Soziologische Revue 2020; 43(2): 168–184
OLDENBOURG
Sammelbesprechung
Zeitgenössische Proteste im Spiegel der
gesellschaftstheoretisch motivierten
Protest- und Bewegungsforschung
Berch Berberoglu (Ed.), The Palgrave Handbook of Social Movements, Revolution,
and Social Transformation. Cham: Palgrave Macmillan 2019, 479 S., gb., 155,99 €
Jana Bosse, Die Gesellschaft verändern. Zur Strategieentwicklung in Basisgruppen der deutschen Umweltbewegung. Bielefeld: transcript 2019, 414 S., kt.,
49,99 €
Priska Daphi / Nicole Deitelhoff / Dieter Rucht / Simon Teune (Hrsg.), Protest in
Bewegung? Zum Wandel von Bedingungen, Formen und Effekten politischen Protests. Leviathan Sonderband 33. Baden-Baden: Nomos 2017, 328 S., br., 69,00 €
Joseph Ibrahim, Bourdieu and Social Movements. Ideological Struggles in the British Anti-Capitalist Movement. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2015, 164 S., gb.,
83,19 €
Eva Kalny, Soziale Bewegungen in Guatemala. Eine kritische Theoriediskussion.
Frankfurt a. M./New York: Campus 2017, 354 S., kt., 45,00 €
Nils C. Kumkar, The Tea Party, Occupy Wall Street, and the Great Recession. Cham:
Palgrave Macmillan 2018, 279 S., gb., 149,79 €
Jochen Roose / Hella Dietz (Eds.), Social Theory and Social Movements. Mutual
Inspirations. Wiesbaden: Springer VS 2016, 173 S., kt., 58,84 €
Ute Samland / Anna Henkel (Hrsg.), 10 Minuten Soziologie. Bewegung. Bielefeld:
transcript 2019, 174 S., kt., 16,99 €
Henriette Schade, Soziale Bewegungen in der Mediengesellschaft. Kommunikation als Schlüsselkonzept einer Rahmentheorie sozialer Bewegungen. Wiesbaden:
Springer VS 2018, 343 S., kt., 49,99 €
Luca Tratschin, Protest und Selbstbeschreibung. Selbstbezüglichkeit und Umweltverhältnisse sozialer Bewegungen. Bielefeld: transcript 2016, 332 S., kt.,
39,99 €
Lisa Vollmer, Mieter_innenbewegungen in Berlin und New York. Die Formierung
politischer Kollektivität. Wiesbaden: Springer VS 2019, 317 S., kt., 44,99 €
Besprochen von Dr. Johanna Leinius: Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenprogramm
„Ökologien des sozialen Zusammenhalts“, Soziologische Theorie, Universität Kassel,
E ˗ Mail: leinius@uni-kassel.de
https://doi.org/10.1515/srsr-2020-0025
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Zeitgenössische Proteste
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Schlüsselwörter: Soziale Bewegungsforschung, Protest, sozio-ökonomische Krise, kollektives Handeln
Die Protest- und Bewegungsforschung beschäftigt sich mit den Ursachen, Dynamiken und Effekten von Protest und Bewegung in der Gesellschaft. Soweit, so
unstrittig. Ihr Erkenntnisinteresse, so ein oft formulierter Kritikpunkt, entspräche
jedoch häufig nicht dem gesellschaftstheoretischen Potential dessen, was soziale
Bewegungen durch ihre Emergenz, ihre Praktiken und Artikulationen sicht- und
erforschbar machen. So auch Thomas Kern und Mira Freiermuth (2017) in einer
früheren Sammelbesprechung von Publikationen der Protest- und Bewegungsforschung.
Das Repertoire der Protest- und Bewegungsforschung ist mittlerweile, so das
Ergebnis meiner Analyse von elf in den letzten Jahren erschienenen Bänden über
soziale Bewegungen und Protest, empirisch und theoretisch breiter aufgestellt als
häufig moniert. Zehn der elf rezensierten Bände gehen über die Analyse politischer
Gelegenheitsstrukturen sowie Prozesse der Ressourcenmobilisierung und des Framings, also den Theorien mittlerer Reichweite, die üblicherweise zur Erforschung
sozialer Bewegungen angewendet werden, hinaus. Sie mobilisieren – in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlicher Überzeugungskraft – unterschiedliche soziologische Theorien, um nicht nur Erfolg und Effekte sozialer Bewegungen
und von Protest zu evaluieren, sondern auch, um gesellschaftlichen Wandel und
Konfliktlinien zu verstehen sowie um soziologische Theorien weiterzuentwickeln.
Die Auswahl der soziologischen Theorien reflektiert die Situiertheit wissenschaftlicher Forschung: Einerseits spiegelt sich die Verortung der überwiegenden
Mehrheit der Herausgeber*innen und Autor*innen der besprochenen Bände in
Deutschland in der Theorieauswahl wieder: Mit Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu sind die beiden bevorzugt herangezogenen soziologischen Klassiker solche,
die in der deutschsprachigen Soziologie generell breit rezipiert werden. Auch Joseph Ibrahim, der im großbritannischen Universitätskontext verortet ist, strebt danach, die Konzepte Bourdieus für die Analyse von Protest und Bewegung zu mobilisieren. Andererseits sind die sozio-ökonomischen Krisenzyklen des vergangenen Jahrzehnts Anlass, materialistische Theorien entweder relativ orthodox
(Berberoglu) oder in ihren post-marxistischen Versionen (unter anderem Kumkar,
Vollmer) anzuwenden. Die Ausprägung und Wirkmächtigkeit von sozialer Klasse
in Zeiten des neoliberalen Finanzkapitalismus wird in unterschiedlicher Weise
untersucht; hier helfen Bourdieu (Kumkar) und Laclau (Vollmer), die Komplexität
sozialer Klasse für Protestmobilisierung zu verdeutlichen.
Die thematisch eng beieinander liegenden Theoriediskussionen der einzelnen Veröffentlichungen laufen größtenteils parallel; ein Dialog ist nicht ersicht-
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lich. Dies mag auch am Charakter der rezensierten Bände liegen: Sechs der sieben
rezensierten Monographien beruhen auf für deutsche Hochschulen verfassten
Qualifikationsarbeiten. Auch die Sammelbände offenbaren, dass die begrüßenswerte Pluralität des soziologischen Blicks die Konstruktion eines gemeinsamen
Kommunikationsraums zu erschweren scheint. Der Band von Berch Berberoglu,
als Handbuch ausgewiesen, zeigt andererseits, dass eine forschungsparadigmatische Verengung der Breite der Protest- und Bewegungsforschung (in seinem Fall
auf materialistische Theorien) nicht gerecht wird. Als Einführungsbuch ist dieser
Band daher eher ungeeignet. Wer hingegen einen Einblick in die Vielfalt theoretischer Perspektiven auf Protest und Bewegung erhalten will, dem sei der von Jochen Roose und Hella Dietz herausgegebene Band „Social Theory and Social Movements“ empfohlen.
