 23. Dezember 1946 in Krakau aus der Untersuchungshaft floh und nie strafrechtlich belangt wurde.4 Nichtsdestoweniger werden zukünftige Forschungen über die im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzten SS-Angehörigen Klees letztes Buch immer berücksichtigen. Auch weil dieses Auschwitz-Personenlexikon seine in jahrzehntelanger Arbeit gewonnenen profunden Kenntnisse über NS-Medizinverbrechen, KZ-Ärzte, die Versuchsblöcke, die Krankenbau-Reviere des Lagers und die lebenslangen Folgen der Experimente dauerhaft zugänglich macht. Jochen August Berlin/Oświęcim 4 2 3 88 Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt am Main 1997. Siehe Franciszek Piper, Die Zahl der Opfer von Auschwitz, Oświęcim 1993. Vgl. Elżbieta Kobierska-Motas, Ekstradycja przestępców wojennych do Polski z czterech stref okupacyjnych Niemiec 1946–1950 [Die Auslieferung von Kriegsverbrechern nach Polen aus den vier Besatzungszonen Deutschlands 1946–1950], Teil II, Warszawa 1992, S. 145; Bernhard Strebel, Das KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes, Paderborn 2003, S. 68 ff. Rezensionen Aufrichtige Hingabe Bernhard Sauer »Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stiche lassen«. Abituraufsätze im Dritten Reich Berlin: Verlag Duncker & Humblot, 2012,126 S., € 29,90 Das Heese-Gymnasium in Berlin Steglitz, 1886 als altsprachliches, humanistisches Gymnasium gegründet, war eine Schule, an der vor allem Kinder von Familien, die einem bürgerlich-konservativen Milieu angehörten, unterrichtet wurden. Von welchen Auffassungen und Einstellungen die Atmosphäre bereits in der Zeit vor 1933 geprägt war, wird an einer kleinen Episode deutlich, die man Sauers Buch entnehmen kann. Einer der Schüler der Schule war der Sohn Karl Liebknechts. Als sein Vater im Januar 1919 von rechtsradikalen Freikorps ermordet wurde, stand er kurz vor dem Abitur. Der Schulleiter versuchte, den Sohn wegen seines revolutionären Engagements von der Schule zu entlassen. Nachdem er durch einen Befehl des sozialdemokratischen Ministers gezwungen wurde, den Jungen weiter zu unterrichten, blieben die anderen Schüler aus der Klasse mit Einverständnis der Eltern dem Unterricht fern, bis der junge Liebknecht seine Reifeprüfung absolviert und die Schule verlassen hatte. Das Selbstverständnis des Schulkollegiums war eher konservativ-bürgerlich. So waren am 30. Januar 1933 weder der Schulleiter noch irgendein Lehrer Mitglied der NSDAP; auch 1936 war nur ein Lehrer der Nazipartei beigetreten, vier im NS-Lehrerbund. Wie verhielt man sich nun im Nationalsozialismus? Gegen die Feststellung eines früheren Historiographen der Schule, hierin zeige sich eine beachtliche Distanz zum Regime, macht Sauer in diesem Band deutlich, wie sehr sie sich doch »in den Dienst der neuen Zeit« (S. 17) stellte. Sauer gelingt dieser Nachweis mithilfe eines einfachen, aber einleuchtenden Verfahrens. Er untersucht die an dieser Schule zur Zeit des Nationalsozialismus entstandenen Abituraufsätze, einschließlich der Korrekturen der Prüfer. Sauer dokumentiert in seinem Buch nicht nur einen »Querschnitt« (S. 17) dieser Arbeiten. Indem er die verschiedenen Dokumente und Reden, etwa die Rede des damaligen Direktors zum 50-jährigen Bestehen der Schule, in die Darstellung einbezieht, umreißt er den Kontext, in dem diese Aufsätze entstanden sind. Darüber hinaus stellt er jedem Aufsatz einen Kommentar zu Seite, in dem er die ideologischen Betrachtungen, die dort angestellt werden, zu den zeithistorischen Geschehnissen, wie sie sich nach den heutigen Kenntnissen darstellen, in Bezug setzt. Einsicht 11 Frühjahr 2014 Mit den Aufsatzthemen wurden zentrale Vorstellungen nationalsozialistischer Ideologie als Gegenstand vorgegeben. Die Themenwahl war deutlich von der jeweils aktuellen historischen Situation bestimmt. An vielen Themen zeigt sich die herausragende Bedeutung, die der Vermittlung nationalsozialistischer Ethik in der Schule beigemessen wurde: »Aufrichtige und völlige Hingabe ist eine Tugend vor allen Tugenden. Kein Wert von Belang kann ohne sie zustande kommen.« »Das Opfer verlangte eine erhöhte Kraft, aber was ist die Kraft, die zum Opfer gehörte gegen die Kraft, die von ihm ausgeht.« »Was muss ich meiden und tun, um hart zu werden?« »Wie gedenke ich den Satz: ›Gemeinnutz geht vor Eigennutz‹ in meinem Leben zu verwirklichen?« Die Überlegungen, die die Schüler dann anstellen, unterscheiden sich von den Vorstellungen, die sich in nationalsozialistischen Schulungsheften oder auch in der philosophischen Literatur zur Ethik finden lassen, allenfalls durch die Unbeholfenheit des Ausdrucks. An manchen Stellen wirkte diese allerdings geradezu subversiv: »Und sehen wir, wie die von einem Opfer ausgehende Kraft zunächst die Kraft des Beispiels ist, das Beispiel, das auf die allermeisten Menschen eine ermutigende Wirkung ausübt […] Die Herde folgt dem Leithammel«; schreibt ein Schüler. »Unglaubl. Vergleich in diesem Zus.hange« (S. 44), merkt ein Lehrer am Rand an. Ein anderer Schüler schreibt zu dem Thema »Führertum«, ein Führer müsse »Neues, Umwälzendes bringen und darf nicht zugeben, dass andere auch recht haben könnten«. Ein Lehrer korrigiert: »Das nähert sich dem Unfehlbarkeitsdogma und ist wohl nur im Hinblick auf ›den Führer‹ gesagt«. (S. 38) Aber diese Subversivität verfehlten Ausdrucks lässt auf der anderen Seite umso deutlicher werden, dass die Forderungen, die im Nationalsozialismus an den Einzelnen erhoben wurden, wohl von den meisten Lehrern wie Schülern als anspruchsvolle Forderungen einer »hohen« Moral angesehen und behandelt wurden. In ihr, so lässt sich aus dem Buch von Sauer lernen, war das Bündnis zwischen denjenigen, die sich als bloß konservativ und deutschnational, und denjenigen, die sich ausdrücklich als Nationalsozialisten definierten, begründet. Werner Konitzer Fritz Bauer Institut 89 Nicht nur sammeln und bewahren Elisabeth Gallas »Das Leichenhaus der Bücher«. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945 Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 341 S., Abb., € 64,99 In den letzten Jahren war das Thema der Restitution von Kunstschätzen, die im Nationalsozialismus geraubt worden sind, immer wieder in den Medien. Bundesdeutsche Einrichtungen unterstützen die Provenienzforschung in öffentlichen Museen, Internetseiten veröffentlichen Gemälde und andere Kunstgegenstände auf der Suche nach den rechtmäßigen Erben. Jüngst wurde sogar ein US-Spielfilm mit Starbesetzung gedreht, der das Thema behandelt. Er schildert die frühesten Recherchen von Wissenschaftlern und Kuratoren, die als Angehörige der amerikanischen Armee nach Europa kamen und die Depots und Privatmuseen der nationalsozialistischen Führungseliten nach geraubten Kunstgegenständen durchsuchten. Ist der historische Kern, auf den sich dieser Film stützt, kaum öffentlich bekannt, so gilt dies noch mehr für eines seiner Unterkapitel: die Sammlung, Bewahrung und Restituierung von jüdischen Ritualund Kunstgegenständen sowie von Büchern in Jiddisch, Hebräisch oder den Landessprachen, die die Bibliotheken von Juden gefüllt hatten. Elisabeth Gallas hat sich in ihrer Doktorarbeit diesem Thema gewidmet und die Geschichte des Offenbach Archival Depots rekonstruiert, das eine der zentralen Sammelstellen für jüdische Kunstschätze und Bücher in der amerikanischen Zone war. Dabei geht sie der Geschichte der 1947 gegründeten Jewish Cultural Reconstruction (JCR) nach, und sie interpretiert die Arbeit der jüdischen Kuratoren, Archivare, Historiker und Philosophen als Teil der Intellectual History und der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Im Unterschied zu nichtjüdischen Kunstliebhabern und Sammlern, die nach 1945 die Rechte an ihrem geplünderten Eigentum vertreten konnten, gab es für die jüdischen Ritualgegenstände und Bücher nach 1945 keine Eigentümer mehr, die ihre Rechte hätten anmelden können. Daher traten jüdische Interessensverbände weltweit schon früh auf den Plan, um die Rechte der Ermordeten auf ein jüdisches Kollektiv zu übertragen, und konnten diesen Anspruch auch gegenüber den alliierten Militärregierungen durchsetzen. Gallas beschreibt, wie die Sorge unter jüdischen Intellektuellen und Emigranten in den USA, in Großbritannien und in Palästina sie bereits während des Krieges dazu brachte, Strategien zur Rettung der kulturellen Schätze des Judentums zu entwickeln. Sie konzentriert 90 sich in ihrer Arbeit auf vier bekannte Persönlichkeiten im Umfeld der JCR, nämlich auf Salo W. Baron, Hannah Arendt, Gershom Scholem und Lucy Dawidowicz. Alle vier waren nicht nur in der praktischen Arbeit mit der Dokumentation, mit Sammeln und Archivieren beschäftigt, sondern integrierten die Erfahrungen aus der Arbeit mit den Kunstobjekten und Büchern in ihre theoretischen Überlegungen. Mit ihrer Arbeit wollten sie verhindern, dass jüdisches Eigentum einzelner Personen oder Gemeinden als erbenloses Gut zum Eigentum der Tätergesellschaft würde. Es sollte weiter der jüdischen Gemeinschaft zugutekommen. Die »reconstruction« jüdischer Kultur und jüdischer Wissenschaften war das treibende Motiv; man wollte mit den Überresten der großen Bibliotheken und Museen jüdische Kultur lebendig erhalten. Für die Mitarbeiter der JCR gab es keinen Zweifel, dass jüdische Kultur in Deutschland und Osteuropa keine Chance mehr haben würde. Sie sahen ihre Aufgabe in der Stärkung der jüdischen Gemeinden vor allem in den USA, in Großbritannien und in Palästina. Gallas bettet ihr Thema in den Kontext jüdischer Wissenskulturen des 20. Jahrhunderts und zeigt für Arendt und Dawidowicz, wie sehr die Arbeit mit den Kulturgütern deren politisches und philosophisches Denken beeinflusste. Dawidowicz ging es einerseits um den Erhalt des YIVO-Archivs (Institute for Jewish Research) im New Yorker Exil, andererseits war sie eine der ersten Historiographinnen des Holocaust, indem sie die Geschichte der Zerstörung der Juden und des jüdischen Wissens als eines der Grundmotive des Nationalsozialismus analysierte. Arendt entwickelte aus ihren Besuchen in Deutschland in den 1940er Jahren und ihren Funden aus den Nazi-Raubzügen ihre Theorie des Totalitären. Ihre Tätigkeit für die JCR half ihr, das nationalsozialistische System zu verstehen und zu beurteilen. Die Ermordung der europäischen Juden sah sie als eine Einheit mit der vollständigen Vernichtung der jüdischen Kultur auf dem Weg zur totalen Herrschaft. Gallas betont die immense Bedeutung der Rettung des geistigen Erbes der europäischen Juden für die beteiligten jüdischen Intellektuellen. Die wenigen erhalten gebliebenen Kunstgegenstände und Bücher wurden in den Berichten und Korrespondenzen parallelisiert mit den ermordeten Eigentümern und Gelehrten selbst. Sie zu bewahren verhinderte ihre völlige Auslöschung und ermöglichte das Gedenken an die Toten, das bis zum Holocaust jedes noch so mörderische System den Überlebenden zugestanden hatte. Die Geschichte der JCR und der Arbeit zur Rettung der jüdischen Kunstgegenstände ist keine Randerscheinung der jüdischen Nachkriegsgeschichte, wie Gallas überzeugend zeigt. Sie führt direkt zu den Kernthemen der Holocaustforschung und der jüdischen Geschichte. Sie zeigt zudem, dass unser landläufiges Urteil, die historische Forschung zum Holocaust habe erst in den 1960er Jahren eingesetzt, revidiert werden muss. Ein negativer Gedächtnisort Thomas Gerhards Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert Paderborn u. a.: Verlag Ferdinand Schöningh, 2013, 514 S., € 68,– Katharina Rauschenberger Fritz Bauer Institut Zu den eindrucksvollsten Antworten auf den berüchtigten Artikel »Unsere Aussichten« von Heinrich von Treitschke aus dem Jahr 1879, mit dem der »Berliner Antisemitismus-Streit« begann, gehört diejenige des nationalliberalen Historikers Harry Bresslau. Wie Treitschke war auch er der Ranke- und Droysenschule verpflichtet, wie dieser lehrte auch er an der Berliner Universität, und beide teilten auch zentrale politische Ansichten. In seinem offenen Brief an den Kollegen war Bresslau nun fassungslos über die frappanten »Symptome der Intoleranz« und die »neuste deutsche Judenhetze« an einer deutschen Universität. Anders als andere Kommentatoren behandelte er den Text Treitschkes nicht nur als Vergehen gegen den guten Stil, sondern er stellte auch in der Sache klar, dass der Anteil der Juden am »materiellen Aufstieg Deutschlands« positiv zu werten sei, ihnen sei gerade wegen ihrer Bedeutung für die deutsche Moderne der »geistige Ruhm« öffentlich zuzubilligen. Die von Treitschke attackierte »Mischkultur« aus Christen-, Juden- und Deutschtum sei keine für die Zukunft Deutschlands abzuwendende Tragödie, sondern eine Tatsache und zudem etwas sehr Wünschenswertes. Der Name Heinrich von Treitschke hat seit seinem Tod 1896 vor allem deutschnationale Bewegungen inspiriert: Denkmäler, Gedenktafeln, Geschichtsschreibung und viele völkische Verehrungsgesten zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus feierten den Historiker als »Vorkämpfer für Deutschlands Einheit und Größe« (Fritz Zierke, 1945). Oft pries man mit ihm den »deutschen Charakter« (Otto Siedel, 1915), das vorbildhaft dargestellte »Werden des Kämpfers und Historikers« (Fritz Hepner, 1918), Treitschkes Verständnis von Politik und sein gelehrtes Werk verschmolzen dabei zu einer idealtypischen deutschen Haltung, die eine bestimmte Form der Geschichtsschreibung und das Eintreten für den deutschen Nationalstaat als Bedingung füreinander verstanden. Wie sehr sich die Alldeutschen auf ihn bezogen, ist bekannt: Ihr Vorsitzender Heinrich Claß, ein berüchtigter antisemitischer Agitator, berichtet in seinen Erinnerungen mit Emphase vom bleibenden Eindruck, den Treitschkes Vorlesungen auf ihn gemacht hatten. Von allen Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 Referenzen an Treitschke wurde denn auch sein Satz »Die Juden sind unser Unglück!« zu einem regelrechten Slogan des antisemitischen Bekenntnisses, und gerade diese Sentenz stand auch auf dem Titelblatt einer jeden Ausgabe des Völkischen Beobachters nach 1933. Nun erhob man Treitschke zum Vorläufer der Gegenwart, er wurde für seine »antisemitische Überzeugung« und für seinen Mut gelobt, als einer der wenigen Akademiker seiner Zeit hierfür öffentlich einzustehen.1 Es ist eine der besonderen Vorzüge der Arbeit von Thomas Gerhards, dass er die Lektüren der nationalistisch-völkischen und der antisemitischen Rezeption zwischen Reichsgründung und der nationalsozialistischen »Judenforschung« eines Wilhelm Grau und Walter Frank genauer unter die Lupe nimmt, als bisher geschehen.2 So untersucht sein Buch systematisch die Werk- und Wirkungsgeschichte Treitschkes in vielen Facetten und wird im chronologischen Aufbau und durch systematische Unterkapitel zu einem Nachschlagewerk, das die verschiedenen Formen der Anrufung, Anknüpfung und Verlebendigung auffächert, von oberflächlichsimplifizierenden bis hin zu ernsten wissenschaftsgeschichtlichen Dokumenten der Fortführung seiner Ideenwelt. Beispielhaft sind darüber hinaus aber auch die beiden Kapitel über die TreitschkeRezeption in der jungen Bundesrepublik (S. 255–284) und in der DDR (S. 285–304), in denen es dem Verfasser besonders gut gelingt, über sein Thema hinaus ein intellektuelles Porträt der Zeit zu zeichnen. Es gibt denn auch nur eine Kritik, die das Buch herausfordert, die allerdings ist grundlegend: Gerhards erweckt in seiner Analyse mehr als einmal den Eindruck, als sei der Großteil der überdimensionierten Treitschke-Rezeption durch Zitat-Verkürzungen (die er nachweist, z. B. S. 229), durch oberflächliche Lektüre, politische Vereinnahmung und Voreingenommenheit gleichsam ausschließlich ein Kommentar über diejenigen, die sich seiner bedienten. So aber entsteht eine strukturelle Distanz zwischen Treitschke und seinen Lesern durch alle Zeiten hindurch, als sei jede Form der Rezeption des preußischen Historikers methodisch gar nicht »Treitschke« zuzuschlagen, sondern allein eine Quelle für die Epoche, die sie hervorbrachte. Das ist im Kern kein falsches Argument, denn alle Rezeption fügt tatsächlich ihren Quellen immer viel hinzu, vielleicht gar mehr, als sie aus ihr schöpft. Doch dieses konstruktivistische Argument darf nicht überzogen werden. Die zumeist fehlende 1 Vgl. Ernst Leipprand, Heinrich von Treitschke im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1935, S. 191. 2 Das Quellenmaterial und die akribisch ausgewertete Forschungsliteratur ist nicht genug zu loben, es ist lediglich zu bedauern, dass Gerhards die Forschungen von Dirk Rupnow nicht mehr einbezogen hat, dessen Arbeiten auch methodisch viel zum Thema bieten; vgl. Dirk Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011. 91 Rationalität und Objektivität in Wirkungsgeschichten einer umstrittenen Persönlichkeit einzuklagen (nicht nur hinsichtlich der radikalisierenden Vereinnahmungen seiner Schriften, sondern auch im Hinblick auf seine späteren scharfen Kritiker) wird wohlfeil, wenn nicht mehr davon ausgegangen wird, dass es die eine, die angemessene Rezeption überhaupt gibt. An einer Stelle schreibt Gerhards, in Nachrufen deutscher Historiker habe es keinen Rekurs auf den Antisemitismus Treitschkes gegeben, in den Nekrologen aus dem Ausland aber sehr wohl (S. 127). Sagt dies etwas über die fehlende Differenzierung im Urteil des englisch- und französischsprachigen Ausland aus? Oder mehr über Blindstellen des innerdeutschen Blicks? Darüber hätte man gerne noch mehr gelesen, denn in rezeptionsgeschichtlichen Studien sollte die gedankliche Möglichkeit zugelassen werden, dass ein von außen kommender oder auch ein späterer Blick auf die Vergangenheit klarer sehen kann, dem Ideal der Wahrheit also näherkommt, je weiter er sich räumlich oder zeitlich vom Gegenstand entfernt. Gerhards aber versagt sich den korrektiven Gedanken, dass das Bild Treitschkes als ein negativer Gedächtnisort in ungezählten Lektüren im Durchgang durch ein Jahrhundert und durch den Wandel von sechs politischen Systemen eventuell auch zur Kenntlichkeit entstellt worden sein könnte. Der liberale jüdische Journalist Bernhard Guttmann, der bei Treitschke studiert hatte, fasste diese Einsicht 1950 aber bereits als Zeitgenosse in die von Gerhards zitierten Worte: »Ein Redner von dieser Gewalt ist mir nachher nicht mehr begegnet, und es erweckt mir peinliche Gedanken, sich neben ihm die Leute vorzustellen, deren Eloquenz eine Generation später die Deutschen in Rauschzustände versetzt hat. Von Treitschke bleibt sein großes Geschichtswerk, [hier tritt] das aufwühlende Pathos des Rhetors etwas zurück. Die Feder hielt es in Grenzen, während der Mund keine Hemmungen kannte. […] Sehr viele Männer, die im folgenden Menschenalter als Beamte, Richter, Professoren, Geistliche, Schriftsteller die Nation zu lenken berufen waren, hatten zu Treitschkes Füßen gesessen, und wenn der Volksgeist auf so falsche Bahnen geraten ist, dann kann ein so einflußreicher Lehrer nicht von Mitschuld frei gesprochen werden.