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Wissende Beweglichkeit. Über das Räumen von Plätzen, das Bauen von Räumen und die Bewegung des Entwerfens

Der folgende Beitrag entstand 2005 als Vortrag vor Architekturstudent/innen der TU Darmstadt im Rahmen eines interfakultativen Symposiums zum Thema „Dynamik und Mobilität“. Der Vortragstitel „Wissende Beweglichkeit“ war vom Veranstalter vorgegeben. Ich akzeptierte ihn als Herausforderung, mich in die durch ihn angedeutete Erwartung hineinzudenken, was ein Pädagoge zu dem genannten Rahmenthema wohl beizutragen habe. Ich denke, dass mein Versuch, Architekturstudent/innen durch Analogien zur Bedeutung des Raums in ihrer Disziplin näherzubringen, worum es in der Pädagogik geht, auch außerhalb dieses spezischen Kontextes erhellend und anregend sein könnte.

Werner Sesink Wissende Beweglichkeit Über das Räumen von Plätzen, das Bauen von Räumen und die Bewegung des Entwerfens Kurzreferat auf dem Interfakultativen Symposium „Dynamik und Mobilität” TU Darmstadt, FB Architektur 17. Mai 2005 Werner Sesink Wissende Beweglichkeit Über das Räumen von Plätzen, das Bauen von Räumen und die Bewegung des Entwerfens Bauplätze 1. These: Bildung ist Wissensdestruktion. (Der Bauplatz muss geräumt sein.) Bildung ist einer der Grundbegriffe der Pädagogik. Man sagt, es gebe zu ihm in anderen Sprachen keine wirklich adäquate Entsprechung. Sieht man von seiner pädagogischen Bedeutung jedoch ab und nimmt das Wort „bilden“ in einer ursprünglicheren und weiteren Bedeutung, so findet sich im Englischen ein Wort, das schon im Klang ganz nahe ist: to build bzw. building. Und damit sind wir bei der Architektur. Pädagogen bauen Räume für Bildung, wenn sie erziehen; Architekten erziehen, wenn sie Wohn-, Stadt- und Landschaftsräume bauen. Pädagogik und Architektur formen unsere Welt. Und auf beide Disziplinen richten sich entsprechend Erwartungen und Hoffnungen von einer besseren, nämlich schöneren, menschengerechteren Welt und besseren, nämlich wissenderen und gestaltungsfähigeren Menschen; allerdings auch Vorwürfe und Vorhaltungen, dieser ihrer Verbesserungsaufgabe nicht hinreichend gerecht zu werden. Im Unterschied zu Disziplinen, die sich eher beschreibend und erklärend der Welt zuwenden, sind Pädagogik und Architektur mit einer nicht abzuschüttelnden Normativität behaftet. Das wird besonders deutlich im Vergleich mit Nachbardisziplinen, auf deren Erkenntnisse sie jeweils zurückgreifen, ohne dass sich daraus jedoch jene Kriterien gewinnen ließen, die benötigt werden, um Gestaltungsabsichten legitimieren zu können. Aus Psychologie lassen sich keine Ziele für pädagogische Praxis und aus Bautechnik keine für den Städtebau ableiten. Architektur ist ebenso wie Pädagogik Reflexion einer Praxis, keine Technologie. Beide gehören in jenen Bereich, in dem es darum geht, „Gutes“ und „Schönes“ zu tun. Als sozusagen „gut-“ bzw. „schönmachende“ Disziplinen tragen sie – trotz aller öffentlichen Kritik – unübersehbar die Gloriole derer, die das Heil bringen. Ich möchte den Blick ein wenig umlenken. Auf den gern im Dunkeln belassenen Hintergrund dieser menschheitsbeglückenden Lichtseite von Pädagogik und Architektur. Auf die implizite Destruktivität. Bei der Architektur ist diese destruktive Implikation ihrer Gestaltungspraxis sozusagen sinnfällig: Da wird verbrannt und gerodet, ein- und abgerissen; zertrümmert und geschleift; da werden Areale – wie man so schön sagt – dem Erdboden gleichgemacht. Wüsste man nicht, dass damit nur der Boden be2 reitet, die Voraussetzung geschaffen wird für das anschließende konstruktive Wirken der Architektur, ließe sich das einleitende Vernichtungswerk von kriegerischen Handlungen schwerlich unterscheiden. Bei der Pädagogik ist die destruktive Implikation sehr viel weniger sichtbar. Ich will versuchen, sie mit Hinsicht auf das Verhältnis von Bildung und Wissen ins Licht zu rücken, und mich so auch der titelgebenden Formulierung von der wissenden Beweglichkeit ein wenig annähern. Es ist ein gängiges und verbreitetes Verständnis, dass