Interview mit Reimar Lüst
2. Dezember 2002
Autoren:
H. von Storch
K. Hasselmann
ISSN 0344-9629
GKSS 2003/16
GKSS 2003/16
Interview mit Reimar Lüst
2. Dezember 2002
Autoren:
H. von Storch
(GKSS, Institut für
Küstenforschung)
Klaus Hasselmann
(Max-Planck-Institut für
Meteorologie, Hamburg)
GKSS-Forschungszentrum Geesthacht GmbH • Geesthacht • 2003
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GKSS 2003/16
Interview mit Reimar Lüst – 2. Dezember 2002
Hans von Storch und Klaus Hasselmann
39 Seiten mit 24 Abbildungen
Zusammenfassung
Reimar Lüst – ein Name, der für jahrzehntelange Gestaltungskraft und Innovation steht.
Der eine beeindruckende Geschichte hinter sich hat: vom Pastorensohn zum Heizer auf
einem Patrouillenboot, zum U-Boot-Ingenieur, zum Studenten in einem texanischen
Gefangenlager, zum Weizsäcker-Doktoranden, zum theoretischen Physiker, zum Experimentator, der den Sonnenwind sichtbar werden ließ, zum Max-Planck-Präsidenten in
turbulenten Zeiten, zum Generaldirektor der Europäischen Weltraumagentur – mit vielen
Ehrenämtern und Preisen. Und für die beiden Interviewer schließlich ein guter Zimmernachbar. Grund genug, Revue passieren zu lassen, Erfahrungen zu kondensieren, Geschichten
zu erzählen. Zwar wiederholt sich Geschichte nicht, verändert sich alles – aber dennoch
ist die Gegenwart konditioniert durch die Vergangenheit, gerade auch in der Wissenschaft.
Das Gespräch mit Reimar Lüst zeigt einmal mehr die alte Wahrheit, wonach wir heutigen
Wissenschaftler auf den Schultern von Riesen stehen.
Manuskripteingang in TDB: 12. Juni 2003
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Interview: von Storch: Herr Lüst, wir sind ja heute hier an Bord der Ludwig Prandtl und
wenn ich richtig orientiert bin, kannten Sie Ludwig Prandtl. Wenn wir vielleicht mit dieser
Geschichte anfangen?
Lüst: Ich traf ihn, als ich in Göttingen meine Doktorarbeit begann. Bei dem Thema musste
ich die hydrodynamischen Gleichungen anwenden, um eine rotierende Gasmasse zu
untersuchen. Wichtig dabei war die Turbulenztheorie mit so genanntem Mischungsweg der
Turbulenzelemente. Er war von Prandtl eingeführt worden. Deshalb hatte Weizsäcker mir
geraten, ich sollte doch mal ein Gespräch mit Prandtl suchen, der seinen Arbeitsplatz im
Nebengebäude hatte. Das Max-Planck-Institut für Physik lag in der Böttinger Str. 16 und
daneben das Max-Planck-Institut für Strömungsforschung mit Tolmien als Direktor. Prandtl
kam immer noch regelmäßig ins Institut. Ich sehe ihn noch, wie er gebückt ins Gebäude kam.
Ich meine auch, er hätte mir dann auch irgendein Experiment gezeigt. So habe ich zumindest
sein Bild vor mir, mit kurzem Bart. Ich weiß nicht, wie alt er 1950 gewesen ist, aber ganz
sicher weit über 70. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an ihn erinnern können.
Prof. Lüst, Prof. von Storch und Prof. Hasselmann auf der „Ludwig Prandtl“, Dezember 2002
Hasselmann: Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt; ich habe aber bei seinem Schüler, Karl
Wieghardt, in Hamburg meine Diplomarbeit gemacht und später bei Tolmien promoviert.
Lüst: Tolmien, ein Aerodynamiker und Strömungsforscher, war Koreferent meiner
Doktorarbeit, er musste sie dann begutachten. Ich habe auch als Nebenfach bei meiner
Doktorprüfung Strömungsforschung gewählt, und zwar deswegen, weil bei Tolmien ganz
klar war, was er fragte. Er hatte die Eigenschaft, bei seiner Vorlesung immer die
Hauptkernsätze an die Tafel zu schreiben. Wer sich diese Hauptkernsätze merkte, war sicher,
dass er die Prüfung bei Tolmien auch mit ‚sehr gut’ bestehen konnte. Das war ein sicheres
Verfahren, Strömungsforschung als Nebenfach zu wählen, wenn man ein bisschen auswendig
lernen konnte.
-6Ich hatte in Frankfurt studiert, an der Universität Göttingen war ich dann als Doktorand. In
Göttingen musste man auch Vorlesungen gehört haben, um promovieren zu können. Aber
damals hatte ich wenig Geld und deshalb zwei Vorlesungen ausgewählt, die man gratis
belegen konnte, die aber ausreichten. Die eine Vorlesung nannte sich „Die Einführung in die
Göttinger Bibliothek“. Sie wurde vom Bibliotheksdirektor gehalten. Die zweite war von dem
Psychologen Alex „Psychologie des Alltags“. So war mein Studienbuch geschmückt mit
diesen beiden Testaten. Die anderen Vorlesungen habe ich schwarz gehört, auch die bei
Tolmien.
von Storch: Wir haben ja schon vorweg erörtert, dass das Biographische sehr viel Material
ist. Haben Sie Lust, ein bisschen zu erzählen, ohne dass ich jetzt konkret nachfrage?
Lüst: Als der Käpt’n dieses Schiffes gerade schilderte, dass er ein Küstenschiffer sei, wurde
ich an meinen Großvater erinnert, der war auch Küstenschiffer. Er stammte aus Esens. Dort
ist mein Vater geboren, in Ostfriesland. Obwohl ich meinen Großvater nie erlebt habe, er ist
schon vor meiner Geburt gestorben, muss wohl von daher die Idee gekommen sein, dass ich
unbedingt zur Marine wollte. Deshalb finde ich es auch schön, dass wir diese Fahrt heute mit
diesem Küstenschiffer machen.
Vorpostenboote beim Auslaufen von Gotenhafen, 1941
Mein ursprünglicher Plan für die Zukunft war, dass ich Schiffbau studieren wollte, deswegen
hatte ich mich zur Marine gemeldet. Das war im Jahr 1940, zu der Zeit war es ja so, dass man
mit einem Reifevermerk im Zeugnis aus der Schule entlassen wurde, d.h. eine richtige
Abiturprüfung habe ich nie gemacht, weil ich im Januar 1941 zur Marine eingezogen wurde.
Die Rekrutenkompanie war in Braake an der Unterweser. Anschließend an die Rekrutenkompanie absolvierte ich, da ich die Ingenieurlaufbahn gewählt hatte, einen Werkstattlehrgang in Kiel. Danach begann für mich die Seefahrt, auf einem Vorpostenschiff, einem
umgebauten Fischdampfer Baujahr 1914. Das war eine harte Zeit.
von Storch: Ich verstehe, Sie haben dort unter anderem auch gelernt, wie man einer
Maschine Treibstoff zuführt.
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Frühjahr 1941
Lüst: Ja, der Treibstoff war damals noch in fester Form, nämlich Kohle. Ich musste unten im
Kesselraum stehen und Kohle trimmen oder auch die Kohle aus dem Bunker rausholen. Die
Kohle musste auch aufgebrochen werden. Das waren so richtige große Klumpen, die auch
noch klein gemacht werden mussten. Das Anstrengendste war, die Schlacke aus dem
Flammenrohrkessel herauszuholen. Wenn der Seegang stark war, war ich dann auch oft noch
seekrank. Das war körperlich vielleicht die härteste Zeit, die ich je durchgestanden habe.
von Storch: Aber dann haben Sie ja kurz darauf der Küstenseefahrt ade gesagt und haben
sich noch weiter auf den Ozean hinausgewagt.
Lüst: Ja, wie das bei der Marine so war, man fuhr zur See, wurde dann wieder abkommandiert zur Marineschule nach Kiel. Im nächsten Abschnitt bin ich dann wieder auf dem
Vorpostenboot gefahren. Da konnte man sich nicht freiwillig melden, sondern plötzlich war
der Befehl da. Das nächste Kommando befahl mich auf ein U-Boot. Das U-Boot lag in
Memel bei einer Flotille zur Ausbildung der Kommandanten. Da musste man nun lernen, wie
es auf einem U-Boot zugeht.
von Storch: Sie sind dann sehr schnell in den Ernstfall geschickt worden. Das ging ja dann
auch nicht gut.
Lüst: Nein. Die U-Boot-Ausbildung dauerte ungefähr ein halbes Jahr. Zunächst in Memel,
später in Pillau. Dann wurde ich auf ein neues U-Boot abkommandiert, das die Erprobungszeit hinter sich hatte. Ich stieg in Stettin auf das Boot als Ingenieur-Offizier. Von Stettin
fuhren wir weiter nach Kiel. Dort war Torpedo-Aufnahme und alles, was zu einer Feindfahrt
-8dazu gehörte. Im April 1943 wurden wir auch noch feierlich mit einer Kapelle in Kiel
verabschiedet, dabei musste die Marine-Leitung eigentlich wissen, dass wir kaum eine
Chance zum Überleben hatten. Wir sind dann über Norwegen, zwischen den Faröer Inseln
und Grönland in den Atlantik gekommen. Als Erstes haben wir gleich einen großen Geleitzug
angetroffen, den wir versucht haben anzugreifen. Dabei wurden wir schließlich von einem
Flugzeug bombardiert, das uns beschädigte, so dass wir nicht mehr ganz tauchklar waren.
Nach einer weiteren Geleitzug-Schlacht mussten wir den Rückmarsch antreten. Zwei Tage
vor dem Einlaufen in unseren Heimathafen Lorient wurden wir dann wieder von einem
Flugzeug erwischt. Das war damals die Zeit, in der die Engländer zum ersten Mal Radar voll
eingesetzt haben. Wir hatten zwar ein Gerät, mit dem wir den Radarstrahl erkennen sollten.
Das nannten wir das Deutsche Kreuz in Holz. Das wurde oben auf den Turm gesetzt, wenn
man über Wasser fuhr. Aber wir hatten immer Sorge, dass da irgend etwas nicht stimmen
könnte. Hinterher, in Gefangenschaft hörte ich dann auch, dass es zwar ganz gut war zum
Detektieren des Radarstrahls, aber es strahlte selbst mindestens genau so stark aus, d.h. die
Flugzeuge brauchten uns mit dem Radar gar nicht mehr anstrahlen, sondern konnten uns auf
diese Weise schon aufspüren. Dieses Flugzeug hat dann zwei Zerstörer herangeholt. Von
diesen beiden Zerstörern wurden wir zwanzig Stunden lang verfolgt, bis wir auf etwa 320 m
abgesackt waren. Das war, wenn ich meinem Kommandanten ins Gesicht schaute, klar das
Ende. Es gab kaum noch eine Chance zu überleben.
Als Kriegsgefangene wurden wir in Schottland von Bord des englischen Flugzeugträgers geführt
von Storch: War das U-Boot freiwillig abgetaucht? Oder war es beschädigt?
Lüst: Wir waren beschädigt, liefen so langsam voller Wasser und konnten es auch kaum
auffangen. Dann entschied der Kommandant, noch einmal zu versuchen aufzutauchen.
Auftauchen heißt Anblasen der Tauchzellen mit Druckluft. Es war unklar, ob die Druckluft
noch reichen konnte, aber plötzlich muss sich die Luftblase ausgedehnt haben. Wir schossen
also nach oben und kamen oben an. Dann stellten wir fest, dass die Zerstörer am Horizont
standen. Der Kommandant hat dann noch versucht, Funksprüche abzusetzen, aber die
Zerstörer begannen, mit Artillerie auf uns zu feuern. Darauf gab der Kommandant das
-9Zeichen, das Boot zu versenken. Nach zwei Stunden hat schließlich einer der Zerstörer den
größten Teil der Besatzung aufgefischt. Gott sei Dank, auch mich!
Lange nach dem Krieg habe ich von einem amerikanischen Kollegen, dem Chef der
amerikanischen Weltraumbehörde (NASA), den Bericht des englischen Kommandanten, der
uns versenkt hatte, zugeschickt bekommen. Mit Bildern! Und auch Auszüge aus dem
Kriegstagebuch der deutschen U-Boot-Waffe mit unseren letzten Funksprüchen.
Hasselmann: Gab es neue Einsichten in die Situation?
Lüst: Nein. Es war nur ganz interessant, diese Einzelheiten kennen zu lernen. Auch damals
hatte man wohl immer wieder versucht, ein U-Boot mal aufzubringen, aber das war in
unserem Fall dann doch nicht gelungen.
von Storch: Aber Sie erzählten ja vorhin, dass es wohl doch einmal gelungen ist, ein U-Boot
aufzubringen. Dieses U-Boot haben Sie dann später in Ihrer Laufbahn noch einmal
vorgefunden. Und ich glaube, Sie haben auch etwas dafür getan, dass es sozusagen erfahrbar
ist.
Lüst: Die Amerikaner hatten im Krieg extra eine Einheit mit Flugzeugträgern eingesetzt, die
sich zum Ziel gesetzt hatte, einmal ein U-Boot aufzubringen. Das war ihnen 1944 gelungen.
