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Platons Großer Alkibiades – oder: Der Auftakt der Philosophie

2017, Christian Vogel, Platons Großer Alkibiades – oder: Der Auftakt der Philosophie, in: Latein und Griechisch in Berlin und Brandenburg, Jahrgang LXI, Heft 3/2017, S. 150–155

Die APOLOGIE des Sokrates hat heutzutage eine beinahe konkurrenzlose Vormachtstellung inne, wenn es um die Frage geht, welcher Text den besten Einstieg in das platonische Werk und die griechische Philosophie zu bieten vermag. Auch im Philosophie- und Platonunterricht der Spätantike gab es einen Dialog, der allen anderen Dialogen in dieser Frage den Rang ablief. Für mehrere Jahrhunderte galt der GROßE bzw. ERSTE ALKIBIADES als unangefochtene Einstiegsempfehlung. Von einer derartigen Wertschätzung ist der Dialog heutzutage weit entfernt. Zu Unrecht, wie dieser Text zeigt.

©Musée du Louvre, Paris LATEIN UND GRIECHISCH in Berlin und Brandenburg Säulen des Apollontempel in Side ISSN 0945-2257 Mitteilungsblatt des Landesverbandes Berlin und Brandenburg im Deutschen Altphilologenverband (DAV) http://davbb.de Herausgeber: Der Vorstand des Landesverbandes 1. Vorsitzender: Prof. Dr. Stefan Kipf stefan.kipf@staff.hu-berlin.de 2. Vorsitzende: StR Gerlinde Lutter · g1lutter@aol.com Andrea Weiner Beisitzer: PD Dr. Nicola Hömke ∙ StD Dr. Josef Rabl Redaktion: Maya Brandl StD Dr. Josef Rabl ∙ Josef.Rabl@t-online.de Kassenwart: Peggy Klausnitzer peggy.klausnitzer@t-online.de Verbandskonto: IBAN: DE51 1605 0000 3522 0069 75 BIC: WELADED1PMB Mittelbrandenburgische Sparkasse Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen nicht unbedingt mit der Meinung des Vorstandes übereinstimmen. Anfragen bitte nur an die Schriftführung des Landesverbandes. – Nichtmitgliedern des Landesverbandes bietet der Verlag ein Jahresabonnement und Einzelhefte an. www.ccbuchner.de JAHRGANG LXI / HEFT 3-2017 I N H A LT ■ Gerlinde Lutter: O tempora! – Mit den Alten Sprachen durch das Jahr 119 ■ Sophie Buddenhagen: Das Beste kommt zum Schluss 126 ■ Impressum 131 ■ Michael Krewet: Schuld, Politik und Gesellschaft im Kontext der tragischen Dichtung des antiken Griechenland 132 ■ Christian Vogel: Platons großer Alkibiades – oder: Der Auftakt der Philosophie 150 ■ Mitteilungen / Hinweise ■ Josef Rabl: Fünf Rezensionen ■ Klaus Bartels: Stichwort Kanzler 156 162 180 C. C. BUCHNER VERLAG · BAMBERG Platons Großer Alkibiades – oder: Der Auftakt der Philosophie – Von Christian Vogel – D ie Apologie des Sokrates hat heutzutage eine beinahe konkurrenzlose Vormachtstellung inne, wenn es um die Frage geht, welcher Text den besten Einstieg in das platonische Werk und die griechische Philosophie zu bieten vermag. Auch im Philosophie- und Platonunterricht der Spätantike gab es einen Dialog, der allen anderen Dialogen in dieser Frage den Rang ablief. Für mehrere Jahrhunderte galt Der große Alkibiades bzw. Der erste Alkibiades (in Abgrenzung zum kleineren Dialog, den sogenannten Zweiten Alkibiades) als unangefochtene Einstiegsempfehlung. Für diese Präferenz werden von den antiken Kommentatoren vor allem zwei Gründe genannt. Der erste Grund betrifft das zentrale Thema des Dialoges: die Selbsterkenntnis. Platon selbst lässt seinen Sokrates im Phaidros sagen, wie lächerlich es doch wäre, zuerst alles andere erkennen und verstehen zu wollen, wenn man zuvor noch nicht einmal sich selbst erkannt habe.1 Auch Sokrates 1 Vgl. Plat. Phaidr. 