« (S. 102 f.) Ein besonders instruktives Kapitel ist das über den Umgang mit den »Treitschke«-Straßen nach 1945, von denen es heute nur noch die in Berlin, Hannover, Karlsruhe und München gibt (S. 383–403). Anschaulich zeigt der Verfasser die oft jahrzehntelangen, verwickelten Geschichten der Widmungen und führt die durch Stadtverwaltungen und Bürgerbegehren herbeigeführten Anträge auf Umbenennungen (bzw. das Scheitern solcher Initiativen) vor. Dabei kommt der Leser aufgrund frappierender Befunde und Details nicht aus dem Staunen heraus, etwa in Bezug auf München, das 1960 eine Treitschkestraße nicht etwa abschaffte, sondern neu nach ihm benannte. Während Gerhards hier Aufschlussreiches zutage fördert, unterschätzt er im Falle Berlins eine Pointe der von ihm sonst bis in einzelne Verästelungen hinein geschilderten Gibt es in Familien ein absolutes »Tabuthema« (S. 127), dann haben es Kinder nicht leicht. Sich aus dem Bann zu befreien, die Frageverbote zu missachten, die Mauern des Schweigens zu durchbrechen, erfordert Standhaftigkeit und Kraft, Mut und Durchsetzungsvermögen. Rainer Höß ist Sohn von Hans-Jürgen Höß und Enkel von Rudolf Höß (1900–1947), dem ersten Kommandanten des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau in der Zeit von Mai 1940 bis November 1943. Im Sommer 1944 beauftragte Heinrich Himmler den berufserfahrenen Massenmörder mit der Leitung der »Ungarn-Aktion«. Binnen sieben Wochen, von Mitte Mai bis zum 7. Juli 1944 organisierte Höß als SS-Standortältester die Vernichtung der Juden aus Ungarn. 147 Todeszüge mit jeweils 3.000 Juden »wickelte« die SS auf der eigens im Mai 1944 in Betrieb genommenen Rampe in Birkenau ab. Eine logistische Meisterleistung, möglich geworden durch den Bau von Todesfabriken, den Höß ab Mitte 1942 organisiert hatte. Mit Ehefrau und fünf Kindern, das älteste wurde 1930, das jüngste 1943 geboren, lebte Höß in einem »Villa« genannten Haus wenige Meter außerhalb des »Schutzhaftlagers« (Auschwitz I/ Stammlager). Vom 1. Stock des Gebäudes hatte man einen guten Blick auf das »Alte Krematorium«, das bis Juli 1943 in Betrieb war. Nicht nur der Kamin der Verbrennungsöfen lag im Blickfeld, auch das Flachdach der Gaskammer mit seinen Öffnungen für das Einwerfen von Zyklon B war gut zu sehen. Die Höß-Kinder wuchsen behütet auf. Im großen Garten samt kleinem Pool und Rutsche, umgeben von einer hohen Mauer, umsorgt von Häftlingsfrauen (Bibelforscherinnen/Zeugen Jehovas), schuf der fürsorgliche Familienvater Höß eine kleine Idylle. Es lebte sich komfortabel in Auschwitz, unschwer konnte man sich mit dem versorgen, was den deportierten Juden geraubt worden war. Häftlinge erledigten Aufträge der Familie, mussten jederzeit zu Diensten sein. 1947 freilich wurden die Kinder Halbwaisen und Hedwig Höß (1908–1989) Witwe. Auf den toten Vater, in Warschau vom Obersten Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und unweit seiner Villa gehängt, ließ die Mutter aber nichts kommen. Sie erzog ihre Kinder in treuer Liebe zum Vater, der als Soldat doch nur seine vaterländische Pflicht erfüllt habe. Viele Jahre brauchte der 1965 geborene Enkel, der im einstigen Chauffeur des Kommandanten (Leopold Heger, geb. 1899) noch einen väterlichen Freund hatte, bis ihm die familiären Abgründe zu Bewusstsein kamen. Gegen die exkulpierende Familienerinnerung anzukämpfen und die Verlogenheit der tradierten Familienerzählung zu durchschauen war ein langer und auch schmerzlicher Prozess. Einen »Nestbeschmutzer« (S. 151) sahen Großmutter, Onkel und Tanten in dem Nachgeborenen. Rainer Höß und seine beiden Co-Autoren erzählen geradeheraus und ungeschminkt eine Familiengeschichte, die für das Nachkriegsdeutschland von hoher zeitgeschichtlicher Relevanz ist. Wie gingen Töchter und Söhne mit ihren Müttern und Vätern um, die im Nationalsozialismus Schuld auf sich geladen hatten? Welche Auswirkungen hatte ihr Geschichtsbild auf die Erziehung der eigenen Kinder? Rainer Höß, so will es scheinen, hatte Glück im Unglück. Die Entfernung von und der Bruch mit seinem lieblosen Vater ermöglichte ihm zugleich, sich radikal von den Großeltern loszusagen und sich 92 Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 Auseinandersetzungen: Nicht immer äußern sich gewandelte Perspektiven auf die nationale Vergangenheit der Deutschen in jenen vom ihm als unhistorisch kritisierten Vergessens-Akten einer damnatio memoirae von Straßen-Umbenennungen wie in Kiel (1971) oder jüngst in Nürnberg, Stuttgart und Heidelberg. In Berlin-Steglitz führte das politische Unbehagen am Namen der dort seit 1906 so benannten Treitschkestraße nicht dazu, ihn zu ändern, denn die Anwohner lehnten dies in einer Befragung ab. Doch eine neu angelegte Grünanlage entlang ihres Verlaufs wurde »Harry-Bresslau-Park« genannt und somit dem Historiker gewidmet, der seinerzeit mit den klarsten Worten öffentlich dem preußischen Verfechter einer Trennung von Deutschen und Juden entgegengetreten war. Das Nebeneinander von historischem Erbe und politischer Urteilskraft, wie sie Straße und Park als Ensemble hier symbolisieren, ist selbst ein Dokument der Gegenwart und verdeutlicht die Aporie des Themas. Dieser beeindruckenden wissenschaftlichen Bilanz der Treitschke-Rezeption durch Gerhards hätte es gut getan, wenn er solche Spannungen viel öfter kommentiert und nicht nur beiläufig erwähnt hätte. Nicolas Berg Leipzig Familiengeschichte Rainer Höß Das Erbe des Kommandanten. Rudolf Höß war ein Henker von Auschwitz. Er war mein Großvater. Geschichten einer schrecklichen Familie Aufgezeichnet von Petra Schnitt und Jörn Voss. München: belleville Verlag, 2013, 189 S., zahlr. Abb., € 20,– Klarheit über deren Tun und Lassen zu verschaffen. Höß zeichnet auch nach, dass er allen Vereinnahmungen durch Neonazis zu widerstehen wusste. So machte zum Beispiel Michael Kühnen (1955–1991) den Versuch, den Höß-Enkel für die Rechtsextremisten (S. 164) zu gewinnen. Er blitzte sang- und klanglos ab. Rainer Höß war längst immun gegen jegliche Versuchung. Der Autor zeigt auch auf, dass er als Höß-Enkel bei der Rechten hätte berühmt werden können. Nicht wenige traten an ihn heran und hofierten den Nachkommen des Massenmörders. In den letzten Jahren ist Höß durch seine Mitwirkung in dem Film HITLER’S CHILDREN, durch Interviews etc. zur öffentlichen Person geworden. 2009 fuhr er erstmals nach Auschwitz, stand israelischen Jugendlichen Rede und Antwort, konfrontierte sich mit der Vergangenheit seines Großvaters. Das nunmehr vorgelegte Buch, ganz gewiss ein »Akt der Befreiung« (S. 10), nötigt Respekt ab. Hier hat ein Nachgeborener nicht nachgelassen, sich mit den Verbrechen auseinanderzusetzen, die sein Vorfahre verübt hat. Seinen Seelenfrieden wird er aber wohl nie richtig finden können. Den Nachlass seines Großvaters hat Rainer Höß 2010 dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) übereignet. Bernhard Gotto, Mitarbeiter des IfZ, hat das Buch mit einem erhellenden Vorwort eingeführt. Leider hat das Institut die Publikation nicht sorgfältig betreut. Einige Ungenauigkeiten hätten vermieden werden können. So konnte im April 1941 kein Auschwitz-Häftling die Nummer 93.134 (S. 88) haben. Diese Nummer wurde erst im Januar 1943 vergeben. Die Fotos von Höß’ Hinrichtung (S. 108) und von Himmlers Auschwitz-Besuch im Juli 1942 (S. 131 f.) finden sich nicht im »Höcker-Album«. Auch Gotto irrt, wenn er in seinem Vorwort schreibt, Rudolf Höß habe seine »Memoiren« 1947 während seines dreiwöchigen Prozesses in Warschau verfasst. Höß schrieb sie in der Krakauer Untersuchungshaft. Werner Renz Fritz Bauer Institut 93 Makulatur Dobrawa mit keinem Wort. Offenbar ist ihm die gegenwärtige Debatte um die haarsträubende Rechtspraxis in NS-Prozessen1 vollkommen entgangen. Ralph Dobrawa hat Friedrich Karl Kaul (1906–1981) einen Bärendienst erwiesen. In Verehrung für den streitbaren Juristen druckt Dobrawa auf den Seiten 59 bis 222 des Buches, in dem er sich kurioserweise zum Autor und nicht zum Herausgeber macht, Aufzeichnungen Kauls über den 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, dessen Schlussvortrag vom 21. Mai 1965 und seine Replik vom 29. Juli 1965 ab. Kenntnislos reproduziert Dobrawa Texte Kauls, die einer gründlichen Überarbeitung bedurft hätten. Ärgerlich ist nicht nur die schlampige Wiedergabe von Kauls Prozessbericht, Plädoyer und Replik, unverständlich ist, dass der Jurist Dobrawa sich nicht die Mühe gemacht hat, auf der Grundlage von Kauls Nachlass und der Akten der »Strafsache gegen Mulka u. a.« die Tätigkeit des Nebenklagevertreters Kaul nachzuzeichnen. Kaul hat im Auschwitz-Prozess eine wichtige, wenn auch nicht immer überzeugende und glückliche Rolle gespielt. Seine Beweisanträge, seine Beischaffung von Urkunden, seine Bestellung des Sachverständigen Jürgen Kuczynski (Humboldt-Universität) und seine Benennung von Zeugen aus der DDR und der Sowjetunion müssten im Einzelnen untersucht werden, wollte man Kaul, im Westen als Kronjurist der SED, als Sprachrohr der DDR-Führung apostrophiert, gerecht werden. Auf den Seiten 11 bis 57 stellt Dobrawa zunächst als eigenständigen Beitrag die Verfolgung nazistischer Gewaltverbrechen sowie Vorgeschichte und Verlauf des Auschwitz-Prozesses dar. Die DDR ist Dobrawa, der alle neueren Studien über die Vergangenheitspolitik der DDR ignoriert, ein leuchtendes Vorbild, die BRD hingegen der Hort der Reaktion, das Sammelbecken von Altnazis und ihren Hintermännern in der Großindustrie. Dobrawas Ausführungen und seine Reproduktion von Kauls Texten weisen haarsträubende inhaltliche und viele formale Mängel auf. Er weiß nicht, wie viele SS-Angehörige in Frankfurt am Main vor Gericht standen (S. 7), wie lange der Prozess dauerte (S. 26), wann das Auschwitz-Urteil erstmals veröffentlicht wurde (S. 47). Die dreiteilige Dokumentation der Filmautoren des Hessischen Rundfunks, Rolf Bickel und Dietrich Wagner, über den Auschwitz-Prozess datiert er auf das Jahr 1999 (S. 24), den Katalog zur Ausstellung Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main (hrsg. von Irmtrud Wojak im Auftrag des Fritz Bauer Instituts) auf das Jahr 2003 (S. 24). Unverständlich ist auch, dass Dobrawa seine Zitate nicht nachweist. Sein auf den Seiten 254 bis 255 angeführtes »Quellenverzeichnis« kann schwerlich über die unwissenschaftliche Methode hinwegtrösten. Die aus dem Nachlass Kauls herausgegebenen »Stimmungsbilder« (S. 59) vom Auschwitz-Prozess hat Dobrawa nicht quellenkritisch bearbeitet. Die Falschschreibung von fünf Namen der zunächst 22 Angeklagten, auch von Namen der Verteidiger und der Zeugen kann Kaul nachgesehen werden, Dobrawa hätte sie aber in seiner Edition korrigieren müssen. Auch Namen von SS-Personal (»Pahlisch« statt Palitzsch, S. 81, »Stiebitz« statt Stiwitz, S. 137 f.), von I.G. Farben-Direktoren (»Fritz ter Mer« statt Fritz ter Meer, S. 76), von im Prozess angeführten Opfern (»Lilli Kofler« statt Lilli Toffler, S. 107) kommen in unrichtigen Schreibungen vor. Wie nachlässig Dobrawa Kaul ediert hat, zeigt sich auch in dem Umstand, dass ihm die Vereinheitlichung von Schreibweisen offenbar nicht geboten erschien. So heißt der Überlebende des Sonderkommandos einmal »Paikowicz« (S. 106), sodann richtig »Paisikovic« (S. 148), der SS-Zeuge einmal »Barsch« (S. 72), sodann richtig »Bartsch« (S. 151), der Sachverständige einmal »Kraußnick« (S. 192, 194 f.), sodann richtig Krausnick (S. 179). Die Monita ließen sich fortsetzen. Letztlich wertlos macht Dobrawa die Herausgabe von Kauls Plädoyer und Replik als Quellen zum Frankfurter Auschwitz-Prozess durch viele Textauslassungen, die er mit keinem Wort begründet. Kauls Replik verstümmelt er auf gerade mal zehn Seiten. Die von Kaul vertretenen Nebenklagen erfassten die Angeklagten Robert Mulka, Karl Höcker und Josef Klehr. Anhand der beiden Adjutanten Mulka (in Auschwitz von Anfang 1942 bis März 1943) und Höcker (in Auschwitz von Mai 1944 bis Januar 1945) der Lagerkommandanten Rudolf Höß und Richard Baer machte er den Versuch, eine enge Zusammenarbeit zwischen der Lagerkommandantur und der I.G. Farbenindustrie AG nachzuweisen. Kaul beantragte erfolgreich die Ladung von I.G.-Farben-Verantwortlichen. Die leider unergiebigen Vernehmungen demonstrierten gleichwohl, wie sehr der Chemiekonzern an den Verbrechen in Auschwitz beteiligt war. Wichtig und aktuell seit dem Münchner Demjanjuk-Prozess (2009–2011) ist Kauls Auffassung, die Handlungen der Angeklagten seien als »strafrechtliche Einheit« (S. 191) zu werten. Mit Fritz Bauer und der Anklagevertretung im Auschwitz-Prozess war Kaul der Auffassung, bei natürlicher Betrachtung bildeten die den Angeklagten zur Last gelegten Tötungen eine Einheit, eine einmalige Tatbestandserfüllung. Anders gesagt: Die Verhaltensweisen der Angeklagten in Auschwitz sind rechtlich als bewusste und gewollte Mitwirkung an einem einheitlichen Vernichtungsgeschehen zu betrachten. Kauls durchaus aktuelle Rechtsauffassung erwähnt Innerhalb der Diskussion darüber, ob es eine Sprache des Nationalsozialismus gegeben hat, bezieht Horst Dieter Schlosser mit seiner Studie zur »Sprache unterm Hakenkreuz« eindeutig Stellung. Wie der Titel schon andeutet, ist Schlosser davon überzeugt, dass im Nationalsozialismus alles der totalen Herrschaft des Hakenkreuzes unterworfen gewesen sei, auch die Sprache, die deshalb als Sprache des Nationalsozialismus, nicht bloß als Sprache im Nationalsozialismus verstanden werden müsse (S. 9 f.). Der Autor begründet dieses Urteil mit der Aufhebung der Trennung zwischen politisch-öffentlicher und privater Sphäre, deren Auswirkung auf die Sprache er anhand vielfältiger Materialien zu belegen sucht. Darunter befinden sich das Parteiprogramm der NSDAP, Reden Hitlers und Goebbels’, Auszüge aus Mein Kampf, Rechtstexte, Liedtexte der SA und der HJ, Schlagertexte, Auszüge aus Briefen an den »Führer«, Tischgebete, Redensarten, Werbeslogans etc. Um der Untersuchung dieser Materialfülle eine sinnvolle Struktur zu geben, hat sich Schlosser für die historische Darstellung entschieden. Seine Methode besteht darin, das Auftauchen und Verschwinden von Worten, Wendungen und Sprachregelungen im Zusammenhang der Entwicklung der nationalsozialistischen Gesellschaft zu untersuchen. Mit Verweis auf Ludwig Wittgenstein betont Schlosser, dass die Sprache des Nationalsozialismus nur durch 94 Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 Ralph Dobrawa Der Auschwitz-Prozess. Ein Lehrstück deutscher Geschichte Berlin: Das Neue Berlin, 2013, 256 S., € 16,99 Werner Renz Fritz Bauer Institut 1 Siehe Thilo Kurz, »Paradigmenwechsel bei der Strafverfolgung des Personals in den deutschen Vernichtungslagern«, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik, Jg. 8 (2013), H. 3, S. 122–129. Die Sprache der Büromantik Horst Dieter Schlosser Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus Köln u. a.: Böhlau Verlag, 2013, 423 S., € 34,90 die historische Kontextualisierung zum Sprechen gebracht werden könne, sich nur so ihre Bedeutung erschließe. Das Ergebnis seiner Arbeit gibt ihm Recht. Jede sprachliche Bildung ist eine geschichtlich geprägte, deren Prägung unverständlich bleibt, wenn man sich nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse vergegenwärtigt, die sich darin Ausdruck verschafft haben. Schlosser gelingt es, in der Konzentration auf die Sprache verschiedene gesellschaftliche Sphären (Politik, Wirtschaft, Alltagsleben) miteinander zu verbinden, die sonst oft als isolierte behandelt werden. Dadurch entsteht aber keine »andere Geschichte«, wie es der Untertitel verspricht, vielmehr bezieht Schlosser systematisch die Sprache in die Darstellung der Geschichte des Nationalsozialismus ein. Der Untertitel ist auch deshalb eine unglückliche Wahl, weil er an die Werbesprache erinnert, die versucht, den übersättigten Konsumenten etwas »Neues«, etwas »Anderes« zu bieten. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Darstellung der Wirkung der dem Nationalsozialismus inhärenten Widersprüche in dessen Sprachpolitik, sei es in den Regelungen zum Fremdwortgebrauch, sei es in der Durchsetzung des Hochdeutschen oder im Verbot der Frakturschrift (S. 59 ff.). Wegen des Anspruchs, eine historische Gesamtdarstellung zu verfassen, bleiben die einzelnen Sprachanalysen notwendigerweise meist oberflächlich, so dass sich zur Vertiefung mikrologische Studien wie die klassische Victor Klemperers empfehlen. Diese wird von Schlosser als eine der ersten sprachkritischen Studien zum Nationalsozialismus ausdrücklich gewürdigt. Der erste Versuch, das Unwesen des Nationalsozialismus von der Sprachkritik ausgehend als Ganzes zu erfassen: Karl Kraus’ Dritte Walpurgisnacht, findet dagegen keine Erwähnung. Kraus bildet überhaupt eine auffällige Leerstelle in Schlossers Studie, was nicht aus Gründen wissenschaftlicher Vollständigkeitskonvention zu bemängeln ist, sondern aus sachlichen. Schlosser bemerkt selber, dass der Nationalsozialismus sprachlich kaum Neues geschaffen hat, er vielmehr bereits existierenden Tendenzen zum Durchbruch verholfen hat. Trotz seines Versuchs, den Nationalsozialismus innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen, hält Schlosser der nationalsozialistischen Propaganda die freie Presse entgegen, wodurch er beide entgegen seinem Anspruch als dekontextualisierte Phänomene behandelt (S. 298). Karl Kraus hat in seiner Fackel überzeugend dargelegt, dass die freie Presse als Geschäftspresse für den Verstand und das Urteilsvermögen der Menschen nicht weniger verheerend ist als Propaganda, sie für deren Erfolg sogar günstige Bedingungen schafft. In seiner immer noch beeindruckenden Dritten Walpurgisnacht, die er 1933/34 verfasst hat, wendet er sich deshalb gegen die Illusion, die Presse könnte etwas gegen ein Übel ausrichten, mit dem sie eng verwandt ist. Kraus hat sehr richtig erkannt, dass die Gefahr weniger, wie Schlosser behauptet (z. B. S. 220), von der diffamierenden Qualität bestimmter Worte ausgeht, die die Hemmschwelle zur Gewalttat herabsetzen, als von der Quantität der Phrasenmassenproduktion, die die Qualität der »Phantasiearmut« zeitigt. Armut, die es unmöglich macht, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Auch hinsichtlich der deutschen 95 Täter-Opfer-Verkehrung, die Schlosser als ein Merkmal der nationalsozialistischen Sprache herausstellt (S. 255), hat Kraus eine treffende Wendung gefunden: Schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs fasste er diese Verkehrung als einen Wesenszug der »verfolgenden Unschuld«. Unfreiwillig liefert Schlosser an anderer Stelle ein Beispiel für das Fortwirken des Nationalsozialismus im postnazistischen Deutschland, wenn er versucht, im Klassenbegriff genau den Gehalt zu tilgen, dem auch der Nationalsozialismus den Kampf angesagt hatte. Anders als im Nationalsozialismus, wo, wie Schlosser selber erwähnt, das Deutsche Sprachpflegeamt ein Verbot des Klassenbegriffes erlassen hatte (S. 61), geschieht dies im Postnazismus unscheinbar durch Nivellierung des Bedeutungsgehalts, durch Gleichsetzung des Klassenbegriffs mit dem der Schicht (S. 359). Jérôme Seeburger Leipzig Konstruktive Wege aus der Vergangenheit Marie-Luise Kindler, Luise Krebs, Iris Wachsmuth, Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg.) »Das ist einfach unsere Geschichte«. Lebenswege der »zweiten Generation« nach dem Nationalsozialismus Gießen: Psychosozial-Verlag, 2013, 202 S., € 24,90 Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, stirbt allmählich, und mit dem Verschwinden der Zeitzeugen stellt sich immer dringlicher die Frage, wie die Erinnerung an die Opfer der Nationalsozialisten und deren Verbrechen weitergegeben und bewahrt werden kann.1 Die zweite Generation, die nach 1945 Geborenen, werden jetzt zu Rentnern und haben deshalb zeit- und lebensgeschichtlich die Chance, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch nutzen sie diese Chance auch, fragen sich die Sozialarbeiterinnen Marie-Luise Kindler und Luise Krebs, die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth 1 96 Siehe dazu Aleida Assmanns vorzügliches Buch Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013. zwischen »Wir« und den »Anderen«: »Ohne die Aneignung der ›negativen‹ Familiengeschichte bleiben auch die Erfahrungen der Opferfamilien abstrakt bzw. unverbunden mit der eigenen Geschichte, die meist teilhatte an der Verfügungsgewalt über die definierten Opfergruppen.