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Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen. Eine Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte von 1895 bis 1935

2017

Elife Biçer-Deveci interpretiert die Beziehungsgeschichte der internationalen Frauenbewegung in ihrer frühen Phase neu und rückt die Perspektive der osmanisch-türkischen Feministinnen in den Vordergrund. Sie beleuchtet damit Ambivalenzen und kulturelle Verständigungsprobleme in dieser Beziehungsgeschichte. Ferner unterzieht die Autorin das Narrativ des feministischen Orientalismus in der Forschung einer kritischen Revision. Sie berücksichtigt die Rolle des Nationalstaates Türkei in der Etablierung von Beziehungen zwischen den Feministinnen. Somit vertieft dieser Band unser Verständnis von komplexen Vorgängen der interkulturellen Verständigung und der Geschlechterordnung als Strukturprinzipien globaler Moderne. Elife Biçer-Deveci interprets the relationship of the international women’s movement in its early stage with methods of the entangled history and brings the perspective of Ottoman-Turkish feminists to the fore. Thereby, she highlights ambiguities and cultural communication problems in the history of this relationship. Beyond of that, the author subjects the narrative of feminist orientalism in current research to a critical revision. She includes the role of the nation-state Turkey in the relationship of feminists. Thus, the book deepens our knowledge about complex processes of intercultural understanding and of gender order as structural principles of the global modern era.

Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Ottoman Studies / Osmanistische Studien Band 4 Herausgegeben von Stephan Conermann, Sevgi Ağcagül und Gül Şen Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Elife BiÅer-Deveci Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Eine Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte von 1895 bis 1935 V& R unipress Bonn University Press Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2366-3677 ISBN 978-3-7370-0747-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Die Druckvorstufe dieser Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt.  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Dieses Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons-Lizenz BY International 4.0 (»Namensnennung«) unter dem DOI 10.14220/9783737007474 abzurufen. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Hanımlara Mahsus Gazete, Nummer 255–53, 16 Mart 1317 (30. März 1901); Archiv-Nr.: 883-0260 – Mit freundlicher Genehmigung der Hakki Tarik US Archives. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Inhalt Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 . . . . . . . . . 11 11 15 18 21 21 28 31 36 1. Historischer Kontext: Beziehungen des Osmanischen Reiches und der Türkei mit westlichen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die Epoche der Tanzimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Regierungszeit von Abdulhamid II. . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die Epoche der Zweiten Konstitution . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Die Regierungszeit von Mustafa Kemal Atatürk . . . . . . . . . . 1.5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 40 45 50 56 60 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung in das Thema . . . . . . . . . . . . . 2. Fragestellungen und Thesen . . . . . . . . . . . . 3. Theoretische und methodische Einbettung . . . . 4. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die osmanisch-türkische Frauenbewegung 4.2. Internationale Frauenorganisationen . . . . 5. Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hanımlara Mahsus Gazete (1895–1908) 2.1. Briefe von europäischen Frauen . . 2.2. Frauenbewegungen im Westen . . 2.3. Frauenbildung . . . . . . . . . . . 2.4. Frauen im Westen . . . . . . . . . 2.5. Mode . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 71 74 89 96 99 102 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 6 Inhalt 3. Kadınlar Dünyası (1913–1921) . . . . . . . . . . . . 