229e–230a sowie Olympiodor in Alc. 10,18–11,1 (vgl. z. B. die neuste Edition von Michael Grifin (Hg. und Übers.), Olympiodorus: Life of Plato and On Plato, First Alcibiades 1–9, London 2015). 2 Vgl. Olympiodor in Alc., 11,1–6 sowie Proklos in Alc. 4, 19 –5,12 (vgl. L. G. Westerink und William O’Neill (Hg. und Übers.), Proclus: Commentary on the First Alcibiades, Westbury 2011). 3 Proklos in Alc. 1,3–5: Τῶ Π α ω ῶ α ω αὶ π , ὡ ἰπ ῖ , ῆ φ ο φου ω α ἀ χὴ υ ω αὶ αο ἶ α ο ο ὴ ῆ αυ ῶ οὐ α ω έ 4 Vgl. Proklos in Alc. 11,12–15. 5 Zur Frage der Echtheit vgl. die kompakte Darstellung von Klaus Döring (Übers. und Komm.), Platon. Erster Alkibiades, Göttingen 2016, S. 164–172. 150 selbst sei überhaupt erst zur Philosophie gekommen, indem er der berühmten Aufforderung vom Eingang des Tempels von Delphi „ ῶ αυ ὸ – Erkenne Dich selbst!“ nachging.2 Dem schließen sich die Platoniker der Spätantike an: „Wir glauben, dass die Erkenntnis unseres eigenen Wesens den angemessensten und sichersten Einstieg in die Platonischen Dialoge, um nicht zu sagen in gesamte Philosophie bietet.“3 Der zweite Grund betrifft die Ausarbeitung des Dialoges, der so gestaltet ist, dass in diesem kleinen Text bereits die gesamte platonische Philosophie umfasst zu sein scheint. Der Alkibiades sei wie ein „Samenkorn der platonischen Philosophie“, das bereits all das enthalte bzw. antizipiere, was in anderen Dialogen in differenzierter und entfalteter Form dargestellt werde.4 Von einer derartigen Wertschätzung ist der Dialog heutzutage weit entfernt. Denn so richtig erholen konnte sich der Alkibiades nicht mehr, seit Friedrich Schleiermacher in der Einleitung zu seiner Übersetzung diesem Text voreilig die Echtheit absprach.5 Von einem der zentralen und wichtigsten Dialoge Platons geriet der Alkibiades seitdem in eine wenig beachtete Randposition, die er bis heute innehat. Dies ist insbesondere deshalb schade, weil dieser Dialog nicht nur sachlich ein zentrales Thema der Philosophie angeht, sondern auch didaktisch in bemerkenswerter Weise den Weg vom ersten Wundern, über das notwendige Zweifeln und die einsichtge Selbstkritik zur Selbsterkenntnis beschreitet, die im platonischen Verständnis zugleich den Anfang und das Ende von Philosophie darstellt. Der Alkibiades geht den Weg bis zu der Art von Selbsterkenntnis, die den JAHRGANG LXI · LGBB 03 / 2017 Einstieg in die Philosophie ermöglicht. Mit dem sogenannten Augengleichnis enthält der Text im Kern jedoch bereits eine Andeutung zum Ziel des Philosophierens, wonach gelungene und vollendete Selbsterkenntnis in der Entfaltung der Vernunftvermögen der menschlichen Seele und in Gotteserkenntnis münde. Aber fangen wir von vorne an. Am Anfang steht das Wundern οἶ α αυ – Ich glaube, dass Du Dich wunderst! So lässt Platon seinen Sokrates das Gespräch mit Alkibiades eröffnen – dem Alkibiades, der, wie es heißt, als Knabe den Frauen ihre Männer, als Jüngling den Männern ihre Frauen wegnahm, der als Staatsmann und Feldherr einen berüchtigten Ruf hinterließ, der für seine gewinnende Art geliebt und bewundert, wegen seiner Selbstsucht, seines Hochmutes und seines Ehrgeizes gefürchtet wurde. Platon versetzt das Gespräch in die Zeit, in der die Blüte der Jugend des Alkibiades zu verblassen beginnt