« (S. 40) Das Schweigen der Kriegsgeneration sei häufig ein »beredtes Schweigen« gewesen, quasi ein inhaltsloses Hinwegreden über die eigentlichen Fakten, gekennzeichnet unter anderem durch Ausdrucksweisen wie »man« anstelle von »wir« oder »ich«. Die Sprechund Denktabus, transportiert über das »leere Sprechen«, hätten bei den Nachkommen diffus wirkende Gefühlsräume und Leerstellen hinterlassen, die es mit Phantasien zu füllen galt – das machte den (Groß-)Vater dann rasch zum Widerstandskämpfer, selbst wenn er in Wirklichkeit das Gegenteil gewesen war. Es bedürfe großer Entscheidungskraft, sagen die Autorinnen, sich der Vergangenheit zu stellen, deshalb sei dies unter den Nachkommen leider die Ausnahme. Die biographische Auseinandersetzung verspreche jedoch einen Selbstverstehungs- und Heilungsprozess, mit dem man sich der gegenwärtigen »Macht der Vergangenheit« entledigen könne. Sie fordern deshalb eine Stärkung »der psychosozialen Versorgungslandschaft«, plädieren für Erinnerungswerkstätten und gezielte Altenarbeit, um sich kritisch und konstruktiv der Vergangenheit zu stellen und den bis heute andauernden Zyklus von Gewalt zu durchbrechen. und die Klinische Psychologin Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Buch, das auf einer Studie der Alice Salomon Hochschule (Berlin) beruht. Darin untersuchen sie den Umgang der zweiten Generation mit der NS-Vergangenheit – es geht um die Kinder von Opfern und Tätern und insbesondere von Mitläufern, die vom NS-System profitierten. Ihr Interesse gilt der vielschichtigen Tradierung von Familiengeschichten vis-à-vis dem kollektiven, öffentlichen Umgang mit Erinnerung, und welche (nachweisliche!) Wechselwirkung zwischen beiden besteht. Sie stellen richtig fest, dass die Forschung zur transgenerationalen Weitergabe des Nationalsozialismus und Holocaust in Deutschland bislang viel zu wenig wahrgenommen und gefördert wird. »Auch in den gegenwärtigen Debatten über Rechtsextremismus in Deutschland wird die Bedeutung der emotionalen Tradierung von Geschichte kaum benannt« (S. 40, Anm. 6), so die Autorinnen in ihrer kontextualisierenden Einführung, in die sie eine Fülle historischer und psychologischer Ergebnisse einfließen lassen. Sie bemerken, dass die Auswirkungen und Folgeerscheinungen von Traumata auf die familiäre oder auch gesellschaftliche Ebene viel zu wenig Aufmerksamkeit erfahren, »haben sie doch einen hohen Erklärungswert, um gesellschaftliche Prozesse zu verstehen« (S. 61). Die Autorinnen bringen zehn Fallbeispiele anonymisierter Interviewpartner, die aus ihren Erfahrungen verschiedene Schlüsse für ihre Lebenswege zogen. Ihre Erfahrungen sind überwiegend leidvoll, gezeichnet zum Beispiel von Tabus, Gefühlskälte, Bedürftigkeit, familiären Kontaktabbrüchen, Depression, Angst und sogar Sucht. Eine Gesprächspartnerin hat die belastete Familiengeschichte bearbeitet, in ihre Identität integriert und sich politisch konstruktiv positioniert. Doch wenn sie sagt: »Das ist einfach unsere Geschichte« (S. 159), verrät das Wort »einfach«, wie schwer es ist, über die Vergangenheit zu sprechen. Die Autorinnen kommen zu dem völlig richtigen Schluss, dass es in Deutschland bis heute an biographischer Arbeit und transparenter Kommunikation zwischen den Generationen mangelt. Auch deshalb, so folgern sie weiter, sei die NS-Ideologie noch immer präsent. Sie betonen, dass es zwischen Opfer- und Täternachkommen zwar viele Gemeinsamkeiten gibt, ihre Erfahrungen jedoch keinesfalls vergleichbar sind – sie zu parallelisieren käme einer Nivellierung gleich. Zu den wichtigsten Gemeinsamkeiten gehört das Schweigen, das jedoch unterschiedlichen Motiven zugrunde liegt: Seitens der Opfer dient es angesichts des Erlittenen dem eigenen Überleben und dem Schutz der Kinder. Das »manifeste« Verschweigen und Verdrängen auf Täterseite bezweckt indes, sich vor Anklage und Zuneigungsverlust zu schützen. Nach Jürgen Müller-Hohagen geschieht dieses Verschweigen »in vollem Bewusstsein«. Die Geschichte werde als »statischer historischer Fakt gesehen – kaum im Zusammenhang mit dem eigenen Leben oder eigenen Gefühlen« (S. 119), so der Dachauer Psychologe. Den Autorinnen ist beizupflichten, wenn sie es als einen »Luxus« vieler Deutscher bezeichnen, sich mit dem Holocaust nicht auseinanderzusetzen. Das perpetuiere im Übrigen die Dichotomie Das Vater-und-Sohn-Team Maurice und Norman Messer, Vorstandsvorsitzender bzw. Präsident von »Holocaust Connections, Inc.«, befindet sich auf dem Rückflug von Polen nach Hause, in die USA. Die beiden machen es Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 Alexandra Senfft Hofstetten (Hagenheim) Polen in amerikanisch-jüdischer Literatur Lucyna Aleksandrowicz-Pędich Memory and Neighborhood: Poles and Poland in Jewish American Fiction after World War Two Warsaw Studies in Jewish History and Memory, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang Verlag, 2013, 169 S., € 37,95 sich bequem in der ersten Klasse der polnischen Fluggesellschaft LOT. »They always flew Polish«, erklärt der Erzähler in Tova Reichs Roman My Holocaust, »to maintain healthy relations with the government with which they had most of their dealings, and they always flew first class, because to do otherwise would be unseemly for men like themselves, steeped as they were in such nearly mythic tragic history, a history that set them apart from ordinary people and therefore necessitated that they be seated apart«.1 Dieses symbolische Voneinander-getrennt-Sitzen stehe, schreibt Lucyna Aleksandrowicz-Pędich in der Schlussbetrachtung ihres Buches, für eine allgemeinere Trennung. Polen und Juden werden in der von ihr untersuchten Literatur als zwei getrennte Nationen dargestellt, die die gleichen historischen und geographischen Räume miteinander teilen, aber sonst wenig gemeinsam haben. Polen und Juden kommen nur selten zusammen, und wenn direkte Begegnungen stattfinden, dann handelt es sich in erster Linie um intime Kontakte wie sexuelle Beziehungen zwischen jüdischen Männern und polnischen Frauen, die zum Teil mit stereotypischen Darstellungen über die Schönheit und angebliche verführerische Kraft polnischer Frauen einhergehen. Die Autorin, Professorin am Department of English Language Cultural and Literary Studies der Warsaw School of Social Sciences and Humanities, hat für ihr Buch insgesamt 70 Werke (vor allem Romane) amerikanisch-jüdischer Literatur ausgewertet. Nur in sechs Texten fanden sich keinerlei Bezüge zu Polen, und nur in zwei Fällen – Susan Sontags In America und Bernard Malamuds Kurzgeschichte »The death of me« – handelt es sich bei den Protagonisten um Polen. Die Zeit vor dem Holocaust und die jahrhundertelange Koexistenz jüdischer und nichtjüdischer Polen in Polen spielt in dem Material kaum eine Rolle. Dominierende Themen sind die Erinnerung an den Holocaust und die Vorstellung von Polen als jüdischem Friedhof. In Reichs My Holocaust, an einer Stelle als »absurdist postHolocaust comic novel« (S. 97), an anderer Stelle als »provocative novel« (S. 104) bezeichnet, fliegt die Romanfigur Arlene nach Polen, obwohl sie beschlossen hatte, niemals einen Fuß auf diesen »huge cemetery called Poland« zu setzen, denn: »it’s no place for a live Jew; this back-to-the-shtetl heritage nostalgia trip is obscene; these grand tours of the death camps are grotesque«.2 Abgesehen von den Figuren in Reichs Roman reisen die Protagonisten in der Literatur nicht nach Polen. Nur in wenigen Fällen spielen Teile der Handlung in Polen. Aber das ist auch nicht nötig, denn die Romanfiguren haben bestimmte Vorstellungen von Polen – von dem Land, den Menschen, ihrer Kultur und Mentalität. Wie wirkmächtig beispielsweise die Assoziation von Polen als Land des Massenmordes bzw. die Reduktion Polens darauf ist, zeigt eine von der Autorin analysierte Stelle, in der die Romanfigur Maurice Messer im Zusammenhang 1 2 Tova Reich, My Holocaust, Harper-Collins e-books 2007, S. 4. Ebd., S. 24 97 Die Macht der Worte Katrin Stoll Warszawa Klaus J. Bade bietet in Kritik und Gewalt eine Diskursanalyse mit zahlreichen und scharfsinnigen Hintergrundinformationen und -recherchen über die Sarrazin-Debatte und die »vulgärrationalistische ›Islamkritik‹, die in wechselseitiger Verstärkung durch die Sarrazin-Debatte lief«. (S. 12) Der Historiker und Gründungsvorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration zeigt, wie die »scheinaufklärerischen antiislamischen Bewegungen« in kulturrassistischen Vorstellungen und völkischen Selbst- und Fremdbildern gemeinsame Schnittmengen finden. (ebd.) Die historiographische Diskursanalyse zielt auf das besonders gefährliche Spannungsfeld zwischen Wortgewalt und Tatgewalt. Der Autor verdeutlicht den Weg und die Verwobenheit von gewalthaltiger »Islamkritik«, weitläufigem Kulturpessimismus, Xenophobie und Islamophobie, einem Syndrom, das in der Mitte der Gesellschaft präsent ist. Dabei zeigt er auch, wie es Personen ergeht, die es wagen, sich mutig diesem Trend entgegenzustellen. Bade beschreibt die Paradoxie, dass insbesondere jüngere Menschen ethnische und kulturelle Vielfalt als selbstverständlich akzeptieren, sich aber zugleich gruppenfeindliche kulturrassistische Zivilisationskritiker und »Mahner« wortgewaltig und schrill zu Wort melden, um vor kultureller »Überfremdung« zu warnen. (S. 14) Das Ergebnis dieser »paradoxen Spannung« sei »eine gefährliche Ersatzdebatte anstelle jener überfälligen Diskussion um die neue Identität in der Einwanderungsgesellschaft«. (ebd.) Diese Ersatzdebatte bezeichnet der Autor als »negative Integration: Integration durch partielle Segregation« im Sinne einer »Selbstvergewisserung der Mehrheit durch die Ausgrenzung einer großen – muslimischen – Minderheit«. (ebd.) Kulturrassistische Debatten über Einwanderer/-innen suggerierten Bilder von »gescheiterter Integration« (S. 27). Dabei konzentriere sich die Integrationsdebatte zunehmend auf die Minderheit der Muslime. Die Integrationsdebatte habe sich damit zur »Islamdebatte« entwickelt. Bade mischt sich als Migrationsforscher in diese Debatte ein, auch um zu verdeutlichen, wie Muslime in der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden und wie weit die Projektionsfläche Islam sich bereits in dieser Gesellschaft etabliert hat. Von Schulen bis zu Behörden – dies belegen insbesondere die NSU-Serienmorde und deren zögerliche Aufklärung – reicht die Ethnisierung und »Islamisierung« sozialer Konflikte. Ferner stellt der Autor fest, dass die medial geführte Diskussion um den Islam sich in zwei getrennten Sektoren wiederfindet: zum einen als sachliche Auseinandersetzung über den Islam als Religion und zum anderen als polarisierende und denunziativ »vulgäraufklärerische« Islamkritik. Die Islam-Dimension in der Sarrazin-Debatte ordnet er dem Letzteren zu. Ein ganzes Kapitel widmet Bade dem von ihm als »Agitationskartell« definierten Personenkreis, in dessen Mittelpunkt die selbsternannte Islamkritikerin Necla Kelek steht. Die Galionsfigur Kelek übernimmt in dem Zirkel zwischen Thilo Sarrazin, Hendryk M. Broder und Ralph Giordano die Rolle der »Insiderin«. Sie schaffe als »Berufungsinstanz« mit Insiderwissen die Legitimationsgrundlage der islamophoben Bewegung in Deutschland. Nach Kelek sei der »Islam als solcher zwar in Grenzen modernisierungsfähig, aber eben nicht demokratiefähig, folglich in Deutschland und Europa nicht ›integrierbar‹ und deshalb gefährlich. Wer dem widerspricht, ist böswillig, naiv oder dumm« (S. 147). Kelek argumentiere und schreibe oft vereinfachend und verallgemeinernd, auf der Grundlage persönlicher, familiengeschichtlicher Erinnerungen. Der frühere Berliner Finanzsenator und spätere Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin, dessen Buch Deutschland schafft sich ab ein exorbitanter Bestseller wurde, ist einer der von Bade zum harten Kern des »Agitationskartells« gezählten Akteure. Er durchleuchtet Sarrazins Argumentationskette: die altbekannte Verfallstheorie, verachtende und erniedrigende kulturrassistische Anleihen, die bereits eine längere Tradition im Rahmen der Ausländer-Debatten haben. Dabei basierten Sarrazins Einschätzungen und Erkenntnisse zu Migration, Integration und Islam zum Teil auf »anekdotischer Evidenz« und »wissenschaftlich gekleideter Meinungspublizistik à la Necla Kelek«. (S. 42) Um die Wirkung derartiger Diskurse zu verdeutlichen, zitiert Bade treffend den Sozialpsychologen Haci Halil Uslucan, der in Anlehnung an Norbert Elias (Etablierte und Außenseiter, 1965) schreibt: »Die Mehrheitsgesellschaft identifiziert sich mit den besten ihrer Vertreter, die Minderheit wird aber den negativsten Exemplaren ihres kulturellen oder ethnischen Hintergrundes gleichgesetzt. Am Ende wird in jedem Deutschen ein Goethe oder ein Thomas Mann, in jedem Polen aber ein potenzieller Autoknacker, in jedem Türken ein Gewalttäter gesehen.« (S. 46) 98 Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 mit einem Viehwaggon, den die Deutschen zur Deportation von Juden in die Vernichtungslager verwendeten, nicht von der Deutschen Reichsbahn, sondern einem »authentic Polish railway car« spricht. Der Verfasserin ist diese »semantische Verschiebung der Verantwortung für den Mord hin zu den Polen« nicht entgangen (S. 105). Im Zusammenhang mit der Darstellung des Holocaust registriert sie andere aufschlussreiche Details. So weist sie darauf hin, dass »den Nazis« in Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated und Pearl Abrahams The Seventh Beggar keine Nationalität zugeschrieben wird, während nichtjüdische Ukrainer und Polen, die als Täter Erwähnung finden, allgemein als »Poles« und »Ukrainians« bezeichnet werden (vgl. S. 40 f). Die Analyse des Materials ist so vielschichtig wie die untersuchten Geschichten selbst. Fragmente aus dem Werk von Paul Auster, Saul Bellow, Allegra Goodman, Cynthia Ozick, Philip Roth, Susan Sontag, Art Spiegelman, Steve Stern und Leon Uris, um nur einige der bekanntesten amerikanisch-jüdischen Autoren aus dem Sample der Studie zu nennen, werden in einer Art Collage zusammengeführt und in insgesamt fünfzehn Kapiteln, die in drei Hauptteilen (»I. Collective Portrait«; »II. Memory«; »III. Other Traces«) zusammengefasst sind, analysiert. Mit Isaac Bashevis Singer und Jerzy Kosiński hat die Verfasserin zwei berühmte aus Polen stammende jüdisch-amerikanische Autoren bewusst herausgelassen. Der Grund: Beide können aus ihrer Sicht nicht als Repräsentanten der »JewishAmerican collective mentality through fiction« (S. 13) gelten – was sie mit dem Begriff »jüdisch-amerikanischer kollektiver Mentalität« meint, erwähnt sie indes nicht. Singer, der in Warschau aufwuchs, wurde nicht in das Sample aufgenommen, weil er über zu viel »firsthand experience« über Polen verfügte und vor allem auf Jiddisch schrieb. Kosiński, der die meisten seiner Romane in New York schrieb, erscheint ihr als »zu europäisch« (S. 13). Wenn nichtjüdische Polen als Charaktere in den untersuchten Texten vorkommen, handelt es sich, so ein Befund der Studie, in erster Linie um primitive Antisemiten oder einfache Menschen, die als Putzfrauen arbeiten oder Bauern sind. Es sind vor allem Männer, die negativ dargestellt werden. Die Gründe sieht Aleksandrowicz-Pędich in der »schwierigen Nachbarschaft« von jüdischen und polnischen Immigranten in der Neuen Welt und in den Erinnerungen an die Vergangenheit in der Alten Welt (S. 59 f.). Zudem sei die negative Darstellung polnischer Männer vereinbar mit der Erinnerung an die europäischen Pogrome, in denen Männer, nicht Frauen, aktiv involviert gewesen seien (S. 60). Das Buch sei allen empfohlen, die sich für amerikanische Literatur und polnisch-jüdische Beziehungen interessieren und offen dafür sind, ihre Vorstellungen von »Polen« und »den Polen« kritisch zu hinterfragen. Klaus J. Bade Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ›Islamkritik‹ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, 2013, 398 S., € 26,80 Gert Krell Schafft Deutschland sich ab? Ein Essay über Demografie, Intelligenz, Armut und Einwanderung Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, 2013, 126 S., € 12,80 Die muslimische Community wurde in der Debatte kaum beachtet, sodass ihr und ihren Sprechern kein Platz für mediale Stellungnahmen blieb. Bade beschreibt, dass Sarrazins Botschaften »nicht nur für die muslimische neue Elite, sondern auch für viele ehemalige ›Gastarbeiterfamilien‹, die im intergenerativen Prozess von Integration und mühsamem Aufstieg aus prekären Sozialmilieus die Ebenen des kleinen Mittelstands erklommen haben […], vor allem aber die medialen Debatten darüber oft deprimierend« wirkten. (S. 108) Die kollektive Kränkung, die die Sarrazin-Debatte bei der Gruppe muslimischer Einwanderer/-innen ausgelöst habe, verstärkte in der neuen muslimisch-türkischen Elite die Abwanderungsneigung oder die Tendenz zu einer Art inneren Emigration. Bade berichtet von dem Aufruf der 60 Migrationsforscher, der am 2. Februar 2006 in der ZEIT veröffentlicht wurde und auf die von Kelek betriebene Kulturalisierung von sozialen Problemen aufmerksam machen wollte. Er zitiert in diesem Zusammenhang den Ethnologen Werner Schiffauer: »Nicht Necla Kelek sollte man angreifen, sondern die deutsche Öffentlichkeit, die nur auf so jemanden wie Kelek gewartet hat, der all das bestätigt, was sie schon immer über Muslime gedacht hat.