Bildung in der individuellen Aneignung oder Entwicklung von Wissen bestehe. Den meisten gelten Menschen als gebildet, die viel wissen. Ein deutscher Sachbuch-Bestseller mit dem Titel „Bildung“ trägt den Untertitel: „Alles, was man wissen muss“. Der Gebildete also wäre der Wissende; und wenn er sein Wissen dazu zu nutzen weiß, sich selbstständig in dieser Welt zu bewegen, dann wäre der Gebildete einer, der sich durch wissende Beweglichkeit auszeichnet. Mit dieser Vorstellung möchte ich „aufräumen“. Betrachten wir die Sache etwas genauer, wird nämlich schnell klar, dass unter dem Anspruch von Bildung Wissen nicht lediglich fertig übernommen werden kann, dass also Bildung nicht aus der Übermittlung von Wissen entsteht, sondern Wissen selbst gebildet werden muss, also von jedem, der es sich „aneignet“, jeweils wieder neu hervorzubringen und zu entwickeln ist. Darin besteht der Unterschied zwischen Unterricht und Datenübertragung. So wie Architekten keine Hausverwalter sind, die lediglich für die Bewohnbarkeit des Bestandes an Häusern zu sorgen haben (was selbstverständlich ebenfalls eine wichtige Aufgabe ist), so sind Pädagogen keine Wissensverwalter, die lediglich dafür sorgen, dass das vorhandene Wissen in seinem Bestand durch die Tradierung gesichert und erhalten wird (obwohl auch dies ebenfalls eine wichtige Aufgabe ist). Wissen muss jeweils individuell „aufgebaut“ werden. Erst dann sprechen wir in der Pädagogik von Bildung. Um in der Analogie zur Architektur zu bleiben, geht es also bei der Bildung um den „Aufbau“ oder „Neubau“ von Wissen. Um die Ermöglichung von etwas, das es noch nicht gibt: Aus Nicht-Wissen soll Wissen hervorgehen. Ein Wissen, das aus einem Zustand des Nicht-Wissens heraus geschöpft wird, ist aber nicht dasselbe wie ein Wissen, das übertragen wird. Ein Haus neu zu bauen, ist etwas anderes als ein fertiges Haus zu beziehen. Wo im letzteren Falle ein Platz bebaut ist, muss er im ersteren Falle leer sein. Oder leer gemacht, „geräumt“ werden. Das „Räumen“ eines Platzes, das Schaffen von Raum für einen Neubau aber verweist uns auf jene schon erwähnte Vernichtungstätigkeit. So ist es beim Wissen: Damit Wissen aufgebaut werden kann, muss Raum dafür geschaffen werden, mit bestehendem Wissen „aufgeräumt“ werden. Wir haben für die damit verbundenen destruktiven Tätigkeiten scheinbar neutrale Bezeichnungen wie Analyse und Abstraktion. Sie gehören inzwischen so zu unserem alltäglichen Wortschatz, dass sie die den Worten ursprünglich zukommende Bedeutung des Zersetzens und Abreißens eher verbergen. Man könnte das im Wissenschaftsbetrieb so schön eingebürgerte englische Wort „abstract“ mit dem älteren deutschen Wort „Abriss“ übersetzen; dann käme man dem destruktiven Kern der Sache schon näher (und zusätzlich auf eine wirklich hübsche Analogie, die sich daraus für das Wort „Abrissbirne“ ergibt). Im Wort Kritik ist die negative Dimension geläufiger, weshalb hier oftmals das Adjektiv „konstruktiv“ hinzugesetzt wird, wenn ihr positiver Sinn hervorgehoben werden soll. Wörtlich heißt das griechische Ursprungswort krinein jedoch lediglich unterscheiden. Auch darin steckt allerdings das Zerteilen eines zuvor Ungeteilten (das Scheiden eines zuvor Ungeschiedenen). 3 Bildung ist demnach anders als „kritisch“ gar nicht zu denken. Kritik räumt auf mit bestehendem Glauben, mit bestehenden Vorurteilen, mit allem, was als unbezweifelbar gilt, mit allem Wissen, das nicht aus einem eigenen Aufbauprozess hervorgegangen ist. Sie räumt damit die Möglichkeit des Neuen ein, den Bauplatz neuen, zu bildenden Wissens. Wissen bezieht sich auf Seiendes. Ich weiß, wenn ich weiß, „etwas“; und dieses „etwas“ beansprucht, zu dieser Welt zu gehören. Bildung hingegen bezeichnet einen Prozess, der (Noch-)Nicht-Seiendes einschließt; „etwas“, dessen Seinsart nicht darin besteht, zu sein, sondern sein zu können: Potenzialität. Dies Nicht-Seiende bedarf um der künftigen Aktualisierung seiner Potenzialität eines Ortes, eines Platzes, an/auf dem es künftig sein oder an/auf dem es entstehen kann; eines