und dessen Streben nach Anerkennung und Ehrgeiz zu politischer Macht ungeduldig auf Umsetzung zu drängen beginnen. Ausgerechnet jetzt spricht Sokrates erstmals den aufstrebenden Jüngling und künftigen „Politstar“ an und es ist ganz sicher kein Zufall, dass Platon das Wundern des Alkibiades als Einfallstor für das Gespräch wählte. Denn das Wundern, so sagt Sokrates auch im Theaitet, sei der speziische Seelenzustand des Philosophen6 und gelte seitdem als φ ο οφ α ἀ χ – der Beginn der Philosophie.7 Zuvor schenkte der stets von zahllosen Bewunderern umlagerte und vom Hochmut getriebene Alkibiades dem eigentümlichen Sokrates keine Aufmerksamkeit. Aber ausgerechnet jetzt, da sich die Bewunderer abwenden, wendet sich Sokrates ihm zu. Das macht den jungen Mann neugierig. Damit eröffnet sich für Sokrates überhaupt erst die Möglichkeit, mit seinem Anliegen auf einen halbwegs offenen und aktiven Zuhörer zu trefLGBB 03 / 2017 · JAHRGANG LXI fen. Sokrates erkennt die Unsicherheit des eitlen Sprosses adligen Hauses, die sich aus dem Verlust der gewohnten Anerkennung für seine Schönheit ergibt, und nutzt diese Phase der ersten Verwunderung, um die Neugier weiter zu steigern. Er spricht Alkibiades auf dessen Vorhaben an, zeitnah vor die Athener Volksversammlung treten zu wollen, um politischen Einluss nehmen zu können, und trifft mit der kühnen Behauptung, dass er – Alkibiades – ohne ihn – Sokrates – die angestrebte Macht nicht erreichen können werde, einen empindlichen Nerv des ehrgeizigen Jünglings. Alkibiades, der bislang davon ausging, in seinem Aufstieg ohnehin nicht aufzuhalten zu sein, und bereits alles Wichtige für seine politische Aktivität zu können und zu wissen, ist nun bereit, im Dialog die Gründe für die verwegene Aussage zu erfahren. Sokrates erwartet hierfür nur zwei Zugeständnisse: Alkibiades möge aufmerksam zuhören und bereitwillig antworten. Die Wurzel allen Übels: das doppelte Nichtwissen Da Alkibiades ihm diese Zugeständnisse gewährt, kann Sokrates mit seinen berüchtigten Nachfragen in wenigen Schritten das Fundament des zuvor scheinbar unerschütterlichen Selbstbewusstseins des Alkibiades komplett zum Einstürzen bringen. Alkibiades, der eben noch glaubte, besser als alle Anderen politisch beraten und entscheiden zu können, muss zugeben, dass er die Grundlage politischer Entscheidungen nicht kennt, geschweige denn versteht: er weiß weder, was es heißt, gerechte, noch was es heißt, für die Gemeinschaft nützliche Entscheidungen zu treffen. Er muss seine komplette Verwirrung eingestehen. 6 Alkibiades, Göttingen 2016, S. 164–172. Vgl. Plat. Tht. 155d: α ὰ φ ο φου οῦ ο ὸ π ο , ὸ αυ . 7 Vgl. Proklos in Alc. 42,9: ὸ ὲ αυ οῦ ο φ ο οφ α ὶ ἀ χ έ 151 Den Grund für das Schwanken liefert ihm Sokrates prompt: Alkibiades glaube zu wissen, ohne jedoch tatsächlich zu wissen. In wenigen, leicht nachvollziehbaren Schritten (116e–118b) nennt Sokrates dem am Boden zerstörten Alkibiades die Gründe für seinen Zustand: Wenn Alkibiades wirklich Ahnung in dem hier verhandelten Bereich hätte, würde er durch die Fragen des Sokrates nicht ins Schwanken geraten. Wenn ihm andererseits bewusst wäre, dass er hierin keine Ahnung hätte, würde er ebenfalls nicht schwanken. Er würde stattdessen im Eingeständnis seiner Ahnungslosigkeit entweder sich das notwendige Wissen aneignen oder einfach einen Experten zu diesem Thema zu Rate ziehen. Dieses einfache Nichtwissen stelle folglich kein Problem dar, weil man dadurch entweder hinzulernen oder Verantwortung abgeben kann. „Wenn nun aber“ fragt Sokrates „weder die Wissenden, noch diejenigen unter den Nichtwissenden, welche wissen, dass sie nicht wissen [ins Schwanken geraten und Fehler begehen], wer bleibt da noch übrig als solche, die keine Ahnung haben, sich aber einbilden, die Sache zu verstehen?