Inga Jensen und Sebastian Schipper
Jenseits von schwäbischen Spätzlemanufakturen und kiezigen
Kneipen – polit-ökonomische Perspektiven auf Gentrifizierung
Seit einigen Jahren erleben viele deutsche
Großstädte eine neue Phase der Gentrifizierung und Verdrängung . Im medialen
Diskurs hält sich dabei bemerkenswert
hartnäckig die Vorstellung, wonach die
individuellen Entscheidungen von Studierenden, Künstler/inne/n sowie von
Menschen mit alternativen, subkulturellen Lebensstilen, sich an bestimmten
Wohnstandorten niederzulassen, letztlich
ursächlich für Aufwertungsprozesse und
Mietpreissteigerungen seien . Demnach
träfe die „kreative Klasse“ (Florida 2004)
die zentrale Schuld an der Verdrängung
einkommensschwächerer Gruppen, weil
sie bisher günstige Stadtteile entdecke und
für höhere Einkommensgruppen attraktiv
mache . Kolportiert wird dieses Bild von
diversen Akteuren – in vielen Gesprächen auf der Straße, in Kneipen oder bei
Stadtspaziergängen taucht ein solches Deutungsmuster immer wieder auf . Zum Teil
findet sich dieses Narrativ sogar bei linken
Gentrifizierungsgegner/inne/n, wenn sich
deren Protest etwa gegen den Zuzug und
die Attribute von Hipstern und anderen
vermeintlichen Pionier/inn/en der Aufwertung richtet .
Zurückzuführen sind derartige soziokulturalistische Erklärungsansätze von
Verdrängung auf das Modell des Doppelten Invasions-Sukzessions-Zyklus . Dieses
wurde Anfang der 1990er Jahre von den
Stadtsoziologen Jens Dangschat, Jürgen
Friedrich und Jörg Blasius im deutschen
Kontext prominent zur Erklärung von
Gentrifizierung eingeführt (Blasius/Dangschat 1990; Blasius 2004) und weiterentwickelt (Friedrichs/Blasius 2016) . Demnach
vollziehe sich der Wandel eines einkommensschwachen Stadtteils mit ursprünglich niedrigen Mieten zunächst durch
den Zuzug von sogenannten Pionier/inn/
en, zu denen laut Typologisierung hauptsächlich junge Studierende und Künstler/
innen ohne Kinder mit einem geringen
Haushaltseinkommen zählen . Durch die
Errichtung milieuspezifischer (kultureller)
Infrastrukturen und einen Imagewandel
trügen sie entscheidend zur Aufwertung
eines Stadtteils bei, wodurch letzterer auch
für Bevölkerungsgruppen mit einem höheren Haushaltseinkommen zunehmend
attraktiv würde . Die in einer zweiten
Phase zuziehenden Gentrifier verdrängten
infolge ihrer höheren Zahlungsfähigkeit
zuerst die alteingesessene Bevölkerung und
im Verlauf auch die Pioniere, bis ein nahezu
vollständiger Bevölkerungsaustausch und
damit die Gentrifizierung stattgefunden
habe .
Der medial-diskursive Erfolg einer solchen sozio-kulturalistischen Perspektive
auf städtische Restrukturierungsprozesse
und ihr Bekanntheitsgrad weit über akademische Kreise hinaus ist umso bemerkenswerter, da die Theorie nur einen sehr
begrenzten Erklärungsgehalt besitzt und
bislang empirisch kaum bestätigt werden
konnte (Blasius 2004: 26; Friedrichs/
PROKLA. Verlag Westfälisches Dampfboot, Heft 191, 48. Jg. 2018, Nr. 2, 317 – 324
318
Blasius 2016) . Bereits Mitte der 1990er
Jahre kam etwa der Gentrifizierungsforscher Jürgen Friedrichs zu dem Schluss,
dass „das Modell des doppelten InvasionsSukzessions-Zyklus nicht geeignet ist, den
Prozeß der Gentrification angemessen zu
modellieren“ (Friedrichs 1996: 17) . Von
den fehlenden empirischen Belegen abgesehen, gelingt es diesem Ansatz zudem
nicht, die aktuellen Entwicklungen am
Wohnungsmarkt bzw . die wiederkehrenden Wohnungskrisen begrifflich zu
fassen . Mietpreissteigerungen und Verdrängungsprozesse, die außerhalb kulturell
aufgewerteter Szeneviertel stattfinden und
mittlerweile häufig weite Teile des gesamten Stadtraums betreffen, können von dem
Modell schlicht nicht in den Blick genommen werden .