Alle Bände fassen soziale Bewegungen als Phänomen der Moderne: Die Erfahrung der Gestaltbarkeit der Welt, so zum Beispiel Melanie Werner (in Samland/
Henkel: 50), sei Voraussetzung der Entstehung sozialer Bewegungen. Der Fokus
auf die sozio-ökonomische Krise der 2010er Jahre ist empirisch im Fokus auf die
‚neuen‘ Mobilisierungsformen der Anti-Austeritätsproteste reflektiert. Postkoloniale Perspektiven haben (noch) keinen Widerhall in Forschungspraxis und Theorieentwicklung gefunden; bei den empirisch angelegten Monographien, aber auch
in den Sammelbandbeiträgen überwiegen (vergleichende) Fallstudien aus dem
globalen Norden. Wenn Empirie aus dem globalen Süden herangezogen wird, wie
bei Eva Kalny (Guatemala) und Luca Tratschin (Nigeria), dann, um Theorien aus
dem globalen Norden zu testen. Kalny, die in ihrer Monographie soziale Bewegungen in Guatemala mit den konventionellen Theorien der Protest- und Bewegungsforschung untersucht, problematisiert in ihrer Schlussbetrachtung die Grenzen
des Erkenntnisgewinns dieser Strategie: Wichtige Faktoren für die Emergenz, das
Handeln und den Erfolg guatemaltekischer Bewegungen, wie zum Beispiel die Präsenz und der Einfluss krimineller Vereinigungen, würden nicht berücksichtigt.
Im Folgenden werde ich die einzelnen Bände detaillierter besprechen. Ich
zeige, dass im gesellschaftstheoretisch motivierten Nachdenken über soziale Bewegungen und Protest bestimmte Theorieperspektiven und Fälle dominieren, die
jedoch ein breiteres Repertoire repräsentieren als gemeinhin angenommen.
Veränderung des Protestgeschehens –
Veränderung der Theorieperspektive?
Einen Fokus auf die Dynamiken von Protest in Deutschland und, in geringerem
Maße, Europa bietet der von Priska Daphi, Nicole Deitelhoff, Dieter Rucht und Si-
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mon Teune herausgegebene Leviathan-Sonderband „Protest in Bewegung? Zum
Wandel von Bedingungen, Formen und Effekten politischen Protests“. These des
Bandes ist, dass sich mit den sozio-ökonomischen und geopolitischen Verschiebungen seit den 1980er Jahren auch die politischen Ausdrucksformen des von
sozialen Bewegungen getragenen Protestes verändert haben. Die Einleitung von
Dieter Rucht und Simon Teune spürt diesem Wandel in der deutschen Bewegungslandschaft anhand der vier Dimensionen der Themen, der Akteur*innen, der Formen von und der Kommunikation über Protest nach. Die Autor*innen kommen zu
dem Schluss, dass trotz einer starken Differenzierung in allen vier Dimensionen
ein gemeinsamer Nenner identifizierbar sei: Protest in der Bundesrepublik
Deutschland bewege sich mehrheitlich innerhalb des Systems.
Die folgenden Beiträge sind thematisch gegliedert: In einem ersten Teil wird
die Einbettung von Protest in transnationale Mehrebenensysteme untersucht. Regina Becker und Swen Hutter präsentieren die Ergebnisse ihrer Protestereignisanalyse europäischer Proteste mit deutscher Beteiligung von 1995 bis 2014. Melanie
Kryst und Sabrina Zajak widerlegen in ihrer Untersuchung der Clean-ClothesCampaign die These einer Verlagerung des Adressat*innenkreises von Protest an
Staaten hin zu transnationalen ökonomischen Akteur*innen im Zuge der Globalisierung. Felix Anderl zeichnet anhand des Tschad-Kamerun-Projekts der Weltbank nach, wie die von Protestakteur*innen formulierte Kritik zu einer partiellen
Öffnung internationaler Organisationen und somit auch zu neuen Gelegenheitsstrukturen führte. Christian Scholl und Annette Freyberg-Inan analysieren die Einbettung der Universitätsproteste in Amsterdam 2015—2016 in breitere globalisierungskritische Öffentlichkeiten und kommen zu dem Schluss, dass diese Art von
Protest zwar innovativ, aber noch nicht verstetigt sei.
Die Beiträge des zweiten Teils zielen darauf, neuere Formen des Protestes zu
verstehen und, anknüpfend an das Konzept der (Post-)Demokratie, ihre Bedeutung für demokratische Prozesse zu diskutieren. Oliver Nachtwey argumentiert,
dass die Occupy-Proteste die demokratische und die soziale Frage verbinden und
über die Verhandlung staatsbürgerlicher Rechte Klassenfragen thematisieren.
Sigrid Baringhorst, Mundo Yang, Kathrin Voss und Lisa Vilioth analysieren drei
webbasierte Mobilisierungen zu Umweltthemen in Deutschland, um gegen die
These der depolitisierenden Wirkung des Internets zu argumentieren. Sie zeigen,
wie online- und offline-Mobilisierungen verbunden werden. Auch Holger Janusch
und Volker Mittendorf unterstreichen in ihrer vergleichenden Analyse der Proteste
gegen bilaterale US-Handelsabkommen die Relevanz netzbasierter Kampagnen.
Der dritte Teil des Bandes fokussiert auf den Wandel von Protestkulturen in
Deutschland seit den 1990er Jahren. Lisa Bleckmann und Christian Lahusen untersuchen anhand von drei repräsentativen Bevölkerungsumfragen Demonstrationsteilnahmen in Ost- und Westdeutschland von 1990 bis 2013. Sie kommen zu dem
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Schluss, dass sich die Protestkulturen in beiden Teilen Deutschlands angeglichen
haben. Sieglinde Rosenberger, Helen Schwenken, Maren Kirchhoff und Nina Maria
Merhaut analysieren Abschiebeproteste in Deutschland und Österreich von 1993
bis 2013. Dieter Rink präsentiert die Leipziger Montagsdemonstrationen von 1991
bis 2016 als Protestparadigma, das einen generellen Wandel in deutschen Protestkulturen aufzeigen kann. Abgeschlossen wird der Sonderband von einem evaluierenden Beitrag Priska Daphis und Nicole Deitelhoffs, die die beiden Konzepte
von Transnationalisierung und Entpolitisierung, die von den Beiträgen im Sonderband in verschiedener Weise aufgegriffen werden, tiefergehend diskutieren.