« (S. 170) Dieser Diskurs hat sichtbare Spuren bis in die Mitte der Gesellschaft hinterlassen. Bade spricht hier zu Recht von »Denunziation und kommunikativer Kriminalität im Internet« (S. 232). Deutlich wird, wie sich Wortgewalt und Tatgewalt gegenseitig bestärken, vielleicht sogar bedingen. In diversen Internetportalen, insbesondere in »Politically Incorrect« (PI), finden sich Keleks Argumente wieder und erfreuen sich großer Userzahlen. Auch Hendryk M. Broder und Ralph Giordano publizieren dort häufig. Eifrig und voller Hass werden von den Usern islamophobe Thesen aufgegriffen und münden mitunter in direkte Bedrohungsaufrufe. Das Portal ist gut vernetzt und straff organisiert. Deutsche Gerichte können kaum etwas gegen solche Portale unternehmen, denn ihr Hauptserver steht meist in den USA, und dort gilt ein anderes Medienrecht. Der antiislamische, antimultikulturelle, antidemokratische christlich-fundamentalistische Terrorist Anders Behring Breivik stellte kurz vor seinen Attentaten sein 1.516 Seiten langes kulturpessimistisches und islamfeindliches Manifest ins Netz. Dabei berief er sich auf seine »Brüder« in Deutschland, darunter auch auf Politically Incorrect. Die Analyse des Breivik-Manifests zeigt die frappierende geistige Nähe zu den »Argumentationslinien z. B. von Kelek, Sarrazin, Broder und Giordano« (S. 273). Bade warnt vor der Eigendynamik derartiger Diskurse. Wortgewalt könne in Tatgewalt münden. Permanente gruppenbezogen abwertende Debatten könnten als Einladung zur tätlichen Gewalt führen. Auch die schon älteren NSU-Serienmorde fielen in dieses Raster. Er kritisiert, »dass es hier um ein Wahrnehmungsproblem geht, dass die […] seit vielen Jahren faktisch vorhandene multikulturelle Vielfalt durch eine neue, islamophobe ›Brille‹ betrachtet wird« (S. 312). Dieser Einfluss sei äußerst folgenreich im Blick auf politische 99 Entscheidungen und den Alltag der in Deutschland lebenden Muslime. Bade resümiert, dass »die fragwürdige Win-win-Beziehung« zwischen Sarrazin und seinen Anhängern in der Mehrheitsbevölkerung ein »desintegratives Geschäft zu Lasten Dritter« gewesen sei; »denn die Zeche für den bestenfalls begrenzten historisch verspäteten Lerneffekt bei der Mehrheitsbevölkerung zahlten die Einwanderer und unter ihnen besonders die Muslime«. (S. 352) Er plädiert für ein Umlernen in der Mehrheitsgesellschaft. Soziale Konflikte müssten als solche erkannt werden, dies hieße ein Ende der kulturalistischen Ersatzdebatten. Dringend geboten seien »eine klare und mutige Selbstbeschreibung von Einwanderungsgesellschaft und Einwanderungsland« (S. 366) sowie die Entwicklung eines solidarischen »Wir«. Auch Gert Krell, emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, meldet sich mit einem knappen Essay gegen Sarrazins Buch zu Wort. Er greift dessen Verfallsthesen – Sarrazin spricht von »Fäulnisprozessen« in der Gesellschaft, der deutschen Angst vor dem Islam und von der Überfremdung Deutschlands – auf und setzt sich mit diesen kulturrassistischen Erklärungsansätzen seriös auseinander. Insbesondere Sarrazins biologistischen Auffassungen von Eugenik und Dysgenik und die von ihm unterstellte mangelnde Intelligenz muslimischer Einwanderer/-innen, gipfelnd in Sarrazins Sorge um die »Verdummung« Deutschlands (S. 43 ff.), speisen sich aus seinem rassistischen Menschenbild. Um die historische Genese und den Einsatz derartig menschenverachtender, kulturrassistischer »vulgärrationalistischer« Theorien zu veranschaulichen, verweist Krell unter anderem auf Benjamin Franklin, der bereits 1751 schrieb: »Pennsylvania will soon become a Colony of Aliens, who will shortly be so numerous as to Germanize us instead of our Anglifying them« (S. 14). Dabei habe er »ausdrücklich vor den ›Palatine Boors‹, den dummen Bauernjungen aus der Pfalz«, gewarnt. (ebd.) Auch in Deutschland sind Überfremdungsängste nichts Neues. Um 1900 befürchtete man, dass die polnischen Einwanderer »aus kulturellen oder rassischen Gründen nicht integrationsfähig« seien und »eine katholische Überfremdung« drohe. (ebd.) Sarrazins populistischer Panikmache durch demographische Zukunftsszenarien setzt der Autor gesellschaftspolitische Gegenwartsund Zukunftsmodelle entgegen und benennt die eigentlichen sozialen Konflikte, die bewältigt werden müssen. In der demographischen Entwicklung Deutschlands sieht er eher eine Chance auf ein »besseres« (finanziell abgesichertes) Leben für eine insgesamt geringere Bevölkerung als die von Sarrazin heraufbeschworene Gefahr der »Überfremdung« oder Islamisierung durch die höhere Geburtenrate muslimischer Frauen. (S. 31) Gert Krells Essay Schafft Deutschland sich ab? ist sehr informativ und sachlich geschrieben – empfehlenswert für Leser, die sich in aller Kürze und objektiv mit Sarrazins Thesen auseinandersetzen möchten. Der Holocaust in der Wahrnehmung von Muslimen Türkân Kanbıçak Pädagogisches Zentrum Frankfurt Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dessen Erinnerung scheint für viele Muslime in Europa und weltweit nicht von besonderer Relevanz zu sein. Die Vernichtung der europäischen Juden erfolgte überwiegend in Europa und vor der Migration vieler Muslime in europäische Länder. In dieser Wahrnehmung waren somit muslimisch geprägte ehemalige Kolonien oder die Türkei nicht direkt vom Holocaust betroffen. Diese Sichtweise reproduziert die eurozentrische Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg und negiert die umfassende Beteiligung der verschiedenen Kontinente am Kriegsgeschehen sowie die Zugehörigkeit von Muslimen auf Seiten der Alliierten und der Achsenmächte. Obgleich keine umfassenden Deportationen und gezielte Vernichtungsaktionen in Nordafrika aufgrund des Kriegsverlaufs möglich waren, wurden viele Juden dennoch in Lagern inhaftiert, ihre Lebensbedingungen durch Gesetzgebungen verschlechtert und einige nach Europa verschifft und ermordet. Auch in Bosnien-Herzegowina waren Muslime aktiv an der Verfolgung und Vernichtung beteiligt. Im Gegensatz dazu unterstützten Muslime in Tunesien und Albanien jedoch die Verfolgten. Was bedeuten diese geschichtlichen Umstände für die Wahrnehmung des Holocaust unter Muslimen heute? Wie haben sich Diskurse entwickelt, die heute in vielen Teilen der muslimischen Welt und für Muslime in Europa wirkmächtig sind? Wie gehen Muslime heute und in der Vergangenheit mit dem Thema um? Antworten auf diese Fragen diskutiert der Sammelband mit dem Ziel, verschiedene Dimensionen der Gegenwärtigkeit des Holocaust unter Muslimen aufzuzeigen. Diskutiert werden in den Beiträgen neben der Erinnerung und Wahrnehmung des Holocaust in muslimischen Ländern und muslimischen Organisationen in Europa verschiedene aktuelle Formen des Antisemitismus sowie die dadurch entstehenden pädagogischen Erfordernisse. Als thematischer Einstieg ist die Darstellung dominierender Diskurse über den Holocaust von 1945 bis in die Gegenwart im arabischen Raum sowie der Türkei interessant. Im arabischen Raum war dieser zu Beginn von Empathie und Einfühlung gegenüber den Opfern gekennzeichnet, wandelte sich dann jedoch zur Leugnung des Holocaust und zur Relativierung der Tat sowie der Gleichsetzung mit dem Nahostkonflikt. In der Türkei wird jedoch, zur Relativierung des Genozids an den Armeniern, häufig die Einzigartigkeit des Holocaust betont. Weitere Beiträge beschreiben, wie sich immer mehr muslimische Organisationen insbesondere am zentralen Holocaustgedenktag (27. Januar) in Großbritannien und Italien beteiligen, sich andere jedoch verweigern und in Italien mit linken Bündnissen dagegen demonstrieren: zum einen, da sie sich nicht betroffen fühlen, zum anderen aus antisemitischen Motiven, einhergehend mit dem relativierenden Vergleich des Holocaust mit dem Konflikt im Nahen Osten. Auch wenn sich in den beiden Beiträgen mit Bezug auf Großbritannien Inhalte wiederholen, ist die vergleichende Analyse von Philip Spencer und Valentina di Palma spannend zu lesen. Italien und Großbritannien unterscheiden sich sozioökonomisch und strukturell enorm, dennoch sind die antisemitischen Argumentationen der Gegner des Gedenktags nahezu identisch. Das verdeutlicht die Virulenz der verschiedenen Formen des Antisemitismus, dessen Thematisierung und Erläuterung in verschiedenen Beiträgen erfolgt. Dabei handelt es sich meist um sekundären Antisemitismus, der die Leugnung des Holocaust bzw. die Relativierung und Gleichsetzung des Nahostkonflikts, die Negierung des Existenzrechts Israels sowie auf deutscher Seite die Abwehrhaltung der Verantwortung des Genozids beinhaltet. Juliane Wetzel spricht sich dagegen aus, diese Form des Antisemitismus als neu zu bezeichnen. Dieser richte sich gegen das »Kollektiv« Israel, ihm seien jedoch noch immer Formen des rassistischen und religiösen Antisemitismus inhärent. Sie spricht in Bezug auf die Abgrenzung von Antisemitismus und Israelkritik von einer »Grauzone« (S. 51). Leider bleibt die Autorin eine genaue Definition dieser Bezeichnung schuldig. Dennoch eröffnet sie mit ihrer nicht nur auf Muslime begrenzten Analyse eine erweiterte Perspektive und Kontextualisierung des Themas. Dies gilt ebenfalls für Evelien Gans’ Beschreibung der Geschichte des Schlachtrufs »Hamas, Hamas, alle Juden ins Gas« in den Niederlanden, der über die Fußballstadien auf propalästinensische Demonstrationen transportiert wurde. Der Slogan richtete sich ursprünglich gegen Fans von Ajax Amsterdam und wurde von den gegnerischen Mannschaften zur antisemitischen Diffamierung des Clubs sowie aus Solidarität mit Palästinensern verwendet. Günther Jikelis empirische Studie zu antisemitischen Einstellungen muslimischer Jugendlicher in London, Paris und Berlin erörtert verschiedene Dimensionen des Antisemitismus der Interviewten. Manche Darstellungen sind erschütternd, wenn zum Beispiel beschrieben wird, wie eine schulische Veranstaltung mit einem Zeitzeugen aufgrund der (körperlichen) Intervention einiger Schüler verhindert wird. Dennoch ist die Studie methodisch zu kritisieren. So werden beispielsweise die Einstellungen zum Holocaust und 100 Rezensionen Einsicht 11 Frühjahr 2014 Günther Jikeli, Kim Robin Stoller, Joëlle Allouche-Benayoun (Hrsg.) Umstrittene Geschichte. Ansichten zum Holocaust unter Muslimen im internationalen Vergleich Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2013, 315 S., € 34,90 Antisemitismus mit Suggestivfragen (»Findest du gut, was der gemacht hat, Hitler?«, S. 214) ermittelt. In Bezug auf die pädagogische Praxis wird die Relevanz der Anerkennung des »Anderen« und dessen veränderte Wahrnehmung durch ein Begegnungsprojekt mit israelischen und palästinensischen MultiplikatorInnen geschildert, und die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus stellt Einsichten und Erfahrungen aus ihrer Arbeit vor. Allgemein zu kritisieren ist, dass trotz des Titels die osteuropäische Perspektive auf den Holocaust negiert wird und ein Fokus auf die Einwanderungsgesellschaften in Mitteleuropa stattfindet. Die AutorInnen vermeiden eine Homogenisierung des Islam und antimuslimische Ressentiments, dennoch wird bei der Konzentration auf Muslime »der Muslim« als »das Andere« konstruiert und reproduziert. Zusammenfassend bietet der Sammelband einen sehr guten Überblick und Einstieg in aktuelle, sehr komplexe Debatten und ermöglicht die Verbindung von Theorie und Praxis, ist also für Lehrende und Wissenschaftler geeignet. Florian Zabransky Frankfurt am Main »Sind wir eine Einheit?« Elke Gryglewski Anerkennung und Erinnerung. Zugänge arabisch-palästinensischer und türkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust Berlin: Metropol Verlag, 2013, 304 S., € 22,– Elke Gryglewski berichtet in diesem Buch aus der Praxis einer Gedenkstättenpädagogin, die bewusst und reflektiert mit der Heterogenität ihrer Klientel umgeht. Die Lektüre bietet einen unverstellten Blick in die offene und selbstkritische, vor allem aber theoretisch hoch reflektierte Konzeption und Reflexion von Bildungsprozessen im Kontext einer Gedenkstätte. Der Arbeitsplatz der Autorin ist die Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin. Für ihre Untersuchung, die als erziehungswissenschaftliche Dissertation erarbeitet wurde, hat sie sich zwei Gruppen von Besucherinnen und Besuchern ausgewählt, 101 die in der öffentlichen Wahrnehmung als besonders »problematisch« gelten: Berliner Jugendliche mit arabischem bzw. palästinensischem Hintergrund in der einen und mit türkischem Hintergrund in der anderen Gruppe. Diese Jugendlichen werden in der Mehrheitsgesellschaft oft als Träger eines aggressiven Antisemitismus angesehen, der sich aus ihrer Bindung an die kulturellen und medialen Prägungen durch ihre »Herkunftskultur« speise. Dieser gerade auch unter Lehrkräften fest verankerten Sicht widerspricht Gryglewski. Sie geht davon aus, dass hinter antisemitischen Äußerungen gerade bei Jugendlichen aus diesen gesellschaftlichen Gruppen vielfältige Motive stecken können, die in den meisten Fällen nicht durch antisemitische oder rassistische Haltungen motiviert sind und auch sehr selten mit politischen Positionierungen zu tun haben. Vielmehr beobachtet sie einen Prozess der Aushandlung von Zugehörigkeit und Ausschluss, der zwischen den in Deutschland aufwachsenden Jugendlichen und den Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft stattfindet. Die NS-Gedenkstätte ist ein besonders exponierter Ort dieses Prozesses (S. 247). Die in der Gedenkstätte tätigen Pädagogen sind selbst Teil des dominanten Diskurses und vor allem des institutionellen Rahmens, nach dessen Regeln der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen verteilt wird. Elke Gryglewski berichtet von zwei Langzeitprojekten, die jeweils die Beschäftigung mit der Geschichte der Familien der beteiligten Jugendlichen, der Geschichte von NS-Zeit und Holocaust sowie die Entstehungsgeschichte des Nahostkonfliktes zum Thema hatten. Das empirische Material wurde in Form von Transkripten aufgezeichneter Gruppensitzungen, Gedächtnisprotokollen und durch die von Jugendlichen erarbeiteten Texten gesammelt. Bei der Lektüre des Materialteils mit Berichten und Sequenzen aus den beiden Projekten und den von den Teilnehmenden erarbeiteten Texten beeindruckt die Differenziertheit und oft unerwartete Scheu, mit der diese Jugendlichen eigene Positionen vertreten. Eine Scheu, die auch in Aggression oder zumindest Abwehr umschlagen kann, wenn sie Ungerechtigkeiten oder Missachtung ihrer Perspektive gegenüber wahrnehmen (S. 220). Die Fortschritte in der Bereitschaft zu einer differenzierten Sicht auf politische Konstellationen der Gegenwart entwickeln sich am deutlichsten im Blick auf den langsamen und von beiden Seiten – also der Pädagogin und den Jugendlichen – als offen erfahrenen Arbeitsprozess. Offen meint nicht, dass keine Ziele definiert wären, sondern dass die Wahrnehmungen, Fähigkeiten und Interessen der Teilnehmenden Tempo und Schwerpunkte des Projekts bestimmen. Dies setzt eine Haltung der Pädagogin gegenüber ihren Klienten und dem Arbeitsprozess voraus, die in hohem Maße selbstreflexiv ist. Gryglewski demonstriert das an der Rekonstruktion einer problematischen Sitzung mit der Gruppe (S. 227 ff.). Sie reflektiert vor allem ihre eigenen Reaktionen, die sie bei der Analyse des Transkripts als höchst problematisch erkennt. Die Sitzung fand in den ersten Tagen des Gaza-Krieges von 2009 statt, als die Berichterstattung über die israelischen Bombardements gerade in den arabischen Medien äußerst emotional und undifferenziert war. Vor diesem Hintergrund ging der Versuch, mit einem Film über die Befreiung der Konzentrationslager zu arbeiten, in einem Chaos aus Störungen und autoritären Disziplinierungsversuchen unter. Die emotionale Belastung durch Bilder von den befreiten Konzentrationslagern wird mit Lachen abgewehrt. Gryglewski sieht darin zu Recht eine in der Gedenkstättenpädagogik bekannte Erscheinung, auf die mit professioneller Geduld reagiert werden sollte. Genau dies misslingt in der beschriebenen Situation. Die Pädagoginnen zeigen sich emotional getroffen und kritisieren das Verhalten der Jugendlichen mit moralischen Positionierungen. In diesem Moment wechseln die Jugendlichen das Thema und beklagen die mangelnde Wahrnehmung des Schicksals der Palästinenser in Deutschland. Es folgen explizit antijüdische Äußerungen durch eine der Jugendlichen. Durch persönliche Erzählungen in der Pause gelingt es, das Arbeitsbündnis wiederherzustellen. An dieser zwar ungewöhnlichen, aber doch exemplarischen Sitzung zeigt Gryglewski, dass die Jugendlichen Raum brauchen, um über ihre eigenen Erfahrungen und Schwierigkeiten zu sprechen. Erst diese realisierte Offenheit macht es möglich, politische Bildung im Sinn der Aneignung von Wissen und Perspektivenvielfalt zu erarbeiten. Dass dies gelingen kann, zeigt sich, als die Jugendlichen für die Ausstellung, die sie in dem Projekt mit dem Haus der Wannseekonferenz erarbeiten, den Titel wählen »Sind wir eine Einheit?« (S. 239) Es geht um Zugehörigkeit oder Ausschluss. Schließlich erweist sich die wissenschaftlich reflektierte Perspektive einer Praktikerin der außerschulischen Bildung auf die Ergebnisse schulischen Lernens als sehr erhellend. Die Erfahrung selbstständigen Lernens und Entdeckens eigener Fähigkeiten haben die meisten Jugendlichen, die Gryglewski in den Projekten trifft, in ihren Schulen nie gemacht. Dies hält die Autorin für einen Teil der Diskriminierung, die als »Ausländer« angesehene Jugendliche im deutschen Bildungssystem nach wie vor erleiden. Bekanntlich deckt sich hier das Ergebnis dieser Handlungsforschung mit dem der quantitativ angelegten PISA-Studie. Es bleibt also nicht bei der hoch qualifizierten Selbstreflektion der Gedenkstättenpädagogen – es geht um politische Forderungen. 