Die mediale Popularität einer sozio-kulturalistischen Perspektive auf Gentrifizierung lässt sich also nicht aus ihrer empirisch
fundierten Überzeugungskraft erklären .
Zentraler für ein Verständnis ihres diskursiven Erfolges scheint uns vielmehr die doppelte ideologische Leistung zu sein, die mit
dem Modell einhergeht . Demnach ist eine
sozio-kulturalistische Perspektive für viele
Akteure und insbesondere die Profiteure
der Gentrifizierung attraktiv, weil es mit
ihr erstens gelingt, über die vermeintlichen
Ursachen von Gentrifizierung zu reden,
ohne auf Eigentumsverhältnisse und soziale Ungleichheit, die Verwertungsinteressen von Immobilienbesitzer/inne/n oder
neoliberale wohnungspolitische Transformationsprozesse eingehen zu müssen . Der
Ansatz blendet vielmehr systematisch den
zentralen Einfluss von politischen und ökonomischen Entscheidungsträger/inne/n
auf räumliche Restrukturierungsprozesse
sowie die dahinterliegenden Machtverhältnisse aus . Die Metaphern von Invasion und
Sukzession aus dem Bereich der Ökologie
suggerieren zudem einen quasi natürlichen
Inga Jensen und Sebastian Schipper
Wandlungsprozess . Zweitens führt die Fokussierung auf die Wohnpräferenzen der
Pionier/inn/en und Gentrifier dazu, dass
Gentrifizierungsprozesse als Ausdruck
individueller Entscheidungen verstanden
werden, wodurch die Entwicklung politischer Handlungsmöglichkeiten und kollektiver Widerstandsstrategien erschwert
wird . Dies gilt etwa, wenn Studierende
oder Künstler/innen mit schlechtem Gewissen ihre Rolle in Aufwertungs- und
Verdrängungsprozessen reflektieren – sind
sie als Pioniere doch vermeintlich schuld
daran, die alteingesessene Bevölkerung verdrängt und die Stadtteile überhaupt erst
attraktiv für den Zuzug von Gentrifiern
gemacht zu haben . Auf diese Analyse und
der gegenseitigen Versicherung, sich seiner
kritischen Rolle als vermeintliche Vorhut
der Gentrifizierung bewusst zu sein, folgt
oft der Zustand passivierender Selbstgeißelung – denn welche Handlungsmöglichkeiten bleiben den vermeintlichen Pionieren
im Rahmen dieser Perspektive, außer
Selbstkritik zu üben und wegzuziehen?
Die lähmende Selbstbezichtigung macht
handlungsunfähig, da sie Gentrifizierung
als einen Prozess begreift, der auf subjektiver Ebene verhandelt wird und individuell
gelöst werden muss . Eine politische Antwort bleibt aus .
Im Kontrast dazu bietet die politökonomische Stadtforschung eine Reihe
von (bislang leider weniger prominenten)
Ansätzen zur Erklärung von Gentrifizierungsprozessen, die a) der Empirie und
insbesondere den aktuellen Entwicklungen am Wohnungsmarkt standhalten, b)
gesellschaftliche Macht- und Klassenverhältnisse benennen sowie c) politische
Handlungsmöglichkeiten gegen Verdrängung eröffnen . Da selbige im deutschsprachigen Raum jenseits der Stadt- und Gentrifizierungsforschung allerdings weniger
bekannt sind, wollen wir sie im Folgenden
Polit-ökonomische Perspektiven auf Gentrifizierung
knapp vorstellen und auf ihre umfassendere Erklärungskraft verweisen .