“ Alkibiades muss kleinmütig antworten: „Niemand anderes als diese.“8 Diese Art des Nichtwissens sei nun, so Sokrates, die Wurzel allen Übels und die schlimmste Art der Ungebildetheit. Denn dieses doppelte Nichtwissen – also nicht zu wissen, dass man nicht weiß – führe dazu, dass man erstens nicht dazu lernt. Denn wozu sollte jemand lernen, wenn er doch alles bereits zu wissen glaube? Zweitens führe diese Art des Nichtwissens dazu, dass man im Irrglaube der eigenen Kompetenz Fehler begeht. Wenn nun diese Art der Ungebildetheit auch noch dort Einluss gewinnt, wo Entscheidungen weitreichende Konsequenzen für viele Menschen haben, wie z. B. in der Politik, dann können diese Fehler fatale Folgen haben. 8 Plat. Alc. 117e–118a. ἰ α οὐ 9 Vgl. Plat. Apol. 21d: ἀ ᾽ ο ο ὲ οἴ α ἰ , ὼ , ὥ π ο οὐ οἶ α, οὐ ὲ οἴο α έ 152 Vom Vorteil des einfachen Nichtwissens Vor diesem Hintergrund ist das vielzitierte einfache Nichtwissens des Sokrates9 ein Segen. Da nun auch Alkibiades die Ursache seines Schwankens kennt, nämlich seine Ahnungslosigkeit, ist er bereit, mit diesem nur noch einfachen Nichtwissen dazu zu lernen. Dass er sich mit seiner Ahnungslosigkeit unter den Politikern seiner Zeit in bester Gesellschaft beinde, schwäche die Notwendigkeit hinzuzulernen nicht ab; jedenfalls dann nicht, wenn er es in der Politik wirklich zu etwas bringen möchte. Sokrates zeigt ihm auf, dass sich Alkibiades nicht an den Schwächen der Athener allein orientieren dürfe, sondern auch die Stärken der Spartaner oder Perser im Blick haben müsse. Es hilft nichts: Alkibiades müsse sich selbst verbessern, um sich politisch durchsetzen und den erhofften Ruhm ernten zu können. Hierzu braucht er Hilfe; und Alkibiades ist nun bereit, sich von Sokrates helfen zu lassen, um besser zu werden. Denn nicht einmal auf die Frage, worin er denn überhaupt besser werden müsse, indet Alkibiades allein eine Antwort. Er ist verzweifelt, dabei aber nun nicht mehr stur und hochmütig, sondern lernwillig und fügsam. Er weiß nun, dass er die entscheidenden Dinge für sein Vorhaben nicht weiß und beindet sich hiermit an dem Ausgangspunkt für jegliches Philosophieren. Streben nach Anerkennung als Motor für die Wissenserweiterung Der Alkibiades, der eben noch nicht schnell genug auf die große Bühne gehen konnte, um die Athener von sich und seinen politischen Führungsqualiten zu überzeugen, weiß nun, dass er zunächst an sich selbst arbeiten muss, um sich in der Politik überhaupt erfolgreich bewähren zu können. Dem Charakter des Jünglings angemessen lässt JAHRGANG LXI · LGBB 03 / 2017 Platon seinen Sokrates nicht mit der Aussicht auf ein Wissen um die Prinzipien guter und gerechter Politik locken, sondern mit der Furcht eines vom Ehrgeiz getriebenen und nach Anerkennung strebenden Jünglings vor einer drohenden Niederlage gegen seine Widersacher und dem damit einhergehenden Spott und Verlust seines