102 Rezensionen Gottfried Kößler Pädagogisches Zentrum Frankfurt Innenansichten jüdischer Normalität Nathan Englander Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden Stories, aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence. München: Luchterhand Verlag, 2012, 240 S., € 18,99 Nathan Englanders zweiter Erzählband »Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden« ist in Deutschland, trotz der positiven Aufnahme seines Romans Das Ministerium für besondere Fälle und seines ersten Erzählbandes Zur Linderung unerträglichen Verlangens (beide 2008), bislang kaum rezipiert worden. Darüber, ob dies an der politischeren Ausrichtung der Erzählungen liegt oder daran, dass sie deutlich über die typischen Diskurse der deutschen Auseinandersetzung mit der Shoah hinausgehen, kann nur spekuliert werden. Festzuhalten ist, dass der Band mit dem Lob namhafter USamerikanischer Autoren von Philip Roth bis Jonathan Safran Foer ausgestattet ist, und das nicht ohne Grund. Englander erzählt in grotesken Szenarien und mit großem Mitgefühl subtil eindringliche Geschichten, die er zuletzt zu Allegorien verdichtet, die lange nachwirken. Das Wir des Titels ist dabei zunächst ein dezidiert jüdisches Wir, mit dem Englander der Frage nachgeht, was die Schoa für säkulare bis ultraorthodoxe Juden und Jüdinnen des 21. Jahrhunderts in den USA und Israel bedeutet, gerade wenn sie keine direkten Nachkommen von Überlebenden sind. In dieses Gespräch ist ein nichtjüdisches Publikum einbezogen, aber es ist für die Geschichten selbst meist zweitrangig. Worüber reden wir also, oder eben zuerst einmal gerade nicht wir, wenn wir über Anne Frank reden? Zunächst über das gleichnamige Spiel aus der Titelgeschichte, in der zwei unterschiedliche Ehepaare aufeinandertreffen. Das eine lebt in den USA, ist säkular und hat einen Sohn, das andere ist nach Israel gezogen, ultraorthodox geworden und hat zehn Töchter. Unter dem Einfluss von Wodka und Marihuana kommt man sich soweit nahe, dass man »das Anne Frank-Spiel« spielen kann. Bei diesem Spiel, das eine der beiden Frauen in ihrer Obsession mit der Shoah erfunden hat, stellen sich die Mitspielenden die Frage, welche der nichtjüdischen Bekannten sie verstecken würden, würde es eine zweite Shoah geben. Diese Frage geht bis in die intimsten Beziehungen hinein, wenn die Protagonist/ -innen sich weiter fragen, ob der eigene Partner oder die Partnerin sie verstecken würde, wenn er oder sie nichtjüdisch wäre. Mit den gefundenen Antworten stehen die beiden Paare zuletzt in einer Einsicht 11 Frühjahr 2014 dunklen Kammer, die als mögliches Versteck mit Lebensmitteln vollgestopft ist, und trauen sich nicht mehr hinaus. Es ist Englanders große Stärke, solche grotesken und vielleicht überzogen erscheinenden Konstellationen plausibel und mit großer Empathie für seine Figuren zu erzählen. Wir stehen nicht nur mit den beiden Ehepaaren in dieser Kammer. Wir können uns auch die Shoah-Überlebenden in der Erzählung »Camp Sundown« vorstellen, die dem Leiter eines Sommercamps für jüdische Kinder und Senioren das Leben schwer machen, weil sie in einem ihrer Mitferiengäste einen Wächter aus dem Konzentrationslager (engl. Camp) erkannt haben wollen. Dabei verzichtet Englander auf die lauten Tabubrüche an der Grenze von Shoah-Erinnerung und expliziter Sexualität, die jüdische Autoren wie Maxim Biller oder Robert Schindel als Erzählstrategien in einem deutschsprachigen Kontext entwickelt haben. Englander kann vor dem Hintergrund eines orthodox aufgewachsenen amerikanischen Juden, der in Argentinien und Israel gelebt hat, subtiler und oft eindringlicher arbeiten. So gewagt seine Auslotung von Täter-Opfer-Verhältnissen ist, niemals hat sie die im deutschen Diskurs häufig zu findende, moralisch entlastende Funktion. Zum Beispiel versucht in der Erzählung »Wie wir die Blums gerächt haben« eine Gruppe jüdischer orthodoxer Jungen in Long Island sich gegen »den Antisemiten«, der sie und eine jüdische Familie seit Monaten drangsaliert, zu wehren. Als dies mit Hilfe eines älteren Jungen gelingt, sehen die »Täter« verwirrt auf ihr »Opfer« herab, und keiner von ihnen weiß, wann der richtige Zeitpunkt wäre, wegzulaufen. Ebenso werden die Kosten des Überlebens und Gewinnens thematisiert, am provokativsten in der politischsten Erzählung »Ewige Nachbarn«, die sich dem Aufblühen einer illegalen Siedlung im Westjordanland widmet, und dabei parabelhaft das politische Urteil im Schicksal einer jungen Frau transportiert. Es sind dieses Plausibelmachen grotesker Situationen, das sensible Erzählen auf einem schmalen Grad zwischen Humor und Schmerz und die präzisen Verdichtungen, die Englanders Schreiben auszeichnen. Dies zeigt sich gerade in den Geschichten, die über den Titel des Erzählbandes hinausgehen wie »Peep Show«, in der Schuld und Begehren in einem absurden Setting verhandelt werden, und die ebenso stark im Gedächtnis bleiben. Englanders Erzählungen sind mutig, provokant und treffen die Leser/-innen mit der in ihnen dargestellten, eigentlich unerträglichen »Normalität« einer jüdischen Lebenssituation, zu deren jahrtausendelangen Verfolgungs- und Überlebenserfahrungen nun die Shoah gehört. Das dabei nebenher vermittelte Verständnis für die eigenen Figuren und auch deren abwegigste Positionen, sollte es den Leser/ -innen noch einmal schwerer machen, in den komplexen Verhältnissen jüdischen Lebens heute schnelle oder einseitige Urteile zu fällen. Birgit M. Körner Frankfurt am Main/Gießen 103 Metaphysik des Bösen DAS RADIKAL BÖSE Buch und Regie: Stefan Ruzowitzky Österreich/Deutschland 2013, 96 Min., Format: 16:9, Digital (DCP, Blu-ray, DVD), FSK: ab 12 Jahre, Prädikat »besonders wertvoll« www.das-radikal-boese.wfilm.de Ruzowitzky hatte die NS-Thematik bereits mit seinem Oscarprämierten Film DIE FÄLSCHER sowie den beiden deutschen Produktionen ANATOMIE und ANATOMIE 2 – hier allerdings in Form einer Horror-Komödie – behandelt. Man durfte also gespannt sein, wie der Regisseur die Thematik des radikal Bösen für ein internationales Publikum entwickeln würde. Der Terminus des radikal Bösen steht in Anlehnung an ein Zitat von Hannah Arendt für die unausdenkbaren Grausamkeiten, die von Einsatzgruppen und Polizeibataillonen hinter der deutschen Front an den mittel- und osteuropäischen Juden begangen wurden. Indem der Täterblick erkundet werden soll, wird das Unausdenkbare notwendig zum Bestandteil dessen, was erklärt werden muss. Filmisch zeigt sich das darin, dass die Dokumentation einer Dramaturgie folgt, in der die nachgestellten Täterzitate durch sozialpsychologische Experimente wie dem Milgram- oder dem Stanford-Prison-Experiment plausibel gemacht werden und durch die Experten verschiedene historische Kontextualisierungen erfahren. Die Montage, die filmisch nicht im- Sonja M. Schultz hatte in ihrer breit angelegten Untersuchung zur Geschichte des »Nationalsozialismus im Film« angemerkt, dass eine fiktionale Darstellung mit Schwerpunkt auf den Massenmorden von Einsatzgruppen, Polizeibataillonen oder der Wehrmacht an jüdischen Zivilisten im deutschen Film auch 70 Jahre danach noch aussteht.1 Das ist angesichts der intensiven medialen und filmischen Durchdringung der Thematik sicher ein überraschender Befund, der anzeigt, welche Empfindlichkeiten das deutsche kollektive Gedächtnis nach wie vor aufweist. Nun nimmt sich mit DAS RADIKAL BÖSE ein essayistischer Dokumentarfilm der Thematik an und versucht mit Experteninterviews, dokumentarischen wie historischen Aufnahmen sowie in nachgestellten Szenen, die durch Originalzitate deutscher Einsatzkräfte unterlegt sind, der Transformation von »normalen Männern zu Massenmördern« auf die Spur zu kommen. Der Wiener Regisseur Stefan RuzowitzFilmstill aus DAS RADIKAL BÖSE: Ganz normale Männer. Foto: W-film / Benedict Neuenfels ky greift dabei auf Befunde der Täterforschung der letzten zwei Jahrzehnte zurück. Er lässt mit Christopher R. Browning sowie den amerikanischen Sozialpsychologen und Psychohistorikern Roy mer ganz gelungen ist, bringt durch das inhaltlich nachvollziehbare Baumeister, Robert Jay Lifton, Dave Grossman und dem französiZusammenspiel von sozialpsychologischer Erklärung und inszenierschen Priester und Holocaustforscher Patrick Desbois Experten zu ten Täterzitaten den Tätern einiges an Verständnis entgegen. Spricht Wort kommen, die den internationalen Horizont des Unternehmens etwa der amerikanische Militärpsychologe Dave Grossman über abstecken. Benjamin Ferencz, der Hauptankläger des Nürnberger die Bemühungen der Wehrmachtsführung, die Tötungshemmung Einsatzgruppenprozesses, gibt retrospektiv einige Einschätzungen innerhalb der Armee herabzusetzen, assoziiert man die deutschen zum politischen Zweck des Prozesses und der Täterverurteilungen ab. Soldaten auf einmal mit ganz anderen militärischen und historischen Kontexten. Daran ändert wenig, dass die nachgestellten Szenen des Einsatzgruppenpersonals zumeist recht zurückhaltend inszeniert sind. Die Reenactment-Szenen bekräftigen nicht unmittelbar die 1 Siehe Sonja M. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film. Von TRIUMPH DES WILLENS bis INGLOURIOUS BASTERDS, Berlin 2012, S. 504. Zitate, sondern unterstreichen durch das Split-Screen-Verfahren, 104 Rezensionen bei dem mehrere Protagonisten nebeneinander zu sehen sind, die Serialität und den Normalitätsstatus der Aussagen. Was bleibt vom radikal Bösen, wenn die Täter nach sozialpsychologischen Maßstäben doch »nur« durchschnittliche konformistische Killer waren? Eine Antwort des Films ist, dass der mitunter gar nicht so komplizierte, aber nichtsdestotrotz erschütternde Prozess der Entmenschlichung, an dessen Ende die Tätergruppe ihren Opfern prinzipiell alles antun kann, einiges an Schrecken bereithält. Es ist ein Schrecken, der das Metaphysische berührt, insofern die Tätergruppe eine objektive Grenze etabliert, die zwischen Leben und Tod entscheidet. Was aus der Perspektive einer geteilten Humanität undenkbar ist, wird innerhalb eines rassistischen, antisemitischen oder ethnozentrischen Weltbildes zur Normalität. In der soziopolitischen Dechiffrierung dieser Normalitätsdisposition liegt zweifelsohne das Verdienst von Ruzowitzkys Film. Die universalistische Betrachtungsweise hat ihre Berechtigung darin, dass bestimmte Elemente von Mentalitätswandel und Motivation der Täter, wie Autoritätsgläubigkeit und Gruppenloyalität, sicher auch in anderen Kriegssituationen zu finden sind. In einer durch die Expertenkommentare angeleiteten Sequenz zur vergleichenden Genozid-Forschung werden über die psychologischen Motive hinaus die politischen Verantwortlichkeiten bestimmt. Hier beeindrucken die überaus präzisen Abwägungen von Browning und seinen Kollegen, die in Verbindung mit der angesprochenen zurückhaltenden Inszenierung der dokumentarischen Erzählung eine erweiterte Komplexität erlauben, ohne Entschuldungsstrategien Vorschub zu leisten. Browning weist etwa darauf hin, dass man sich von dem moralischen Nullsummenspiel verabschieden müsse, wonach eine Schuldzuweisung der politischen NS-Elite gleichzeitig die einfachen Soldaten aus der Verantwortung nehme. Dadurch unterscheidet sich Ruzowitzkys essayistischer Dokumentarfilm vom Histotainment Guido Knopp’scher Provenienz (ZDF), bei dem Hitlerismus, die Einfühlung in die deutsche Soldatenseele und die filmästhetisch dargebotene Möglichkeit zum Wiedererleben deutschen Leides vorrangig sind. Die kulturelle und zeitspezifische Besonderheit des Holocaust als ein von Deutschen verübtes Verbrechen verschwindet allerdings fast gänzlich hinter der sozialpsychologischen Betrachtung. Ein fiktionaler Film, der sich der deutschen Spezifik des Massenmordens hinter der Front annimmt, steht ohnehin noch aus. Michael Elm Beer-Sheva, Israel Fritz Bauer Institut Geschichte und Wirkung des Holocaust Hier könnte Ihre Anzeige stehen! Anzeigenformate und Preise* Umschlagseite U 4 230 x 295 mm + Beschnitt Umschlagseite U 2 / U 3 230 x 295 mm + Beschnitt Ganzseitige Anzeige 230 x 295 mm + Beschnitt 1/2-seitige Anzeige vertikal 93 x 217 mm 1/2-seitige Anzeige horizontal 192 x 105,5 mm 1/3-seitige Anzeige vertikal 60 x 217 mm 1/4-seitige Anzeige vertikal 93 x 105,5 mm Auflage: 5.500 Exemplare € 950,– € 850,– € 680,– € 380,– € 380,– € 300,– € 250,– *zuzügl. gesetzl. MwSt. Kontakt: Dorothee Becker, Tel.: 069.798 322-40, d.becker@fritz-bauer-institut.de Einsicht 11 Frühjahr 2014 105 Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main Neue Bildungspartnerschaft Pädagogisches Zentrum Angebote und Kontakt Das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main ist eine gemeinsame Einrichtung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt. Das Pädagogische Zentrum verbindet zwei Themenfelder: jüdische Geschichte und Gegenwart sowie Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust. Sein zentrales Anliegen ist es, Juden und jüdisches Leben nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Verfolgung und des Antisemitismus zu betrachten. Ein gemeinsames pädagogisches Zentrum für jüdische Geschichte und Gegenwart auf der einen und Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust auf der anderen Seite bietet die Chance, folgende Themen differenziert zu bearbeiten: › Deutsch-jüdische Geschichte im europäischen Kontext › Jüdische Gegenwart – Religion und Kultur › Holocaust – Geschichte und Nachgeschichte › Antisemitismus und Rassismus Annäherung an alle genannten Themen, und dieser eingeschränkte Blick verzerrt auch die Wahrnehmung der Vergangenheit. Das Pädagogische Zentrum hat die Aufgabe, diese Themen voneinander abzugrenzen, und so zu helfen, sie genauer kennenzulernen. Das Pädagogische Zentrum unterstützt Schulen bei der Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Gegenwart sowie bei der Annäherung an die Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust. Hierzu bietet es Lehrerfortbildungen und Lehrveranstaltungen an der Goethe-Universität Frankfurt, Workshops und Studientage an Schulen und für Institutionen der Jugend- und Erwachsenenbildung sowie themenbezogene Führungen, Vorträge, Unterrichtsmaterialien und Beratung an. Begleitend zu den aktuellen Ausstellungen des Jüdischen Museums Frankfurt gibt es Fortbildungen mit Perspektiven für den Unterricht. Kontakt Pädagogisches Zentrum FFM Seckbächer Gasse 14 60311 Frankfurt am Main Tel.: 069.212 742 37 pz-ffm@stadt-frankfurt.de www.pz-ffm.de Die deutsch-jüdische und europäisch-jüdische Geschichte wird meist vom Verbrechen des Holocaust aus betrachtet, das ist gerade in Deutschland nicht anders denkbar. Die Dominanz des Holocaust prägt die 106 Pädagogisches Zentrum Das Pädagogische Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main hat in den zurückliegenden Jahren Bildungspartnerschaften mit zwei Realschulen und einer beruflichen Schule vereinbart. Nun ist die Vereinbarung mit einem Gymnasium hinzugekommen. Die Ricarda-Huch-Schule in Dreieich steht als Gymnasium des Kreises Offenbach täglich vor der Aufgabe, Geschichte, politische Bildung, Demokratie und Menschenrechte in der Schulgemeinde zu vermitteln. Das Pädagogische Zentrum berät und unterstützt die Schule in vielfältiger Weise bei der Vermittlung dieser Themenfelder. Im Mittelpunkt der Zusammenarbeit stehen zunächst die Planung, Durchführung und Evaluation von konkreten Unterrichtsreihen zur jüdischen Geschichte in ihrer Vielfältigkeit und die Verankerung im Schulcurriculum. Jüdische Geschichte und Religion, aber auch der Holocaust und seine Nachgeschichte sind die Themen des Pädagogischen Zentrums. Das Angebot umfasst Beratungen für Lehrer und Lehrerinnen, Schüler und Schülerinnen sowie Workshops und themenbezogene Führungen. Neben den gemeinsamen Projekten werden im Rahmen der Kooperation neue pädagogische Angebote erprobt, die vom Pädagogischen Zentrum entwickelt werden. Im Rahmen einer Pressekonferenz berichteten am 28. Januar 2014 Schülerinnen und Schüler aus einem Kooperationsprojekt, das im Rahmen der Präsentation der Ausstellung »Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945« im Dreieich-Museum durchgeführt wurde. Es geht bei der Arbeit des Pädagogischen Zentrums mit Schulen um zeitgemäße Formen der Aneignung von Geschichtswissen über jüdische Geschichte, Nationalsozialismus und Holocaust. Sie Geschichte und Gegenwart 2014 681 Seiten 27 Abb. € 29,90 ISBN 978-3593-50098-0 Unterzeichnung der Bildungspartnerschaft: Schulleiter Dr. Knut Dittmann (links), Gottfried Kößler (stellv. Direktor des Fritz Bauer Instituts) und Dr. Martin Liepach (Pädagogisches Zentrum Frankfurt) sowie Schülerinnen und Lehrerinnen der Ricarda-Huch-Schule in Dreieich. Foto: Emil Pathe sollen angemessen sein für die heutigen Schülerinnen und Schüler – und auch für die heutigen Lehrkräfte. Zugleich geht es um die Weiterentwicklung der Formen des Gedenkens an die Ermordeten, die ja eher auf Emotionen orientiert und durchaus ritueller Art sein sollten. Das Pädagogische Zentrum hat aber eine doppelte Zuständigkeit: Es entwickelt pädagogische Angebote zugleich für das Fritz Bauer Institut und für das Jüdische Museum. Jüdische Themen umfassen Geschichte und Gegenwart. Das Pädagogische Zentrum begreift jüdische Geschichte als Teil der europäischen Geschichte, sie ist zugleich im Mikrokosmos der Regionalgeschichte sichtbar. Die jüdische Gegenwart ist Teil der wachsenden Heterogenität unserer Gesellschaft. Daher ist es für unsere Arbeit zentral, dass die Vermittlung von interreligiösen und interkulturellen Kompetenzen durch die Bildungspartnerschaft unterstützt wird. Dies ist in einer so stark von der Vielfalt an Bezügen auf Geschichte und Kulturen geprägten Einsicht 11 Frühjahr 2014 Lebenswelt wie der Rhein-Main-Region besonders bedeutsam. Außerschulische Lernorte verstärkt in den Geschichts- und Politikunterricht zu integrieren wurde von der Präsidentin der Kultusministerkonferenz Sylvia Löhrmann als wichtige Aufgabe der Bildungsarbeit vorgestellt. Die Angebote des Jüdischen Museums und des Fritz Bauer Instituts verstärkt zu nutzen ist darauf sicher eine angemessene Antwort. Diese Ansprüche mit der schulischen Realität und ihren institutionellen Rahmenvorgaben zu verbinden wird die Alltagsarbeit der Beratungen und Fortbildungen sein, die Dr. Martin Liepach mit dem Kollegium der Ricarda-Huch-Schule künftig organisieren wird. Als die NSDAP 1933 die Macht in Deutschland übernahm, wurde auch der Alltag von Kindern durch die vom Nationalsozialismus beabsichtigte Umgestaltung der Gesellschaft stark beeinflusst. Heidi Rosenbaum untersucht in ihrer groß angelegten Studie, die auf zahlreichen Zeitzeugengesprächen basiert, das alltägliche Leben von Kindern in vier Milieus. 2013 529 Seiten 8 Abb. € 45,– ISBN 978-3593-39852-5 »Die jüngst erschienene, hervorragende Studie von Cornelius Lehnguth nimmt den Fall Waldheim zum Anlass, um das vergangenheitspolitische Narrativ Österreichs und seinen, wie der Untertitel verspricht, ›parteipolitischen Umgang mit dem Nationalsozialismus‹ gründlich zu analysieren. Dies ist vortrefflich gelungen.« Nicolas Stockhammer, Tagesspiegel campus.de 107 Nachrichten und Berichte Information und Kommunikation Anlässlich des 20. Todestags des 1944 ermordeten hessischen Innenministers und Widerstandskämpfers Wilhelm Leuschner war die Auszeichnung am 29. September 1964 vom damaligen hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn gestiftet worden. Mit der Medaille sollen Personen geehrt werden, die sich beispielhaft und nachhaltig für die Demokratie eingesetzt und Staat, Gesellschaft und Kultur in vorbildlicher Weise geprägt haben. Seit 1965 wird sie jährlich am Hessischen Verfassungstag, dem 1. Dezember, verliehen. Aus dem Institut Wilhelm LeuschnerMedaille 2013 Auszeichnung für Raphael Gross, Harald Müller und Dieter Bingen Mit der Wilhelm LeuschnerMedaille des Landes Hessen sind im vergangenen Jahr drei Geisteswissenschaftler ausgezeichnet worden: Prof. Dr. Raphael Gross, Direktor des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main, Prof. Dr. Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen-Instituts, und Prof. Dr. Harald Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Die Preisverleihung am 1. Dezember 2013 fand statt im Rahmen einer Feierstunde zum Hessischen Verfassungstag im Wiesbadener Schloss Biebrich. In seiner Laudatio erklärte der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier: »Wir ehren heute drei herausragende Wissenschaftler, die sich auf unterschiedlichen Forschungsgebieten verdient gemacht haben. Es vereint sie aber, dass sie durch ihre Arbeit Botschafter des Friedens und der Versöhnung geworden sind. Ihre Lehren zeigen, dass unsere heute friedliebende Gesellschaft nichts Selbstverständliches ist und dass unsere Werte immer wieder aufs Neue verteidigt Ministerpräsident Volker Bouffier mit den Ausgezeichneten (v.l.n.r.: Prof. Dr. Dieter Bingen, Volker Bouffier, Prof. Dr. Raphael Gross, Prof. Dr. Harald Müller). Foto: Hessische Staatskanzlei/Sebastian Trapp 108 Nachrichten und Berichte werden müssen. Sie sind Aufklärer, die mit ihrer Arbeit das Fundament für eine pluralistische und tolerante Gesellschaft legen und anderen Menschen Orientierung bieten. Die Professoren Raphael Gross, Harald Müller und Dieter Bingen sind Demokraten im Geiste Wilhelm Leuschners und würdige Träger der höchsten Auszeichnung, die unser Land zu vergeben hat.« Kontakt Pressestelle: Hessische Staatskanzlei Staatssekretär Michael Bußer Tel.: 0611.323918, Fax: .323800 presse@stk.hessen.de https://stk.hessen.de/ueber-uns/orden-ehrenzeichen/ im-dienste-der-demokratie Nachruf dass seine gesamte Familie ermordet worden war. 1947 heiratete er seine Frau Libuse, das Paar bekam zwei Kinder. In den 1960er Jahren sagte Tibor Wohl in der BRD im 2. Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen Gerhard Neubert aus. 1966 war er Zeuge im Fischer-Prozess in der DDR. 1969 floh er mit seiner Familie aus Prag nach Österreich und arbeitete als Montageabteilungsleiter. Die Aufzeichnungen Tibor Wohls über seine Zeit im Konzentrationslager Buna/ Monowitz erschienen 1990 unter dem Titel Arbeit macht tot. Eine Jugend in Auschwitz. Tibor Wohl lebte zuletzt in Frankfurt am Main, wo er im Januar 2014 gestorben ist. Tibor Wohl sel. A. (1923–2014) »Wir dachten und fühlten zwar nicht mehr wach, aber in uns glomm ein Funke weiter, das ›Ich‹.«1 Tibor Wohl wurde am 28. Juni 1923 in Rarbok in der ČSR (heute Rohožník) geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Er wuchs in einer bürgerlichen Familie auf, sein Vater handelte mit Immobilien, die Mutter war Hausfrau. 1931 wurde der Bruder Paul geboren, 1936 zog die Familie nach Prag, da der Antisemitismus im slowakischen Teil der ČSR immer mehr zunahm. Tibor Wohls Vater bezahlte 1939 Geld, um seine Familie nach Ecuador schleusen zu lassen, wurde aber betrogen, und sie mussten in Prag bleiben. Nachdem die deutsche Wehrmacht Tschechien am 15. März 1939 besetzt hatte, musste die Familie Wohl in eine kleinere Wohnung ziehen, Tibor die Schule abbrechen und sein Vater in einem Sägewerk arbeiten. Am 10. Dezember 1941 wurde die Familie von der Gestapo verhaftet, ihrer Besitztümer beraubt und nach Theresienstadt deportiert. Dort mussten Tibor, Paul und ihre Eltern Zwangsarbeit leisten, bis sie am 26. Oktober 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurden. In dem Chaos bei ihrer Ankunft verlor Tibor seine Familie; er konnte sich nicht von ihr verabschieden und sah sie nie wieder. Tibor Wohl wurde nach sechs Tagen im Stammlager Auschwitz I in das etwa sechs Kilometer östlich gelegene Arbeitslager Buna/Monowitz verbracht, wo er im »Kommando 21« schwere Transport- und Erdarbeiten verrichten musste. Als er versuchte, in ein leichteres Kommando zu 1 aus: Tibor Wohl, Arbeit macht tot. Eine Jugend in Auschwitz. Mit einem Vorwort von Hermann Langbein. Frankfurt am Main: Fischer 1990, S. 121. Einsicht 11 Frühjahr 2014 Nachruf Tibor Wohl 1998 in Frankfurt am Main gelangen, wurde er dem Kabelkommando zugeteilt und zog sich bei der Arbeit eine schwere Fußverletzung zu. Er musste in den Krankenbau und gehörte zu Häftlingen, an denen unter anderen der SS-Arzt Horst Fischer Experimente mit Elektroschocks durchführte. Als er im Frühjahr 1944 nach einem kurzen Aufenthalt im Krankenbau in den dortigen Schonungsblock verlegt wurde, lernte er den Tschechen Arnost Tauber kennen. Dieser erzählte ihm von der Widerstandsarbeit im Lager, der sich Tibor Wohl daraufhin anschloss. Durch die Mitarbeit im Widerstand wurde er dem Kommando der Desinfektionsstation zugeteilt, in dem er bis zur Auflösung des Lagers arbeitete. Am 18. Januar 1945 wurde Tibor Wohl auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrieben. Während eines Angriffs von Partisanen gelang es ihm, mit zwei Kameraden zu fliehen und in einem Bauernhaus bei einem deutschen Deserteur unterzukommen, bis die Gegend am 27. Januar von der Roten Armee befreit wurde. Nach seiner Befreiung ging Tibor Wohl nach Prag zurück, wo er feststellen musste, Dr. Heinz Kahn sel. A. (1922–2014) »Ich hatte den Vorteil deutsch zu sprechen, denn deutsch war die Lagersprache. Doch ich habe mich geschämt, ein Deutscher zu sein, und habe auf die Frage, wo ich herkäme, immer geantwortet: von der Luxemburger Grenze.«2 Heinz Kahn wurde am 13. April 1922 in Hermeskeil geboren. Sein Vater war als Tierarzt und Weltkriegsteilnehmer angesehen im Ort, seine jüngere Schwester und er hatten eine schöne Kindheit. Heinz war ein guter Schüler und besuchte bis 1936 die höhere Schule. Dort bekam er den beginnenden Antisemitismus zu spüren, seine Freunde wandten sich von ihm ab; mit seinen schönen Baukästen musste er alleine spielen. 2 aus: Heinz Kahn: »Erlebnisse eines jungen deutschen Juden in Hermeskeil, Trier, Auschwitz und Buchenwald in den Jahren 1933 bis 1945«. In: Johannes Mötsch (Hrsg.): Ein Eifler für Rheinland-Pfalz. Festschrift für Franz-Josef Heyen. Mainz: Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte 2003, S. 641–659, hier S. 651. 109 Immer öfter begleitete er stattdessen seinen Vater auf dessen Behandlungsfahrten. Nach dem Schulausschluss begann er zunächst eine kaufmännische Ausbildung, dann eine Schlosserlehre in Frankfurt am Main. Er wurde in einer Telefonbaugruppe angelernt und blieb dort bis zum 9. November 1938. Es folgte Zwangsarbeit in der »Judenkolonne« in Köln und Trier; sein Meister beschäftigte ihn jedoch in Lothringen, und er konnte beim Pendeln Zeitungen lesen und Nahrungsmittel ergattern. Ende Februar 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet und zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. Sein Vater trug ihm auf zu überleben – seine Eltern sah Heinz nie wieder. Er kam ins Arbeitslager Buna/Monowitz, einem Nebenlager des Konzentrationslagers Auschwitz. Dort erfuhr er in der ersten Nacht von einem polnischen Arzt, seine Angehörigen seien vergast und wer zu schwach zum arbeiten sei, würde in der Gaskammer landen. Heinz Kahn hatte Glück, er bekam sofort eine verhältnismäßig gute Tätigkeit im »Stubendienst«. Dennoch erlitt er eine Daumenverletzung und musste sich im Krankenbau melden. Dort half er bei der Behandlung und wurde nach einiger Zeit als Pfleger angestellt. Fortan knüpfte er Kontakt zum kommunistischen Widerstand, arbeitete zusätzlich in der Schreibstube und versuchte, Mitgefangenen zu helfen, indem er bei Selektionen ihre Nummern durch diejenigen bereits Toter austauschte. Auf dem Todesmarsch im Januar 1945 gelangte er nach Buchenwald, wo er von den Amerikanern befreit wurde. Nach dem Krieg gründete er die jüdische Gemeinde in Trier neu, machte das Abitur nach und bekam einen Studienplatz für Tiermedizin in Berlin. Er ließ sich als Tierarzt in Polch nieder, wo er auch praktizierte. Erst nach vielen Mühen gelang es Heinz Kahn, Teile der verstreuten Familienbesitztümer wiederzuerlangen. Über hundert Mitglieder seiner Familie kamen im Holocaust ums Leben. Dr. Heinz Kahn wohnte mit seiner Frau Inge in der Stadt Polch in der Eifel. 110 Aus Kultur und Wissenschaft Jahreskonferenz Verband der Europäischen Jüdischen Museen Dr. Heinz Kahn 1998 in Frankfurt am Main Der langjährige Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Koblenz starb am Sonntag, 9. Februar 2014, im Alter von 91 Jahren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts trauern um Tibor Wohl und Dr. Heinz Kahn. Beide waren Mitglied im »Rat der Überlebenden« am Fritz Bauer Institut. Wir behalten sie in ehrender Erinnerung. Die beiden Texte zu Tibor Wohl und Dr. Heinz Kahn sind der Website des Norbert Wollheim Memorials entnommen, dem Gedenkort für die Zwangsarbeiter des Konzentrationslagers Buna/Monowitz auf dem Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt am Main. (www.wollheim-memorial.de) Die Fotos von Tibor Wohl und Dr. Heinz Kahn sind entnommen aus: Christian Kolbe, Tanja Maria Müller und Werner Renz (Hrsg.), Begegnung ehemaliger Häftlinge von Buna-Monowitz. Zur Erinnerung an das weltweite Treffen in Frankfurt am Main 1998, mit Fotos von Axel Gomille, Uwe Hack, Andreas Pingel, Feli Reuschling, Frankfurt am Main: Fritz Bauer Institut, 2004. Nachrichten und Berichte Vom 16. bis 20. November 2013 trafen sich in den Jüdischen Museen von München und Hohenems die Mitglieder der Association of European Jewish Museums zu ihrer Jahreskonferenz. 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer – von Dublin bis Jerusalem, Oslo bis Rom und von Riga bis Toledo – diskutierten fünf Tage lang über die Zukunft der Jüdischen Museen in Europa, planten gemeinsame Aktivitäten und besuchten zum Abschluss das Jüdische Museum in Basel und die Braginsky Collection in Zürich. Schwerpunkte des Programms der Jahreskonferenz unter dem Titel »Where we are. Site, Space and Context« waren key note lectures, workshops, Podien und Museumspräsentationen zur Frage des Umgangs der Jüdischen Museen mit ihrer jeweiligen urbanen und historischen Umgebung, mit den politischen Ansprüchen ihrer Gesellschaften und den Erwartungen ihres Publikums. Dr. Jörg Skriebeleit, Leiter der Gedenkstätte Flossenbürg in Bayern, schilderte zur Eröffnung der Konferenz, die wenige Tage nach dem 70. Jahrestag der »Kristallnacht« auch im Zeichen der gewaltsamen Zerstörung des 20. Jahrhunderts stand, das widersprüchliche Nebeneinander von NS-Erinnerung und der Erinnerung an jüdisches Leben und die wechselvolle Geschichte der Annäherung an sie an den Orten des Geschehens. Dr. Felicitas Heimann-Jelinek hingegen diskutierte die widersprüchliche Erfolgsgeschichte Jüdischer Museen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Bedürfnisse nach Identität und den Zugriff auf Jüdische Museen als Orte einer durchaus elitären Sinnstiftung, einem Zugriff, der für die Museen auch eine Belastung werden kann. Dagegen helfe nur ein Selbstbewusstsein, das sich auch darauf einlässt, »die jüdische Geschichte und Erfahrung mehr Jahreskonferenz der Europäischen Jüdischen Museen 2013: Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor der Villa Heimann-Rosenthal des Jüdischen Museums Hohenems, Österreich (www.jm-hohenems.at). Foto: Dietmar Walser und mehr als Raster für andere MinderheitenGeschichten und Erfahrungen« ins Spiel zu bringen. »Mit der jüdischen Migrationserfahrung generieren die Jüdischen Museen also auch neue Erinnerungen, sie dynamisieren das historische und kulturelle Gedächtnis.« In den Workshops zur kuratorischen Praxis wurde deutlich, dass es dabei auch um die Kultivierung einer Haltung geht, die den Erfahrungen der Besucher mit Neugier und nicht mit Belehrung begegnet. Bei Vorstandswahlen wurde Hanno Loewy (Direktor des Jüdischen Museums Hohenems) als Präsident des Verbandes der Europäischen Jüdischen Museen bestätigt. Auch Erika Perahia-Zemour (Thessaloniki) verblieb in ihrer Position. Neu in den Vorstand gewählt wurden Bernhard Purin (München), Lucja Koch (Warschau) und Joanne Rosenthal (London). Die Association wächst. Auch in diesem Jahr wurden fünf neue Mitglieder aufgenommen. Und die Aufgaben des Verbands entwickeln sich ebenso stetig. Schon Einsicht 11 Frühjahr 2014 zum fünften Mal wurde in diesem Jahr das Trainingsprogramm für Kuratoren durchgeführt, eine intensive Fortbildung, die sich den spezifischen Reichtum und die Vielfalt der jeweiligen Sammlungen der gastgebenden Häuser zunutze macht und von der Rothschild-Foundation (Hanadiv) in London nachhaltig unterstützt wird. 2014 wird sich das Kuratoren-Training in Amsterdam nicht zuletzt mit den unterschiedlichen Formen materieller Kultur im sefardischen und aschkenasischen Judentum beschäftigen. Gemeinsam mit dem Berliner Jüdischen Museum plant die Association eine weitere Intensivierung dieses wichtigen Programms. Schon zum zweiten Mal wurden unlängst auch Vermittlerinnen und Vermittler an den Museen zu einem eigenen Fortbildungsprogramm der Association nach Warschau eingeladen. 2014 wird das Jüdische Museum in Oslo folgen. Und der Verband wird dabei von der David Berg Foundation in New York unterstützt. MuseumspädagogInnen an Jüdischen Museen stehen vor ähnlichen und besonders aktuellen Herausforderungen. Im Umgang mit einem zunehmend multikulturellen Publikum vermitteln sie jüdische Geschichte und Kultur als kontinuierliche Grenzüberschreitung zwischen dem vermeintlich Eigenen und dem vermeintlich Fremden. Die Association wird zunehmend auch als Beratungsinstanz für die Museen interessant. Im Rahmen des von der Rothschild Foundation finanzierten Advisory Visit Programms können die Mitglieder beim Verband den Besuch von ExpertInnen beantragen, die bei der Lösung von Problemen helfen können. Auf diese Weise hat der Verband schon einiges bewegen können, denn oft braucht es nur einen produktiven Anstoß von außen. 2014 will der Verband sich neben den laufenden Projekten unter anderem auf die Entwicklung einer neuen Website konzentrieren und damit auch seine Erfahrungen und Informationen einem breiteren Publikum zugänglich machen. Für diese Öffnung des Verbands steht auch eine gemeinsame Veranstaltung mit Paideia und der Rothschild Foundation zum Thema »(Re)shaping the (Re)presentation of Jewish Culture: The Future of Jewish Museums in Europe«, die im Frühjahr 2014 im Anschluss an das Kuratoren-Training in Amsterdam stattfinden wird. Die Jüdischen Museen sind im 21. Jahrhundert angekommen und sie suchen darin freilich noch ihren Ort. Die Association of European Jewish Museums ist ein guter Rahmen, um diese Suche auch für die Besucher von Jüdischen Museen spannend und produktiv zu machen. Es sind nämlich am Ende ähnliche Fragen, die die Museen und ihre Besucher beschäftigen. Diese gemeinsame Neugier ist eine gute Grundlage für Ausstellungen und Programme, die den Nerv der Zeit treffen. Die nächste Jahreskonferenz soll im November 2014 in Warschau stattfinden. Kontakt Association of European Jewish Museum c/o Eva Koppen (Project Manager) P.O. Box 16737, 1001 RE Amsterdam aejm@aejm.org www.aejm.org 111 Aus Kultur und Wissenschaft Tel Aviv, Israel Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Homosexuellen Am Freitag, den 10. Januar 2014 – fast 70 Jahre nach der Befreiung Nazi-Deutschlands – wurde in Tel Aviv ein Denkmal für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus eingeweiht. Der Rat der Stadt Tel Aviv-Jaffa hatte den Bau der Erinnerungsstätte auf Anregung der Vereinigung der LGBT (Lesbian/Gay/ Bisexual/Transgender) und anderer LGBTAktivisten in Israel einstimmig beschlossen und mit umgerechnet etwa 32.000 Euro finanziert. Mit ihr soll den Tausenden von Schwulen und Lesben, Bisexuellen und Transgender-Personen gedacht werden, die während der Nazi-Diktatur verfolgt und ermordet wurden. Während es in Israel Dutzende Gedenkstätten für den Völkermord an den Juden gibt, ist dies der erste Ort im Land, an dem an jüdische und nichtjüdische Opfer gleichermaßen erinnert wird. Die im Gan Meir-Park errichtete Gedenkstätte befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum 2008 eröffneten kommunalen schwul-lesbischen Kulturzentrum an der Tchernichovsky Straße 22. Verglichen mit dem großen Zulauf, den die Tel Aviver Gay Pride Paraden jeden Sommer erfahren, wurde die Einweihungszeremonie nur von vergleichsweise wenigen Interessierten besucht. Etwa 60 bis 100 Menschen hatten sich bei trübem und regnerischem Wetter im Park eingefunden und lauschten dem Lied »Fremde Augen« (‫)עיניים ר ת‬, das die israelische Musikerin Rona Kenan zum Abschluss der Veranstaltung für die Anwesenden sang. Die in mehrere Elemente gegliederte Erinnerungsstätte fügt sich harmonisch in die Gestaltung des Gan Meir-Parks ein. Entworfen wurde das Denkmal von Dr. Yael 112 Moriah, Landschaftsarchitektin und Professorin für Architektur und Stadtplanung am Technion in Haifa, dem Israel Institute of Technology. Schon in den letzten Jahren hatte Moriah die Erneuerung des kleinen, im Zentrum Tel Avivs gelegenen Parks geleitet. Ihre Installation besteht aus einer in Beton gegossenen Pyramide mit einer Grundfläche von etwa 1,5 Quadratmeter, deren abgeflachte dreieckige Vorderseite eine erläuternde Inschrift zur Verfolgungsgeschichte der Homosexuellen trägt. Zudem sind darauf die Namen prominenter jüdischer Homosexueller aufgeführt, der Sexualforscher Magnus Hirschfeld, der als Nazi-Gegner verfolgt wurde, und der im vergangenen Jahr gestorbene Gad Beck, der vielen Berliner Juden das Leben rettete. Ein pinkfarbenes, auf dem Kopf stehendes Dreieck erinnert an den »Rosa Winkel«, also das Zwangssymbol, das Homosexuelle in den Konzentrationslagern tragen mussten. Dieses Symbol wird auch von drei vor der Pyramide platzierten und ebenfalls aus Beton gegossenen rosafarbenen Sitzbänken aufgenommen, die in Form eines Dreiecks angeordnet sind. Den drei Elementen der »Sitzgruppe« ist in hebräischer, englischer und deutscher Sprache der Satz eingemeißelt: »Den Opfern des Nationalsozialismus, die wegen ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verfolgt wurden.« Nachrichten und Berichte »Die Menschen sollen erfahren, dass sich die Verfolgungsgeschichte der Homosexuellen von der der Juden unterscheidet. Es ist eine andere Geschichte – kleiner, aber dennoch bedeutsam und folgenschwer«, betont Eran Lev, Anwalt und früherer Abgeordneter der Meretz-Partei im Tel Aviver Stadtrat, der als einer der Hauptinitiatoren des Denkmals gelten kann, und fährt fort: »Es ist wichtig, dass die Menschen in Israel wissen, dass von den Nazis auch Angehörige anderer Gruppen verfolgt wurden – nicht weil sie jüdisch, sondern weil sie schwul waren.« Der historische Berater des Projekts, Prof. Dr. Moshe Zimmermann von der Hebräischen Universität Jerusalem, betonte mit Blick auf die erweiterte Opfer-Perspektive: »Das Denkmal ist ein großer Schritt für Israel, weil es hilft, uns vom Monopol der Opfer zu befreien. Die Anerkennung der anderen Opfer und die Teilung der Last verringert in keinem Maße die Einzigartigkeit unseres eigenen Opfers.« Zimmermann hatte den Haupttext des Denkmals verfasst. Die Inschrift beschreibt die gegen Schwule ergriffenen Maßnahmen, ihre Verschleppung in Konzentrationslager und führt aus: »Der nationalsozialistischen Ideologie zufolge war Homosexualität gefährlich für die ›öffentliche Gesundheit‹. Die Gestapo hatte eine spezielle Einheit zur Bekämpfung von Homosexualität und die ›Reichszentrale zur Der von Yael Moriah entworfene Gedenkort im Gan Meir-Park in Tel Aviv. Fotos: Amit Strauss, Givat Brenner/Israel Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung‹ legte Akten zu über 100.000 Homosexuellen an.« Die genaue Zahl derer, die von den Nazis aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden, lässt sich nur schwer beziffern. Zimmermann nennt in der Inschrift die Zahl von 15.000 Menschen, die in Lagern inhaftiert wurden und von denen mehr als die Hälfte ermordet wurde. Er fügt hinzu, dass auch medizinische Experimente an Häftlingen im Konzentrationslager Buchenwald durchgeführt wurden, um die Homosexualität zu »heilen«. Gemeinsam mit Tel Avivs Bürgermeister Ron Huldai hat der deutsche Botschafter in Israel, Andreas Michaelis, die neue Gedenkstätte eingeweiht. »Tel Aviv gilt als eine der gegenüber Homosexuellen freundlichsten Städte weltweit«, sagte Michaelis in seiner Eröffnungsrede. »Es ist eine offene, tolerante und multikulturelle Stadt mit viel guter Laune.« Aber Toleranz allein reiche nicht. »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden Einsicht 11 Frühjahr 2014 heißt beleidigen«, zitierte der Diplomat den Dichter Johann Wolfgang von Goethe. Bürgermeister Huldai rief in seiner Ansprache in Erinnerung, die Nazis hätten neben der Judenvernichtung »viele Gräuel begangen, um alle auszulöschen, die als ›anders‹ galten«, und unterstrich die Offenheit der Stadt Tel Aviv: »Das Denkmal mahnt uns, wie wichtig es für uns ist, jeden Menschen zu respektieren. Es ist nur selbstverständlich, dass ein solches Denkmal in Tel Aviv existiert – einem Ort, der allen Gruppen und Minderheiten offensteht.