Wo kommt es zu Gentrifizierung?
Die rent gap-Theorie von
Neil Smith
Die Ursachen von Verdrängungsprozessen
auf kleinräumiger Ebene polit-ökonomisch
erklären zu wollen, ist Anspruch der
rent-gap-Theorie . Sie wurde ab Ende der
1970er Jahre von Neil Smith und anderen Stadtforscher/inne/n entwickelt und
fokussiert die Strukturen kapitalistischer
Bodenmärkte sowie die Investitionsstrategien von Akteuren am Immobilienmarkt
(Smith 1996) . Dementsprechend begreift
die Ertragslückentheorie Gentrifizierung
als ein „back to the city movement by
capital, not people”1 (Smith 1979: 538),
bei der die Bedürfnisse der Bewohner/
innen mit den Profitinteressen von Investoren in Konflikt geraten: „The rent
gap is fundamentally about class struggle,
about the structural violence visited upon
so many working class people in contexts
these days that are usually described as
‘regenerating’ or ‘revitalizing’ . Contrary
to contemporary journalistic portraits of
latte-drinking white ‘hipsters’ versus working class people of colour, the class struggle
in gentrification is between those at risk of
displacement and the agents of capital (the
financiers, the real estate brokers, policy
elites, developers) who produce and exploit
rent gaps” (Slater 2017: 19) . 2
1 Dementsprechend begreift die Ertragslückentheorie Gentrifizierung als „Bewegung des Kapitals, nicht der Menschen,
zurück in die Städte“ (Smith 1979: 538) .
2 „Zentraler Gegenstand der Ertragslückentheorie ist der Klassenkampf, also
die strukturelle Gewalt, die der Arbeiterklasse angetan wird und die gemeinhin als
319
Konzeptionell knüpft die rent-gapTheorie der Gentrifizierung am marxschen
Begriff der Grundrente an, womit in Tradition der Kritik der politischen Ökonomie
die Geldsumme benannt wird, „die der
Grundeigentümer jährlich aus der Verpachtung [oder Vermietung] eines Stücks
des Erdballs bezieht“ (Marx 1988 [1893],
MEW 25: 636) . Marx ging dabei davon aus,
dass sich in der Konkurrenz verschiedener
Kapitalien um die Nutzung des Bodens in
der Regel das Kapital durchsetzen wird,
welches in der Lage ist, die höchste Grundrente in Form von Miete oder Pacht zu
zahlen . Die innovative Leistung von Neil
Smith besteht nun darin, zur Erklärung
von Gentrifizierungsprozessen zwischen
der gegenwärtigen und der potenziellen
Grundrente zu unterscheiden . Während
sich die gegenwärtige Grundrente – ganz
im Sinne des Grundrentenbegriffs bei
Marx – aus den gegenwärtig tatsächlich
geleisteten Mietzahlungen speist, ist die
potenzielle Grundrente bestimmt durch
die antizipierte profitabelste Verwertung
eines Grundstückes, die sich ergäbe, wenn
sich zukünftig die gewinnträchtigste Nutzung durchsetzen würde – wenn sich also
beispielsweise günstige Miet- in gehobene
Eigentumswohnungen umwandeln ließen .
Regenerierung und Wiederbelebung [von
Stadtteilen] beschrieben wird . Entgegen
der populären, journalistischen Darstellung von Gentrifizierung als Konflikt zwischen Latte-macchiato trinkenden, weißen
Hipstern und lohnabhängigen, farbigen
Arbeiterhaushalten ist Gentrifizierung
tatsächlich als Klassenkampf zu begreifen zwischen jenen, die Gefahr laufen
verdrängt zu werden, und den Agenten
des Kapitals (die Kapitalgeber, Immobilienmakler, politischen Eliten, Projektentwickler), die Ertragslücken hervorbringen
und ausbeuten“ (Slater 2017: 19) .