Dieses U-Boot wurde nach dem Krieg nach Chicago gebracht. Gerade, als ich in Chicago
ankam, war an der Autobahn, die sich längs des Sees hinzieht, ein großes Zeichen zu sehen
„Attention. Drive carefully. Submarine crossing.“ Weil man es da aus dem Wasser gehoben
hatte. Das Museum for Science and Industry liegt ganz in der Nähe der University of
Chicago. Im Physik-Institut wurden gelegentlich Reparaturarbeiten für das Museum
durchgeführt. Eines Tages kamen die Manometer von dem U-Boot an. Ein Mitarbeiter aus
der Werkstatt wusste, dass ich im Institut als Fulbright-Stipendiat tätig war und hat darüber
den Museumsdirektor informiert. So wurde ich gebeten zu helfen, das U-Boot museumsreif
zu machen. Zum Schluß war ein großer Artikel in der Chicago Sunday-Times mit einem Bild
von mir, wie ich im U-Boot sitze. Wenn man jetzt hinkommt, wird man auf den Tonbändern
gegebenenfalls noch meine Stimme mit deutschen Kommandos hören können.
von Storch: Also, das glückliche Ende dieses an sich schrecklichen Endes.
Lüst: Im Grunde konnte mir im Krieg nichts Besseres passieren, als von Mai 1943 an in
Gefangenschaft zu geraten. Ich bin dann über Gibraltar und England schließlich nach Amerika gebracht worden und landete in Texas in einem großen deutschen Gefangenenlager. Dort
waren 1000 Offiziere des Afrika-Corps, die in Afrika gefangen genommen worden waren,
und 3000 Mannschaftsdienstgrade. In dem Lager war eine eigene Lager-Universität organisiert worden. Im Camp waren unter anderem ein Physiker, zwei Mathematiker, die
Assistenten an einer deutschen Universität waren, und auch noch eine ganze Reihe von
anderen Wissenschaftlern. Sie hielten Vorlesungen, und zwar richtig organisiert nach
Semestern. Gegen Semester-Ende musste man in all den Fächern, die man belegt hatte,
Prüfungen machen. Ich habe noch nie so viel Übungsarbeiten gelöst, wie in der Zeit der
Gefangenschaft. Ich hatte in Gefangenschaft mit Maschinenbau begonnen, weil ich ja
Schiffbau studieren wollte, aber nach zwei Semestern habe ich gemerkt, dass mir eigentlich
Mathematik und Physik näher lagen als das Maschinenzeichnen und die darstellende
Geometrie. So habe ich dann schon in Gefangenschaft zu Mathematik und Physik
gewechselt.
von Storch: Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das in Gefangenschaft war. Ich habe
verstanden, Sie bekamen zwanzig Dollar Sold. Was haben Sie damit gemacht? Gab es da
einen Laden?
- 10 Lüst: Es gab eine Kantine, in der es Zahnpasta und andere Utensilien zu kaufen gab.
von Storch: Aber doch nicht den Courant und Hilbert?
Lüst: Man konnte aber auch Bücher bestellen. Im Krieg haben die Amerikaner eine ganze
Menge deutscher Textbücher fotokopiert und nachgedruckt, vor allem die gelbe SpringerSerie. Dazu gehörte eben der Courant/Hilbert ‚Die mathematischen Methoden der Physik’,
vor allem war nachher für mich ganz wichtig das Buch von Madelung ‚Die mathematischen
Hilfsmittel des Physikers’ und noch einiges mehr. Ich hatte schließlich eine ganz beachtliche
Bibliothek, die ich komplett nach Hause gebracht habe. Aber natürlich habe ich auch
amerikanische Textbücher gekauft.
von Storch: Was kostete damals ein Courant/ Hilbert?
Lüst: Ich denke, zwei bis drei Dollar. Viel mehr kann das nicht gewesen sein.
Hasselmann: Das waren ja sehr aufgeschlossene Amerikaner, in Kriegszeiten, in den Lagern
solche Möglichkeiten zu eröffnen, nicht wahr?
Lüst: Natürlich waren die Amerikaner daran interessiert, dass wir beschäftigt waren. Als
Offiziere brauchten wir ja nach der Genfer Konvention nicht zu arbeiten. Tagsüber war ich
voll belegt als Hörer von Vorlesungen. Aber ich habe auch viel Sport getrieben. Abends
spielten wir Skat oder auch Bridge.
von Storch: Die Gefangenschaftszeit war dann 1946 zu Ende?
Lüst: Ein Jahr nach Kriegsende wurden wir dann endlich wieder, zunächst nach Frankreich,
zurückgebracht. Dort war die große Sorge, dass man evtl. den Franzosen übergeben wurde,
wie das oft geschah. Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich sicher nochmals zwei Jahre bei
den Franzosen im Bergwerk arbeiten müssen. Aber zum Glück wurde ich genau an meinem
Geburtstag, am 25. März 1946, entlassen.
von Storch: Dann merkten Sie, dass die Einschreibefrist in Göttingen schon eine Woche
vorbei war und niemand hatte Erbarmen mit Ihnen, jedenfalls nicht in Göttingen.
Lüst: Ich habe mich zwei Tage nach der Entlassung in den Zug gesetzt, was damals gar nicht
so einfach war, denn zwischen Kassel und Göttingen lag die Zonengrenze zwischen der
amerikanischen und englischen Zone. In Eichenberg musste man aussteigen und sich
kontrollieren lassen. Dann kam ich in Göttingen an, ging zum Dekanat und dort erklärte man
mir, dass es ihnen sehr leid täte, aber die Einschreibungsfrist sei vor einer Woche abgelaufen.
Ich bin sogar bis zum Dekan vorgedrungen. Das war damals Arnold Eugen, ein berühmter,
aber sehr cholerischer Physiko-Chemiker, der mir erklärte, da kämen so viele und darauf
könnten sie keine Rücksicht nehmen. Selbst mein Hinweis, dass ich drei Jahre in
Gefangenschaft gesessen hätte und vorgestern erst zurückgekehrt sei, kümmerte ihn gar
nicht.
von Storch: War das der gleiche, den Sie erwähnt hatten in einem von Ihren Seminaren?
Lüst: Ja, der mich zu späterer Zeit attackierte. Ich bin am nächsten Tag nach Marburg weitergefahren. Da erging es mir ähnlich. Ich hatte zwar ein nettes Gespräch mit dem dortigen
Physiker, dem Geheimrat Grüneisen, aber auch er ließ sich nicht erweichen. So kam ich nach
Frankfurt. Ich hatte bis dahin nicht wirklich gewusst, dass Frankfurt überhaupt eine
Universität hat. Ich habe dann den dortigen Dekan sprechen können. Das war Erwin Madelung. Wie ich ihm von meinem Erlebnis erzählte, insbesondere, wie ich das Buch aus der
Tasche holte, was ich aus der Gefangenschaft mitgebracht hatte, nämlich sein Buch, war er
so angetan, dass er sofort alles organisiert hat. Ich konnte anfangen zu studieren. Er fragte
mich, ob ich ihm nicht das Buch schenken könnte. Ich würde dafür ein Originalexemplar
- 11 bekommen. Das habe ich noch zu Hause mit Widmung. Dass ich in Frankfurt mit dem
Studium beginnen konnte, war wiederum ein Glücksfall, denn eigentlich hätte ich auf die
Schule gemusst, weil ich ja kein Abitur hatte. Es gab jedoch eine Bestimmung, wenn man
drei Semester erfolgreich studiert hätte, dann würde einem das Abitur anerkannt und
Madelung schlug vor, ich solle mal ein Semester studieren. Dann müsste ich eine Prüfung
machen. Wenn ich die bestehen würde, würde man mir noch zwei Semester aus der
Gefangenschaft anerkennen und dann hätte ich ja mein Abiturzeugnis. So war es dann auch.
Nach fünf Semestern konnte ich schon mein Diplom in Empfang nehmen.
Hasselmann: Ich finde, das Ganze prägt auch noch stark Ihren ganzen Lebenslauf, also erst
einmal die Hartnäckigkeit, dass Sie sich also nicht von Göttingen haben abhalten lassen,
sondern eine nächste Möglichkeit gefunden haben, dass Sie die richtige Art hatten, mit der
entsprechenden Person zu sprechen, also klar zu machen, dass finde ich eine sehr schöne
Geschichte. Das fasst eigentlich Ihren Erfolg im Leben wirklich zusammen.
Lüst: Rückblickend muss ich sagen, war es eigentlich ein Glückfall, dass ich nicht in
Göttingen begonnen hatte, denn Göttingen war schon damals relativ voll. In Frankfurt konnte
ich sofort mit theoretischer Physik beginnen. Das hätte ich in Göttingen wahrscheinlich gar
nicht gedurft. Wir waren nur vier oder sechs Hörer bei Madelung in der Theoretischen
Physik. Damit war klar, dass man bei jeder Übung bestimmt einmal an die Tafel kam.
Dieser kleine Kreis um Madelung herum war für meinen Start im Studium ein Glücksfall.
Ich bin dann nach dem Diplom nach Göttingen gegangen. Madelung war auch da sehr
verständnisvoll. Er sah ein, dass ich nicht auch noch die Doktorarbeit bei ihm machen
wollte.
von Storch: Es muss damals doch wesentlich anders gewesen sein als heute, insofern, als
dass Sie eben direkt zu Leuten hingingen, an die Tür geklopft haben. Die waren auch da und
dann haben Sie gesagt, ‚Sag’ mal, kann ich nicht?’ Denn so kamen Sie ja dann auch zu Ihrer
Doktorarbeit bei Weizsäcker.
Lüst: Ja, ohne telefonische Voranmeldung. Das war damals nicht üblich. Was man hätte
machen können, wäre schreiben, aber das hätte mir viel zu lange gedauert. Also, bin ich im
Frühjahr, März, 1949 auch wieder von Kassel nach Göttingen gefahren. Ich habe beim MaxPlanck-Institut in der Böttinger Str. geklingelt und den Pförtner gefragt, ob ich wohl Herrn
von Weizsäcker sprechen könnte. Er erklärte, er müsse mal anrufen. Er hat dann auch
angerufen, und ich konnte sofort rauf kommen zu Weizsäcker. Weizsäcker hat sich alles
angehört. Er sagte, im Moment hätte er zwar wenig Zeit, es begänne gleich das Institutskolloquium, ich könne aber mit rüberkommen. Das war auf der anderen Seite des Ganges.
Das war ein kleiner Raum, in dem vielleicht 20 Personen sitzen konnten. Dort saß ich in der
letzten Reihe, die Tür öffnete sich, es kam jemand herein und fragte, was ist denn heute los,
was gibt es denn? Das war Heisenberg. So habe ich damals Heisenberg kennen gelernt. Der
Vortragende war Arnulf Schlüter, der seine erste Arbeit über Plasmaphysik vortrug, die dann
auch für meine ganze wissenschaftliche Arbeit wesentlich wurde. Von Weizsäcker hat mich
dann als Doktorand akzeptiert. Zunächst wollte er mir ein Thema aus der allgemeinen
Relativitätstheorie geben, wobei aber dann die Experten sagten, das wäre zu schwierig. So
bekam ich ein anderes Problem, was mich auch mehr interessierte, nämlich die Frage ‚Wie ist
die Sonne eigentlich damals in ihrer Rotation abgebremst worden? Wie ist der Drehimpuls
transportiert worden?’ Denn die Sonne rotiert ja relativ langsam in unserem Planetensystem,
während der Haupt-Drehimpuls draußen im Jupiter steckt, sofern man den GesamtDrehimpuls betrachtet. Ich sollte also hydrodynamisch ausrechnen, ob überhaupt so etwas in
einer Gasscheibe passieren könnte.
- 12 -
Bundespräsident Scheel und Werner Heisenberg bei der Alexander von Humboldt-Stiftung, 1974
Hasselmann: Weizsäcker hat damals gerade seine Theorie mit Heisenberg gemacht, also
Turbulenz?
Lüst: Heisenberg’s Doktorarbeit war eine Arbeit über die Turbulenztheorie, die erst jetzt
wieder zitiert wird. In der Internierung haben Weizsäcker und Heisenberg eine Arbeit über
Abholung nach bestandener Doktorprüfung in Göttingen, Mai 1951
die Turbulenztheorie und das Kolmogorov-Spektrum geschrieben. Weizsäcker hatte sich
schon im Krieg mit der Entstehung des Planetensystems beschäftigt und 1948 eine Arbeit
veröffentlicht, wo er zunächst einmal die hydrodynamischen Gleichungen formuliert hat, die
man dazu mit benutzen sollte, ohne dass er selbst etwas gerechnet hat. Ich war dann der erste,
der diese hydrodynamischen Gleichungen praktisch auch ausgenutzt hat.
- 13 Vielleicht noch ein Wort zur Doktorarbeit. Wie damals üblich, wurde die Doktorarbeit natürlich in Deutsch, und dann auch in der deutschen Zeitschrift für Naturforschung veröffentlicht. Damit war sie versenkt. 20 Jahre später haben sich zwei Engländer mit der Frage der
Akkretions-Scheiben beschäftigt, die eine Rolle spielen bei Neutronensternen und hatten
praktisch die gleichen Gleichungen gelöst. Sie sind dann auch zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen. Biermann fand, da müsse doch etwas geschehen. Er hat dann dafür
gesorgt, dass in den siebziger Jahren meine Doktorarbeit von der Bayerischen Akademie ins
Englische übersetzt wurde. Seitdem wird sie auch zitiert. Jetzt gehört es sozusagen zum guten
Brauch, wenn jemand etwas über „accretion disks“ schreibt, zunächst einmal auch meine
Arbeit mit zu zitieren. Sie hat praktisch 20 Jahre geschlummert.
von Storch: Wann waren Sie fertig mit Ihrer Doktorarbeit?
Lüst: 1951. Nach zwei Jahren war ich durch, im Mai 1951.
von Storch: Wie es sich gehört. Unter 30.
Lüst: Doch, ja, stimmt. Ich war 28 Jahre alt, nur hatte ich ja relativ spät begonnen.
von Storch: Ich wollte Ihnen nicht unterstellen, dass sie ein ewiger Student gewesen sein
sollen. Wie ging das dann weiter nach der Doktorarbeit?