Rufes. Ein Blick auf Platons Seelenlehre10 verrät, dass der hier gezeichnete Alkibiades offenkundig in erster Linie vom Eifer ( υ ) getrieben ist, also dem Seelenteil, der nach Anerkennung und nach gerechter Behandlung durch Andere strebt und daraus seine Lust zieht (Thymoeides). Das erkennt Sokrates: Nicht das Versprechen um die Erkenntnis dessen, was eine gute und gerechte Ordnung eines Gemeinwesens ausmacht, kann ihm die Aufmerksamkeit des Alkibiades sichern, denn dessen vernünftiger Seelenteil (Logistikon), der sich durch die Betätigung des Denkvermögens die größte Lust verspricht, ist noch nicht kultiviert. Und auch das Versprechen von Reichtum und Vermehrung von sinnlichen Gelüsten, die ein Machtzuwachs mit sich bringen könnte, würde allein Alkibiades nicht dazu bringen, im Gespräch zu bleiben, da der Seelenteil, der nach sinnlicher Befriedigung strebt (Epithymetikon) bei ihm nicht mehr die führende Rolle inne zu haben scheint. Dem Alkibiades des Dialogs geht es um Anerkennung und so treibt ihn, nachdem Sokrates ihm seine Deizite vor Augen geführt hat, die ernsthafte Sorge darum, nicht gut genug zu sein, dazu, sich für die Frage zu interessieren, was es denn mit der Sorge und Kultivierung seines Selbst auf ὸ αυ οῦ π ῖ α ): „Denn sich hat ( ist es nicht so, dass wir uns häuig unbemerkt gar nicht wirklich um uns selbst kümmern, dabei aber doch glauben, dies zu tun?“11 Selbsterkenntnis vor Selbstoptimierung Sokrates führt Alkibiades im Folgenden zu der Einsicht, dass es einen Unterschied zwischen der LGBB 03 / 2017 · JAHRGANG LXI Sorge um „das Seinige“ und der Sorge um sich selbst gibt. So wie es einen Unterschied mache, ob man sich um einen guten Zustand der Füße kümmert oder um einen guten Zustand von Schuhen, die den Füßen dienen sollen, so mache es einen Unterschied, ob man sich um sich selbst kümmert oder um Dinge, die diesem Selbst dienen. Und wie es unterschiedlicher Expertisen bedürfe, wenn man Füße auf der einen (Orthopäde) oder Schuhe auf der anderen Seite (Schuster) besser machen möchte, so würden auch unterschiedliche Expertisen für die Verbesserung des Selbst hier und die Verbesserung der Dinge, die dem Selbst dienen, dort verlangt. Sich um eine Sache α) heißt, diese Sarichtig zu kümmern ( π che besser zu machen. Hierzu ist es nötig, dass man den Gegenstand, den man besser machen möchte, kennt. Folglich muss auch derjenige, der sich um sich selbst kümmern will, zunächst wissen, was dieses Selbst überhaupt ist. Alkibiades versteht nun: Der „Selbstoptimierung“12 geht die Selbsterkenntnis zwingend voraus. Selbstsorge als Seelsorge Alkibiades gesteht ein, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Gebrauchenden und dem Gebrauchten geben müsse. Dieses Eingeständnis wird nun auf die vorliegende Frage nach dem Wesen des Menschseins angewendet. Wie der Handwerker erstens den Hammer und zweitens seine Hände und seine Augen gebraucht und sich selbst damit von seinen materiellen und 10 Vgl. hierzu den locus classicus Plat. Pol. 435a–441c; sowie ausführlich und populäre Missverständnisse zur Platonischen Seelenlehre beseitigend Stefan Büttner, Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen und Basel 2000, S. 18–130. 11 Plat. Alc. 127e–128a: ὴ πο ω οὐχ ἡ ῶ αὐ ῶ π ο ο , οἰ ο ν 12 Das Platonische Pendant hierfür ist die ἀ („Bestheit“) bzw. die („Vollendung“ oder „Vervollkommnung“). 