Sie unterstreichen die Rolle nationaler und lokaler Protestdynamiken und Adressat*innen in Anti-Austeritätsprotesten und globalisierungskritischen Mobilisierungen; diese seien auch Folge der Enttäuschung bezüglich der Wirksamkeit
transnationaler Proteste. Die zunehmende Bedeutung von Verteilungskonflikten
sowie die Polarisierung von Protest würden Protest normalisieren, das sei in der
zunehmend heterogeneren Trägerschaft sowie in der wachsenden Bedeutung loser und breiter Bündnisse reflektiert. Die Form des Protestes bestimme allerdings
nicht den Grad der Politisierung; entscheidend sei das Aufstellen kollektiver, das
Gemeinwohl betreffender und systemkritischer Forderungen und Fragen. Dies
könne in Protesten rechts und links im politischen Spektrum beobachtet werden.
Der im Leviathan-Sonderband konstatierte Wandel der Formen und Inhalte
von Protest und Bewegung wird auch in der Mehrheit der Monographien thematisiert: Mit den Folgen der sozio-ökonomischen Krise und insbesondere den AntiAusteritätsprotesten beschäftigen sich drei Monographien: Nils C. Kumkars „The
Tea Party, Occupy Wall Street, and the Great Recession“, Lisa Vollmers „Mieter_innenbewegungen in Berlin und New York. Die Formierung politischer Kollektivität“ sowie Joseph Ibrahims „Bourdieu and Social Movements. Ideological
Struggles in the British Anti-Capitalist Movement“.
Kumkars auf seiner Dissertation beruhende Schrift setzt die Praxistheorie
Pierre Bourdieus ein, um die Proteste von Occupy Wall Street und der Tea Party
Bewegung in den USA als Ausdruck der sozio-ökonomischen Krise zu greifen.
Seine lesenswerte Studie besticht durch die gewissenhafte qualitative Analyse
von Gruppendiskussionen und Interviews mit Aktivist*innen der Tea Party sowie
Occupy Wall Street, die mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet wurden.
Er untersucht einerseits, wie das US-amerikanische Kleinbürgertum die sozioökonomische Krise erlebt und verarbeitet hat. Andererseits bettet er seine Fallanalyse in ein breiteres theoretisches Argument ein: Für Kumkar sind die untersuchten Proteste Symptome der sozialen Spannungen, die dem zeitgenössischen
Kapitalismus inhärent sind – die Analyse der die Proteste tragenden sozialen
Klassen könne so gesellschaftsdiagnostische Erkenntnisse liefern. Ausgangspunkt seiner Studie ist daher die Frage, wie die gelebten Erfahrungen der sozio-
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ökonomischen Krise durch die die Proteste tragenden sozialen Klassen die Protestpraktiken geformt haben und, vice versa, welche Rückschlüsse aus den Protestpraktiken über das Erleben der Krise gezogen werden können. Er geht davon
aus, dass die den Protest tragenden sozialen Klassen nicht diejenigen waren, die
von der Krise am härtesten betroffen wurden. Die Resonanz der Protestpraktiken
mit dem Habitus der unterschiedlichen klassen-generationellen Einheiten habe
die Bereitschaft geformt, sich der Tea Party bzw. Occupy Wall Street anzuschließen: Von der Tea Party seien vor allem die älteren Kohorten des Kleinbürgertums
mobilisiert worden, häufig selbstständige Gewerbetreibende, deren Erwartungen
des weiter wachsenden Wohlstandes durch die Krise enttäuscht wurden. Diese
Enttäuschung habe in dieser Gruppe nicht zu einer Hinterfragung des Systems
geführt, sondern im Gegenteil dazu, dass fast trotzig auf der weiteren Geltung des
American Dreams beharrt und durch einen geteilten Verschwörungsmodus diese
gegen alle Evidenz behauptet wurde. Occupy Wall Street erfuhr hingegen Resonanz vor allem im jüngeren US-Kleinbürgertum, das in den Praktiken von Occupy
affirmativ die Möglichkeit der Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach gegenseitiger
Anerkennung und Selbstwirksamkeit sah, die durch die in der Krise gemachten
Erfahrungen von sozialer Isolation und sozio-biographischer Enttäuschung nicht
erfüllt wurden. Die präfigurativen Praktiken von Occupy konnten diese Bedürfnisse allerdings nicht vollständig befriedigen, was zu Spannungen innerhalb der
Proteste führte. Kumkar kann zeigen, dass soziale Klasse es als nicht deterministisch verstandene Kategorie erlaubt zu untersuchen, wie die sozio-ökonomische
Krise mit Protestpraktiken zusammenhängt, wer die Trägerschichten der Proteste
und was ihre gelebten Erfahrungen und Motivkonstellationen waren und was die
Protestpraktiken über die Widersprüche im kapitalistischen System sagen können.