Lüst: Zunächst, als Weizsäcker gemerkt hatte, dass ich relativ wenig Geld hatte – mein Vater
war gegen Kriegsende gestorben – bekam ich ein Stipendium aus seinem eigenen Fonds.
Weizsäcker hielt ja zu der Zeit sehr viele Vorträge und die Honorare gingen in einen Fonds,
aus dem ich ein Stipendium erhielt. Jeden Monat durfte ich mir, glaube ich, 50 Mark abholen.
Als Weizsäcker für ein halbes Jahr in Amerika war, wurde seine Familie von seinem Bruder
Richard gehütet. So durfte ich mir also mein Stipendium ein halbes Jahr lang von unserem
ehemaligen Bundespräsidenten abholen. So habe ich damals den späteren Bundespräsidenten
kennengelernt. Das war in der Bunsenstraße 16. Dort wohnten die ganzen Familien von
Laue, Biermann, von Weizsäcker zusammen. Nach der Promotion blieb ich im Institut und
bekam eine Stipendiatenstelle. Das Gehalt war fürstlich für die damalige Zeit, es waren
ungefähr 150 Mark. 1955 bekam ich schließlich eine Anfrage aus Chicago von dem Physiker
John Simpson, ob ich nicht für ein Jahr zu ihm kommen wollte an das Enrico Fermi-Institute.
Er selbst hätte allerdings wenig Geld, ich solle mich mal um ein Fulbright-Stipendium
bewerben. Das funktionierte. Im Herbst 1955 ging ich als Fulbright-Stipendiat nach Chicago.
von Storch: Ich möchte noch mal zurückfragen, wovon haben Sie denn während Ihrer
Studien- und Doktorandenzeit gelebt?
Lüst: Während der Studienzeit in Frankfurt bis zur Währungsreform ging das. Der Wehrsold
war ja während der Gefangenschaft weitergezahlt worden, d.h. es war ein Reichsmark-Konto
da, von dem ich leben konnte. Danach habe ich in Frankfurt Nachhilfestunden gegeben und
auch noch eine Zeit lang in Göttingen. Ich bin auch mal stempeln gegangen, wie das damals
hieß, als Arbeitsloser. Das war zwar nicht so ganz legal als Student, aber ich habe ein halbes
Jahr lang Arbeitslosenunterstützung vom Arbeitsamt bekommen, bis ich dann später das
Stipendium von Weizsäcker bekam.
von Storch: Aber grundsätzlich war also Ihre Doktorandenzeit eine unbezahlte Zeit?
Lüst: Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, dass ein Doktorand bezahlt wird. Eine
richtige Assistentenstelle bekam ich zum ersten Mal, als ich aus Amerika zurückkam. Ich war
zunächst ein halbes Jahr in Chicago und ging von da aus nach Princeton, weil ich bei Martin
Schwarzschild auch noch lernen wollte. Danach kehrte ich nach Chicago zurück, dann aber
schon mit einer Bezahlung durch ein Grant. Ende 1956 bin ich nach Göttingen
zurückgekehrt.
- 14 von Storch: Die Kunst des Programmierens war damals etwas anders als heute, wenn ich das
richtig verstanden habe. Da gab es etwas, dass man die Schleifen besonders gestalten
musste.
Lüst: In Chicago konnte ich den Nachbau der elektronischen Rechenmaschinen von
Neumann benutzen. Die Maschine stand im National Laboratory in Argonne. Das war der
erste große elektronische Rechner, wobei als Speicher eine Katodenstrahlröhre diente, die
etwa 1.000 Speicherplätze hatte. Man musste damals wirklich noch jeden Schritt
programmieren, die Zahl ‚a’ addieren zur Zahl ‚b’, bringe die Zahl ‚c’ in den Speicher, hole
die Zahl aus dem Speicher oder auch, wenn man dann eine „Wurzel ziehen“ programmierte,
war das schon eine kleine Schleife, bei der man aufpassen musste, dass sie nicht zu eng war,
damit der Speicherpunkt in der Mitte nicht verbrannt wurde. Das war wirklich
Programmieren Schritt für Schritt. Wenn man sich das Programm aufgeschrieben hatte,
musste man sich an die Lochkartenmaschine setzen, alles auf Lochstreifen oder Lochkarten
geben und später per Lochkarten oder Lochstreifen die Maschine füttern. Das heißt, man
musste sich auch mit all den Algorithmen, wie man Differentialgleichungen löst,
beschäftigen. Ich hatte in Göttingen schon angefangen, mit Schlüter die Bahn von geladenen
Teilchen im Erdmagnetfeld auszurechnen. Das hatte der Norwegische Mathematiker
Stormer, der sich für das Nordlicht interessierte, in den dreißiger Jahren schon einmal mit
Handrechenmaschinen gemacht. Mit den elektronischen Maschinen war das jetzt sehr viel
schneller. In Princeton konnte ich dann die Originalmaschine von von Neumann am Institute
for Advanced Studies benutzen. Dort habe ich mich mit Problemen der Sonnenphysik, mit
Flairs, befasst, d.h. ich habe versucht auszurechnen, wie sich Wellen im Magnetfeld
ausbreiten. Aber da der Speicher sehr klein war, habe ich eigentlich ständig mit
Randeffekten gekämpft, die von den Rändern und Störungen immer wieder hereinkamen, die
man immer wieder dämpfen musste. Herr Hasselmann hat viel besser gewusst, wie man
numerische Systeme löst. Man musste auch die Courant-Friedrichs-Instabilität
berücksichtigen, damit die Schrittlänge in der Zeit nicht zu groß wurde. Mit all diesen
Problemen habe ich mich damals schon in Princeton herumgeschlagen.
von Storch: Das brachte Sie dann 1959 zum Courant-Institut als Mathematik-Professor?
Lüst: Courant und Friedrich hatten ein Buch über Stoßwellen geschrieben. Hinterher ist mir
erst klar geworden, weswegen sich Courant und Friedrich mit Stoßwellen beschäftigten. Das
hing mit der Entwicklung der Atombombe im Krieg zusammen. Ich hatte 1953 eine Arbeit
über hydromagnetische Stoßwellen geschrieben, die in der Zeitschrift für Naturforschung
veröffentlicht wurde. Das war die erste Arbeit überhaupt über dieses Problem. Die hatten
Courant und Friedrich gesehen und mich deshalb eingeladen und gefragt, ob ich nicht ein
Jahr am Courant-Institut arbeiten wollte. Ich habe zunächst ohne Familie in New York
gelebt. Die Familie kam später nach. Man hatte mir freundlicherweise eine Wohnung, ein
Appartment des Institute for Advanced Studies in Princeton angeboten und so blieb ich dann
einen Tag pro Woche in Princeton. Die restlichen Tage fuhr ich morgens früh von Princeton
nach New York. Das war in einer Phase, als ich von der Astrophysik zur Kernfusion
wechselte. Das Institut in Göttingen hatte sich 1956 entschieden, dass man sich auch in der
Kernfusion engagieren wollte, und zwar sowohl theoretisch als auch experimentell. Für drei
Jahre habe ich dabei mitgemacht.
von Storch: In Göttingen?
Lüst: In Göttingen, aber auch am Courant-Institut. Dort habe ich mich mit Stabilitätsproblemen beschäftigt. Als ich aus New York zurückkehrte, fand ich, dass ich doch lieber
- 15 wieder zur Astrophysik zurück wollte. Ich habe dann wieder in der Astrophysik angefangen,
während Schlüter sich ganz auf die Fusion konzentrierte.
Schmidt-Spiegel auf dem Kitt – Peak, Arizona
Hasselmann: Sie sprechen über Ihre Lehrer Heisenberg, Weizsäcker und Biermann. Hatten
Sie eigentlich auch in Amerika irgendwelche ähnliche Personen, die Sie so beeindruckt und
beeinflusst haben? Haben Sie damals Courant kennen gelernt?
Lüst: Courant habe ich kennengelernt, als er Göttingen besuchte. Er kam regelmäßig. Er war
wohl der erste der Emigranten, der offen war und zurück nach Deutschland kam. Courant
hatte eine Tochter, die drüben mit einem Mathematiker, Moser, verheiratet war. Dadurch
hatte ich wohl auch in New York eine Verbindung zur Familie, aber wenn ich sagen sollte,
wer mich in Amerika beeinflusst hat: John Simpson, ein Experimentalphysiker, in dessen
Gruppe ich aufgenommen worden war. Daneben war es vor allem Martin Schwarzschild, der
Sohn des berühmten Karl Schwarzschild, der schon im Krieg, 1916, glaube ich, sehr früh an
einer Gasvergiftung gestorben war. Martin Schwarzschild ist 1934 nach Amerika emigriert.
Er war ein sehr bedeutender Astrophysiker. Bei ihm war ich ein halbes Jahr. Er war auch
menschlich besonders zugänglich. Das Bemerkenswerte war eigentlich, dass sowohl
Schwarzschild als auch sein Mitdirektor Spitzer, der eine ganz maßgebliche Rolle in der
Fusion gespielt hat, Juden waren. Trotzdem wurde man als Deutscher dort aufgenommen.
Das waren für mich eigentlich die beiden, von denen ich auch viel Neues gelernt habe, die
mich beeinflusst haben in ihrer Art, Physik zu treiben. Aus Chicago brachte ich mit, die Tür
zum Office immer offen zu halten. Das habe ich dann nachher auch in Garching eingeführt:
die Türen immer offen zu halten.
- 16 von Storch: Garching kam jetzt sozusagen bald danach. Sie haben sich dann in München in
theoretischer Physik habilitiert, steht auf meinem Zettel. Wie ging das dann weiter mit dem
MPI für Physik und Astrophysik?
Lüst: Das Max-Planck-Institut für Physik war 1958 en bloc von Göttingen nach München
verlegt worden. Heisenberg wollte zurück nach München, der Freistaat Bayern hatte der
Max-Planck-Gesellschaft auch ein kostenloses Gebäude, einen Neubau, zur Verfügung
gestellt. So bin ich dann auch von Göttingen nach München mit umgezogen. Nach dem
Umzug hieß das Institut für Physik und Astrophysik. Als ich 1959 aus New York
zurückkam, war ich voll in die Astrophysik zurückgekehrt. 1958 war der erste Sputnik
gestartet worden. Die Arbeit über die Bahnen von geladenen Teilchen im Erdmagnetfeld, die
ich mit Schlüter verfasst hatte, wurde auch für die ersten Satellitenbeobachtungen relevant.
Von Allen war der erste, der gemessen hatte, dass es gefangene Teilchen im Erdmagnetfeld
gab, das waren die berühmten Strahlungsgürtel. Meinem ersten Diplomanden gab ich die
Aufgabe, die Strahlungsgürtel näher durchzurechnen. So bin ich dann mehr und mehr in
Berührung gekommen mit Problemen, die sich aus den Satellitenmessungen ergaben.
Max-Planck-Institut in Garching
1961 war plötzlich die Frage, ob sich auch Deutschland an der Weltraumforschung beteiligen
sollte. Es gab ein Gespräch mit Siegfried Balke, der damals der zuständige Minister war, mit
Heisenberg, Butenandt, damals Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, und auch Biermann.
Es wurde entschieden, dass sich auch die Max-Planck-Gesellschaft beteiligen sollte.
Biermann hatte die Idee, die er auch mit mir ausführlich diskutiert hatte, ob man nicht einen
künstlichen Kometenschweif erzeugen könnte. Er hatte 1951 die Theorie entwickelt, dass die
Kometenschweife, sofern sie elektrisch geladen sind, also Plasmaschweife, nicht durch den
Lichtdruck der Sonne nach außen geblasen werden können. Er postulierte, dass eine
Korpuskularstrahlung von der Sonne ausgehen müsste. Man kannte die Korpuskularstrahlung
auch schon durch die magnetischen Stürme. So habe ich dann mit Biermann diskutiert, ob
man nicht vielleicht so etwas als erstes Experiment vom Institut aus versuchen könnte. Wir
haben dann eine Arbeit verfasst, an der auch meine erste Frau Rhea Kulka und Hans-Ulrich
- 17 Schmidt beteiligt waren. Kohlenstoffoxid, CO, den man in den Kometenschweifen sieht,
schied aus, weil die benötigte Menge viel zu groß gewesen wäre. So sind wir auf Barium
gekommen. In einer Baracke in Garching begann ich den Aufbau einer neuen Gruppe. Wir
wollten Barium verdampfen, das mit Hilfe einer Forschungsrakete in den Weltraum gebracht
werden sollte. Auf diese Weise wurde ich plötzlich von einem Theoretiker zu einem
Experimentalphysiker.
von Storch: Das war 1961?
Lüst: 1961 begann das.
von Storch: Auf meinem Zettel steht auch noch drauf, dass Sie 1961 auch Gastprofessor beim
MIT waren.
Lüst: Ja, bevor wir diese Überlegungen anstellten, hatte ich dem Massachusetts Institut für
Technologie (MIT) schon zugesagt. Ich hatte einen Ruf ans MIT für ein full-professorship,
und zwar interessanterweise für Mathematik. Und ich hatte denen gesagt, ich würde aber
gerne erst einmal ein halbes Jahr kommen, um festzustellen, ob mir das MIT überhaupt
zusagen würde. So war ich dann als Gastprofessor am MIT. Ich habe dort Vorlesungen über
Plasmaphysik gehalten.
Rubis Rakete in der Sahara, 1966
von Storch: Sie waren da als Gastprofessor für Mathematik und haben über Plasmaphysik
Vorlesungen gehalten?
Lüst: Ja, Plasmaphysik. Hans Wolfgang Liepmann, der Aerodynamiker, mit dem ich mich
mehr und mehr befreundete, – er hatte auch emigrieren müssen – rief mich dann an und sagte,
das MIT wäre langweilig, ein viel zu großer Laden. Wenn überhaupt, dann käme nur das
Caltec in Frage. Das nächste halbe Jahr müsste ich beim Caltec meine Vorlesung halten.