320
Die potenzielle Grundrente beruht somit
auf den spekulativen Ertragserwartungen
von Investoren . Letztere wandeln sich, je
nachdem wie stark die Stadt ökonomisch
wächst oder wie sich das kleinräumige
Lagepotenzial und die Infrastrukturausstattung eines Stadtteiles verändern .
Gemäß der rent-gap-Theorie wird ein
Stadtviertel für Immobilieninvestoren
nun insbesondere dann für Aufwertungsstrategien interessant, wenn die Differenz
zwischen gegenwärtiger und maximal
möglicher Verwertung steigt . Nur wenn
die Ertragslücke groß genug geworden ist,
lohnt sich ökonomisch das durchaus riskante, weil letztlich spekulative Geschäft,
Wohnungsbestände aufzukaufen, gegebenenfalls zu modernisieren und letztendlich
teurer weiterzuvermarkten: „Only when
this gap emerges can gentrification be expected since if the present use succeeded in
capitalizing all or most of the ground rent,
little economic benefit could be derived
from redevelopment“ (Smith 1979: 545) .3
Die abstrakten Kategorien der rent-gapTheorie empirisch zu operationalisieren, ist
jedoch mit gewissen Herausforderungen
verbunden, da beispielsweise Mietzahlungen sowohl die Verzinsung des investierten Baukapitals als auch die Grundrente
für die Verwertung des Bodens umfassen
(Schipper 2013) . Allerdings verweisen eine
ansteigende Differenz zwischen Bestandsund Angebotsmieten (Holm/Schulz
2016) sowie überproportional steigende
Bodenpreise (Mösgen/Schipper 2017)
3 „Nur wenn sich diese Ertragslücke auftut,
können Gentrifizierungsprozesse erwartet werden, denn wenn die gegenwärtige
Nutzung bereits der maximal möglichen
Grundrente mehr oder weniger entspricht,
können aus Sanierung und Umnutzung
kaum Extraprofite abgeleitet werden“
(Smith 1979: 545) .
Inga Jensen und Sebastian Schipper
empirisch auf eine wachsende Ertragslücke und damit auf einen zunehmenden
Verdrängungsdruck .
Wann kommt es zu
Gentrifizierung? David Harvey und
die urbane politische Ökonomie
Ob und wann derartige Ertragslücken auf
kleinräumiger Ebene für Investoren attraktiv werden, hängt allerdings auch wesentlich von grundlegenden Dynamiken und
Krisen der globalen Kapitalakkumulation
ab . Investitionen in die gebaute Umwelt,
die potenziell Gentrifizierungsprozesse
antreiben, unterliegen zyklischen Schwankungen, da ihr Umfang stark von den
Entwicklungen der Profitraten in anderen
Wirtschaftsbereichen, sei es im produktiven Sektor oder auf den Finanzmärkten,
abhängig ist . Solange etwa Profite produktiven Kapitals oder Renditen aus Aktien,
Anleihen und anderen Finanzprodukten
höher sind als potenzielle Erträge aus
Wohnimmobilien, fließt vergleichsweise
wenig Kapital in den Immobiliensektor .
Folglich wäre zu einem solchen Zeitpunkt
der Gentrifizierungsdruck selbst in Vierteln mit großen Ertragslücken relativ gering . Umgekehrt gilt, dass Investitionen
in Wohnraum immer dann besonders attraktiv werden, wenn die Verzinsung des
in Wohnimmobilien investierten Kapitals
im Vergleich zu anderen Anlagesphären
mit ähnlicher Risikostruktur plötzlich
deutlich höher ausfällt . Dass etwa Gentrifizierungsprozesse in vielen Städten in
Deutschland insbesondere seit 2010 deutlich an Intensität gewonnen haben, liegt
demnach nicht primär daran, dass seitdem
besonders viele Künstler/innen, Hipster
oder Studierende in Stadtzentren gezogen
wären . Ein wesentlicher Grund für den
Beginn dieser neuen Phase der Gentrifizierung ist vielmehr darin zu suchen, dass seit
Polit-ökonomische Perspektiven auf Gentrifizierung
der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise
von 2008 und der anschließend verfolgten Niedrigzinspolitik der EZB vermehrt
anlagesuchendes Kapital in den vermeintlich sicheren Immobiliensektor fließt, da
dort nun höhere Renditen erzielt werden
können als mit alternativen Investmentstrategien, wie etwa dem Kauf von Staatsanleihen oder klassischen Anlageformen
wie Sparkonten oder Aktienfonds .