Lisa Vollmers Band schließt insofern an Kumkars Band an, als die Autorin die
sozio-ökonomische Krise als Ausgangspunkt nimmt, um empirisch der Frage
nach der Genese und dem Wandel politischer Kollektivität im politischem Protest
nachzugehen. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass weder geteiltes Interesse
noch eine gemeinsame Identität Grundlage der zu beobachtenden kollektiven
Identität der Protestbewegungen sei. Unter Zuhilfenahme der postfundamentalistischen Theorie Ernesto Laclaus sieht sie politische Kollektivität als relational
konstruiert. Mieter*innenproteste in Berlin und New York dienen dann als Beispiel, um die alltäglichen Praktiken der Konstruktion von geteilten Interessen und
Identität vor dem Hintergrund von Heterogenität zu fassen, denn „in der kapitalistischen Produktion von Wohnraum vereint [das Feld des Wohnens] soziale wie
ökonomische Funktionen“ (43). Um den Wandel empirisch zu belegen, rekonstruiert sie zunächst die Entwicklung und die Forderungen von Mieter*innenbewegungen in Berlin und New York während der Krise des Laissez-Faire-Kapitalismus
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Ende des 19. Jahrhunderts und während der Krise des Fordismus. Sie stellt fest,
dass in der ersten Phase organisierte Interessenvertretungen gebildet und Forderungen an staatliche Institutionen gestellt wurden, die den „Vermieter“ regulieren und kontrollieren sollten. In den 1960er Jahren wurden staatliche Institutionen für die Missstände mitverantwortlich gemacht und daher Praktiken der autonomen und selbstverwalteten Produktion von Wohnraum etabliert. Im zweiten
Kapitel rekonstruiert sie den Kontext der aktuellen Proteste und diagnostiziert
eine Dislokation durch die konkreten Auswirkungen der Neoliberalisierung der
Wohnungspolitik und der Regierungstechniken Berlins und New Yorks. Die folgenden Kapitel widmen sich den beiden Fallbeispielen: Nach der Präsentation
der Entwicklung und Träger*innenschaft der Mieter*innenbewegungen in Berlin
und New York führt Vollmer aus, wie die Bewegungen in Abgrenzung zu Prozessen der Gentrifizierung sowie der Einhegung von Protest durch partizipative
Stadtplanung universalisierende Praktiken entwickeln. Diese seien postidentitär,
da keine auf Abgrenzung beruhende kollektive Identität gebildet werde, sondern
bestehende Ungleichheiten und die Heterogenität der an den Protesten Teilnehmenden identitätsformend seien. Sie seien postautonom, da sie statt durch ideologische Abgrenzung durch breite Bündnisse, niedrigschwellige Aktionsformen
und die konkrete Betroffenheit der Beteiligten charakterisiert seien. Nach diesen
vor allem auf einer Dokumentenanalyse und teilnehmender Beobachtung basierten Ausführungen vollzieht Vollmer nach, wie die gelebten Erfahrungen von Verdrängung, Armut und Rassismus vergemeinschaftet werden. In ihrer Analyse von
Interviews mit Aktivist*innen der Mieter*innengemeinschaft Kotti & Co in Berlin
und Mieter*innenprotesten des öffentlichen Wohnungsbaus in New York kommen die Aktivist*innen ausführlich zu Wort. Für New York kann Vollmer hier –
ihrer generellen Feststellung des Vorhandenseins einer postidentitären Identität
zum Trotz – aufzeigen, dass in diesem konkreten Fall das Stigma der ‚Housing
Projects‘ eine auf Abgrenzung beruhende kollektive Identität notwendig machte.
Im Gegensatz zu vielen der anderen besprochenen Bände reflektiert Vollmer ihren
Feldzugang und ihre Beziehung zu den untersuchten Bewegungen.
Ibrahims vergleichsweise schmaler Band beruht auf der Auswertung von
40 Interviews mit britischen anti-kapitalistischen Aktivist*innen der Alterglobalisierungsbewegung, der teilnehmenden Beobachtung insbesondere der Proteste gegen den G8-Gipfel 2005 in Edinburgh sowie einer Dokumentenanalyse
aktivistischer Veröffentlichungen. Er hat sich zum Ziel gesetzt, intra- und interBewegungskonflikte zwischen britischen Anarchist*innen und Sozialist*innen
nachzuzeichnen. Dem aktuellen Forschungsstand nicht entsprechend stellt er die
Behauptung auf, dass die Alterglobalisierungsbewegung in der Protest- und Bewegungsforschung als einheitlich sowie vereint in ihrer Opposition gegen den
Neoliberalismus präsentiert würde. In seiner Analyse erläutert er zunächst, wie
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die Aktivist*innen versuchen, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital zu
mobilisieren, um sich zu distinguieren und Hegemonie über das soziale Feld der
britischen Alterglobalisierungsbewegung zu erlangen. Dann setzt er Bourdieus
Konzept des Feldes ein, um in einer Fallstudie über die Mobilisierungen gegen
das G8-Treffen 2005 die Kooptation des antikapitalistischen Protestes durch New
Labor nachzuzeichnen. Das Konzept von Doxa wird in Anschlag gebracht, um die
Mobilisierungen von 2011 zu erklären: Der Aufstieg der Spanischen Indignados
sowie der britischen und US-amerikanischen Occupy-Bewegung sei, so Ibrahim,
Ausdruck der Krise der das gesellschaftliche Feld stabilisierenden Gewissheiten.
Ibrahims überwiegend konventionelle Ausführungen sind in ihrer analytischen
und theoretischen Tiefe nicht immer überzeugend, als ein einführender Überblick
über die Entwicklung und Dynamiken der britischen Alterglobalisierungsbewegung mag sein Band dennoch dienen. Bei Interesse daran, wie Bourdieus Konzepte genutzt werden können, um die Occupy-Proteste zu verstehen, sei Kumkars
Band, für eine Einführung in die Relevanz dieser theoretischen Perspektive für die
Protest- und Bewegungsforschung der Beitrag von Lars Schmitt im Sammelband
von Jochen Roose und Hella Dietz oder auch die Arbeit von Hanna Mari Husu
(2013) empfohlen.
In dem von ihm herausgegeben „The Palgrave Handbook of Social Movements,
Revolution, and Social Transformation“, in dem auch vier Beiträge von ihm stammen, vertritt Berch Berberoglu die These, dass die Entstehung und die Dynamiken
zeitgenössischer Proteste nur mithilfe der marxistischen Theorie erklärt werden
können. Die in Qualität und Länge sehr disparaten Beiträge des Handbuchs sehen
den Klassenkonflikt als treibende Kraft jeglicher Art von Mobilisierung. Das Handbuch zielt darauf, eine materialistische Theorie sozialer Bewegungen im US-Kontext zu etablieren – einige der Argumentationen erscheinen aus der europäischen
Perspektive unnötig, sind wohl aber dem Kontext geschuldet. Die erste Sektion
soll einen Überblick über theoretische und methodische Zugänge zu sozialen Bewegungen präsentieren. Nach Clayton D. Peoples‘ solider, aber wenig überraschender Darstellung konventioneller Theorien der sozialen Bewegungsforschung – relative Deprivation, Ressourcenmobilisierung, politische Gelegenheitsstrukturen, neue soziale Bewegungen sowie Framing – folgt ein Kapitel von Ben
Manski, das die Methoden der Protest- und Bewegungsforschung darstellen soll.
Er stellt die Methode des Movement Building vor, bettet diese aber nicht in eine
breitere Methodendiskussion ein. Die weiteren Kapitel dieser Sektion beschäftigen sich mit marxistischer Theorie (Berberoglu) und einer Darstellung der sozialistischen Regime Russlands, Chinas, Kubas und Vietnams (Petras). Die nächsten
beiden Sektionen streben danach, verschiedene Variationen sozialer Bewegungen
des 20. und 21. Jahrhunderts vorzustellen. Die erste dieser Sektionen will das Panorama sozialer Bewegungen in verschiedenen Regionen der Welt präsentieren.