Dann würde er dafür sorgen, dass ich full professor beim Caltec würde. Während der ganzen
Aufbauphase in Garching bin ich dann immer wieder nach Deutschland geflogen, um die
ganze Sache dort in Gang zu setzen. Jedoch war ich drauf und dran, nach dem halben Jahr für
- 18 immer am Caltec in Pasadena zu bleiben, weil es das Beste war, was ich mir überhaupt
vorstellen konnte.
von Storch: In München waren Sie dann gleichzeitig Direktor von dem neuen Institut ?
Lüst: Das noch nicht. Die Verhandlungen begannen erst. Biermann und Heisenberg sagten,
ich könne sie unmöglich im Stich lassen. Mein Platz wäre in München. Es wurde noch
überlegt, ob es eine so genannte Lex Lüst der Max-Planck-Gesellschaft evtl. geben könnte,
die erlaubte, ein halbes Jahr am Caltec und ein halbes Jahr am Max-Planck-Institut zu
verbringen. Das fand ich aber zu schwierig. Auch wegen der Familie habe ich mich dann für
die Max-Planck-Gesellschaft entschieden.
Hasselmann: Interessant, ich hatte genau dasselbe Problem, das Angebot, jedes Jahr ein
halbes Jahr an der La Jolla University of California, San Diego, und ein halbes Jahr in
Hamburg. Dann bin ich auch zu dem Schluss gekommen, dass das nicht praktikabel ist.
Gründung ESRO 1962
Lüst: Ich habe bei vielen, die nach Amerika emigriert sind, erlebt, dass die Kinder
Amerikaner sein wollten, wenn sie erwachsen wurden. Die Eltern sprachen jedoch nicht so
ganz akzentfrei Englisch, d.h. es trat schon sehr frühzeitig eine Entfremdung zwischen Eltern
und Kindern ein, die wir nicht in Kauf nehmen wollten. Das war ein nicht unerheblicher
Grund. Aber das Caltec blieb für mich bis heute das Ideal, wie eine Hochschule sein sollte.
Das Angebot ‚Full professorship’ beinhaltete nicht mehr als drei Wochenstunden Vorlesung.
Ich bekam dann auch noch einen Platz als weiterer Mit-Direktor am Mount Palomard
Observatory angeboten. Damals war ein Doppel-Appointment zwischen Astrophysik und
Aeronautics vorgesehen.
Noch eine andere Sache kam hinzu, der Aufbau der europäischen Weltraumorganisation
ESRO. Auch dabei spielte der Zufall mit. Als die Max-Planck-Gesellschaft entschied, sich im
Weltraum zu engagieren, gab es Bestrebungen, ob man nicht, ähnlich wie bei CERN, eine
europäische Organisation für Weltraumfahrt aufbauen sollte. Die Royal Society hatte zu einer
Sitzung nach London eingeladen, zu der jedes europäische Land jemand hinschicken sollte.
- 19 Ich bin zusammen mit Herrn Kerscher von der DFG dort hingeschickt worden. Das war im
Oktober 1961. Wenige Monate später schlossen die Regierungen ein Abkommen zur
Vorbereitung der Gründung der European Space Research Organisation (ESRO). Auf
Vorschlag des holländischen Astronomen Henk van de Hulst wurde ich als Coordinating
Secretary beauftragt, ein wissenschaftliches Programm zu planen und zu koordinieren. Später
wurde ich zum ersten wissenschaftlichen Direktor der ESRO gewählt.
Auf der Sitzung in London 1961 traf ich auf einen Franzosen, Jacques Blamont, einen
Physiker, der Experimente mit Forschungsraketen durchführte, indem er neutrales Natrium in
der Atmosphäre verdampfte, um damit Windmessungen in der Atmosphäre durchzuführen.
Als er hörte, dass ich Bariumwolken-Experimente plante, sagte er, ich sollte doch in einer
seiner Raketen etwas beiladen, er würde das schon unterbringen. So bin ich dann zu ersten
Experimenten in Höhenforschungsraketen gekommen.
In der Sahara
von Storch: Das waren so die letzten Jahre für Sie als freier Wissenschaftler, wenn ich das
mal so sagen darf. Denn jetzt kam so langsam das Management.
Lüst: Ja, aber trotzdem waren das wirklich noch die freien Jahren. Von 1962/1963 an haben
wir dann meistens pro Jahr zwei oder drei Startkampagnen mit Höhenforschungsraketen
durchgeführt. Da ging es in die Sahara, nach Kiruna und Fort Churchill. Meistens war ich
drei oder vier Wochen mit unterwegs. Das fand ich wichtig, auf freier Wildbahn Gelegenheit
zu haben, eigenen Ideen nachzugehen. Das Max-Planck-Institut musste aufgebaut werden,
das dann 1963 ein eigenes Institut wurde. 1965 gab es eine gewisse Zäsur, als ich
überraschend in den Wissenschaftsrat berufen wurde. Mit Wissenschaftspolitik hatte ich ja in
Deutschland bis zu diesem Zeitpunkt kaum etwas zu tun gehabt, nur eben beim Aufbau der
ESRO. Von 1965 an habe ich mich dann auch mit Universitätsfragen beschäftigt.
von Storch: 1969 wurden Sie ja auch dessen Vorsitzender?
Lüst: Der Vorgänger war Leusink. Der wurde Minister und – ich wurde sehr überraschend
gefragt, ob ich nicht den Vorsitz übernehmen könnte. Das habe ich dann drei Jahre gemacht.
- 20 von Storch: Sieht man aus dieser dreijährigen Zeit noch Spuren in der deutschen
Forschungslandschaft?
Lüst: Oh ja, eine wesentliche Empfehlung war der 1970 vorgelegte Hochschulgesamtplan,
der das sechssemestrige Studium, das jetzt wohl endlich kommt, vorschlug.
Hasselmann: Das wurde schon damals vorgeschlagen.
Lüst: Auch das Department-System wurde vorgeschlagen zur Neustrukturierung der
Hochschulen. Im Grunde stand schon vieles drin, aber das versickerte, weil kaum ein Land
richtig mitzog. Daraus wurde ein viel größeres Monstrum, nämlich der Bildungsgesamtplan,
der aber schnell in der Kultusministerkonferenz zur Strecke gebracht wurde. So hatte die
Bürokratie das in den Händen und es passierte gar nichts. Ich hatte damals dafür plädiert,
dass man ein Bonussystem einführen sollte, d.h. die Hochschulen, die etwas sich an der
Reform beteiligten, sollten finanzielle Anreize bekommen. Für die Verwaltung war das völlig
undenkbar, dass man solch ein Bonussystem überhaupt einführen könnte. Ich hatte vorgeschlagen, eine Hamburger Universität, eine Münchener Universität, zwei Technische
Universitäten sollten die Chance haben zu experimentieren.
Centaure-Rakete
Hasselmann: Kam die Idee vom Bund her, dass der Bund die Länder unterstützt?
Lüst: Ja, vom Bund wurden damals die Sonderforschungsbereiche eingeführt. Die bekamen,
glaube ich, zusätzlich mehrere hundert Millionen Mark. Damit wurde tatsächlich erstmalig
vom Bund echt Geld in die Hochschulen über die DFG gegeben. Selbst die DFG lehnte die
Sonderforschungsbereiche zunächst ab. Ich erinnere mich noch an die heftigen Diskussionen
- 21 in der DFG. Die sagten, nein, das würde ihr ganzes System verderben. Sie wären für
Einzelprojekte. Sonderforschungsbereiche würden nicht in das System passen.
Hasselmann: Sie sind aber sehr erfolgreich gewesen, in Hamburg hat man sehr davon
profitieren können.
Lüst: Das hat Leusink als Bundesminister mit Bullenkraft durchgesetzt.
von Storch: Wir sind jetzt ungefähr in 1972.
Lüst: Vielleicht das noch zum Abschluss dieser Zeitspanne. Wir brauchten ja für die
Experimente Raketen. Die ersten Raketen gingen auf etwa 200-300 bis 400 km Höhe. Bei
den Versuchen stellten wir fest, dass selbst bei dieser Höhe etwas wissenschaftlich
Vernünftiges herauskam, denn die Bariumwolken traten in Wechselwirkung mit dem
Erdmagnetfeld. Dadurch konnte man dann die Drift der Erdmagnetfeldlinien messen, was
gleichbedeutend ist, dass man zum ersten Mal das elektrische Feld hat messen können. Die
ganze Methode wurde zunächst überwiegend eingesetzt, um das elektrische Feld in diesen
Höhen zu bestimmen, vor allem dann im Polarlichtgebiet. Das erste Experiment – auch schon
in der Magnetosphäre, aber nicht im solaren Wind – konnten wir 1970 oder 1971 mit einer
großen amerikanischen Rakete durchführen. Endgültig einen künstlichen Kometenschweif zu
erzeugen, hat Haerendel erst 1984 geschafft. Meine Zeit am Institut lief jedoch 1972 ab.
von Storch: Mit Ihrer Wahl zum Präsidenten..
Lüst: Ja.
von Storch: Sie haben schon erwähnt, dass zu der Zeit das Wort Drittelparität modern war.
So wurden Sie damit sicher auch in Ihrer Präsidentenzeit konfrontiert?
Lüst: Für mich kam diese Wahl sehr überraschend. Die Hauptversammlung der Max-PlanckGesellschaft fand 1971 in Berlin statt. Da schlugen die Wellen wirklich hoch. Die
Assistenten in der Max-Planck-Gesellschaft hatten eine eigene Organisation, die Assistenten-
Amtsübergabe in Bremen, 1972
konferenz, gegründet, die vehement die Drittelparität forderte. Im Wissenschaftlichen Rat
ging es damals mit großen Emotionen zu.
- 22 von Storch: Wieso Drittelparität? Es gibt doch keine Studenten in den Max-Planck-Instituten.
Lüst: In die Drittelparität sollten sich Professoren, Assistenten und Angestellte teilen. Nach
der sehr emotionalen und chaotischen Sitzung des Wissenschaftlichen Rates nahm mich
Heisenberg in Berlin beiseite und schlug einen gemeinsamen Spaziergang vor. Dabei
erläuterte er mir, ich wäre jung genug, aber auch alt genug, ich müsste bereit sein zu
kandidieren, wenn im November der neue Präsident gewählt würde. Er hätte auch gehört,
dass ich ein Angebot aus der Industrie hätte, und zwar, Mitglied des Vorstands von Siemens
zu werden. Das könnte ich ihm unmöglich antun. Ich müsse in der Max-Planck-Gesellschaft
bleiben. Dann habe ich in der Tat das Angebot von Siemens abgelehnt, ohne zu wissen, ob
ich gewählt würde. Der Gegenkandidat, Wolfgang Gentner aus Heidelberg, zog im letzten
Augenblick seine Kandidatur zurück. So wurde ich dann vom Senat im November gewählt.
Zwei Tage später machte ich in einem Zeitungsinterview in der Süddeutschen Zeitung den
Vorschlag, von jedem Institut einen Mitarbeiter mit vollem Stimmrecht in die Sektionen zu
entsenden. Das hat bei Teilen der Max-Planck-Gesellschaft helles Entsetzen ausgelöst. Ich
Strauss bei der Überreichung des bayrischen Verdienstordens, 1981
hätte ja alles weggegeben, hieß es. Die Situation war so, dass unsere Sektion, die
physikalisch-chemisch-technische Sektion, mit Mehrheit für diesen Vorschlag war. Die
biologisch-medizinische Sektion war radikal, praktisch einstimmig, dagegen, während die
geisteswissenschaftliche Sektion in ihrer Meinung gespalten war. Es gab dann eine
dramatische Sitzung des Wissenschaftlichen Rates im April, wo dieser Vorschlag mit sehr
knapper Mehrheit akzeptiert wurde. Dann kam es zur Mitgliederversammlung vor der
Amtsübergabe in Bremen, denn eine Satzungsänderung war erforderlich, die mit
Zweidrittelmehrheit angenommen werden musste. Die biologisch-medizinische Sektion war
immer noch mehrheitlich dagegen. In der Mitgliederversammlung stand dann der damalige
Ministerpräsident Stoltenberg auf. Er erläuterte, wenn die Hochschulen dies rechtzeitig
begriffen hätten, wäre sicherlich an den Hochschulen manches vermieden worden. Er könnte
der Max-Planck-Gesellschaft nur anraten, dieses Modell anzunehmen. Seine Intervention
- 23 half, dass die Satzungsänderung mit knapper Zweidrittelmehrheit angenommen wurde.
von Storch: Wie viel Prozent der Stimmen sind dann von Mitarbeitern in einer Sektion?
Lüst: Es gab natürlich auch lange Diskussionen mit den Mitarbeitern. Ich erläuterte diesen
bei meinen Institutsbesuchen. „Vergesst doch endlich mal das Wort „Mitbestimmung“. Auf
Eure Mitwirkung kommt es an. Entscheidend ist, dass Ihr wirklich Eure Stimme erheben
könnt und dass Ihr ernst genommen werdet, und nicht, dass Ihr abzählt, wie viel Stimmen Ihr
habt, sondern in der Sektion zählt nur, ob Ihr anständige Argumente habt. Wenn Ihr gut seid,
dann könnt Ihr damit auch wirklich etwas bewirken.“ Eine besondere Rolle spielte damals
noch die Frage, ob die Mitarbeiter auch bei einer Berufung mitstimmen sollten. Das war ein
besonderer Punkt bei den Biologen und Medizinern. Da habe ich als Kompromiss
vorgeschlagen, dass für die Mitarbeiter zunächst kein volles Stimmrecht akzeptiert wird, um
es überhaupt durchzukriegen. Nachdem sie dann drei Jahre in den Sektionen waren, es hat
vielleicht auch sechs Jahre gedauert, haben die meisten auch eingesehen, dass damit nicht der
Untergang der Max-Planck-Gesellschaft herbeigeführt worden ist.