Aus einer marxistischen Perspektive
hat sich mit derartigen Phänomenen insbesondere der Geograph David Harvey
befasst . Anspruch seiner urbanen politischen Ökonomie ist dabei, die Rolle
von Urbanisierungsprozessen aus den
Bewegungsgesetzen der kapitalistischen
Produktionsweise zu erklären (Harvey
1982 [2006]) . Den theoretischen Ausgangspunkt bildet die Grundannahme,
dass es im primären Kapitalkreislauf der
Warenproduktion aufgrund kapitalismusimmanenter Widersprüche regelmäßig zu
einer Überakkumulation von Kapital im
Verhältnis zu profitablen Anlagemöglichkeiten kommt . Harveys innovativer Beitrag
zu bestehenden Ansätzen marxistischer
Krisentheorien besteht in der These, dass
sich eine krisenhafte Entwertung des überakkumulierten Kapitals zumindest temporär verhindern lässt, indem Kapital zeitlich
und räumlich in den sekundären Kapitalkreislauf der gebauten Umwelt verschoben
wird . Dieses sogenannte capital switching
erfolgt – wie oben bereits angedeutet –,
wenn die Profitraten im Immobiliensektor
im Verhältnis zur Rentabilität produktiven Kapitals an Attraktivität gewinnen .
Zentral ist bei diesem Prozess, dass Investitionen in räumlich fixierte Immobilien
und Infrastrukturen im sekundären Kapitalkreislauf zu einer temporären Stabilisierung der kapitalistischen Produktionsweise
beitragen, da auf diese Weise große Mengen
an Kapital absorbiert werden können und
321
das so investierte Kapital sich aufgrund
der langen Umschlagszeit nur langsam
amortisiert . Anders formuliert, dient die
gebaute Umwelt als „overflow tank into
which ‘surplus’ (i .e . overaccumulated) capital can be switched”4 (Aalbers 2016: 21) .
Dass Krisentendenzen der Überakkumulation zwar durch eine Verschiebung von
Kapital in den Immobiliensektor zeitlich
verzögert, aber nicht dauerhaft verhindert
werden können, äußert sich dahin gehend,
dass kapitalistische Wachstumszyklen häufig mit einem Immobilienboom und dem
Platzen einer Immobilienblase enden . Die
jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise –
ausgelöst an US-amerikanischen, irischen
und spanischen Immobilien- und Hypothekenmärkten – ist hierfür ein aktuelles
und anschauliches Beispiel .
Der wesentliche Beitrag von David
Harveys urbaner politischer Ökonomie zur
Erklärung von Gentrifizierungsprozessen
besteht darin, dass sich mit ihr verstehen
lässt, wie stadtteilbezogene Verdrängungsprozesse zeitlich mit makroökonomischen
Entwicklungen der Überakkumulation
und zyklischen Dynamiken der Kapitalzirkulation zwischen Boom und Krise
zusammenhängen . Außerdem wird so
deutlich, wie eng der Immobiliensektor
und die Grundstücksverwertung mit Kredit- und Finanzmärkten verwoben sind,
was letztlich immer wieder zu spekulativen Eigendynamiken, kreditfinanzierten
Immobilienblasen und verschärften Krisentendenzen führt .
4 Anders formuliert, dient die gebaute Umwelt als „Überlaufbecken, in welches das
‘überschüssige’ (d .h . überakkumulierte)
Kapital umgeleitet werden kann” (Aalbers
2016: 21) .