153 körperlichen Werkzeugen (ὄ α α) unterscheidet, so unterscheide sich der Mensch im Allgemeinen von seinem Körper, dessen Teile er selbst doch wie Werkzeuge gebrauche. Der Mensch bediene sich seines Körpers: Zunge und Stimme, um zu reden, Hände, um zu arbeiten, Beine, um an ein Ziel zu gelangen. Somit sei der Mensch nicht mit seinem Körper identisch. Es gibt also etwas, das die Werkzeuge, d. h. den Körper, bedient und dieses etwas nennt Sokrates Seele.13 Eine erste Erkenntnis des Selbst führt also zu der Einsicht, dass der Mensch in erster Linie Seele und das heißt zugleich: nicht Körper ist. Die Konsequenz dieser Einsicht lautet: Selbstsorge bedeutet Seelsorge. Wem dieses erste Ergebnis enttäuscht, der darf einmal beobachten, worum er selbst und die Menschen seiner Umgebung sich die meiste Zeit kümmern. Sokrates selbst macht darauf aufmerksam, dass dies nur ein erstes, oberlächliches Ergebnis sein könne.14 Doch das Zugeständnis dessen, dass man mit einer differenzierten Untersuchung noch genauere Ergebnisse erzielen könne, heißt noch nicht, dass dieses erste Ergebnis nutzlos wäre. Denn es lenkt den Fokus der Fürsorge weg von einer zu hohen Wertschätzung gegenüber Körperlichem und überhaupt Materiellem. Wer den Großteil seiner Aufmerksamkeit seinem Körper widmet, kümmert sich nur um sein Werkzeug, wer hauptsächlich nach Geld und anderem Besitz strebt, kümmert sich um Werkzeuge für sein Werkzeug und entfernt sich immer weiter von sich selbst.15 Selbsterkenntnis führt also in diesem Sinne zu einer Besonnenheit, die den Bestrebungen nach Sinnlichem und Materiellem ihre Vorrangstellung im menschlichen Handeln nimmt und diese der Fürsorge um die Seele unterordnet. Sokrates nutzt diese nun gewonnene Einsicht, um die Kränkung des Alkibiades abzumildern: Wenn seine Bewunderer gerade dabei sind, sich von 13 14 15 16 Vgl. Plat. Alc. 130a. Vgl. ebd. 130c–d. Vgl. ebd. 131b–d. Vgl. ebd. 132b–133c. 154 ihm zu lösen, weil er seine jugendliche (äußerliche) Strahlkraft zu verlieren beginnt, so hätten sie nicht das im Blick, was Alkibiades im Wesentlichen auszeichne: seine Seele. Sokrates selbst hingegen erkenne, dass diese Seele gerade erst zu blühen anfängt, weil sie nun im Begriff sei, nach Besserem zu streben, d. h. nicht mehr nur nach einem schönen Körper oder nach mehr Vermögen, sondern nach Selbsterkenntnis. Das Augengleichnis Mit dem Augengleichnis, das das Wesen der Selbsterkenntnis umschreiben soll, zeichnet Platon hier eines der schönsten Bilder seiner Dialoge:16 Wie das Auge sich selbst in einem anderen Auge erblicke, indem es sich darin spiegele, und zwar konkret nur in dem „besten Teil“ des Auges, in der Pupille, so erkenne sich die Seele selbst bei einem Blick in eine Seele, und zwar nur in den „besten Teil“ der Seele, d. h. den vernunftbegabten. Das Vermögen dieses Teils bestehe in der Erlangung von Wissen und Einsicht und dieses Vermögen sei der göttliche Teil der menschlichen Seele, so dass derjenige, der seine Aufmerksamkeit auf dieses Vermögen richte, auch Göttliches selbst erkennen könne. Wenn folglich die Seele sich der ihr innewohenenden Vernunft bediene, komme sie nicht nur ihrem, dem Menschen speziischen Vermögen, sondern auch Gott am nächsten: Erkennender und Erkanntes werden in diesem Akt eins. Selbsterkenntnis und Politik Wer nun