Hasselmann: Ich glaube, die Wirkung dieses Gesetzes ist daran zu erkennen, dass ich –
obwohl ich die Mitwirkung der Mitarbeiter in der Sektion seit über 20 Jahren erlebt habe –
bis jetzt nicht wusste, ob die Mitarbeiter Stimmrecht haben oder nicht. Entscheidungen in
der Sektion werden stets nach ausführlicher Diskussion – auch unter Einbeziehung der
Mitarbeiter – per Konsens erzielt. Stimmrechte sind dabei unwichtig.
Lüst: Das war dann auch ein Sonderpunkt von mir. Die Mitarbeiter, aber auch die Direktoren
haben kein Stimmrecht, wenn es um die Berufung in das eigene Institut geht. Ich fand auch
wichtig, dass nach Möglichkeit in jeder Berufungskommission mindestens ein Mitarbeiter
saß, damit diese sehen konnten, wie es dort zugeht. Das hat sehr zur Befriedung beigetragen.
Nach zwei Jahren spielte das Problem eigentlich keine Rolle mehr.
von Storch: Eine andere wichtige Aufgabe war für Sie – für insgesamt 12 Jahre, die Frage
neue Institute, alte Institute...
Lüst: Das war die Situation, die ich vorfand, als ich Präsident wurde, dass in der Ära
Butenandt in den 12 Jahren zuvor die Max-Planck-Gesellschaft wirklich kräftig expandieren
konnte. Damals sind sehr viele neue Institute gegründet worden. Als ich ins Amt kam, trat
plötzlich Stagnation im Haushalt ein, die durch die zwei Ölschocks noch verstärkt wurde, so
dass es während meiner ganzen Amtszeit keinerlei reale Zuwächse gab. Zum Teil konnte
nicht einmal die Inflationsrate kompensiert werden. Damals lagen die Inflationsraten bei ca.
10 %. Wir haben ganz vergessen, Willi Brandt ist praktisch gestürzt über den Streik der
ÖTV, weil es da um Inflationsraten von 10 % ging. Ich fand, das Wichtigste für die MPG ist
die Neuberufung von Direktoren und die Gründung neuer Institute. Das hatte zur
Konsequenz, dass wir radikal herangingen, alte Institute zu schließen. Das erste Institut, das
ich schließen musste, habe ich noch in besonderer Erinnerung. Das lag in Bad Kreuznach.
Dort gab es drei Bundestagsabgeordnete, die großen Einfluss hatten. Es war Herr Pieroth von
der CDU, später Senator in Berlin. Das war Herr Friedrich von der FDP und
Wirtschaftsminister, und das war Herr Ahlers von der SPD, damals Regierungssprecher. Von
jedem bekam ich einen Brief, wie unmöglich es wäre, dass gerade in ihrem Wahlkreis das
beste aller Institute geschlossen werden solle. Daraus habe ich gelernt, dass man vielleicht
auch taktisch vorgehen muss. Aber immerhin sind in den zwölf Jahren 20 Institute und
Abteilungen, also wirklich selbständige Abteilungen, geschlossen worden. Wir haben
dadurch 680 Stellen frei gemacht, die umgesetzt wurden. Gleichzeitig wurden 20 neue
Institute gegründet, darunter die Meteorologie, Polymerforschung etc. Die Gründung der
Polymerforschung ist fast gegen das Votum der Physikalisch-Chemischen Sektion erfolgt,
- 24 weil man dort Angst hatte, dass ihnen damit Mittel entzogen werden könnten, die ihrem
Haushalt dann nicht zur Verfügung gestanden hätten.
von Storch: Das Schließen alter Institute hat ja unter anderem wirklich die Funktion, Mittel
frei zu setzen für neue Sachen. Aber hat es darüber hinaus auch weitere psychologische
Funktionen erfüllt?
Lüst: Natürlich wurde damit nach außen hin demonstriert, dass die Max-Planck-Gesellschaft
die einzige Institution ist, die in eigener Entscheidungsvollmacht Institute schließen kann.
Alle anderen Institutionen, selbst unser Staat, sind ja überhaupt nicht mehr in der Lage etwas
zurückzunehmen, wie wir in der jetzigen Diskussion sehen. Die Max-Planck-Gesellschaft hat
eine Struktur, bei der das – auch gegen den Willen einer Sektion – wirklich möglich ist, d.h.
gegen die Fakultät. So war es sogar möglich, das Institut in Starnberg zu schließen. Wegen
Starnberg bin ich auch persönlich vom „Spiegel“ wirklich unter der Gürtellinie angegriffen
worden. Der Senator in Hamburg, Meyer-Abich, wollte mich deshalb sogar vor das
Bundesverfassungsgericht bringen, weil ich die Wissenschaftsfreiheit, wie sie in Artikel 5
des Grundgesetzes verankert ist, nicht beachtet hätte.
von Storch: War der nicht damals auch in Starnberg?
Lüst: Er war ein Weizsäcker-Schüler. Selbstverständlich hatte die MPG auch soziale
Verantwortung. So eine Institutsschließung hat sich dann meistens über fünf oder sechs Jahre
hingezogen. Selbstverständlich mussten Sozialpläne angelegt werden. Ein Institut zu gründen
ist erheblich leichter als eine Schließung.
von Storch: Vielleicht sollten Sie doch ein bisschen mehr über die Starnberger Geschichte
erzählen, weil das sozusagen immer noch ein bisschen an Ihnen hängt. Deshalb wäre es gut,
wenn Sie das noch einmal etwas klarstellen könnten.
Lüst: Das Starnberger Institut war eine Gründung für einen Wissenschaftler, nämlich für von
Weizsäcker. Es wurde 1969 gegründet. Weizsäcker war ja lange am Institut für Physik
gewesen. 1958, als das Institut nach München zog, war er nach Hamburg gegangen, hatte
einen Lehrstuhl für Philosophie übernommen. Aber er wollte doch Möglichkeiten haben, um
die langfristigen Perspektiven unserer wissenschaftlich-technischen Welt zu untersuchen.
Dafür war das Institut gegründet worden. Er hatte sich dann zusätzlich Habermas als
Mitdirektor an das Institut geholt. Die Arbeiten waren durchaus wissenschaftlich interessant,
gerade die über Kriegsfolgenverhütung, aber auch wirtschaftliche Aspekte. Anfang der
siebziger Jahre stellte sich aber die Frage der Nachfolge für Weizsäcker, und die Überlegungen konzentrierten sich schließlich darauf, dass Dahrendorf Nachfolger werden sollte.
Zwei Tage, bevor der Senat darüber befinden sollte, zuckte Dahrendorf zurück, weil er in
England bleiben wollte. Damit sah man keine Möglichkeit, dieses schwierige Feld weiter zu
bearbeiten. Das bedeutete, die Abteilung Weizsäcker zu schließen. Für mich war das
menschlich sehr schwer, mit Weizsäcker darüber zu reden, dass das Institut geschlossen
werden soll. Weizsäcker war sehr gespalten. Auf der einen Seite anerkannte er das MaxPlanck-Prinzip. Das sah er ein. Umgekehrt konnte er schwer einsehen, dass gerade dieses
Institut, das er für so ungeheuer wichtig hielt, nicht weiter bestehen sollte. Er fand, die
Mitarbeiter könnten das doch allein weiterführen. Es war vorgesehen, dass Habermas für eine
Übergangsperiode das gesamte Institut leiten sollte, aber damit hätte Habermas die
Kündigung unterschreiben müssen für diejenigen, denen gekündigt werden musste. Dazu war
Habermas nicht bereit. Er war der Meinung, er, Habermas, könne unmöglich vor einem
Arbeitsgericht zum Prozess erscheinen und das vertreten. Das könne er nicht.
- 25 Hasselmann: Es wurde ja nur ein Teil geschlossen und er hätte nur einen Teil kündigen
müssen. Der Teil von Weizsäcker wäre ja fortgeführt worden.
Lüst: So musste ich Habermas erklären, wenn er dazu nicht bereit sei als Institutsdirektor,
dann müsse er auch von seiner Funktion als Institutsdirektor zurücktreten. Hinzukam, dass
bereits entschieden war, dass Habermas mit seiner Abteilung dann nach München umziehen
sollte. Habermas wollte näher an die Universität. Es war für mich völlig unverständlich – aber
man sieht, wie weit die Ressentiments zum Teil gingen –, dass man in der LMU nicht bereit
war, Habermas eine Honorarprofessur zu geben. So verliefen damals die Fronten. Habermas
entschied sich, nach Frankfurt zurückzukehren. Damit war das Starnberger Institut am Ende.
Wir hatten jedoch Herrn Weinert schon als zusätzlichen Direktor des Instituts berufen, damit
wären drei Direktoren, nämlich Dahrendorf, Weinert und Habermas, am zukünftigen Institut
gewesen. Ich hatte dann ein langes Gespräch mit Weinert. Er hatte seinen Lehrstuhl in
Heidelberg bereits aufgegeben. In Form einer Eilentscheidung habe ich dann entschieden,
dass wir für ihn ein Institut für psychologische Forschung in München gründen. Im Herbst,
auf der Sektionssitzung, wurde ich als Präsident hinzitiert – ich sehe noch Herrn Zacher und
andere, die mir Satzungsbruch vorwarfen. Wie kommt der Präsident dazu, ohne die Sektion
zu fragen, ein neues Institut zu gründen. Ich sagte, sie müssten mal in die Satzung schauen.
Der Präsident hätte ausdrücklich das Recht, in absolut eilbedürftigen Fällen Entscheidungen
zu fällen, müsse aber dann hinterher die Organe informieren. Ich sagte, ich sitze ja jetzt hier
und informiere sie. Sie als Juristen werden doch wohl nicht sagen, dass ich die Satzung
gebrochen hätte. Auch Herr Zacher erinnert sich ungern an diese Situation, dass er vorher mit
sonorer Stimme gesagt hatte, Herr Präsident und so weiter.... So ist das Institut für
psychologische Forschung in München entstanden. Das habe ich auf meine Kappe
genommen.
Hasselmann: Ich meine, es war ja auch eine schwierige Situation. Weizsäcker war ja eine
starke Persönlichkeit. Wenn man nicht starke Führungspersönlichkeiten hat, dann kann man
so ein geisteswissenschaftliches Institut nicht führen. Da gibt es viele Beispiele, etwa auch in
der Friedensforschung. Dann kommt nichts dabei raus.
Lüst: Weil Sie von Friedensforschung reden. Als ich den Vorsitz im Wissenschaftsrat hatte,
sollte unter Heinemann ein Programm für Friedensforschung installiert werden. Der
Wissenschaftsrat sollte darüber ein Gutachten abgeben. Er hatte eine Arbeitsgruppe von
Friedensforschern einberufen. Ich hatte den Vorsitz. Nach einer Stunde ist mir der Kragen
geplatzt und ich habe gesagt, ich komme aus einer Theologen-Familie, ich weiß, dass auch
die Theologen manchmal unfriedlich sind, aber nun stelle ich fest, dass die Theologen und
die Friedensforscher die unfriedlichsten Gesellen sind, die ich kenne. Die Starnberger
Schließung hat mir natürlich noch lange nachgehangen, auch, weil so viel Falsches,
Mythisches darüber berichtet worden ist. Ich mochte auch Weizsäcker nicht öffentlich
desavouieren und sagen, nein, das ist anders gewesen. Erst zu seinem 90. Geburtstag habe ich
zum ersten Mal den Namen von Dahrendorf erwähnt. Dass er eigentlich berufen worden
war, wusste Weizsäcker anscheinend nicht.
Hasselmann: Ach, das wusste er nicht?
Lüst: Nein, er hat wohl immer verdrängt, dass man wirklich den ernsthaften Versuch
unternommen hat, das Institut weiterzuführen. Dahrendorf hatte ganz andere Vorstellungen,
was er da machen wollte.
Hasselmann: Dahrendorf hat ja damals auch in London an einem Universitätsinstitut eine
führende Stelle bekommen.
- 26 Lüst: Er war Rektor der London School of Economics, später dann Master von einem
College in Oxford.
Wichtig war auch, dass gleich zu Beginn meiner Amtszeit auch die Fachbeiräte eingeführt
wurden. Zum ersten Mal eine wirklich ernst gemeinte Qualitätskontrolle für unsere Institute.
Auch das mochten nicht alle Direktoren. Sie fanden, wir wissen selbst, wie gut wir sind.
Hasselmann: Ich erinnere noch, als unser Institut gerade gegründet wurde. Zur ersten
Jahresversammlung der MPG danach in Hamburg kam auch Schmidt. Er sagte, die MaxPlanck-Gesellschaft wird sich schon daran gewöhnen, dass sie nicht mehr expandieren kann.
Er hat 1,5 Stunden frei geredet. Das hat mich beeindruckt.
Lüst: Er war kaum Kanzler, da wollte es der Zufall, dass 1975 die Jahresversammlung in
Hamburg stattfand. Er hat mich vorher noch mal eingeladen, ein paar Tage vor seiner Rede,
um zu hören, was er sagen sollte. Das Hauptproblem waren ja damals die Zeitverträge. Er
sagte, bei der Bundeswehr ist es ganz selbstverständlich, dass man akzeptiert, dass die
körperliche Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter abnehmen kann, während man bei
den Wissenschaftlern nicht akzeptiert, dass auch die geistige Leistungsfähigkeit geringer
werden kann.