3.1. Beziehungen zu Europäerinnen und Europäern 3.2. Die Frauenbewegungen im Westen . . . . . . . 3.3. Die Frauenemanzipation . . . . . . . . . . . . . 3.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 107 119 126 133 4. Türk Kadın Yolu (1925–1927) . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Beziehungen zur International Alliance of Women 4.2. Berichterstattung über westliche Länder . . . . . . . . 4.3. Die politischen Mitspracherechte der Frauen . . . . . . 4.4. Soziale Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 143 151 153 160 164 5. Westliche internationale Frauenorganisationen . . . . . . . . . . . . 5.1. The International Alliance of Women . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1. Der Beginn der Beziehungen zur osmanisch-türkischen Frauenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2. Türk Kadınlar Birliği . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3. Der 12. Kongress der International Alliance of Women in Istanbul 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. The International Council of Women . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. The Women’s International League for Peace and Freedom . . . 5.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 170 . . 170 185 . . . . . 192 199 202 211 215 . 219 . 219 . . 224 227 7. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 231 243 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Beziehungen zwischen den osmanisch-türkischen Frauen und den internationalen Frauenorganisationen . . . . . . . . . . . . 6.2. Westliche feministische Konzepte in den osmanisch-türkischen Frauenzeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Feministischer Orientalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Abkürzungsverzeichnis CHF Gazete IAW Cumhuriyet Halk Fırkası (Republikanische Volkspartei) Hanımlara Mahsus Gazete (Zeitung für Frauen) The International Woman Suffrage Alliance / The International Alliance of Women for Suffrage and Equal Citizenship ICW The International Council of Women ITC İttihat ve Terakki Cemiyeti (Komitee für Einheit und Fortschritt) NAWSA National Woman Suffrage Association Nisvan Cemiyeti Osmanlı Müdafaa-i Hukuk-i Nisvan Cemiyeti (Osmanischer Verein für die Verteidigung der Frauen Rechte) TKB Türk Kadınlar Birliği (Türkischer Frauenbund) TSC Temporary Slavery Commission WILPF The Women’s International League for Peace and Freedom WASI Women and Social Movements, International Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Danksagung Die vorliegende Dissertation wurde vom März 2011 bis März 2014 im Rahmen von Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds »Ein Human Rights Turn in der internationalen Geschlechterpolitik der Zwischenkriegszeit? Menschenrechte, Frauenbewegung und der Völkerbund«, geleitet von PD. Dr. Regula Ludi und Prof. Dr. Brigitte Studer, erstellt. Der Schweizerische Nationalfonds finanzierte von März 2014 bis August 2014 mit einem Docmobility-Stipendium meinen Forschungsaufenthalt an der Central European University in Budapest. Die Theodor Schenkstiftung gewährte von November 2014 bis Dezember 2014 eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Großen Dank schulde ich diesen Stiftungen für die Finanzierung meiner Forschungsarbeit. Ein besonderer Dank gebührt meiner Doktormutter Regula Ludi für ihre wertvollen Ratschläge und ihre Unterstützung während meiner Forschungsarbeit und darüber hinaus. Auch dem Zweitgutachter meiner Dissertation, Prof. Dr. Maurus Reinkowski, schulde ich großen Dank für seine akademischen Ratschläge und Unterstützungen. Ich danke Prof. Dr. Francisca de Haan, die während meines Aufenthalts in Budapest mein Forschungsprojekt mit ihren Anregungen und ihrer konstruktiver Kritik unterstützte. Inhalte meines Forschungsprojektes diskutierte ich mit Prof. Dr. Brigitte Schnegg, Prof. Dr. Susan Zimmermann, Prof. Dr. Brigitte Studer, Prof. Dr. Jean H. Quatert und Prof. Dr. Hans-Lukas Kieser, mit Leiterinnen und Kollegiatinnen der Graduate School for Gender Studies der Universität Bern, Leiterinnen und Kollegiatinnen am Department of Gender Studies der Central European University in Budapest und Leiter und Kollegiatinnen