nicht erkenne, worin dasjenige besteht, was dem Menschen seinem Wesen nach guttut, könne weder für sich selbst noch als Politiker für andere die besten Entscheidungen treffen. Die Selbsterkenntnis wird damit im wahrsten Sinne des Wortes zur Königsdisziplin. Macht ohne Besonnenheit hingegen führe zum eigenen Unglück und zum Unglück für die Gemeinschaft, denn hier stünden lediglich Werkzeuge und Werkzeuge für JAHRGANG LXI · LGBB 03 / 2017 Werkzeuge im Fokus der Aufmerksamkeit. Wem und wozu aber diese Werkzeuge (ein gesunder Körper, Besitz und Vermögen) überhaupt zu dienen haben, hätten diese Politiker nicht im Blick. Wer glücklich werden möchte, brauche nicht , also eine bestmöglich Macht, sondern ἀ ausgebildete Seele.17 Sokrates präsentiert Alkibiades den Schluss, dass jemand, solange er selbst nicht weiß, was ihm selbst wirklich guttut, auch Abstand von dem Vorhaben nehmen sollte, über Andere bestimmen, Andere regieren zu wollen. Ein Rat, der zugleich zeitlos und aus der Zeit gefallen ist. Platon, der um die weitere berüchtigte Karriere des Alkibiades wusste, offenbart hier auch seinen Humor. Denn ausgerechnet der später für seine unbändige Selbstsucht verschriene Alkibiades zeigt sich hier am Ende des Dialoges einsichtig und kleinmütig bereit, von Sokrates zu lernen und solange Abstand von seinen Plänen zu nehmen, wie er nicht selbst zu der für eine Politik, die ihren Namen verdient, notwendigen Einsicht und entsprechendem Wissen gelangt ist. Zugleich legt Platon mit diesem Exempel kontrafaktischer Geschichte aber auch die Bedingungen offen, die nicht nur gelingender Politik, sondern jedem gelingenden glücklichen Leben zugrunde liegen. Dies sind erstens die aus einem Wundern sich ergebende Neugier und Offenheit zuzuhören, zweitens die Befreiung von der doppelten Unwissenheit, drittens das aus der Einsicht in die eigenen Deizite entstehende Bestreben dazuzulernen und viertens die Suche auf den Gegenstand jeglichen Bemühens zu richten, d. h. auf den Gegenstand der Selbstverbesserung bzw. -verwirklichung, die der Glückseligkeit vorausgehen. Dieser Gegenstand ist das eigene Selbst, für das solche Dinge wie ein gesunder, attraktiver Körper, Geld und Macht nicht mehr als Werkzeuge sein können. Fazit Der hier präsentierte Alkibiades stellt womöglich für viele (nicht nur) junge Menschen eine Identiikationsigur dar: etwas vorlaut und besserwisserisch, eitel, nach Aufmerksamkeit und Bestätigung dürstend. Platon stellt ihm einen Sokrates zur Seite, dem es gelingt, einen solchen Menschen für sich zu gewinnen, indem er ihn genau dort reizt, wo er reizbar ist, und dessen Streben nach Anerkennung dafür nutzt, um Erkenntnisfortschritte zu vermitteln. Wer sich selbst verbessern will, muss wissen, was dieses „Selbst“ überhaupt ist. Der Alkibiades führt einerseits zu einer eindeutigen Antwort auf die Frage, was dieses „Selbst“ nicht ist, und gibt andererseits mit dem „Augengleichnis“ einen Ausblick darauf, wie und wo dieses „Selbst“ zu inden sein könnte. Damit sind das Alpha und das Omega der (Platonischen) Philosophie in diesem Text so geschickt zusammengebunden, dass er lange Zeit zurecht als vorzüglicher Einstieg in das Platonische Denken galt. Der Sache nach jedenfalls hat dieser Vorzug bis heute nichts von seiner Berechtigung verloren. 17 Vgl. ebd. 135b. LGBB 03 / 2017 · JAHRGANG LXI 155