Eine Festversammlung lief damals so ab: erst sprach der Bürgermeister, dann der Ministerpräsident, danach der Bundeskanzler. Ganz zum Schluss sprach dann erst der Präsident.
Schmidt sagte, dass ist doch ganz unmöglich, ich möchte doch erst hören, was Sie sagen,
damit ich darauf antworten kann. Ich entgegnete, ich möchte hören, was Sie sagen, ich werde
darauf antworten. Das wollte er gar nicht. Da habe ich ihm gesagt, die Reihenfolge gehört zur
Tradition der MPG, Herr Bundeskanzler. Als Herr Schmidt beim CCH vorfuhr, empfing ich
ihn mit Amtskette. Da sagte er, Herr Lüst, Sie sehen ja wie ein Pfingstochse aus, so etwas
zieht man doch jetzt nicht mehr an. (Das war im Jahr 1975.) Nach Ende nahm er mich in
seinem Wagen mit zum Mittagessen im Vier Jahreszeiten. Ich sagte, Herr Bundeskanzler
schauen Sie, auf der Amtskette sind die Namen aller meiner Vorgänger. Soll ich wirklich der
erste sein, der die Amtskette nicht mehr trägt? Darauf sagte er, ach, als Bundeskanzler würde
ich auch gerne eine Amtskette mit Adenauers Namen tragen. Tragen Sie die Amtskette mal
weiter. Das gehört auch zu Hamburg dazu.
Vielleicht noch eine kleine Geschichte. Wir hatten einen neuen Protokollchef. Der kam vom
Auswärtigen Amt, er kümmerte sich immer um die Veranstaltungen. Kurz vor Hamburg hatte
er Sorge, ob der große Saal im CCH auch voll wird. Er berichtete mir: er habe schon dafür
gesorgt und etwa 300 Karten an den ASTA geschickt. Ich sagte, dann können wir die
Veranstaltung vergessen. Wenn die hören, der Kanzler kommt, ist alles vorbei. Dann müssen
wir einen anderen Saal außerhalb finden. Darauf habe ich Fischer-Apel angerufen. FischerApel konnte sich über so viel Naivität gar nicht beruhigen, dass 300 Karten an den ASTA
gegangen sind. Wie können wir die wieder kriegen? Er sagte, ich rufe Sie in einer halben
Stunde wieder an. Dann rief er wieder an und sagte, Herr Lüst, ich bin rüber gegangen ins
ASTA Büro. Dort lagen die 300 Karten noch herum und ich habe sie gegriffen, sie sind bei
mir.
von Storch: 1984 war es ja dann zu Ende mit der Amtskette. Bekamen Sie eine neue
Amtskette?
Lüst: Nein. Die gab es da nicht. Ich hatte danach vor – das war auch alles schon arrangiert –
für ein Jahr an’s Caltec zu gehen, weil ich in die Forschung zurück wollte. Das Caltec hatte
zu der Zeit eine besondere Gastprofessur, die Fairchild-Professur. Das Besondere daran war,
dass ein Haus und ein Auto zur Verfügung standen. All das war schon fest organisiert. Das
- 27 Haus war da, ebenso das Auto, und ich wollte – im Juli ging meine Amtszeit zu Ende – am 1.
September nach Pasadena. Nun war aber in der Zwischenzeit folgendes passiert. Ich war
gefragt worden, Generaldirektor der ESA zu werden. Ich wurde zwar schon gewählt, aber ich
wollte immer noch ein halbes Jahr nach Pasadena gehen. Da bedeutete mir jedoch
Riesenhuber, der damals Minister war, dass ich sofort nach Paris müsste, weil Ministerkonferenzen anstünden. So musste ich dann schon im September nach Paris und hatte keine
Chance, so wie ich das eigentlich gewollt hatte, noch mal ein halbes Jahr zu verschnaufen.
von Storch: Wie haben Sie die Tatsache überlebt, dass Sie in Frankreich arbeiten mussten,
und trotzdem kein Französisch können? Sie sind immerhin sechs Jahre dort gewesen.
Lüst: Der Bonus war, dass ich Paris kennen gelernt habe. In Paris kann man auch leben,
ohne wirklich gut Französisch zu sprechen – meine Frau hat gut Französisch gelernt. Meine
Sprache als Wissenschaftler bei der ESA war eben weder Französisch noch Englisch,
sondern BE Broken Englisch. Damit bin ich ganz gut durchgekommen, aber ich ärgere mich
noch heute, dass ich damals nicht ordentlich Französisch gelernt habe.
von Storch: Was waren denn so die Highlights, an die Sie sich so aus der Zeit bei der ESA
erinnern?
Lüst: Im Gegensatz zur Max-Planck-Gesellschaft traf ich in der Phase der Expansion dort
ein. Das war ein Glück. Plötzlich hatte man Haushaltssteigerungen von 5 % pro Jahr, auch
bei der ESA. Man war in Aufbruchstimmung. Endlich sollte es wieder aufwärts gehen. Es
wurde die Zusammenarbeit mit den Amerikanern über die Raumstationen begonnen. Das war
schwierig, ich selbst konnte mich auch nie für den bemannten Raumflug erwärmen, aber
politisch war das nötig. Die Ariane 5 sollte gebaut werden. Dann der Raumtransporter
„Hermes“ für Menschen. Das Wissenschaftsprogramm konnte endlich wieder ausgedehnt
werden zum so genannten Horizon-2000. Das waren alles neue Aufgaben. Mir kam dabei
zustatten – das merkte man auch bei der ESA – vom Wissenschaftsrat und von der MaxPlanck-Gesellschaft her hatte ich gelernt, mit Politikern umzugehen. In Deutschland waren es
die Ministerpräsidenten und die Forschungsminister. So war für mich eigentlich ganz
selbstverständlich, dass ich bei der ESA sofort einen Antrittsbesuch bei allen Ministern
machte, d.h. ich habe also wirklich versucht, mit den Politikern zusammen zu kommen. Die
erste Ministerkonferenz fand schon im Januar 1985 statt.
Mein Vorgänger hatte es schwer gehabt. Er agierte in einer Zeit des Stillstands. Als ich kam,
war ein Streik bei ESTEC im Gange. Nun war ich ja einiges von der Max-PlanckGesellschaft her gewohnt. Ich wusste, wie man mit Mitarbeitern umgeht. Alles, was ich bei
der Max-Planck-Gesellschaft gelernt hatte, kam mir jetzt sehr zu Hilfe. Auch, dass ich ein
Wissenschaftler war. Vorher waren das eher Verwalter. Vielleicht konnte ich als Wissenschaftler auch unbefangener meine Meinung sagen. Auf einer Council-Sitzung, auf der es
überhaupt nicht vorwärts ging, bin ich dann einmal geplatzt und sagte, das ist schlimmer, als
wenn ich hier mit einem Oktopus tanzen müsste. Das sprach sich dann auch herum.
Schließlich sprach sich auch herum, dass ich – nach eingehender Beratung und Vorbereitung –
viel durchsetzte. Ich kann mich an keine Council-Sitzung erinnern – deren Dauer oft
frustrierend war – auf der ich zum Schluss nicht das Notwendige genehmigt bekam. Das traf
vor allem auf die große Ministerkonferenz in Den Haag zu, wo der englische Minister absolut
gegen alle Pläne war. Normalerweise beginnt eine Diskussionsrunde der Minister
alphabetisch, d.h. mit Austria oder Belgien. Da ich aber wusste, dass der englische Minister
für nichts zu haben war, habe ich dem Vorsitzenden gesagt, er soll doch mal nicht rechts
beginnen, sondern zuerst mit dem Engländer, der als United Kingdom der letzte im Alphabet
war. So begann der englische Minister und alle waren gegen ihn. Wenn ich rechts begonnen
- 28 hätte, hätte er das letzte Wort gehabt. Auch das gehört mit zu den taktischen Kniffen, die man
im internationalen Bereich lernt. Es gab auch Highlights, die Ariane funktionierte, vor allem
der Start mit Giotto zu dem Kometen Halley. Obwohl er mir eine der dunkelsten Stunden
bescherte, die ich erlebte, – es war am frühen Morgen und ich war noch zu Hause, als ich
einen Anruf aus Darmstadt bekam, dass man den Kontakt zu Giotto verloren hätte. Ich
dachte, wie kann man jetzt vor die Presse treten. Wir haben den ganzen Tag immer wieder
verzweifelt versucht, Kontakt herzustellen. Weil die Amerikaner die viel größeren Antennen
in Goldstone hatten, habe ich schließlich den Chef der NASA angerufen. Der sagte mir, dass
sie gerade den Vorbeiflug ihrer Raumsonde um Saturn verfolgten, beide Antennen seien
nicht verfügbar. Abends hatte ich ihn dann soweit, dass er uns zunächst einmal kurz für eine
halbe Stunde die eine Antenne zur Verfügung stellte. Inzwischen war schon bekannt
gegeben, die ESA hat den Kontakt zu Giotto verloren. Das ging nun schon durch die Medien.
Um Mitternacht wurde ich zu Hause angerufen, dass der Kontakt wieder hergestellt sei. Dann
lief alles wie erhofft ab.
Eine andere aufregende Geschichte passierte, als ich einen Kurzurlaub auf Sylt verbrachte.
Ich bekam einen Anruf, dass Mitterand beschlossen hätte, übermorgen nach Kourou zu
fliegen, um beim Start der Ariane dabei zu sein. Ich musste also sehen, dass ich noch
rechtzeitig von Sylt nach Paris kam. Ich durfte dann in der Concorde des Präsidenten
mitfliegen. Es ist grandios zu erleben, wie ein französischer Präsident fliegt. Eine Concorde
hat zwei Abteilungen. Vorne ist nur der Präsident, mit einem Bett, Schreibtisch, allem Drum
und Dran. Hinten saßen sechs Minister auf normalen Sitzen, unter anderem auch ich. Es war
heiß, wir mussten eine halbe Stunde in der Concorde schmoren, bevor der Präsident vorfuhr
und hoheitsvoll einstieg. Die Concorde rollte zum Start, kurz vor dem Abheben, Bremsen
rein, der Start wurde abgebrochen. Wir sind wieder zurückgerollt. Nach einer halben Stunde
sind wir wieder rausgerollt, wieder dasselbe, wieder abgebrochen. Dann stieg der Präsident
auch gleich aus. Wir alle mussten sitzen bleiben, nach einer halben Stunde kam jemand,
nahm die Namensschildchen von unseren Sitzplätzen und sagte, ich stecke um, wir nehmen
eine andere Concorde. Es wurde umgestiegen. Die neue Concorde war zwar dann nicht mehr
präsidentenmäßig eingerichtet, aber in der vorderen Kabine waren alle Sitzlehnen
umgeklappt. Nur eine war aufrecht für Mitterand. Wir saßen hinten. Nun waren wir schon
zwei Stunden zu spät dran. Die Concorde musste zwischenlanden in Nigeria. Dort wartete
der Staatspräsident. Schließlich kamen wir mit zwei Stunden Verspätung in Kourou an. Ich
bin dann sofort mit dem Minister vorgefahren, während Mitterand noch die Honoriatoren
begrüßte. Er kam dann zehn Minuten vor Start und wollte auch nicht auf der Tribüne sitzen,
sondern im Kontrollzentrum. Auf der einen Seite saß der Minister Curien, ich auf der anderen
Seite. Dann begann der Countdown, es lief alles nach Plan, die Ariane hob auf die Sekunde
genau ab. Dabei kann man die Trajektorie sehen, auf der die Ariane fliegt, erste Stufe –
blendend, zweite Stufe – auch noch, dritte Stufe – der erste Punkt lag ein wenig tiefer. Ich
setzte meinen Kopfhörer auf und hörte auch schon: peinlich, peinlich, keine Zündung. Dann
hatten die Fernsehleute das auch begriffen und die Kamera voll auf Mitterand gerichtet.
Nach dem zweiten Punkt war klar, dass es ein Fehlstart war. Ich guckte den Minister an, mit
dem ich befreundet war. Er beugte sich rüber und sagte: ‚Mon président, c’est fini!’
Mitterand stand auf, es war gegen Mitternacht, wir waren im dritten Stock, kein Fahrstuhl,
aber der Präsident ging an uns vorbei und rannte die Treppe runter. Curien und ich konnten
ihm nur mühsam folgen. Dann stieg er in sein Auto und verschwand in der Nacht. Curien und
ich standen allein da. Was tun? Ich sagte: „It doesn’t help, we have to go up, to face the
press.“ Nach zehn Minuten kam Mitterand wieder zurück. Normalerweise gibt es nach
einem gelungenen Start eine Riesenfete. Da fließt der Champagner in Strömen. Nach einem
- 29 misslungenen Start gibt es natürlich keinen Champagner. Aber Mitterand hielt noch eine
Ansprache, danach ging er mit einigen anderen zum Hubschrauber. Da standen zwei Hubschrauber, die ihn wieder zum Flugplatz bringen sollten. Und der eine Hubschrauber tat es
auch nicht. Schließlich habe ich dann mit meinen mühsamen Kenntnissen gesagt: ‚Mon
président, das ist alles mein Fehler.’ Da guckte er mich an, wieso, und ich sagte, ja, Herr
Präsident, heute ist Freitag, der dreizehnte. Ich als Marineoffizier hätte wissen müssen,
Freitag, den dreizehnten eines Monats, sticht man nicht in See. Er wusste nicht genau, ob er
nun noch lächeln sollte. Aber zwei Jahre später, bei einem 30jährigen Jubiläum, kam er
darauf zurück.
Er war eigentlich auf dem Weg nach Tahiti, denn dort hatte der französische Geheimdienst
ein Schiff von Greenpeace versenkt. Er wollte nun wieder Stimmung machen und hoffte,
nach einem erfolgreichen Start der Ariane die Presse wieder auf seiner Seite zu haben. Und
dann auch noch ein Fehlstart. Das war schrecklich.