und Kollegiaten der Center of Global Studies in Bern. Deren Ideen, Ratschläge und konstruktive Kritik brachten die Arbeit an meiner Dissertation qualitativ voran. Ein großer Dank geht an Edith Siegenthaler für die gegenseitige Unterstützung in allen Belangen während der Forschungsarbeit und der Erstellung der Dissertation. Mehreren Personen danke ich für die kritische Lektüre der Dissertation auf grammatikalische, stilistische und inhaltliche Unstimmigkeiten: Ismael Albertin, Anina Andrea Eigenmann, Verona Garesch, Aviva Gutmann, Kata Moser, Tanja Rietmann, die jeweils die Lektüre bestimmter Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 10 Danksagung Kapitel übernahmen. Zudem danke ich der Familie Dağlı in Genf, Eva Ludi und ihrer Freundin Nicki in London für ihre Gastfreundschaft während meiner Forschungsaufenthalte in Genf beziehungsweise London. Auch geht mein Dank an meine Familie, die in den letzten Monaten vor der Abgabe der Dissertation die Kinderbetreuung übernahm und mich in verschiedenen Belangen unterstützte. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Einleitung 1. Einführung in das Thema »Despite their sympathy for and occasional identification with their Middle Eastern sisters, however, Western feminists never regarded them as equals. The ›East‹ remained, in their view, less modern, less rational, and less civilized than the ›West‹. Accordingly, the European and North American leaders of the IAW [International Alliance of Women for Suffrage and Equal Citizenship] envisioned only one model for feminist movements, and they saw themselves as its natural vanguard, bringing aid and enlightenment to their more ›oppressed‹ sisters. Certain of their own comparative freedom, they neglected the opportunity to re-evaluate their own oppression that actual exposure to Islamic societies had afforded an earlier generation of female travellers to the Middle East.«1 Diese Feststellung macht Charlotte Weber im Jahr 2003 in ihrer Analyse der Jus Suffragii, des Publikationsorgans der International Alliance of Women for Suffrage and Equal Citizenship (IAW) in den 1920er und 1930er Jahren. Sie untersucht die Darstellung muslimischer Frauen in Jus Suffragii und bezeichnet davon ausgehend die Beziehung der IAW mit Frauen aus muslimischen Ländern als von feministisch-orientalisti-schen Vorstellungen geprägt. Gemäß Weber haben führende Mitglieder der IAW in ihren Begegnungen mit Frauen aus muslimischen Ländern diese Vorstellungen nicht hinterfragt. Die gesamte Forschungsliteratur zur internationalen Frauenbewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts interpretiert die Handlungs- und Deutungsmuster in den Beziehungen von westlichen Feministinnen zu Frauen im östlichen Ländern als feministischen Orientalismus.2 Gemäß dieser Vorstellung gelten West- und 1 Weber, Charlotte. Making Common Cause? Western and Middle Eastern Feminists in the International Women’s Movement, 1911–1948. The Ohio State University 2003, S. 47. 2 Für den feministischen Orientalismus vgl. Amos, Valeri; Pramar, Pratibha. Challenging Imperial Feminism. In: Feminist Review 17 (1984), S. 3–19; Burton, Antoinette. Burdens of History. British Feminists, Indian Women, and Imperial Culture; 1865–1915. Chapel Hill 2007 (5. Auflage); Ramusack, Barbara. Cultural Missionaries, Maternal Imperialists, Feminist Allies. British Women Activists in India, 1865–1945. In: Margaret Strobel/Nupur Chaudhuri Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 12 Einleitung Nordeuropa als das Zentrum des feministischen Weltsystems, während Lateinamerika, der Nahe Osten, Asien und Afrika die Peripherie sind. Antoinette Burton sieht im feministischen Orientalismus britischer Feministinnen einen doppelten Zweck, nämlich eine Rechtfertigung der imperialen Politik Großbritanniens in den Kolonien und die Unterstützung der Anliegen britischer Frauen für ihre Rechte. Dies bedeutet gemäß Burton, dass britische Frauen die »Bürde« auf sich nahmen, Frauen in der ganzen Welt zu schützen und gleichzeitig »westlichen« Männern vorzuwerfen, »östlich« zu sein, wenn sie weiterhin die zivilrechtliche und die politische Gleichberechtigung der Frauen