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Nach einer Einführung in die US-Amerikanische Arbeiter*innenbewegung (Kolin)
und die Mobilisierungen der 1960er Jahre in den USA (Spector) folgen Kapitel über
den Widerstand linker Bewegungen gegen den Neoliberalismus: James F. Petras
und Henry Veltmeyer geben einen Überblick über die Dynamiken in Lateinamerika
und Patrick Bond beschäftigt sich mit (Süd-)Afrika. Ashok Kumbamu stellt die Naxalit-Bewegung in Indien und ihren Kampf gegen den indischen Staat vor, während Walden Bello soziale Bewegungen in Kambodscha, Thailand und den Philippinen bespricht. Die Sektion schließt mit einem Kapitel (erneut Berberoglu) über
nationalistische Bewegungen weltweit. Die daran anschließende Sektion präsentiert zeitgenössische Bewegungen, die augenscheinlich als potentielle Mitglieder
eines linken gegenhegemonialen Blocks gesehen werden. Vorgestellt werden die
Alterglobalisierungsbewegung/Bewegung für soziale Gerechtigkeit (Langman
und Benski), Occupy Wall Street (Welch), die philippinische Frauenbewegung, die
für die transnationale Frauenbewegung stehen soll (Lindio-McGovern), Cyberaktivismus (Carty und Reynoso Barron) und die US-Klimabewegung (Foran). Die diese
Sektion und das Handbuch abschließenden Kapitel von Christopher Chase-Dunn
und Sandor Nagy sowie Berberoglu können als programmatische Aufrufe für einen
sozialistischen Zusammenschluss transnationaler Bewegungen sowie als Intervention in (wissens-)politische Debatten in den USA gelesen werden.
Protest und Bewegung in der Breite des
soziologischen Blicks
In der soziologischen Auseinandersetzung mit Protest und Bewegung kann man
sich dem Gegenstand aus empirischem Interesse nähern, wie dies die bisher besprochenen Bände aufzeigen oder aber aus einem zunächst theoretisch motiviertem Interesse den empirischen Gegenstand auswählen, um Theorien zu testen,
weiterzuentwickeln oder herauszufordern. Während die im Folgenden besprochenen Sammelbände vor allem die Breite des soziologischen Blicks zu exemplifizieren suchen, wollen die beiden in dieser Sektion besprochenen primär theoretisch
motivierten Monographien von Luca Tratschin und Henriette Schade eine Kommunikationstheorie sozialer Bewegungen auf Grundlage von Luhmanns Systemtheorie etablieren.
Der Sammelband „10 Minuten Soziologie. Bewegung“ von Ute Samland und
Anna Henkel folgt dem Duktus der transcript-Reihe, die Pluralität soziologischer
Herangehensweisen zu explizieren, indem ein bestimmter Gegenstand – hier: Bewegung – aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird. Nicht alle Beiträge
des Sammelbandes folgen der Programmatik, in kurzen Beiträgen theoretische
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Konzepte vorzustellen und anschließend empirisch anzuwenden. Gerahmt wird
der Band von zwei programmatisch-theoretischen Beiträgen ohne empirische
Verankerung: Nach der Einleitung der beiden Herausgeberinnen diskutiert Günter
Burkart einführend den Gegenstand der Soziologie als die Analyse bewegter Gesellschaft. Im abschließenden Beitrag führt Nikolai Drews die Überlegungen Burkarts systemtheoretisch weiter, indem er reflektiert, inwiefern Sinn als Medium
für Bewusstsein und Soziales als zentrales Konzept einer dynamischen Soziologie
zu setzen sei. Trotz der Pluralität der Beiträge – von einer filmsoziologischen Analyse der Repräsentation sozialen Wandels im Film Easy Rider (Klaut) bis zur dekonstruktivistischen Untersuchung akademischer Lehre (Hobuß) – lässt sich in
den Beiträgen ein systemtheoretischer Überhang identifizieren: Nicht nur die beiden rahmenden Beiträge, sondern auch zwei weitere Beiträge setzen Luhmanns
Konzepte zentral. Ausgehend von der mittlerweile nicht mehr gebräuchlichen Unterscheidung sozialer Bewegungen in Macht- und Kulturbewegungen (Raschke,
1985: 77) plädiert Melanie Werner für einen systemtheoretischen Beobachtungsstandpunkt auf soziale Bewegungen. Sina Farzin thematisiert Klimawandelfiktion
als Modus der gesellschaftlichen Beschäftigung mit dem Klimawandel, der die
geteilte „Hintergrundrealität“ (Luhmann, 1996: 120) gesellschaftlicher Funktionssysteme zur Disposition stelle; Kunst könne hier nicht nur den Überschuss an
Kontingenz bearbeiten, sondern auch Orientierungswissen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Klimawandel bereitstellen. In weiteren Beiträgen des Sammelbandes untersucht Lars Döpking die permanente Steuerrevolte in
den USA sowie die italienische Steuerrevolte von 2011/2012, um für eine vergleichende historisch-soziologisch eingebettete Analyse struktureller Voraussetzungen und sozialer Mechanismen zu werben. Weert Canzler und Ute Samland beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit den Bedingungen für eine Verkehrswende.
Canzler wendet Anthony Giddens Konzept der Strukturation an, um die ungebrochene Attraktivität des Automobils zu ergründen, während Samland das Konzept
der sozialen Innovation nutzt, um alternative Mobilitätskonzepte für den ländlichen Raum zu diskutieren. Björn Wendt fasst utopisches Denken als dynamisches
Medium der Gesellschaftskritik und Steffen Greve untersucht vergleichend Normirritationen im und durch Bewegung im Sport.