für den neuen Entwurf „geräumten“ Platzes. Wir können von einer Ortlosigkeit des Potenziellen sprechen hinsichtlich des Seienden; so gesehen wohnt der Pädagogik (wie der Architektur) ein u-topisches Moment inne. Doch müssen wir hier unterscheiden zwischen einer ab-strakten Utopie, d.h. einem Entwurf auf Künftiges ohne Vorbereitung eines Ortes für seine Verwirklichung; und einer – wie Ernst Bloch sagt – konkreten Utopie, für die es im Seienden die Anlage zur Verwirklichung gibt. Eine solche „wirkliche Möglichkeit“ ist in der Architektur der geräumte Bauplatz: ein leerer Ort, ein seiendes Nichts, konkrete Utopie. Räume 2. These: Mauern des Wissens schützen Räume des nichtwissenden Entwerfens. (Nur umgrenzte Räume sind gestaltbar.) Räume brauchen Grenzen. Ein unbegrenzter, unendlicher Raum wäre nicht gestaltbar; ja als Raum gar nicht erfahrbar. Jeder Bauplatz ist „umgeben“ von bebautem Raum, der nicht zur Disposition steht. Dessen Unangetastetheit ist Bedingung für die Wahrnehmbarkeit der Freiheit zum Neuentwurf. Dort „zu Hause“ kann der Architekt die von ihm zu schaffende Leere des Bauplatzes aushalten und produktiv wenden, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Zugleich ist dies die Welt, an die das Neue sich wird anschließen müssen. Für dieses Anschlussnehmen an Vorhandenes verwendeten die Griechen (für die das Vorhandene im Wesentlichen physis – Natur – war) das Wort poiesis. Eine poietische Architektur wäre daher eine anschlussfähige Architektur. So gilt auch für die Bildung, dass in ihr nur dann Wissensgebäude eingerissen werden können, wenn der zu Bildende sich sicher in seiner Welt verankert und gegründet weiß. Wenn alles Wissen und damit alles gewusste Seiende in Frage gestellt würde, verlöre er sich in einer bodenlosen Leere ohne jeden Anhaltspunkt, von dem aus das Neue zu schaffen wäre. Deshalb braucht auch hier die Freiheit des Neuentwurfs die Sicherheit unbezweifelten Wissens, von der aus das Wagnis des nichtwissenden und utopischen Entwerfens eines künftig Seienden eingegangen werden kann, das dann wieder gewusst werden kann. 4 Bildung ist auf die Möglichkeit des Kommenden gerichtet. Um dessen willen muss sie jedes Wissen hinter sich lassen. Und doch ist auch Bildung. Und kann es daher von ihr ein Wissen geben. Ein Wissen allerdings besonderer Art. Dies Wissen ist in zweifacher Weise auf den Prozess, also auf Bewegung bezogen. Erstens ist es selbst ein Moment des Prozesses, also aus Nicht-Wissen, also aus Destruktion (Kritik) von Wissen entstanden; sich selbst als prozesshaft wissend, daher sich der Kritik ständig aussetzend und selbst bezweifelnd; Wissen, das sich in Bewegung hält. Zweitens ist es Wissen des Prozesses, Wissen der Bewegung; also Wissen um die Begrenztheit des möglichen Horizonts von Wissen, da dieses sich nur auf Seiendes beziehen kann; was sein wird, aber dem praktischen Gestalten von Welt überantworten muss, das Seiendes nicht repräsentiert, sondern entwirft und verwirklicht. Diesen doppelten Bezug auf Bewegung finden wir auch in der Architektur. Zum ersten schafft sich die Architektur selbst Bewegungsraum, indem sie den Bauplatz räumt. Davon war schon die Rede. Zum zweiten aber ist für das, was sie dann hervorbringt, was sie baut, nicht allein maßgeblich, was dann an Seiendem errichtet wird: die physischen Elemente nämlich, aus denen der Bau besteht, sondern ebenso der leere Raum zwischen diesen, der Raum, den sie schafft, damit Menschen sich dort bewegen können. Architektur braucht Raum, und sie schafft Raum; sie braucht Raum, um Raum schaffen zu können. In der Pädagogik lässt sich der doppelte Bezug auf Bewegung im Begriff des „Bildungsraums“ oder – übernommen von dem englischen Psychoanalytiker Winnicott – des „Potenziellen Raums“ fassen. Bildung macht sich frei vom vorhandenen Wissen und schafft so Raum für geistige Bewegung, die neues Wissen hervorbringen wird. Dies geschieht in dem Wissen, dass Wissen selbst nur repräsentieren kann, was ist, nicht aber die Leere zu füllen vermag, die durch ihre zersetzende Tätigkeit