ablehnten.3 Leila Rupp versucht in einem ihrer Aufsätze den Befund von feministischorientalistischen Mustern zu relativieren und fragt, ob westliche internationale Frauenorganisationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts notwendigerweise imperialistisch waren. Sie hebt hervor, dass die Expansion dieser internationalen Frauenorganisationen in den 1920er Jahren nach Asien, in den Nahen Osten, nach Lateinamerika und Afrika durch die Aufnahme von lokalen Frauengruppen als nationalen Sektionen die Möglichkeit bot, feministisch-orientalistische Vorstellungen zu hinterfragen.4 Sie weist auf die konkreten Einflussnahmen der Frauen aus dem »Orient« auf die Statuten und die Arbeitsweise der Frauenorganisationen hin und schließt daraus, dass Frauen im »Orient« das Potenzial gehabt hätten, traditionelle Annahmen im Westen zu durchbrechen, was aber nicht geschehen sei.5 Die vorhandene Forschungsliteratur zur internationalen Frauenbewegung beschäftigt sich mit dieser Beziehungsgeschichte vor allem aus dem Blickwinkel einzelner internationaler Frauenorganisationen. Dabei analysiert die Literatur ungleiche Machtverhältnisse innerhalb dieser Organisationen und hinterfragt ihr Postulat einer universal sisterhood. Diese ungleichen Machtverhältnisse finden ihren Ausdruck in der Zusammensetzung von Boards, die von Frauen euro-amerikanischen Ursprungs dominiert sind, und in der Bevorzugung euroamerikanischer Städte als Austragungsorte internationaler Frauenkongresse. In der vorliegenden Dissertation untersuche ich Beziehungen und Austauschprozesse zwischen westlichen internationaler Frauenorganisationen und der osmanisch-türkischen Frauenbewegung im späten 19. und im frühen (Hrsg.). Western Women and Imperialism. Complicity and Resistance. Bloomington 1992, S. 309–321; Badran, Margot. Feminism in Islam. Secular and Religious Convergences. Oxford 2009; Lewis, Reina. Gendering Orientalism. Race, Feminity and Representation. London 2003. Für die IAW vgl. auch Weber, Charlotte. Unveiling Scheherazade: Feminist Orientalism in the International Alliance of Women, 1911–1950. In: Feminist Studies 27 (2001) 1, S. 125–157. 3 Burton, Antoinette. The Feminist Quest for Identity : British Imperial Suffragism and »Global Sisterhood« 1900–1915. In: Journal of Women’s History 3 (1991) 2, S. 46–81. 4 Rupp, Leila J. Challenging Imperialism in International Women’s Organizations, 1888–1945. In: NWSA Journal 8 (1996) 1, S. 8–27, S. 12. 5 Ebd., S. 17. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Einführung in das Thema 13 20. Jahrhundert. Anders als die oben beschriebene Forschungsliteratur konzentriere ich mich auf die Perspektive osmanisch-türkischer Frauengruppen auf die westlichen Frauenorganisationen. Dabei gehe ich davon aus, dass in dieser Beziehungsgeschichte Ambivalenzen zu sehen sind, die über feministisch-orientalistische Muster hinausgehen. Eine vertiefte Untersuchung westlicher Frauenorganisationen aus dem Blickwinkel osmanisch-türkischer Frauengruppen hilft, unberücksichtigte Aspekte ihrer Beziehungen herauszuarbeiten und zu erklären, inwiefern internationale Frauenorganisationen bei ihrer Expansion in den Nahen Osten erfolgreich waren. Ich untersuche als Fallstudien drei osmanisch-türkische Frauenzeitschriften, die in verschiedenen Zeiträumen herausgegeben wurden, und drei westliche internationale Frauenorganisationen. Bei den osmanisch-türkischen Frauenzeitschriften handelt es sich um Hanımlara Mahsus Gazete (Zeitung für Frauen, 1895–1908), Kadınlar Dünyası (Welt der Frauen, 1913–1921) und Türk Kadın Yolu6 (Der Weg der Türkischen Frau, 1925–1927). Diese Zeitschriften erschienen in Istanbul. Hanımlara Mahsus Gazete (Zeitung für Frauen – Gazete) wurde im politischen Kontext der Herrschaft von Sultan Abdulhamid II. veröffentlicht. Dieser Kontext war bestimmt von einer strengen Pressezensur und der Verfolgung von oppositionellen Gruppen im Osmanischen Reich.7 Die Gazete gilt als die erste osmanischsprachige feministische Frauenzeitschrift, weil sie den Zugang der Frauen zu Bildung und die Stellung der Frauen in der Familie und in der Gesellschaft kritisierte.8 Kadınlar Dünyası erschien in