Auch der Sammelband „Social Theory and Social Movements. Mutual Inspirations“ von Jochen Roose und Hella Dietz setzt sich zum Ziel, die Bandbreite theoretischer Perspektiven auf soziale Bewegungen aufzuzeigen. Der Band ist das Produkt des DFG-geförderten Nachwuchsnetzwerks „Neue Perspektiven auf soziale
Bewegungen und Protest“, das von 2010 bis 2014 empirische Forschung mit (kultursoziologischer und sozialstrukturanalytischer) Theoriediskussion zusammenbrachte. Der einleitende, etwas uninspiriert wirkende Beitrag von Jochen Roose
plädiert für die Weiterentwicklung der Theorien der Protest- und Bewegungsfor-
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schung und gesellschaftswissenschaftlicher Theorien durch eine gegenseitige Bezugnahme und Konfrontation. Ein Austausch zwischen den einzelnen Theorieperspektiven findet nicht statt; der Dialog erfolgt ausschließlich zwischen den Gesellschaftstheorien und der Protest- und Bewegungsforschung. Die Beiträge folgen
einem ähnlichen Muster: Zunächst soll die vorgestellte Theorie mit ihren wichtigsten Konzepten vorgestellt werden, um dann die Implikationen der Theorie für
Protest- und Bewegungsforschung, aber auch die Erkenntnisse der Analyse sozialer Bewegungen für die jeweilige Theorie zu diskutieren. Britta Baumgarten und
Peter Ullrich konfrontieren in ihrem Beitrag die Framing-Theorie mit Foucaults
Konzepten der Gouvernementalität und Subjektivierung. Annette Schnabel diskutiert, inwiefern die rational choice-Theorie Ansätze liefert, um die FreeriderProblematik zu lösen, aber auch, inwieweit die Rolle von Emotionen und die kulturellen Semantiken sozialer Bewegungen nicht durch rational choice-Theorien
erklärt werden können. Lars Schmitt zeigt auf, wie Bourdieus Konzepte zur Analyse sozialer Bewegungen dienen können. Isabel Kusche diskutiert den Nutzen
der Systemtheorie, um die kommunikativen Logiken sozialer Bewegungen zu verstehen. Thomas Kern stellt Jeffrey Alexanders Konzept der funktionalen Differenzierung im Anschluss an Talcott Parsons vor. Eine Diskussion der Unterschiede
von Luhmanns und Alexanders Konzepten wäre an dieser Stelle interessant gewesen, ist aber nicht Teil der Zielsetzung des Bandes. Jochen Roose wendet die
Neoinstitutionalismus-Theorie an, um zu erläutern, inwiefern soziale Bewegungsorganisationen sich durch die Reproduktion institutionalisierter Regeln legitimieren. Dorothea Reinmuth nutzt Judith Butlers Konzepte der Anerkennung und der
Performativität, um zu erklären, wie soziale Bewegungen mit der Ambivalenz umgehen, Normen zu reproduzieren, deren Transformation sie anstreben. Nick Crossley stellt die relationale Soziologie und insbesondere die Netzwerkanalyse als Instrument vor, um die Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen zu verstehen.
Auch Luca Tratschins Band „Protest und Selbstbeschreibung. Selbstbezüglichkeit und Umweltverhältnisse sozialer Bewegungen“ ist primär theoretisch motiviert.
Er geht von der Annahme aus, dass in der Systemtheorie „analytische Potentiale
brachliegen, die für die soziologische Erforschung sozialer Bewegungen fruchtbar
gemacht werden können“ (14). Basierend auf der Feststellung, dass die bisherige
Forschung zu sozialen Bewegungen diese als von anderen Systemtypen abhängig
sieht, interessiert ihn, wie soziale Bewegungen sich selbst als sinnhafte Zusammenhänge formieren, indem sie kommunikativ einen Zusammenhang zwischen
Protesten herstellen. Im ersten Teil seiner lesenswerten Ausführungen argumentiert er, dass die inhärente Kontingenz der Verbindung von Sachdimension (Themenwahl), Sozialdimension (Unterscheidung von sozialer Bewegung, Verantwortlichen und Publikum) und Zeitdimension (Etablierung einer Bewegungsgeschichte) die Relevanz der Selbstbeschreibungen sozialer Bewegungen für ihre
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Ausbildung als soziale Systeme erklärt. Ein konflikttheoretischer Exkurs schärft
seine These, dass soziale Bewegungen sich erst durch Gewaltverzicht als soziales
System ausbilden: Qua der Unmöglichkeit der direkten Durchsetzung ihres Willens durch Zwang sei die Einbeziehung eines Publikums notwendig. Seine These
illustriert Tratschin an zwei leider etwas oberflächlich behandelten Fallbeispielen.
In einem ersten Schritt dienen ihm die Selbstbeschreibungen, Symbole und semantischen Artefakte (Karten und Zeitlinien) der US-Occupy-Bewegung als
Grundlage, um zu zeigen, wie diese das Problem löste, räumlich und zeitlich
höchst differenzierte Proteste aufeinander zu beziehen. Die Analyse der Ogoni-Bewegung Nigerias dient ihm in einem zweiten Schritt dazu, sein Analyseraster an
einer Bewegung zu testen, deren Selbstbeschreibung sich im Laufe ihrer Existenz
radikal änderte. Im zweiten Teil seiner Arbeit untersucht er das Verhältnis sozialer
Bewegungen zu den anderen Funktionssystemen moderner Gesellschaften: Einzelne Kapitel beleuchten das Verhältnis zu Interaktion, Organisation, den unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionsbereichen und der (Welt-)Gesellschaft.
Hier ist der Beitrag Tratschins besonders hervorzuheben: Gegenüber anderen,
auch in dieser Rezension besprochenen systemtheoretisch inspirierten Arbeiten
fokussiert er nicht allein die Beobachterrolle sozialer Bewegungen. Soziale Bewegungen würden auch die der funktional differenzierten Gesellschaft zugrunde liegenden Grundprinzipien wie demokratische Bürger*innenrechte verteidigen oder
die Universalisierungsbestrebungen einzelner Funktionsbereiche unterstützen.
Die im Vergleich zu Tratschins Arbeit in ihrem Erkenntnisinteresse weniger
innovative Schrift „Soziale Bewegungen in der Mediengesellschaft. Kommunikation
als Schlüsselkonzept einer Rahmentheorie sozialer Bewegungen“ von Henriette
Schade nutzt ebenso die Systemtheorie Luhmanns, um eine Kommunikationstheorie sozialer Bewegungen zu formulieren. Gegen die These der Neuheit der
Kommunikationsformen sozialer Bewegungen im Zuge der Medialisierung plädiert sie für einen adäquaten Distanzierungsgrad, der das Gemeinsame sozialer
Bewegungen betone. Die Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft und der
Protest- und Bewegungsforschung sollen in eine neue Theorie der Bewegungskommunikation integriert werden. Noch stark der Struktur einer Dissertation folgend, gibt Schade zunächst einen Überblick über den Stand der Protest- und Bewegungsforschung, in der die Unterscheidung in „Bewegungen von gestern“ und
medialisierten „Bewegungen von heute“ feldbestimmend sei. Die Debatten in der
Protest- und Bewegungsforschung nachzeichnend diagnostiziert sie, dass es einen Konsens bezüglich des grundlegenden Wandels der Identitätsformierung
und Sozialstruktur sozialer Bewegungen durch Online-Medien gäbe (135). Anschließend bemüht sie eine wissenssoziologische Diskursanalyse des Feldes der
Protest- und Bewegungsforschung, um das Fehlen eines aktuellen systemtheoretischen Zugangs in der Bewegungsforschung zu diagnostizieren. Unklar bleibt,
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wieso der Aufwand einer wissenssoziologischen Diskursanalyse notwendig für
die am Ende doch wenig überraschende und in einem Kapitel relativ kurz abgehandelte Aussage ist, dass soziale Bewegungen auf der Meso-Ebene die MakroEbene der (medialisierten) Öffentlichkeit mit der Mikro-Ebene der Identitätsbildung verbinden. Erschwert wird die Auseinandersetzung mit Schades Ausführungen durch die ästhetisch nicht ansprechende Formatierung des Bandes; auch die
Vielzahl nicht immer die Argumentation unterstützender Grafiken unterbricht
den Lesefluss. Insgesamt ist der Band Ergebnis eines begrüßenswerten Projektes
der Übersetzung von kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnissen in die
Protest- und Bewegungsforschung und kann als Einführung für Kommunikationswissenschaftler*innen in dieselbe dienen.