« Die Homosexuellen-Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland ist ohne Entsprechung in der Geschichte. 1935 ordneten die Nationalsozialisten die umfassende Kriminalisierung männlicher Homosexualität an. Dazu wurden die im § 175 des Strafgesetzbuches vorgesehenen Bestimmungen gegen homosexuelles Verhalten erheblich ausgeweitet und verschärft. 1936 wurde von Heinrich Himmler ein eigenes Zentrum für den Kampf gegen Homosexuelle geschaffen. Die Zahl der Verurteilungen verzehnfachte sich in der Folge auf 8.000 pro Jahr und auf insgesamt über 50.000. Mehrere tausend Menschen wurden wegen ihrer Homosexualität von der Gestapo in Konzentrationslager verschleppt, wo sie sterilisiert und misshandelt wurden. Bis zu 15.000 von ihnen kamen ums Leben. Denkmäler für die homose xuellen Opfer des Nazi-Regimes gibt es bereits in mehreren Städten, darunter Amsterdam, Barcelona, San Francisco und Sydney. Das erste war 1984 an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen in Österreich entstanden. In Frankfurt am Main wurde mit dem »Frankfurter Engel – Mahnmal Homosexuellenverfolgung« 1994 das erste Mahnmal seiner Art in Deutschland errichtet. Das Berliner »Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen« wurde im Mai 2008, in Nachbarschaft zum »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, der Öffentlichkeit übergeben. Werner Lott Fritz Bauer Institut 113 Aus Kultur und Wissenschaft Neue Website Jüdische Kinderflüchtlinge in den Niederlanden www.dokin.nl Das Novemberpogrom 1938 hatte einen Flüchtlingsstrom jüdischer Kinder aus Deutschland und Österreich zur Folge. Besorgt wegen der wachsenden Bedrohung durch die Nazis versuchten jüdische Eltern ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Die meisten von ihnen gelangten nach England. Weniger bekannt ist, dass 2.000 Kinder in den Niederlanden Zuflucht suchten und auch fanden. Die Geschichte dieser jüdischen Kinderflüchtlinge in den Niederlanden war lange Zeit kaum bekannt. Mit der neu entwickelten Website www.dokin.nl liegt nun eine vollständige Übersicht zu allen deutschen und österreichischen Kindern vor, die zwischen November 1938 und September 1939 in den Niederlanden Asyl fanden. »Dokin« ist ein niederländisches Akronym, das für Duitse Oorlogskinderen in Nederland (Deutsche Kriegskinder in den Niederlanden) steht. Alle Namen der Kinderflüchtlinge, die durch die Nationalsozialisten ermordet wurden, sind – oft mit Fotos – in der Datenbank der Website zu finden. Informationen zu den Kindern, die den Holocaust überlebt haben, sind nur nach Anfrage und geschützt durch einen Code zugänglich. Außerdem bietet die Website Informationen über die Umstände, unter denen die jüdischen Kinderflüchtlinge in den Niederlanden aufgefangen wurden. Eine vollständige und genau dokumentierte Übersicht der Orte, in denen die Kinderflüchtlinge ab 1938 untergebracht wurden, sind ebenfalls enthalten. Darüber hinaus bietet die Website umfangreiche Linklisten zu Literatur und Zeitungsberichten zum Thema. Verantwortlich für die Website zeichnet die 114 Stiftung Duitse Oorlogskinderen in Nederland. Initiator und treibende Kraft der Stiftung ist Miriam Keesing. Die Geschichte eines deutschen jüdischen Jungen, den ihre Großeltern 1939 in ihrem Haus aufgenommen hatten, inspirierte sie dazu, auf die Suche nach der Geschichte der deutschen und österreichischen Kinderflüchtlinge in den Niederlanden zu gehen. Als sich herausstellte, dass diese Geschichte zum größten Teil nie erzählt worden war, entschloss sie sich dazu, sie selbst zu erforschen und öffentlich zu machen. Kontakt Dokin – Stichting Duitse Oorlogskinderen in Nederland Miriam Keesing, Associated Researcher Netherlands Institute for War Documentation (NIOD) Hugo de Vriesplein 4 02101 GH Heemstede info@dokin.nl Aus Kultur und Wissenschaft Geschwister-Scholl-Preis 2013 Auszeichnung für Otto Dov Kulka Der 34. Geschwister-SchollPreis wurde am 18. November 2013 in der Großen Aula der LudwigMaximilians-Universität in München an Otto Dov Kulka für sein Buch Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (München: DVA, 2013, 192 S., € 19,99 ) verliehen. Oberbürgermeister Christian Ude und Dr. Jörg Platiel, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde. Die Laudatio hielt Dr. Susanne Heim (Institut für Zeitgeschichte). De r Ge sc h wi st e r- Sc h o l l - Pr e i s wird vom Börsenverein des Deutschen Nachrichten und Berichte Buchhandels – Landesverband Bayern e. V. gemeinsam mit der Landeshauptstadt München seit 1980 vergeben. Er ist mit 10.000 Euro dotiert. Der Kulturausschuss der Stadt und der Vorstand des Verbands entscheiden über die Vergabe des Preises auf Vorschlag einer Fachjury. Sinn und Ziel des Preises ist es, jährlich ein Buch jüngeren Datums auszuzeichnen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben. »Mit seinen Aufzeichnungen hat Dov Kulka genau das in vorbildlicher Weise getan: Er hat durch seine ganz persönliche, fast intime Herangehensweise an die schmerzhafte Erinnerung ›geistige Unabhängigkeit‹ bewiesen und gibt dem Bewusstsein der Gegenwart damit einen entscheidenden Impuls«, so Jörg Platiel in seiner Ansprache zur Preisverleihung. Otto Dov Kulka wurde 1933 in der Tschechoslowakei geboren. Als Kind jüdischer Eltern wurde er nach der deutschen Zerschlagung und Besetzung des Landes zunächst im Ghetto Theresienstadt inhaftiert und von dort im September 1943 zusammen mit seiner Mutter nach Auschwitz deportiert. Bei der Ankunft im Lager war er zehn Jahre alt. Seit 1949 lebt Kulka in Israel. Er ist emeritierter Professor für die Geschichte der Juden an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Über Jahrzehnte hat er die Verbrechen der Nationalsozialisten erforscht und bemerkenswerte Studien zum Völkermord an den Juden vorgelegt. Mit dem nun vorliegenden Buch hat Kulka erstmals seine eigene Leidensgeschichte im Lager Auschwitz zum Thema seiner Arbeit gemacht. Er bricht damit mit seiner bisher strikt eingehaltenen Trennung von wissenschaftlicher Arbeit und persönlichen Erinnerungen an seine Kindheit in Auschwitz. »Im Alter von achtzig Jahren«, so die Jury in ihrer Begründung zur Preisvergabe, »hat Kulka das erschütternde Buch Landschaften der Metropole des Todes links: Otto Dov Kulka als Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess im Juli 1964 Foto: SchindlerFoto-Report unten: Otto Dov Kulka bei der Preisverleihung in München am 18. November 2013. Foto: Kerstin Dahnert veröffentlicht, in dem er seinen Erinnerungen an Auschwitz nachgeht, zugleich aber klarstellt, dass eine zusammenhängende Rückschau auf seine Erfahrungen im Konzentrationslager für ihn nicht möglich ist. Kulka betrachtet wie von außen seine Kindheitstage in Auschwitz, ruft Szenen ab, fragt nach deren Bedeutung, legt sich aber nicht fest auf eine Deutung, sondern umkreist, hinterfragt seine eigenen Bilder und Analysen. Mit dieser eindrucksvollen Erzählweise macht Kulka sichtbar, dass es für die monströsen Verbrechen von Auschwitz nicht die eine, fassbare Erklärung gibt, sondern dass es immer bei der Frage nach dem Warum bleiben wird. Die Frage nach dem Warum aber ist nötig, Erkenntnis ist möglich, auch dies macht Kulka deutlich, indem er seine Leser auf seine Suche nach Bildern und Deutungen mitnimmt und ihnen die Mechanismen von Gewalt und Ausgeliefertsein vor Augen führt.« In ihrer Laudatio auf den Preisträger hob Susanne Heim deshalb auch die Sprache des Buches hervor: »Die metaphernreiche Sprache überlässt vieles der Vorstellungskraft des Lesers, statt es in grauenhafter Konkretion zu benennen. Vielleicht ist diese Sprache auch der Schwierigkeit der eigenen Wiederannäherung an den Ort geschuldet. Denn die schrittweise Erkundung der Landschaften der Metropole des Todes führt zu Einsicht 11 Frühjahr 2014 außerwissenschaftlichen privaten Betrachtungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. […] Das Buch wurde seit seiner Ersterscheinung im Januar dieses Jahres in zahlreiche europäische und außereuropäische Sprachen übersetzt. Seine Auszeichnung durch den Geschwister-SchollPreis lässt der deutschen Ausgabe, unter allen anderen, eine besondere Bedeutung zukommen. Ich schätze diese Würdigung sehr.« www.geschwister-scholl-preis.de der Erkenntnis, sie nie wirklich hinter sich gelassen zu haben.« »Dov Kulka hat überlebt«, konstatiert Heim, »aber ob er der Metropole des Todes entkommen ist, wage ich nicht zu sagen.« »Jahrzehntelang glaubte ich, dass es ausschließlich der wissenschaftliche Weg sein könne, auf dem ich diese Vergangenheit verstehen will und den ich auch weiterhin in meiner Arbeit verfolge«, so Kulka in seiner Dankesrede. »Sie könnten fragen: Wo war Auschwitz zu jener Zeit? Es war anwesend. Aber nur in meinen Tagebüchern und Träumen. […] Erst nachdem ich die letzten drei Forschungs- und Dokumentationsprojekte in den Jahren 1997 bis 2010 abgeschlossen hatte, beschloss ich, meine sozusagen 115 Aus Kultur und Wissenschaft Rachel Salamander Trägerin des Schillerpreises der Stadt Marbach 2013 Am 10. November 2013, dem 254. Geburtstag Friedrich Schillers, wurde der Schillerpreis der Stadt Marbach am Neckar an Rachel Salamander verliehen. Die Preisträgerin wurde für ihr entscheidendes Mitwirken am Wiederaufbau des jüdischen intellektuellen Lebens in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geehrt. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wurde in einem öffentlichen Festakt in der Stadthalle Schillerhöhe von Bürgermeister Jan Trost überreicht. Die Laudatio hielt Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das Preisgericht sprach Rachel Salamander besondere Zivilcourage zu. Sie habe es sich seit Anfang der 1980er Jahre zur Lebensaufgabe gemacht, mit ihrer publizistischen Arbeit und dem Aufbau ihrer Buchhandlungen das Interesse und die Neugierde für das Judentum und die Literatur zum Judentum zu wecken und gleichzeitig den Zugang zur deutsch-jüdischen Kultur vor dem Holocaust zu erschließen. Damit habe sie im Sinne des Schiller’schen Freiheitsgedankens die Fähigkeit gezeigt, bewusst Grenzen und Gräben zu überwinden. Der Schillerpreis wurde erstmals zum 200. Geburtstag Friedrich Schillers im Jahr 1959 verliehen. Seit der Neuformulierung der Vergabekriterien anlässlich des Schillerjahres 2009 geht der Preis an Persönlichkeiten, die in ihrem Leben oder Wirken der Denktradition Friedrich Schillers verpflichtet sind. Besonders preiswürdig ist der Einsatz für einen ethisch verantwortbaren Freiheitsbegriff im Sinne des Dichters, sei es in der Politik, der Kunst, den Geistes-, Sozial- oder Naturwissenschaften. Rachel Salamander wurde 1949 im DPLager Deggendorf (Lager für Displaced Persons, Überlebende der Konzentrationslager) 116 geboren. Ihre Eltern entstammten dem osteuropäischen Judentum und überlebten den Holocaust in der Sowjetunion. Nach dem Umzug der Familie nach München 1956 besuchte Rachel Salamander dort die Schule, studierte anschließend Germanistik, Romanistik und Philosophie. Als erste jüdische Frau nach dem Zweiten Weltkrieg promovierte sie an einer deutschen Universität im Fach Germanistik. Die deutsch-jüdische, aber auch die jiddische Literatur beschäftigten sie genauso wie die jüdische Geschichte. 1982 gründete sie die »Literaturhandlung« in München, eine auf Literatur zum Judentum spezialisierte Fachbuchhandlung. Mit über 1.000 Veranstaltungen und Lesungen schuf sie ein intellektuelles Zentrum, in dem sich Juden und Nichtjuden selbstverständlich mit jüdischen Themen auseinandersetzen. Es folgten 1991 eine Filiale in Berlin und weitere Literaturhandlungen in Deutschland. Von 2001 an war Rachel Salamander Herausgeberin der »Literarischen Welt«, der Samstagsbeilage der Zeitung Die Welt. Seit Oktober 2013 leitet sie das neu gegründete »FAZ-Literaturforum«, berät die Literaturredaktion und hat den Juryvorsitz im ebenfalls neu gegründeten »Marcel-Reich-Ranicki-Preis für literarische Kritik und Essay« übernommen. 2009 wurde Rachel Salamander mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Publikationen: Die jüdische Welt von gestern, Wien 1990; zusammen mit Jacqueline Giere: Ein Leben aufs Neu. Das Robinson-Album. DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948, Wien 1995; »Hier suchen wir das fürchterlichste Verbrechen …« Vom deutschen Widerstand und der Judenverfolgung, München 2000; Hans Jonas. Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander, Frankfurt am Main 2003. Kontakt Stadt Marbach am Neckar Marktstraße 23, 71672 Marbach am Neckar Tel.: 07144.102-0, Fax: -300 rathaus@schillerstadt-marbach.de www.schillerstadt-marbach.de Nachrichten und Berichte Aus Kultur und Wissenschaft Kooperation ITS übergibt digitale Kopien an sieben Partnerorganisationen Der International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen hat Ende Oktober 2013 weitere Kopien von Datenbeständen an sieben Partnerorganisationen in Israel, den USA, Polen, Frankreich, Luxemburg, Belgien und Großbritannien überreicht. Es handelt sich um 450.000 von insgesamt drei Millionen Korrespondenzfällen. Die Unterlagen enthalten einerseits Anfragen, Briefe und Zeitzeugenberichte von Menschen, die selbst Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung geworden sind, oder von deren Familienangehörigen. Andererseits werden hier auch die Anfragen von Behörden zwecks Entschädigungsfragen verwahrt. Mit rund 60 Millionen Blatt Papier handelt es sich bei der Korrespondenz um das umfangreichste Teilprojekt im Rahmen der Digitalisierung. Insgesamt wurden nun 750.000 Akten dieses Bestandes digital abgegeben. Die Menschen wandten sich an den ITS, um noch lebende Familienangehörige zu suchen, eine Auskunft über vorhandene Dokumente zu erhalten sowie Nachweise für Entschädigungsoder Rentenanträge anzufragen. Auf Beschluss des Internationalen Ausschusses, der die Richtlinien für die Tätigkeit des ITS festlegt, kann jeder der elf Mitgliedsstaaten eine digitale Kopie der in Bad Arolsen vorhandenen Unterlagen anfordern. Zu den Empfängern der Datenlieferung zählen Yad Vashem in Jerusalem, das US Holocaust Memorial Museum in Washington, das Nationale Institut des Gedenkens in Warschau, das Dokumentations- und Forschungszentrum über den Widerstand in Luxemburg, das belgische und französische Staatsarchiv sowie die Wiener Library in London. Selbstverständlich sind die Unterlagen auch in der Datenbank des ITS in Bad Arolsen recherchierbar. Der International Tracing Service in Bad Arolsen ist ein Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung. Das Archiv umfasst etwa 30 Millionen Dokumente zur Inhaftierung in Konzentrationslagern, Ghettos und Gestapo-Gefängnissen, über die Zwangsarbeit und zu Displaced Persons, die im UNESCO-Register »Memory of the World« aufgenommen wurden. Die Richtlinien für die Arbeit des ITS legt ein internationaler Ausschuss aus elf Mitgliedsstaaten fest (Belgien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Israel, Italien, Luxemburg, Niederlande, Polen, Großbritannien, USA). Institutioneller Partner ist das Bundesarchiv. Kontakt Internationaler Suchdienst (ITS) Große Allee 5–9, 34454 Bad Arolsen Tel.: 05691.629-0, Fax: -501 e-mail@its-arolsen.org www.its-arolsen.org Aus Kultur und Wissenschaft Gedenken an die Auschwitz-Prozesse Tafel im Frankfurter Römer enthüllt »›Bewältigung unserer Vergangenheit‹ heißt Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt über alles, was hier inhuman war, woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt, wo immer sie gelehrt und verwirklicht wurden und werden.« Dieses Zitat von Fritz Bauer (1903– 1968) prangt seit dem 12. Dezember 2013 auf einer Gedenktafel im Plenarsaal der Stadtverordnetenversammlung im Frankfurter Römer. In Erinnerung an die Auschwitzprozesse wurde die im Mai 2013 von Einsicht 11 Frühjahr 2014 den Koalitionsfraktionen von CDU und GRÜNEN beantragte Gedenktafel während der Sitzung der Stadtverordneten enthüllt. Der Text der Gedenktafel fährt fort: »Im Dezember 1963, 18 Jahre nach Kriegsende, wurde im Plenarsaal des Römers der Auschwitz-Prozess gegen 22 Angeklagte eröffnet. Das Verfahren endete im August 1965 mit der Urteilsverkündung im Bürgerhaus Gallus. Bis zur Schließung der Beweisaufnahme vernahm das Schwurgericht 360 Zeugen, von denen 211 Überlebende des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz waren. Mit dem Auschwitz-Prozess begann in der Bundesrepublik Deutschland eine intensive Phase öffentlicher Aufarbeitung der Vergangenheit. Bis dahin war vielen Deutschen noch fremd, dass der industriell organisierte Massenmord an Zivilisten nicht die Nebenfolge eines grausamen Krieges war, sondern ein unvergleichliches Menschheitsverbrechen darstellt.« »Mit diesem Strafprozess gegen ehemalige NS-Verbrecher begann die Aufarbeitung der Gräueltaten im Vernichtungslager Auschwitz, die fast 20 Jahre lang verdrängt, von vielen sogar verleugnet worden waren«, betonte die Stadtverordnetenvorsteherin Bernadette Weyland im Anschluss an eine Schweigeminute der Abgeordneten und führte weiter aus: »Energisch vorangetrieben und gegen zahlreiche Widerstände in der deutschen Justiz durchgesetzt hatte dieses Schwurgerichtsverfahren der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, selbst Gefangener des Hitler-Regimes. Ohne ihn hätte es den Frankfurter Auschwitz-Prozess nicht gegeben. Die Frankfurter Prozesse erzeugten eine erste breite Auseinandersetzung in der deutschen Bevölkerung über den Holocaust. Das unvorstellbare Grauen von Auschwitz wurde mit den Prozessen zu einem nicht mehr zu verleugnenden Gegenstand der deutschen Zeitgeschichte.« Kontakt Presse- und Informationsamt Römerberg 32, 60311 Frankfurt am Main Tel.: 069.212 40000 presse.info@stadt-frankfurt.de Aus Kultur und Wissenschaft Fritz-Bauer-Studienpreis für Menschenrechte und juristische Zeitgeschichte Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Bundesministers der Justiz und für Verbraucherschutz, Heiko Maas, war die Auslobung eines FritzBauer-Studienpreises für Menschenrechte und juristische Zeitgeschichte. In seiner Festrede zum Neujahrsempfang des Ministeriums am 29. Januar 2014 in Berlin sagte er: »Fritz Bauer war etwas Besonderes unter den deutschen Justiz-Juristen. Er hat sich für die Demokratie eingesetzt, als das viel zu wenige taten. Er hat gegen große Widerstände der Justiz das Unrecht der Nazis vor Gericht gebracht. Und er hat sich stets für ein modernes und humanes Strafrecht engagiert. Fritz Bauer hat seinen Beruf als Richter und Staatsanwalt immer als Verpflichtung verstanden, als Verpflichtung, sich für die Demokratie und die Menschenrechte stark zu machen. Um die Erinnerung und das Erbe von Fritz Bauer in der deutschen Justiz zu pflegen, habe ich entschieden, dass unser Ministerium künftig einen Preis ausschreibt. Er wird nach Fritz Bauer benannt, und ich möchte damit junge Juristinnen und Juristen auszeichnen, die sich in einer hervorragenden wissenschaftlichen Arbeit mit den Lebensthemen von Fritz Bauer beschäftigt haben. Mit dem Fritz-Bauer-Studienpreis für Menschenrechte und juristische Zeitgeschichte wollen wir zugleich deutlich machen: Dieser mutige Jurist war zu seinen Lebzeiten verfolgt, verhasst und umstritten; heute aber ist das anders: Heute ist Fritz Bauer ein Vorbild für die Justiz, und in seiner Tradition wollen wir stehen.