entsteht; hier vielmehr der Raum für Entwürfe geschaffen wird, die nur durch Praxis zu verwirklichen sind. Bewegung 3. These: Bewegung ist immer geistig. (Eine Architektur wissender Beweglichkeit ist zurückhaltend und anstößig.) Ich habe soweit mit Inhalt zu füllen versucht, was der Titel „wissende Beweglichkeit“ intendieren könnte. Dabei habe ich mit Analogien operiert zwischen Pädagogik und Architektur, die hoffentlich einigermaßen plausibel und erhellend waren. Doch möchte ich abschließend noch einen Schritt weitergehen. Der Raum, den wir in der Pädagogik meinen, wenn von „Raum für Bildung“ die Rede ist, ist Bewegungs- und Entwicklungsraum für die Fähigkeiten eines Menschen. Wir meinen in aller Regel nicht den physischen oder architektonischen Raum. So gesehen, erscheint der pädagogische Gebrauch des Begriffs Raum metaphorisch. Architekten dagegen gestalten physischen Raum; ihr Begriffsgebrauch erscheint daher nicht als metaphorisch. Die Bewegung von Menschen, der Raum gegeben wird, ist als physische Bewegung ge- 5 dacht: Menschen betreten den Raum, gehen hindurch, setzen sich, springen auf, eilen um eine Säule herum, lehnen sich aus dem Fenster usw. Und doch: Die Bewegung von Menschen ist nie nur physisch. Sie halten inne, weil ihnen plötzlich etwas auffällt. Sie gehen auf und ab, um ihren Gedanken auf die Sprünge zu helfen. Ihre physischen Bewegungen sind permanent von geistigen Bewegungen begleitet; teils durch diese motiviert; teils diese anregend. Ein architektonischer Raum ist immer auch ein Kulturraum; hat also etwas von der „Metaphorik“, die das pädagogische Raumverständnis zu charakterisieren scheint. Genauer: Unser lebensweltlicher („realistischer“) Raumbegriff ist eigentlich immer schon mehr als ein nur physischer; dieser ist eine naturwissenschaftliche oder mathematische Abstraktion. Menschliche Bewegung ist immer inspiriert, nämlich von der Lebensintentionalität des sich bewegenden Menschen durchdrungen. Architektur ist somit ebenfalls eine Praxis der Ermöglichung von Bildung. Der Raum, den sie frei gibt, kann wie in der Pädagogik enger oder weiter sein. Die Bewegungsmöglichkeiten in ihm können mehr oder weniger reglementiert sein. Sind sie vollständig determiniert, haben wir es mit der Bewegung einer Maschine, nicht mehr mit einer Bewegung von Menschen zu tun. Was wir von der Architektur aber ebenfalls ablesen können, ist, dass das Freigeben von Raum niemals nur eine Leistung der Abrissbirne sein kann (pädagogisch: der Abstraktion von allem bestehend Bedingenden); dass architektonischer Raum nicht die unendliche Leere bedeutet, sondern durch das Errichten von bewegungshemmenden, die Bewegung beschränkenden, den Raum eingrenzenden Elementen geschaffen wird. Architektur muss demnach anstößig sein, damit eine Raumerfahrung überhaupt möglich wird. Die anstößige Seite der Pädagogik ist die Erziehung. Sie setzt Bedingungen und Grenzen für die Entwicklungs- und Entfaltungsbewegung, schreibt vor, nötigt, raubt Freiheit. Aber sie tut dies um der Bildung, also der Freiheit willen. Architektur ist so gesehen Erziehungspraxis, ebenfalls Freiheitsbegrenzung um der Freiheit willen. Pädagogik hat in der Architektur eine höchst wichtige, eine unverzichtbare Partnerin. Diese sollte so bauen, dass Menschen an ihren Gebilden „Anstoß“ nehmen können. Erst der „Anstoß“ vermittelt ein Raumgefühl; erst die Grenze das Freiheitsgefühl – sofern der Anstoß vom sich bewegenden Menschen ausgeht und nicht von der Architektur. Und sofern er nicht bloßer Stopp der Bewegung und die Grenze nicht unüberwindbar ist. An ihren Grenzen wird Freiheit zur Gestaltungsaufgabe, können die Menschen sich zu ihnen verhalten. Wissen bezieht sich auf das Seiende, also Anstößige und Begrenzende, auf die Dinge, also das Bedingende. Wissend sich zu bewegen, heißt, wissend über das Wissen und insofern über das gewusste Seiende hinauszugehen, um neues wissbares Seiendes und neues Wissen zu schaffen, das wieder anstößig und begrenzend und daher in Frage zu stellen sein wird. Kann man so bauen? Könnten Sie so bauen? 6