Die Fallstudie als zentrale Methode der Protestund Bewegungsforschung
Wie auch an anderer Stelle argumentiert (Haunss, 2016: 221), ist die Fallstudie die
dominierende Form der empirischen Analyse in der deutschen Protest- und Bewegungsforschung. Häufig begründet in forschungspragmatischen Überlegungen
von Qualifikationsarbeiten, zeigen die besprochenen Monographien, dass gerade
die vergleichende Fallstudie nicht nur spezifische Erkenntnisse über den besprochenen Fall liefern, sondern auch Theoriearbeit leisten kann. Nach den bereits
besprochenen Bänden, die vor allem das Spezifische der Occupy-Bewegung im
synchronen und diachronen Vergleich herausarbeiten, fokussieren die in dieser
Sektion besprochenen Bände vier Basisgruppen der deutschen Umweltbewegung
(Bosse) sowie die Frauenbewegungen, indigenen Bewegungen und die Konflikte
um den Zugang zu Ressourcen in Guatemala (Kalny).
In „Die Gesellschaft verändern. Zur Strategieentwicklung in Basisgruppen der
deutschen Umweltbewegung“ untersucht Jana Bosse, wie die individuellen Deutungen ihrer Handlungsmöglichkeiten von ehrenamtlich organisierten Aktivist*innen in kollektives Handeln übersetzt werden. Im ersten Teil präsentiert
Bosse den theoretischen Rahmen ihrer Studie. Sie kombiniert die Theorien der
Ressourcenmobilisierung, der politischen Gelegenheitsstrukturen und des Selbstverständnisses mit der Analyse der Zuschreibung von Kapital und Kompetenz
innerhalb der Gruppen. Sie argumentiert, dass die Konzepte von Framing und
Ideologie nicht in der Lage seien, präzise zu fassen, welche Vorstellungen über
Menschen, die Gesellschaft und die Möglichkeiten sozialen Wandels einer Mobilisierung förderlich seien. Diese seien oft diffuser und weniger strategisch. Daher
schlägt sie vor, die Theory of Change, also die Untersuchung der persönlichen
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Überzeugungen, wie gesellschaftlicher Wandel funktioniere, für die Analyse der
von den Aktivist*innen artikulierten Grundannahmen über die Gesellschaft zu
verwenden. Um das Konzept der Theory of Change theoretisch zu fundieren, stellt
Bosse zunächst etwas zu ausführlich die zentralen Eckpunkte der Systemtheorie
Luhmanns vor, um dann anzukündigen, dass diese primär als Kontrastfolie und
Analyseraster dienten, um die im Material identifizierten Theories of Change danach zu systematisieren, welches Funktionssystem adressiert wird, auf welcher
Ebene Veränderungsmöglichkeiten verortet und welche Wirkungszusammenhänge unterstellt werden. Im zweiten Teil des Bandes stellt Bosse ihre vergleichende
Fallstudie vor, im Zuge derer sie über 120 Treffen von vier Basisgruppen der deutschen Umweltbewegung besucht, davon gut die Hälfte detailliert ausgewertet,
sowie 27 Interviews mit den Aktivist*innen dieser Gruppen geführt hat. Ihre Untersuchung der Theories of Change zeigt, dass nicht alle Mitglieder einer Gruppe
die gleichen Vorstellungen teilen. Um zu verstehen, wie aus diesen heterogenen
Überzeugungen eine geteilte Strategie entsteht, analysiert Bosse die Gruppenprozesse der vier Gruppen. Sie schafft es, die individuelle Perspektive der Aktivist*innen nachvollziehbar mit den kollektiven Entscheidungsprozessen innerhalb der
Gruppen zusammenzuführen. Der dritte Teil fasst die Ergebnisse zusammen und
bettet sie in die theoretischen Debatten der Protest- und Bewegungsforschung
ein. Bosse unterstreicht, dass die Strategiefähigkeit sozialer Bewegungen deutlicher eingeschränkter sei, als konventionelle Theorien sozialer Bewegungen annähmen. Bewusste Strategieentscheidungen und -prozesse seien eher selten. Das
Selbstverständnis der Gruppen sei zwar entscheidend, führe allerdings nicht notwendigerweise zu strategischen Festlegungen, die vielmehr durch die Notwendigkeit des Umgehens mit interner Heterogenität geprägt seien. Die auch in anderen
Studien beschriebene Dislokation als Mobilisierungsfaktor nennt Bosse „Irritation“ und argumentiert, dass diese nur handlungsrelevant werde, wenn sie einem
gesellschaftlichen Funktionssystem zugeordnet und dadurch bearbeitet werden
könne. Die Zuordnung der Problemdefinitionen der Aktivist*innen in die einzelnen Funktionssysteme kann allerdings nicht immer überzeugen. Wo Vorstellungen, die der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften potentiell widersprechen, in diesem Analyseraster ihren Platz finden, bleibt offen.
Das auf ihrer Habilitationsschrift beruhende Buch „Soziale Bewegungen in
Guatemala. Eine kritische Theoriediskussion“ von Eva Kalny untersucht sekundäranalytisch und durch eigene Felderfahrung in Guatemala ergänzt die vorhandenen Studien über die Rolle sozialer Bewegungen in der postkolonialen Gesellschaft Guatemalas. Kalny argumentiert für eine Gesamtschau sozialer Bewegungen in einer Gesellschaft und zeigt die Lücken der vorhandenen Forschung sowie
der angewandten Theorien der Ressourcenmobilisierung, politischen Gelegenheitsstrukturen und des Framing auf: Nicht abschließend erklärt werden könnten
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die Reproduktion von Exklusions- und Diskriminierungstendenzen in den untersuchten Bewegungen, Machtverschiebungen aufgrund der Institutionalisierung
und der Finanzierung sozialer Bewegungen durch ausländische Geberorganisationen sowie der Einfluss von Korruption. Ebenfalls seien nicht-progressive Bewegungen wenig untersucht. Insgesamt plädiert sie für das Aufbrechen der binären
Vorstellung einer Opposition zwischen Staat und sozialen Bewegungen. Methodologisch interessant ist ihr Argument, dass die dominierenden interviewbasierten Methoden der Datenerhebung nicht in der Lage seien, Faktoren wie die Präsenz krimineller Akteure und lokaler Wirtschaftseliten zu identifizieren.