Heisenberg und H. Pfeiffer
Alexander von Humboldt-Stiftung, 1963
von Storch: Sie müssen zugeben, die Franzosen waren besser organisiert, die hatten wirklich
zwei Concorde und zwei Hubschrauber, während Sie nur eine Ariane hatten.
Lüst: So schnell hätte man die Ariane auch nicht startklar bekommen. Sie haben recht, die
Franzosen sind wohl organisiert. Ein gelungener Start – die französische Ariane. Ein
misslungener Start – die europäische Ariane ist nicht hoch gekommen.
von Storch: 1990 war Schluss mit dieser Phase Ihres Lebens. Sie sind dann in ein etwas
ruhigeres Fahrwasser getreten. Sie residierten dann am Ende des Flures im Hamburger
MPI, und, was vielleicht wichtiger war, Sie wurden dann Präsident der Alexander-vonHumboldt-Gesellschaft.
Lüst: Nein, die Chance, am Ende des Flurs zu sitzen, war doch wirklich wichtig für mich. Ich
weiß noch, wie ich zu Ihnen, Herr Hasselmann, kam und fragte, ob ich denn hier eine Chance
hätte, einen Arbeitsplatz zu bekommen und Sie wirklich spontan zustimmten.
- 30 Hasselmann: Ja, ich habe mich natürlich sehr gefreut. Jemand, der das Institut so gefördert
hat die ganzen Jahre über. Dass Sie zu uns kommen wollten, war für mich eine große Freude.
Ich fand das sehr schön.
Lüst: Ich fand es einerseits gut, dass ich nicht an mein altes Institut zurückgekehrt bin.
Generell gibt es da manchmal ein Problem. In meinem besonderen Fall wäre das wirklich
nicht gut gewesen, denn ich hatte das Institut aufgebaut und vielleicht hätte ich mich dann
doch daran gestört, dass manches nicht mehr so war wie früher. Die alten Mitarbeiter wären
ganz sicher immer noch zu mir gekommen, d.h. das hätte auch die jüngeren Kollegen, die mir
nachgefolgt sind, stören können. Der andere Grund war, ich habe mich zwar nie wirklich
aktiv an wissenschaftlichen Arbeiten in Hamburg beteiligen können, aber ich konnte doch
plötzlich ein neues Wissenschaftsgebiet mit verfolgen. Das waren eigentlich die zwei
Gründe. Für die Humboldt-Stiftung fand ich es auch sehr angenehm, dass ich nicht nach
Bonn musste, sondern dass ich sie aus der Ferne, aus Hamburg, leiten konnte. Die HumboldtStiftung war noch mal eine neue Herausforderung, einfach, weil ich da zusätzlich noch
einmal mehr von der Welt sehen konnte.
von Storch: Sie sind heutzutage immer noch aktiv, nämlich in den Aufsichtsräten von
Universitäten, privaten Universitäten.
Lüst: Sogar in einer staatlichen, nämlich in Würzburg. Die bayerischen Universitäten haben
sich ja auch so etwas Ähnliches wie Aufsichtsräte gegeben, aber vor allem habe ich mich in
Bremen sehr engagiert. Eines Tages rief mich der Bürgermeister der Stadt, Scherf, an, ob ich
bereit wäre zu helfen, eine ganz neue Universität zu gründen. Ich habe ihm damals am
Telefon gesagt, dass ich vier Bedingungen habe, die ich gleich schriftlich formulieren würde.
Die müssten Sie mir dann schriftlich bestätigen und dann wäre ich bereit zu helfen. Die
Bedingungen waren erstens, dass es eine Hochschule mit amerikanischer Struktur wird, mit
einem Board, das den Präsidenten wählt. Der Präsident ist nur dem Board verantwortlich.
Zweitens: Studiengebühren. Drittens: Aufnahmeprüfung. Jeder, der die Aufnahmeprüfung
besteht, muss dann auch studieren können, d.h. Stipendien. Viertens: Nach Möglichkeit nicht
gegen die existierende Universität, sondern im Konsens. Das hat mir Herr Scherf bestätigt.
So habe ich dann den Vorsitz in der Planungsgruppe übernommen. Daraus ist dann die jetzt
wirklich funktionierende Universität geworden. Für mich ist das wirklich die einzige
Campus-Universität in Deutschland. Es ist schon bemerkenswert, dass das in Bremen
möglich war.
von Storch: Warum sagen Sie „bemerkenswert“?
Lüst: Die Vorgeschichte mit dem Start der Staatlichen Universität ist ja kein Ruhmesblatt
gewesen. Sie war ja sehr ideologisch ausgerichtet. Herr Timm, späterer Präsident, hat es
wirklich geschafft, daraus eine gute Universität zu machen. Die Bremer Universität ist jetzt
eine sehr ordentliche, gelungene Hochschule. Deswegen lag mir daran, dass man nichts
gegen sie macht, sondern dass man sich gegenseitig hilft.
von Storch: Ein Thema, dass mich bei unserem Vorgespräch interessiert hat, war Ihr
Verständnis von der Rolle der Wissenschaft in der wissenschaftlichen Gesellschaft, die Frage
nach so einem Begriff wie „wissenschaftliche Exzellenz bei gesellschaftlicher Relevanz“. Wie
sehen Sie die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft?
Lüst: Ich habe Probleme mit dem Stichwort gesellschaftliche Relevanz. Das wurde ja 1970
von der sozial-liberalen Koalition, vor allem von der SPD eingeführt. Ich habe damals
Leussink auch sehr geärgert, als ich bei dem 10jährigen Jubiläum des Instituts für
Plasmaphysik, bei dem ich den Festvortrag halten musste, sagte: Dieses Institut ist aus einem
- 31 Institut entstanden, dem Institut für Astrophysik, das keinerlei gesellschaftliche Relevanz
hatte und hat. Trotzdem glaube ich, dass auch die Astrophysik für unsere Gesellschaft
durchaus bedeutend ist. Deshalb habe ich Schwierigkeiten mit dem Begriff gesellschaftliche
Relevanz. Ich glaube, wenn man den Begriff ernst nimmt, so muss man anerkennen, dass es
eine Relevanz für unsere Gesellschaft gibt, die nichts mit unmittelbarer Anwendung zu tun
hat. Das gilt für die Teilchenphysik der theoretischen Physiker oder für die Astronomen, die
ein schwarzes Loch entdecken. Das kann man gerade bei der Astrophysik feststellen. Jetzt
haben Hasinger und seine Mitarbeiter zwei schwarze Löcher entdeckt. Das wird auf der
Frontseite der Herald Tribune als eine bemerkenswerte wissenschaftliche Entdeckung
gebracht. Ich glaube, für die Wissenschaft, die Sie, Herr Hasselmann, und ich und viele
andere betreiben, ist vielmehr die wissenschaftliche Qualität entscheidend und nicht die
Relevanz. Natürlich wird man gefragt, woran kann man die wissenschaftliche Qualität
messen. Jeder Wissenschaftler weiß sehr bald, wo Qualität und wo Schaumschlägerei ist. Das
ist zunächst entscheidend als Merkmal. Dass dann aus gewissen wissenschaftlichen
Ergebnissen auch etwas Bedeutsames für die Gesellschaft entstehen kann, ist dann etwas
zusätzlich Gutes, wie hier bei der Klimaforschung, die ja ganz gewiss in dieser Weise
Relevanz hat. Oder nehmen Sie die Kohleforschung. Da ist das Fischer-Trobsch-Verfahren,
die Benzinverflüssigung erfunden worden. Ziegler hatte das Polyethylen entdeckt, aber alles
nur aus reiner Grundlagenforschung, ohne dass ihm das als Ziel vorschwebte. Oder – jetzt
natürlich am Umstrittensten – die Genforschung. Die Tatsache, dass jeder Wissenschaftler der
Gesellschaft verpflichtet ist, will ich schon anerkennen, aber das ist bei mir eine andere
Ebene als wenn ich mich jetzt sofort auf die gesellschaftliche Relevanz festlege. Ich habe
darüber auch manchmal kräftig mit Helmut Schmidt diskutiert, manchmal auch gestritten. Ich
habe eigentlich Helmut Schmidt immer besonders hoch eingeschätzt, weil er offen für diese
Fragen war. Er hat ja auch den Ausdruck Bringschuld eingebracht. Ist es das, worum es Ihnen
geht? Oder würden Sie gerne Streit mit mir?
von Storch: Nein, ich möchte keinen Streit mit Ihnen, oder vielleicht doch, an sich schon,
aber nicht jetzt. Ist in dem Sinne, wenn ich auch etwas Aktuelles fragen darf, die Bemühung
der Helmholtz-Gemeinschaft, zu einer programm-orientierten Steuerung zu kommen, die ja
gerade unter so einem Stichwort steht, eigentlich kontraproduktiv?
Lüst: Die Helmholtz-Gemeinschaft hat eine andere Aufgabe als die Max-Planck-Gesellschaft. Man kann viel über die Helmholtz-Gemeinschaft streiten. Für mich gibt es eigentlich
zwei Organisationen, die wirklich eine klare Aufgabe haben. Das eine ist die Max-PlanckGesellschaft, die den Auftrag hat, exzellente Forschung zu betreiben in dem Sinne, dass man
wirklich schaut, wo die besten Leute sind, denen man die Chance gibt, etwas zu tun. Darauf
nimmt der Staat zum Glück auch in der Auswahl keinen Einfluss. Die andere ist die
Fraunhofer Gesellschaft, die den ganz klaren Auftrag hat, industrienahe Forschung zu
betreiben und die dafür das Geld einwerben muss. Ich will nicht gerade sagen, dass mir die
Aufgabe bei Helmholtz irgendwie suspekt ist. Der Staat hat ein legitimes Recht zu sagen, wo
er seine Schwerpunkte setzen will. Dafür hat er ja auch Großforschungseinrichtungen
gegründet, ob das nun Karlsruhe oder die DLR waren. Aber wie kann man da klare Grenzen
ziehen. Der Einfluss des Staates wird ja verkörpert durch die Ministerialdirigenten und
Ministerialräte, die das Geld und damit die Macht haben. Das ist eine schwierige Sache, finde
ich. Damit wird dann, je nachdem, welche Regierung dran ist, entschieden, was man als
gesellschaftlich relevant zulässt.
von Storch: Ich frage mich hier, inwieweit es zwischen den verschiedenen Einrichtungen eine
Art Arbeitsteilung geben sollte. Bei der Max-Planck-Gesellschaft sagen Sie, exzellente
- 32 Grundlagenforschung. Ist es angemessen, wenn wir, die wir aus einer anderen Organisation
kommen, feststellen, Max-Planck, Du musst aber auch diesem Maßstab genügen, Du musst
wirklich exzellente Grundlagenforschung machen.
Lüst: Oh ja, sicher. Wenn nicht, fällt das Fallbeil.
Ich habe z.B. das eine Institut für Landarbeit und Landtechnik in Bad Kreuznach schliessen
lassen. Da war selbst der Wein schlecht. Es war also höchste Zeit, dass es geschlossen wurde.
von Storch: Gut, das ist also wirklich ein schlagendes Argument. Sie haben nichts über die
Blaue Liste-Institute gesagt.
Lüst: Die sind noch problematischer. Die haben sich ja den schönen Namen LeibnizGemeinschaft gegeben. Die eigentliche Definition der Blauen Liste ist, Institute zu betreiben,
die von übergeordnetem staatlichen Interesse sind. Die Gründung, damals hieß sie eben noch
Blaue Liste, beruhte darauf, wie finanziert man die Wirtschaftsforschungsinstitute, wie finanziert man das Deutsche Museum, wie finanziert man das Museum König. Bei denen sollten
auch Bundeszuschüsse fließen, aber sobald dann mal der Damm gebrochen war, hat jedes
Bundesland gesagt, ich habe mindestens auch ein Institut, was wichtig ist. Jetzt ist das so eine
Verteilung über die ganze Landschaft weg. Da gibt es durchaus einige sehr gute. Sie sind
auch alle evaluiert worden. Jetzt behaupten sie, dass alle Schwachstellen eliminiert sind. Ich
habe wirkliche Hauptschwierigkeit mit der Blauen Liste, weil da noch mehr zutrifft, dass es
der Ministerialrat im Ministerium X ist, der seine schützende Hand über das Institut hält und
sagt, das ist exzellent.
von Storch: Ist es möglich, Blaue Liste-Institute zu schließen?
Lüst: Ich glaube, in den letzten Jahren ist das jetzt in drei Fällen geschehen.
von Storch: Tatsächlich?
Lüst: Ob es tatsächlich geschehen ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls hat es der Wissenschaftsrat empfohlen. Ich bin dem nicht weiter nachgegangen. Die Empfehlung des Wissenschaftsrates war ja auch, das Hamburger Weltwirtschafts-Institut zu schließen. Dem ist ja
auch nicht gefolgt worden.
von Storch: Ja, auch die GKSS sollte ja mal geschlossen werden. Das ist ja auch nicht
geschehen. Daher frage ich mich, ob es überhaupt möglich ist, Einrichtungen dieser
Größenordnung zu schließen, die nicht von einer zentralen Einrichtung finanziert werden,
wie bei der Max-Planck-Gesellschaft, sondern die so ein Mix-Interesse vertreten wie bei der
Helmholtz-Gemeinschaft oder bei der Blauen Liste .
Lüst: Ich glaube wirklich, dass die Max-Planck-Gesellschaft Institute im Wesentlichen
deshalb schließen kann, weil wir einen Senat haben, der frei ist, da gibt es Vertreter der
Öffentlichen Hand, der Wissenschaft, aber auch andere. Der Präsident ist vom Senat gewählt.