322
Wieso kommt es zu Gentrifizierung? Die Neoliberalisierung des
Städtischen
Ob sich jedoch ein immobilienwirtschaftlicher Verwertungsdruck auch tatsächlich
in reale Verdrängungsprozesse übersetzt,
ist keineswegs automatisch gegeben, sondern hängt von zahlreichen regulativen
Kontextbedingungen ab . Wachsende Ertragslücken zwischen gegenwärtigen und
potenziellen Grundrenten führen auch in
Zeiten eines Immobilienbooms nur dann
zu Verdrängung, wenn die profitabelste
Bewirtschaftung von Wohnimmobilien
nicht durch staatliche Regularien beschränkt wird und eine kapitalistisch orientierte Eigentumsstruktur vorherrscht .
Mietrechtliche Vorgaben, stadtplanerische
Entscheidungen sowie die Regulation von
Finanzmärkten bestimmen somit maßgeblich darüber, in welchem Ausmaß es
zu Verdrängungsprozessen kommen kann .
Gentrifizierung ist daher kein Naturgesetz,
sondern eine sozialräumliche Restrukturierung der urbanen Klassenstruktur, bei
der politische Akteure über erhebliche
Handlungsspielräume und Einflussmöglichkeiten verfügen .
Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich in vielen westlichen
Industrieländern wohnungspolitische
Regime etablieren, die auf einen Klassenkompromiss zwischen Mieter/inne/n und
Eigentümer/inne/n ausgerichtet waren .
Immobilieneigentum wurde demnach
zwar nicht vergesellschaftet und auch die
Profitabilität privater Bauträger nur selten
grundlegend eingeschränkt . Allerdings
ermöglichte die schrittweise Einführung
von Mieterschutzrechten, die Bereitstellung von umfangreichen finanziellen
Ressourcen zur sozialen Wohnbauförderung, die Stärkung öffentlicher Wohnungsunternehmen und der Ausbau eines
Inga Jensen und Sebastian Schipper
gemeinnützigen Wohnungssektors, dass in
vielen Ländern ein marktfernes Segment
der Wohnraumversorgung in nennenswertem Umfang entstehen konnte (Harloe
1995) . In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies
etwa für die Bundesrepublik, dass von den
zwischen 1949 bis 1989 errichteten ca . 19
Millionen Wohnungen knapp 4,8 Millionen von gemeinnützigen Wohnungsunternehmen fertiggestellt wurden (Holm u .a .
2015: 7) . Deren Mieten waren gesetzlich
auf die Kostenmiete begrenzt und durften
folglich nicht ans Marktniveau angepasst
werden . Gemeinnützige Unternehmen
kontrollierten in westdeutschen Städten
mit über 100 .000 Einwohner/inne/n im
Durchschnitt knapp über 30 Prozent des
Gesamtbestandes, wodurch jede dritte
Wohneinheit preisgebunden war (Kuhnert/Leps 2017: 54) . Zudem gab es in
Deutschland (Stand 1987) ca . 4 Millionen
belegungsgebundene Sozialwohnungen . In
Hinblick auf Fragen der Gentrifizierung
kann man daraus schlussfolgern, dass unter
damaligen Bedingungen Verdrängungsprozesse zwar nicht vollständig verhindert werden konnten, allerdings existierte
ein umfangreiches marktfernes Segment
an Wohnungen, welches zusammengenommen in Großstädten ca . 40 Prozent
des Gesamtangebots umfasste . Dadurch
waren einkommensschwächere Haushalte
auch in potenziellen Gentrifizierungsgebieten zumindest partiell vor Verdrängung
geschützt .
Angesichts einer tiefgreifenden Neoliberalisierung der Wohnungspolitik auf
allen staatlichen Ebenen ist das nicht
marktförmig organisierte Segment der
Wohnraumversorgung jedoch in den
letzten drei Jahrzehnten drastisch auf
deutlich unter 10 Prozent geschrumpft .
Beispielsweise hat die Abschaffung der
Wohnungsgemeinnützigkeit durch die
CDU/FDP Regierung 1989 mit einem
Polit-ökonomische Perspektiven auf Gentrifizierung
Schlag zu einem Verlust von Millionen
preisgebundener Mietwohnungen geführt .