Abschlussbetrachtung
Wie die Zusammenschau der rezensierten Bände deutlich zeigt, denkt die aktuelle
soziologische Protest- und Bewegungsforschung dezidiert gesellschaftstheoretisch. Das konventionelle Instrumentarium von Theorien mittlerer Reichweite
wird mehrheitlich durch die deduktive Anwendung soziologischer Klassiker ergänzt. Motiviert wird dies durch ein explizites gesellschaftsdiagnostisches Interesse. Es soll nicht nur der empirische Gegenstand untersucht werden, sondern
das untersuchte Phänomen soll ebenso Erkenntnisse über die Beschaffenheit und
die Konfliktlinien in gegenwärtigen Gesellschaften liefern. Eigener Anspruch und
Überzeugungskraft variieren jedoch stark. Arbeiten wie die von Kumkar und Vollmer gelingt es, beide Dimensionen nachvollziehbar und sorgfältig zu bearbeiten
sowie dabei Empirie und Theorie in einen Dialog zu bringen. Bei anderen überwiegt das theoretische (Tratschin) oder empirische (Bosse) Interesse. Auffällig ist,
dass auch hier die viel zitierte Multiparadigmatik der Soziologie ein reines Nebeneinander verschiedener Theorietraditionen bedeutet. Selbst in den theoretisch
motivierten Sammelbänden ist kein Dialog zwischen den theoretischen Positionen ersichtlich. Und auch wenn sich die Autor*innen aus dem gleichen Theoriefundus bedienen, ist eine gegenseitige Bezugnahme nicht zu erkennen. Dies mag
in der mangelnden Institutionalisierung der deutschsprachigen Protest- und Bewegungsforschung begründet sein. Denn wie der Sammelband von Roose/Dietz
zeigt, ist die (temporäre) Institutionalisierung von Räumen des Austauschs sehr
fruchtbar – in diesem Fall war die Zielsetzung jedoch primär die Stärkung des
Dialogs zwischen Protest- und Bewegungsforschung sowie Gesellschaftstheorie
und nicht zwischen den einzelnen Theorietraditionen. Falls sich die Autor*innen
der rezensierten Qualifikationsarbeiten weiter der Protest- und Bewegungsforschung widmen (können) (Haunss, 2016: 215–217), dann wäre dies sicherlich ein
wünschenswerter nächster Schritt in der Etablierung einer gesellschaftstheoretisch motivierten Protest- und Bewegungsforschung.
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Methodologisch ist der Fokus auf (vergleichende) Fallstudien mit unterschiedlicher Tiefe und unterschiedlichem Umfang des Materialkorpus zu betonen. Das
Spektrum der Methoden, die in den Fallstudien zum Tragen kommen, beschränkt
sich meist auf die Auswertung von Einzel- und Gruppeninterviews, teilnehmender
Beobachtung sowie die Dokumentenanalyse. Wenn zusätzlich andere Methoden
der Datenerhebung angewandt werden, wie zum Beispiel in einigen der sich auf
qualitative Methoden stützenden Beiträge in den Sammelbänden oder in Bosses
Transkription von Gruppenprozessen bei den Treffen von Basisgruppen, stützt sich
die Analyse auf die Auswertung der Artikulationen. Ausnahme ist Tratschins Untersuchung der visuellen Selbstbeschreibung von Occupy USA anhand von Karten
und Zeitlinien. Seine Analyse fällt aber zu kurz aus, um tatsächlich Aussagen über
die Wirkmächtigkeit anderer Faktoren treffen zu können. Es bleibt zu hoffen, dass
spätestens, wenn die aktuellen Klimaproteste und die mit ihnen einhergehenden
Bewegungspraktiken in die gesellschaftstheoretisch motivierte Protest- und Bewegungsforschung einfließen, andere Methoden auch Faktoren jenseits des sprachlich Vermittelten sichtbar werden lassen. Interdisziplinäre Anleihen aus den
Science and Technology Studies (vgl. Mol, 2017), den kritischen Gender Studies
(vgl. Clarke et al., 2015) oder der politischen Ontologie (vgl. De La Cadena, 2015)
könnten hier dienlich sein und das Repertoire der soziologischen Protest- und Bewegungsforschung erweitern. Damit einhergehen sollte die ernsthafte Auseinandersetzung mit der anhaltenden Provinzialität der Gegenstandsbereiche und theoretischen Konzepte (vgl. Lock Swarr/Nagar, 2010).
Dass diese Leerstellen bearbeitet werden und damit die Debatte in der soziologischen Protest- und Bewegungsforschung in Deutschland voranbringen, ist zu
erwarten; denn die historische Rückschau zeigt, dass trotz der vorhandenen institutionellen Herausforderungen das Feld ein selbstreflexives und dynamisches ist.
Nicht nur die Gesellschaft ist in Bewegung, auch die Protest- und Bewegungsforschung ist es.
Literatur
Clarke, A.; Friese, C.; Washburn, R., Eds. Situational Analysis in Practice: Mapping Research With
Grounded Theory; Left Coast Press: Walnut Creek, 2015.
De La Cadena, M. Earth Beings: Ecologies of Practice Across Andean Worlds; Duke University
Press: Durham/London, 2015.
Haunss, S. Precarious Research in a Movement Society: Social Movement Studies in Germany. In
Social Movement Studies in Europe: The State of the Art; Filieule, O.; Accornero, G., Eds.;
Berghahn Books: New York/Oxford, 2016; pp 214–231.
Husu, H.-M. Bourdieu and Social Movements: Considering Identity Movements in Terms of Field,
Capital and Habitus. Social Movement Studies 2013, 12, 264–279.
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Kern, T.; Freiermuth, M. Alles in Bewegung? Die Bedeutung sozialstruktureller Konflikte in der
aktuellen Bewegungsforschung. Soziologische Revue 2017, 40, 510–524.
Lock Swarr, A.; Nagar, R. Critical Transnational Feminist Praxis; SUNY Press: New York, 2010.
Luhmann, N. Die Realität der Massenmedien; Westdeutscher Verlag: Opladen, 1996.
Mol, A. Krankheit tun. In Science and Technology Studies: Klassische Positionen und aktuelle
Perspektiven; Bauer, S.; Heinemann, T.; Lemke, T., Hrsg.; Suhrkamp: Berlin, 2017; pp 429–
470.
Raschke, J. Soziale Bewegungen: Ein historisch-systematischer Grundriss; Campus: Frankfurt
a. M./New York, 1985.