Nur dem ist er verantwortlich, nicht irgendwelchen Ministerien, und schon gar nicht dem
Forschungsministerium. Das ist, glaube ich, sehr wichtig, dass sich der Präsident der MaxPlanck-Gesellschaft wirklich frei fühlt von solchen Zwängen.
von Storch: Glauben Sie, dass es der Helmholtz-Gemeinschaft mit ihrem neuen Präsidenten
gelingen wird, irgend etwas Ähnliches zu schaffen.
Lüst: Nein.
von Storch: Gut. Das wäre also zunächst einmal diese relativ klare Aussage.
Hasselmann: Also, ich möchte doch noch einmal nachfragen mit der Max-PlanckGesellschaft, dem Präsidenten, dem Senat etc. Der Senat wird ja als objektiv gesehen, er
vertritt nicht die Interessen seiner Herkunftsinstitution, und ist frei. In der Helmholtz-
- 33 Gemeinschaft hat man ja formal eine ähnliche Struktur geschaffen, die haben doch auch
einen Senat, der objektiv und frei sein könnte.
von Storch: Es ist also ganz offensichtlich so, dass man sich an dem Erfolg der Max-PlanckGesellschaft orientiert. .... sich zu schützen vor der Bürokratie über den Senat. Ob das
gelingt, ist eine ganz andere Frage.
Lüst: Nein, mein Eindruck ist ganz einfach, dass es in der Form nicht gelingt, weil doch der
Druck und die Zwänge der Geldgeber sehr viel unmittelbarer ausgeübt werden.
von Storch: Können wir noch zu der Frage des Populismus kommen? In welchem Maße
erfüllt gerade im Bereich der Umweltforschung die Forschung die erforderliche
Beratungsleistung der Gesellschaft? Gibt die Umweltforschung der Gesellschaft tatsächlich
die Antworten, die sie braucht, in dem Sinne, dass die Dinge rationaler beurteilt werden,
dass Ängste abgebaut werden?
Hasselmann: Heißt das Umweltforschung oder ganz allgemein?
Fernsehdiskussion mit U. Wichert und Joschka Fischer, 1988
von Storch: Ich meine die Umweltforschung, denn für die Umweltforschung ist das besonders
relevant. Wenn man nur an das Seehund-Sterben denkt etc.
Lüst: Das Problem ist doch, dass auf der einen Seite die Erwartungshaltung der
Öffentlichkeit, der Politik sehr hoch ist, m. E. viel zu hoch. Einzelne Wissenschaftler glauben
dann immer, sie müssten dieser Erwartungshaltung besonders gerecht werden. Herr Latif,
ausgebildet von Hasselmann, hat es immer sehr gut gemacht. Er hat die Gabe, Wissenschaft
erklären zu können. Am schwierigsten ist der Begriff der Wahrscheinlichkeit rüberzubringen.
Es gibt eben keine sicheren Aussagen. Der Anspruch der Öffentlichkeit, auch der Politik ist,
von den Naturwissenschaften eindeutige Antworten zu fordern und zu erwarten. Ich finde,
die Umweltforscher haben inzwischen viel gelernt. Gegen Medien wie BILD anzukommen,
ist natürlich ungeheuer schwer. Das Problem ist auch, wo gibt es genügend Politiker, die
wirklich zuhören können und wollen, die sich auch die Zeit dafür nehmen. Bei der UNO ist
- 34 unser früherer Umweltminister Töpfer verantwortlich für die Umweltpolitik. Er hat mir
immer imponiert, er hat sich immer Zeit genommen, er konnte dann auch wirklich Probleme
in den politischen Raum hinein übersetzen.
Hasselmann: Ich schätze den Instinkt und die Intelligenz der Politiker, z.B. Herrn Töpfer,
sehr hoch ein. Ich meine, sie propagieren durchweg eine Politik, die sich auf den
wissenschaftlichen Ergebnissen, die wir als Wissenschaftler hervorgebracht haben, gründet.
Trotz der verzerrten Darstellung des Klimaproblems durch die Presse wissen sie im
allgemeinen recht gut, wo es lang geht. Sie haben die IPCC-Berichte (Intergovernmental
Panel on Climate Change) der UN mit Sicherheit nicht gelesen, aber die Quintessenz daraus
sehr wohl verstanden und versuchen nun, sie auf ihre Weise umzusetzen – obwohl die Presse
eigentlich ständig darüber so berichtet, dass man eigentlich gar nichts weiß. Immer wieder
lassen sie irgendwelche Außenseiter zu Wort kommen, um eine künstliche Kontroverse zu
erzeugen. Wenn normale Menschen auf der Straße gefragt werden, habe ich den Eindruck,
dass sie überhaupt nichts vom Klimaproblem verstehen, und meinen, dass alles unklar und
kontrovers ist, aber die Politiker verstehen die Klimaproblematik durchaus. Sogar Bush
bestreitet nicht, dass wir hier ein Problem haben, obwohl die USA zunächst aus Kyoto
ausgestiegen sind. Insofern bin ich eigentlich durchaus optimistisch, dass trotz dieses
allgemeinen Rausches und Missverständnisses seitens der Medien die eigentlichen Kernmitteilungen durchkommen. Die notwendige Politik umzusetzen, ist aber dennoch natürlich
schwer.
Lüst: Nun ist es in der Umwelt- und Klimaforschung doch noch ein Stück einfacher als bei
der Genforschung, weil da weltanschauliche Fragen noch viel stärker hineinspielen. Die
ganze Debatte der Genforschung zeigt ja auch, wie schwer es die Genforscher haben.
Hauptversammlung MPG in Hamburg, 1975
von Storch: Für mich ist noch so ein bisschen die Frage, inwieweit sich eigentlich der
Beratungsanspruch von Wissenschaft und NGO’s ergänzt und widerspricht. Inwieweit stehen
- 35 diese beiden Kommunikations- und Beratungsmöglichkeiten in Konkurrenz zueinander? Und
wenn sie es tun, wer gewinnt dann eigentlich diese Konkurrenz?
Vielleicht sollten wir jetzt allmählich zum Ende kommen. Wieso kennen Sie Helmut Schmidt
so gut?
Lüst: Das frage ich mich heute selbst. Ich habe ihn kennen gelernt, als er noch Verteidigungsminister war. Da war es zunächst Frau Schmidt, die sich schon Monate vorher, als ich noch
nicht Präsident der Max-Planck-Gesellschaft war, sehr für den Verhaltensforscher Konrad
Lorenz interessierte.
Mit ihr habe ich auch Konrad Lorenz und sein Institut in Seewiesen noch vor meinem
Amtsantritt besucht.
Unmittelbar, nachdem ich das Amt angetreten hatte, habe ich mit Helmut Schmidt, an einem
Buß- und Bettag, das große 100-m-Radioteleskop des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie in Effelsberg bei Bonn besucht. Helmut Schmidt war damals noch Wirtschaftsund Finanzminister. Er hatte sich den ganzen Feiertag Zeit genommen, um das Teleskop zu
besichtigen und vor allem, sich über die Ergebnisse der Radioastronomie zu informieren.
Ganz zum Schluß fragte er mich, was denn das ganze Teleskop gekostet hätte. Ich sagte ihm,
den Steuerzahler gar nichts, denn es ist von der Volkswagen-Stiftung mit 24,5 Millionen DM
finanziert worden. Aus Helmut Schmidt fuhr es dann spontan heraus: „Was, nicht mehr als
ein Schnellboot!“
Saudi-Arabischer König, 1981
Bei der erwähnten Jahrestagung der Max-Planck-Gesellschaft 1975 in Hamburg sagte mir
Frau Schmidt, sie würde gerne einmal in der Forschung selbst mitmachen und an der Arbeit
des Instituts in Seewiesen und seinen Expeditionen teilnehmen. Sie war ganz begeistert, als
ich sagte, dass sich das ganz sicher arrangieren ließe. So ist sie mehrere Jahre hintereinander
mit dem Institut auf Expedition nach Afrika, Indonesien und Südamerika gegangen. Dabei
hat sie all diese Reisen selbst bezahlt.
- 36 Später haben sich dann die Gespräche mit Helmut Schmidt weiter entwickelt.
Vielleicht sollte ich da auch noch eine kleine Geschichte erzählen. Ich hatte Helmut Schmidt
– das war, glaube ich, 1975 oder 1976 – einen Brief über die finanzielle Lage der MaxPlanck-Gesellschaft geschrieben und ihn um Unterstützung gebeten. Ein paar Tage war ich
von der Kaiserin von Persien zu einem Gespräch nach Teheran eingeladen. Sie wollte auch
so etwas Ähnliches wie die Max-Planck-Gesellschaft gründen. An dem Abend kam Helmut
Schmidt von China zurück und hatte eine Zwischenlandung in Teheran. Abends war ein
Abendessen in der Botschaft. Schon bei der Begrüßung sagte er, Herr Lüst, hier sind Sie
gerade richtig. Hier gibt es eine Klagemauer. Da können Sie klagen...
von Storch: Das fing ja gut an.
Lüst: Nach dem Abendessen haben wir dann sehr kräftig miteinander diskutiert. L. Schmidt
hat uns dann freundlicherweise getrennt. Er hatte die Angewohnheit, auf seine
Auslandsreisen immer 6 Persönlichkeiten mitzunehmen, d.h. er nahm keinen ganzen Bus mit,
wie das bei Kohl und auch heute üblich war und ist. Damals waren das zwei Wirtschaftler,
zwei Gewerkschafter und zwei Wissenschaftler. So bin ich dreimal von ihm mitgenommen
China-Reise, 1974 – Große Mauer
worden. Es war einmal nach Amerika zur 200-Jahrfeier, aber dann war es so, dass er schon
im Flugzeug – Herr Schleyer und Herr Körber, von der Gewerkschaft Metall Herr Loderer
und vom DGB Herr Vetter – wissen wollte, welche Erfahrungen man in Amerika hat, was
man vor hat. Jeden Abend traf man sich dann zu später Stunde im Gästehaus, wo Helmut
Schmidt übernachtete, und jeder musste berichten, was er am Tag erlebt hatte. Auf dem
Rückflug in der Dunkelheit hatte ich ein langes Gespräch mit Helmut Schmidt. Ganz am
Schluss sagte er mir dann, ach, Herr Lüst, wenn ich mal nicht mehr dieses Amt hier habe,
möchte ich gerne etwas mehr mit der Max-Planck-Gesellschaft zu tun haben. Am 1.
Oktober 1982, er war morgens abgewählt worden, habe ich abends im Bungalow angerufen.
Eigentlich wollte ich nur Frau Schmidt etwas trösten. Da war er am Telefon, ich sagte, Herr
Bundeskanzler, aber er meinte, Herr Lüst, von jetzt an bin ich Herr Schmidt. Wir haben dann
- 37 noch lange miteinander reden können. Ganz zum Schluß sagte er, Herr Lüst, erinnern Sie
sich noch an unser Gespräch im Flugzeug? Ich sagte, wäre denn eine Chance, dass ich Sie in
Flug nach Washington, 1976
den Senat holen kann? Ja, wenn Sie meinen. Dann habe ich das arrangiert, ich konnte gerade
noch einen weiteren Platz frei machen. Er hat da auch wirklich mitgearbeitet. Als ich dann
nach Hamburg kam, hat er gefragt, ob ich in seine Freitags-Gesellschaft kommen möchte.
von Storch: Die kenne ich nicht.
Lüst: Die Freitags-Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die sich jeden zweiten Freitag im Monat
trifft. Jeder muss einen Vortrag halten. Dazu gehören Herr Rühe, früherer Verteidigungsminister, zwei ehemalige Bürgermeister, Siegfried Lenz, ein Bildhauer, ein Architekt und
einige andere.
Darüber ist inzwischen ein Buch erschienen, das sind meine Berührungspunkte zu Helmut
Schmidt.
von Storch: Ich glaube, das war eine sehr interessante und erquickliche Geschichte. Man
muss sich vergegenwärtigen, dass sind immerhin fünfzig Jahre, auf die Sie zurück blicken.
Fünfzig Jahre, in denen sich natürlich Wissenschaft, Wissenschaftskultur, Gesellschaft, die
Menschen untereinander enorm verändert haben.
Lüst: Und auch die Max-Planck-Gesellschaft.
Professor Dr. Reimar Lüst
25.03.1923
1951
1955–1956
1959
1959–1962
1960
1962–1964
1963–1972
1965–
1969–1972
1972–1984
1984–1990
1989–1999
1992
seit 1999
Nov. 2001
geboren in Wuppertal-Barmen
Studium der Physik (Universität Frankfurt am Main)
Promotion in theoretischer Physik bei C.F. v. Weizsäcker (Universität
Göttingen) als wissenschaftlicher Mitarbeiter des von W. Heisenberg
geleiteten Göttinger Max-Planck-Instituts für Physik
Fulbright Stipendiat am Enrico-Fermi-Institut der Universität Chicago und an
der Princeton Universität
Habilitation für das Fach Physik (Universität München)
wiss. Mitglied des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik,
München
Gastprofessor für Mathematik an der Universität New York, für Mathematik
am Massachusetts Institut für Technologie, Cambridge, und für Aeronautik
und Astrophysik am California Institut für Technologie, Pasadena
Mitglied des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik (heute: MaxPlanck-Institut für Physik) in München
wissenschaftlicher Direktor der European Space Research Organization
(ESRO)
Direktor des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik, Garching
Honorarprofessor an der Technischen Universität München
Vorsitzender des Wissenschaftsrates
Präsident der Max-Planck-Gesellschaft
Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation (ESA).
Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn
Professor der Universität Hamburg
Vorsitzender des IUB(International University Bremen)-Aufsichtsrates
Ernennung zum Ehrenbürger Bremens