Durch den schleichenden Rückzug aus
der Wohnbauförderung und dem Wegfall
von Sozialbindungen seit Ende der 1980er
Jahre ist der Bestand an Sozialwohnungen
mittlerweile auf nur noch 1,3 Millionen
(2017) gesunken . Darüber hinaus haben
Kommunen unter dem Druck von Austeritätspolitiken, aber auch aus marktliberaler
Überzeugung heraus, ihre Wohnungsbestände und Liegenschaften in großem Umfang privatisiert oder gewinnorientiert restrukturiert . Ferner hat die Liberalisierung
der Finanzmärkte ab den 1990er Jahren
dazu geführt, dass börsennotierte Wohnungsunternehmen entstehen konnten,
die seitdem systematisch ihre Bestände und
damit ihre Marktmacht ausgeweitet haben
(Unger 2016) . Aus dem gleichen Grund ist
es ebenso für andere Finanzmarktakteure
mittlerweile möglich, Kapital von institutionellen Anlegern und Kleinsparer/innen
einzusammeln und in den Immobilienmarkt zu lenken (Heeg 2018) .
Forschungsarbeiten, die ihren Blick
auf derartige Prozesse der Neoliberalisierung richten, können also aufzeigen,
wie politische Entscheidungen zu einer
grundlegenden Transformation der Eigentümerstrukturen am Wohnungsmarkt
geführt und dadurch Gentrifizierungsprozesse erst ermöglicht haben . Heutzutage
wird die städtische Wohnraumversorgung
immer stärker von den Anlagestrategien
institutioneller Investoren und von den
Geschäftspraktiken gewinnmaximierend
ausgerichteter Wohnungsunternehmen bestimmt . Erst die politisch vorangetriebene
Neoliberalisierung hat somit dazu geführt,
dass Kapital gemäß der urbanen politischen
Ökonomie von David Harvey ungehindert
in den Wohnimmobiliensektor fließen und
dort gemäß der rent-gap-Theorie von Neil
Smith Ertragslücken zur Aufwertung und
323
Verdrängung ausnutzen kann . Zum Verständnis von Gentrifizierungsprozessen und
zur Verhinderung derartiger Verdrängung
ist dies viel entscheidender und wesentlicher als eine Kritik, die auf neue HipsterCafés, schwäbische Spätzlemanufakturen,
alternative Kulturorte und den Zuzug von
vermeintlichen Pionieren abzielt .
Fazit
Mithilfe der hier skizzierten, polit-ökonomischen Theorien der Gentrifizierung
gelingt es, aktuelle Prozesse auf dem Wohnungs- und Immobilienmarkt zu erklären .
In Abgrenzung zu den vorgestellten soziokulturalistischen Perspektiven halten sie
der Empirie stand und bieten angesichts
der zyklischen und krisenhaften Entwicklungen am Immobilienmarkt schlüssige
Erklärungsansätze . Zudem benennen sie
gesellschaftliche hervorgebrachte Strukturen, Machtverhältnisse sowie zentrale
Akteure wie Investoren, politische Entscheidungsträger/innen und Interessenskoalitionen zwischen beiden, was selbige
angreifbar macht . Dadurch wird es möglich, politische Handlungsspielräume auszuloten und Handlungsstrategien jenseits
der individualisierten und passivierenden
Selbstgeißelung aufzuzeigen, denn Gentrifizierung und Verdrängungsprozesse
sind kein deterministisches Naturgesetz,
sondern durch politische, juristische und
stadtplanerische Instrumente regulier- und
verhinderbar . Potenzielle Ansatzpunkte
hierfür wären eine sozial gerechte Stadtplanung, eine Regulierung von Finanzund Immobilienmärkten, eine Stärkung
nicht-profitorientierter Wohnungsunternehmen und des sozialen Wohnungsbaus,
eine grundlegende Reform des Mietrechts
und die Etablierung einer effektiven Verwertungsbremse, eine aktive kommunale
Boden- und Liegenschaftspolitik sowie
324
die Wiedereinführung der (neuen) Wohnungsgemeinnützigkeit (Schipper 2018) .
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