« Kontakt Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Mohrenstraße 37, 10117 Berlin Tel.: 030.18580-0, Fax: -9525 poststelle@bmjv.bund.de www.bmj.de 117 Ausstellungsangebote Wanderausstellungen des Fritz Bauer Instituts Die Ausstellung wandert seit dem Jahr 2002 sehr erfolgreich durch Hessen. Da für jeden Präsentationsort neue regionale Vitrinen entstehen, die sich mit der Geschichte des legalisierten Raubes am Ausstellungsort beschäftigen, »wächst« die Ausstellung. Waren es bei der Erstpräsentation 15 Vitrinen, die die Geschichten der Opfer erzählten, sind es heute weit über sechzig. Sie entstehen auf der Basis weiterer Recherchen und an manchen Orten in Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern. Ein Leben aufs neu Das Robinson-Album. DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948 Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks, mit Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst Die Ausstellung gibt einen Einblick in die Geschichte des legalisierten Raubes, in die Biografien von Tätern und Opfern. Die Tafeln im Hauptteil der Ausstellung entwickeln die Geschichte der Tätergesellschaft, die mit einem Rückblick auf die Zeit vor 1933 beginnt: Die Forderung nach einer Enteignung der Juden gab es nicht erst seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Sie konnten vielmehr auf weitverbreitete antisemitische Klischees zurückgreifen, insbesondere auf das Bild vom »mächtigen und reichen Juden«, der sein Vermögen mit List und zum Schaden des deutschen Volkes erworben habe. Vor diesem Hintergrund zeichnet das zweite Kapitel die Stufen der Ausplünderung und die Rolle der Finanzbehörden in den Jahren von 1933 bis 1941 nach. Im nachgebauten Zimmer eines Finanzbeamten können die Ausstellungsbesucher in Aktenordnern blättern: Sie enthalten unter anderem Faksimiles jener Vermögenslisten, die Juden vor der Deportation ausfüllen mussten, um den Finanzbehörden die »Verwaltung und Verwertung« ihrer zurückgelassenen Habseligkeiten zu erleichtern. Weitere Tafeln beschäftigen sich mit den kooperierenden Interessengruppen in Politik und Wirtschaft, aber auch mit dem »deutschen Volksgenossen« als Profiteur. Schließlich wird nach der sogenannten Wiedergutmachung gefragt: Wie ging die Rückerstattung vor sich, wie erfolgreich konnte sie angesichts der gesetzlichen Ausgangslage und der weitgehend ablehnenden Haltung der Bevölkerungsmehrheit sein? 118 Ausstellungsangebote Ausstellungsexponate Die Ausstellung besteht aus circa 60 Rahmen (Format: 100 x 70 cm), 15 Vitrinen, 6 Einspielstationen, 2 Installationen und Lesemappen zu ausgesuchten Einzelfällen. Für jede Ausstellungsstation besteht die Möglichkeit, interessante Fälle aus der Region in das Konzept zu übernehmen. www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html Legalisierter Raub Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945 16. Januar bis 1. Juni 2014: NS-Dokumentationszentrum Rheinland-Pfalz, Gedenkstätte KZ Osthofen, Ziegelhüttenweg 38, 67574 Osthofen, www.gedenkstaette-osthofen-rlp.de (Ausstellung mit ergänztem regionalen Schwerpunkt Rheinhessen) September bis November 2014: Kurhaus Bad Vilbel, Niddastraße 1, 61118 Bad Vilbel 1. Halbjahr 2015: Rüsselsheim/Flörsheim am Main 2. Halbjahr 2015: Michelstadt › Katharina Stengel (Hrsg.): Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 15, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2007, 336 S., € 24,90 › DER GROSSE RAUB. WIE IN HESSEN DIE JUDEN AUSGEPLÜNDERT WURDEN. Ein Film von Henning Burk und Dietrich Wagner, Hessischer Rundfunk, 2002. DVD, Laufzeit: 45 Min., € 10,– Publikationen zur Ausstellung › Legalisierter Raub – Katalog zur Ausstellung. Reihe selecta der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Heft 8, 3. Aufl. 2008, 72 S., € 5,– › Legalisierter Raub – Materialmappe zur Vorund Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs. Hrsg. von der Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung zu Lich und dem Fritz Bauer Institut. Gießen: Book-xpress-Verlag der Druckwerkstatt Fernwald, 2002, € 8,50. › Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 10, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2004, 748 S., € 44,90 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fanden jüdische Überlebende der NS-Terrorherrschaft im Nachkriegsdeutschland Zuflucht in sogenannten Displaced Persons (DP) Camps. Die Fotoausstellung porträtiert das tägliche Leben und die Arbeit der Selbstverwaltung in dem in der amerikanischen Besatungszone gelegenen DP-Lager Frankfurt-Zeisheim. Der aus Polen stammende Ephraim Robinson hatte seine ganze Familie im Holocaust verloren. Als DP kam er 1945 nach Frankfurt-Zeilsheim. Seinen Lebensunterhalt im Lager verdiente er sich als freiberuflicher Fotograf. In eindrücklichen Bildern hielt er fest, wie die geschundenen Menschen ihre Belange in die eigenen Hände nahmen, ihren Alltag gestalteten, »ein Leben aufs neu« wagten. Als Ephraim Robinson 1958 in den USA verstab – in die er zehn Jahre zuvor eingewandert war –, hinterließ er nicht nur viele hunderte Aufnahmen, sondern auch ein Album, das die Einsicht 11 Frühjahr 2014 Geschichte der jüdischen DPs in exemplarischer Weise erzählt. Über das vertraut scheinende Medium des Albums führt die Ausstellung in ein den meisten Menschen unbekanntes und von vielen verdrängtes Kapitel der deutschen und jüdischen Nachkriegsgeschichte ein: Fotografien von Familienfeiern und Schulunterricht, Arbeit in den Werkstätten, Sport und Feste, Zeitungen und Theater, zionistische Vorbereitungen auf ein Leben in Palästina – Manifestationen eines »lebn afs nay«, das den Schrecken nicht vergessen macht. »Ein Leben aufs neu« ist ein gemeinsames Projekt des Fritz Bauer Instituts und des ehemaligen Jüdischen Museums (1989–98) in der Maximilianstraße in München. Ausstellungsexponate › Albumseiten mit Texten (64 Rahmen, 40 x 49 cm) › Porträtfotos (34 Rahmen, 40 x 49 cm) › Ergänzende Bilder (15 Rahmen, 40 x 49 cm) › Erklärungstafeln (13 Rahmen, 24 x 33 cm) › Titel und Quellenangaben (7 Rahmen, 24 x 33 cm) www.fritz-bauer-institut.de/ein-leben-aufs-neu.html men die Funktion der einführenden Texte übernehmen. Gezeigt werden Reproduktionen der Fotografien, die von der SS anlässlich des Besuchs von Heinrich Himmler in Auschwitz am 17. und 18. Juli 1942 angefertigt wurden. Die Bildebene erzählt also durchgängig die Tätergeschichte, der Blick auf die Fabrik und damit die Technik stehen im Vordergrund. Die Textebene hingegen wird durch die Erzählung der Überlebenden bestimmt. Die Ausstellung ist als Montage im filmischen Sinn angelegt. Der Betrachter sucht sich die Erzählung selbst aus den Einzelstücken zusammen. Um diese Suche zu unterstützen, werden in Heftern Quellentexte angeboten, die eine vertiefende Lektüre ermöglichen. Dazu bietet das Fritz Bauer Institut einen Reader zur Vorbereitung auf die Ausstellung an. Ausstellungsrealisation Konzept:Gottfried Kößler; Recherche: Werner Renz; Gestaltung: Werner Lott. Unterstützt von der Conference on Jewish Material Claims Against Germany, New York. Ausstellungsexponate 57 Rahmen (Format: 42 x 42 cm) und ein Lageplan des Lagers Buna/Monowitz und der Stadt Oświęcim. Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus www.fritz-bauer-institut.de/ig-farben.html Ausstellungsausleihe Das Konzentrationslager der IG Farbenindustrie AG in Auschwitz ist bis heute ein Symbol für die Kooperation zwischen Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus. Die komplexe Geschichte dieser Kooperation, ihre Widersprüche, ihre Entwicklung und ihre Wirkung auf die Nachkriegszeit (die Prozesse und der bis in die Gegenwart währende Streit um die IG Farben in Liquidation), wird aus unterschiedlichen Perspektiven dokumentiert. Strukturiert wird die Ausstellung durch Zitate aus der Literatur der Überlebenden, die zu den einzelnen The- Unsere Wanderausstellungen können gegen Gebühr ausgeliehen werden. Das Institut berät Sie gerne bei der Organisation des Begleitprogramms und bei der Suche nach geeigneten Referenten. Weitere Informationen und ein Ausstellungsangebot senden wir Ihnen auf Anfrage gerne zu. Kontakt Fritz Bauer Institut, Manuela Ritzheim Tel.: 069.798 322-33, Fax: -41 m.ritzheim@fritz-bauer-institut.de 119 Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust Impressum Kontakt: Fritz Bauer Institut Grüneburgplatz 1 D-60323 Frankfurt am Main Telefon: +49 (0)69.798 322-40 Telefax: +49 (0)69.798 322-41 info@fritz-bauer-institut.de www.fritz-bauer-institut.de Einsicht 11 Bulletin des Fritz Bauer Instituts Frühjahrsausgabe, April 2014 6. Jahrgang ISSN 1868-4211 Titelabbildung: Ende Juni 1941 fielen in Iaşi mehr als 13.000 Juden einem von deutschen und rumänischen Soldaten verübten Pogrom zum Opfer. Tausende Menschen kamen in zwei »Evakuierungszügen« ums Leben, in die sie tagelang ohne Verpflegung gepfercht wurden. Foto: Scherl Bilderdienst / Quelle: Bundesarchiv QR-Code: Link zu allen bisher erschienenen Ausgaben von Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts als pdf-Dateien. [fritz-bauer-institut.de/ einsicht.html] 120 Impressum Bankverbindung: Frankfurter Sparkasse BLZ: 500 502 01, Konto: 321 901 SWIFT/BIC: HELADEF1822 IBAN: DE91 5005 0201 0000 3219 01 Steuernummer: 45 250 8145 5 - K19 Finanzamt Frankfurt am Main III Direktor: Raphael Gross (V.i.S.d.P.) Redaktion: Werner Konitzer, Werner Lott, Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger, Werner Renz Anzeigenredaktion: Dorothee Becker Lektorat: Gerd Fischer, Renate Feuerstein Gestaltung/Layout: Werner Lott Herstellung: Vereinte Druckwerke Frankfurt am Main Erscheinungsweise: zweimal jährlich (April/Oktober) Auflage: 5.500 Manuskriptangebote: Textangebote zur Veröffentlichung in Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts bitte an die Redaktion. Die Annahme von Beiträgen erfolgt auf der Basis einer Begutachtung durch die Redaktion. Für unverlangt eingereichte Manuskripte, Fotos und Dokumente übernimmt das Fritz Bauer Institut keine Haftung. Copyright: © Fritz Bauer Institut Stiftung bürgerlichen Rechts Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Einsicht erscheint mit Unterstützung des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Foto: Schindler-Foto-Report Fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist am 13. Januar 1995 in Frankfurt am Main die Stiftung »Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust« gegründet worden – ein Ort der Ausein-andersetzung unserer Gesellschaft mit der Geschichte des Holocaust und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers, des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalts und Initiators des Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main. Aufgaben des Fördervereins Der Förderverein ist im Januar 1993 in Frankfurt am Main gegründet worden. Er unterstützt die wissenschaftliche, pädagogische und dokumentarische Arbeit des Fritz Bauer Instituts und hat durch das ideelle und finanzielle Engagement seiner Mitglieder und zahlreicher Spender wesentlich zur Gründung der Stiftung beigetragen. Der Verein sammelt Spenden für die laufende Arbeit des Instituts und die Erweiterung des Stiftungsvermögens. Er vermittelt einer breiten Öffentlichkeit die Erkenntnisse, die das Institut im universitären Raum mit hohen wissenschaftlichen Standards erarbeitet hat. Er schafft neue Kontakte und stößt gesellschaftliche Debatten an. Für die Zukunft gilt es – gerade auch bei zunehmend knapper werdenden öffentlichen Mitteln –, die Projekte und den Ausbau des Fritz Bauer Instituts weiter zu fördern, seinen Bestand langfristig zu sichern und seine Unabhängigkeit zu wahren. Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust Seit 1996 erscheint das vom Fritz Bauer Institut herausgegebene Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust im Campus Verlag. In ihm werden herausragende Forschungsergebnisse, Reden und Kongressbeiträge zur Geschichte und Wirkungsgeschichte des Holocaust versammelt, welche die internationale Diskussion über Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Massenverbrechen reflektieren und bereichern sollen. Mitglieder des Fördervereins können das Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts zum Vorzugspreis im Abonnement beziehen. Vorstand des Fördervereins Jutta Ebeling (Vorsitzende), Brigitte Tilmann (stellvertretende Vorsitzende), Gundi Mohr (Schatzmeisterin), Prof. Dr. Eike Hennig (Schriftführer), Beate Bermanseder, Dr. Rachel Heuberger, Herbert Mai, Klaus Schilling, David Schnell (Beisitzer/innen) Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust Der Förderverein ist eine tragende Säule des Fritz Bauer Instituts. Ein mitgliederstarker Förderverein setzt ein deutliches Signal bürgerschaftlichen Engagements, gewinnt an politischem Gewicht im Stiftungsrat und kann die Interessen des Instituts wirkungsvoll vertreten. Zu den zahlreichen Mitgliedern aus dem In- und Ausland gehören engagierte Bürgerinnen und Bürger, bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, aber auch Verbände, Vereine, Institutionen und Unternehmen sowie zahlreiche Landkreise, Städte und Gemeinden. Werden Sie Mitglied! Jährlicher Mindestbeitrag: € 60,– / ermäßigt: € 30,– Unterstützen Sie unsere Arbeit durch eine Spende! Frankfurter Sparkasse, SWIFT/BIC: HELADEF1822 IBAN: DE43 5005 0201 0000 3194 67 Werben Sie neue Mitglieder! Informieren Sie Ihre Bekannten, Freunde und Kollegen über die Möglichkeit, sich im Förderverein zu engagieren. Gerne senden wir Ihnen weitere Unterlagen mit Informationsmaterial zur Fördermitgliedschaft und zur Arbeit des Fritz Bauer Instituts zu. Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. Grüneburgplatz 1 60323 Frankfurt am Main Telefon: +49 (0)69.798 322-39 Telefax: +49 (0)69.798 322-41 verein@fritz-bauer-institut.de www.fritz-bauer-institut.de Günter Morsch Tanja von Fransecky Jeanette Erazo Heufelder Sachsenhausen Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden Von Berlin nach Buenos Aires Das „Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt“ Gründung und Ausbau ISBN: 978-3-86331-170-4 292 Seiten · 22,– € ISBN: 978-3-86331-168-1 400 Seiten · 24,– € ISBN: 978-3-86331-186-5 ca. 240 Seiten · 22,– € ISBN: 978-3-86331-121-6 376 Seiten · 22,– € Im Sommer 1936 mussten Häftlinge unter großen Opfern das KZ Sachsenhausen errichten. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler nannte es ein „vollkommen neues, jederzeit erweiterungsfähiges, modernes und neuzeitliches Konzentrationslager“. Der erste große KZ-Komplex war Modell und SS-Ausbildungsstätte zugleich. Die mit 100 Fotos, Dokumenten und Plänen illustrierte Publikation schildert die Entstehungsphase des Konzentrationslagers vor den Toren Berlins. Hunderte jüdische Männer, Frauen und Kinder wagten den Sprung aus den Zügen, die sie in die Vernichtungslager bringen sollten. Allein in Frankreich, Belgien und den Niederlanden kam es zu etwa 750 Fluchten. Die Abwägung für oder gegen den lebensgefährlichen Sprung warf viele Fragen auf. Die Flucht konnte das eigene Leben retten, bedrohte aber die Zurückgebliebenen mit Sanktionen. Tanja von Fransecky hat für ihre Studie Überlebende interviewt und neue Quellen ausgewertet. 1939 gelang der 18-jährigen Ellen Marx mit ihrer jüdischen Pfadfindergruppe die Flucht von Berlin nach Argentinien. Sie gründete eine Familie und engagierte sich in der wachsenden jüdischen Gemeinde von Buenos Aires. Als ihre Tochter Nora nach dem Putsch der Militärs 1976 „verschwand“, begann für Ellen Marx eine lebenslange Suche. Jeanette Erazo Heufelder porträtiert die Gründerfigur der deutschjüdischen Gemeinde von Buenos Aires, die zu einer „Mutter der Plaza de Mayo“ wurde. Diskussionen um rassistische Sprache erregen immer wieder öffentliche Aufmerksamkeit. Dabei geht es um stereotype Begriffe und Redewendungen im Alltag, in Zeitungen oder in (Kinder-)Büchern. Die Studien untersuchen die wechselseitige Beeinflussung von Sprache, Macht und Rassismus und leuchten Hintergründe dieser Debatten aus. Beiträge namhafter Autoren befassen sich mit Rassismus und Wissenschaft, Kolonialismus, Eliten- und Alltagsrassismus. Stefanie Endlich · Sigrid Falkenstein · Helga Lieser · Ralf Sroka Anne Frank Zentrum (Hrsg.) Simon Malkès Christoph Kopke (Hrsg.) Nicht in die Schultüte gelegt Der Gerechte aus der Wehrmacht Schicksale jüdischer Kinder 1933–1942 in Berlin Ein Lernmaterial zu historischem Lernen und Kinderrechten Das Überleben der Familie Malkes in Wilna und die Suche nach Karl Plagge Herausgegeben von Beate Kosmala Angriffe auf die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen ISBN: 978-3-86331-166-7 120 Arbeitsblätter/Karten · 72 Seiten Broschüre · 19,90 € ISBN: 978-3-86331-185-8 ca. 140 Seiten · 16,– € Tiergartenstraße 4 Geschichte eines schwierigen Ortes ISBN: 978-3-86331-165-0 144 Seiten · 16,90 € Eine Villa in Berlin-Tiergarten war Sitz der Planungs- und Verwaltungsbehörde für die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde. Der „Aktion T4“ fielen 70 000 psychisch Erkrankte, geistig und körperlich Behinderte, „rassisch“ und sozial Unerwünschte zum Opfer. Eine Ausstellung verband die Geschichte der Villa mit dem Lebensweg von Anna Lehnkering, die in der Gaskammer umgebracht wurde. Das Buch bildet die Ausstellung ab und enthält Kurztexte in englischer und Leichter Sprache. Das Lernmaterial will Grundschulkindern die Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus altersgerecht nahebringen. Es enthält 69 biografische Karten, mit denen Schicksale damals verfolgter Kinder erarbeitet werden können. 32 Umgangsweisen-Karten bieten Hilfe beim selbstständigen Lernen. 20 Kinderrechtskarten regen Gespräche über das Heute an. Eine Handreichung für Pädagogen unterstützt bei der Unterrichtsgestaltung. Ellen Marx. Deutsch-jüdische Emigrantin und Mutter der Plaza de Mayo Als Karl Plagge, Major der Wehrmacht, in Wilna Zeuge von Verbrechen an Juden wird, will er nicht tatenlos bleiben. Es gelingt ihm, bei der SS die Einrichtung eines separaten Lagers für seine Zwangsarbeiter durchzusetzen. Damit schützt er die Insassen, darunter die Familie Malkes. Kurz vor der Räumung des Lagers warnt Plagge Simon Malkes und seinen Vater. Sie können sich verstecken und überleben. 2005 ehrt Yad Vashem Karl Plagge als „Gerechten unter den Völkern“. Metropol Verlag Gudrun Hentges · Kristina Nottbohm · Mechtild M. Jansen · Jamila Adamou (Hrsg.) Sprache – Macht – Rassismus Rechtsextremismus in Brandenburg und die Gedenkstätte Sachsenhausen Herausgegeben im Auftrag des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten ISBN: 978-3-86331-189-6 ca. 200 Seiten · 19,– € In den frühen 1990er-Jahren erschütterte eine beispiellose rechtsextreme Gewaltwelle die Bundesrepublik. In diesem Kontext steht auch der Anschlag auf die „jüdische Baracke“ der Gedenkstätte Sachsenhausen im September 1992. Die Beiträge des Bandes widmen sich verschiedenen Aspekten des Rechtsextremismus in Brandenburg. Ansbacher Straße 70 D–10777 Berlin Neuerscheinungen Frühjahr 2014 (Auswahl) Telefon (030) 23 00 46 23 Telefax (030) 2 65 05 18 Alle Titel unter: www.metropol-verlag.de veitl@metropol-verlag.de