der Epoche der Zweiten Konstitution und war das Publikationsorgan von Osmanlı Müdafaa-i Hukuk-i Nisvan Cemiyeti (Osmanischer Verein für die Verteidigung der Frauenrechte – Nisvan Cemiyeti). Sie gilt als eine feministische Zeitschrift, welche die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik forderte.9 Türk Kadın Yolu gehört in die Gründungszeit der Republik Türkei und wurde vom Türk Kadınlar Birliği (Türkischer Frauenbund – TKB) zwischen 1925 und 1927 herausgegeben. Der TKB war ein Frauenverein, der sich an den republikanischen Prinzipien orientierte und im Jahre 1926 eine nationale Sektion der IAW wurde. Dokumente der jeweiligen Frauengruppen, die diese osmanisch-türkischen 6 Die ersten drei Nummern der Zeitschrift hießen Kadın Yolu (Der Weg der Frau). Ab der vierten Nummer wurde die Zeitschrift Türk Kadın Yolu genannt. In meiner Dissertation verwende ich die letztere Bezeichnung. 7 Kreiser, Klaus. Das letzte osmanische Jahrhundert. In: Klaus Kreiser/Christoph K. Neumann (Hrsg.). Kleine Geschichte der Türkei. Stuttgart 2003, S. 315–385, S. 347. 8 Zihnioğlu, Yaprak. Kadınsız İnkılap. Nezihe Muhiddin, Kadınlar Halk Fırkası, Kadın Birliği (Die Revolution ohne Frau. Nezihe Muhiddin, die Republikanische Frauenpartei, der Frauenbund). İstanbul 2003, S. 53. 9 Çakır, Serpil. Osmanlı Kadın Hareketi (Die osmanische Frauenbewegung). İstanbul 2010, S. 408. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 14 Einleitung Frauenzeitschriften herausgaben, sind kaum vorhanden. Nur für den TKB gibt es einzelne archivierte Dokumente. Die Frauengruppen veröffentlichten ihre Tätigkeiten in ihren Publikationsorganen. Deshalb stellen diese Zeitschriften auch einen Zugang zu ihrer Geschichte dar und sind Untersuchungsquellen meiner Dissertation. Die westlichen internationalen Frauenorganisationen, die ich untersuche, sind der International Council of Women (ICW), die International Alliance of Women for Suffrage and Equal Citizenship (IAW)10 und die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF). Der ICW wurde im Jahre 1888 gegründet.11 Er war die Dachorganisation von euro-amerikanischen Frauengruppen, die sich in den Bereichen Philanthropie, Religion, moralische Reformen, Erziehung, Kunst, Literatur und Wissenschaft engagierten. Das Stimmrecht von Frauen war ein weiteres Thema. Die IAWentstand im Jahre 1904 durch Frauengruppen, die sich vom ICW trennten.12 Die Trennung wurde durch Unstimmigkeiten innerhalb des ICW über die Priorität des Frauenstimmrechts ausgelöst. Die IAW legte stärkeres Gewicht auf die politischen, moralischen und wirtschaftlichen Mitbestimmungsrechte der Frauen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, entstanden innerhalb der IAW Kontroversen über die Frage, ob auf einem Frauenkongress den Themen des Krieges und des Friedens Vorrang vor dem politischen Mitspracherecht der Frauen gegeben werden sollte.13 Aus dem Frauenkongress der IAW, der im Jahre 1915 in Den Haag stattfand, ging The International Committee of Women for Permanent Peace hervor, das im Jahre 1919 in WILPF umbenannt wurde. Die WILPF trat für die soziale Gerechtigkeit, die friedliche Lösung von globalen Konflikten und die Gleichstellung von Mann und Frau ein. Der ICW versuchte eine Bandbreite von Frauenvereinen unter sich zu vereinen, während sich die IAW bis zum Ersten Weltkrieg in ihren Aktivitäten auf die zivile und politische Gleichberechtigung von Mann und Frau konzentrierte.14 Im Jahre 1904 reagierte der ICW auf die Trennung einiger seiner nationaler Sektionen und führte ein Standing Committee on Suffrage ein. Im Jahre 1913 erweiterte die IAW ihre Agenda auf Themen wie Frauenhandel, Frieden, Sklaverei 10 Bis 1926 hieß diese Organisation International Woman Suffrage Alliance. Im Jahre 1926 wurde sie umbenannt, während der Name der Organisation im Französischen und Deutschen gleichblieb, nämlich in Alliance International des Femmes beziehungsweise Weltbund für das Frauenstimmrecht. Rupp, Leila J. Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement. Princeton 1997, S. 23. 11 Rupp, Leila J. Constructing Internationalism: The Case of Transnational Women’s Organizations. In: Karen Offen (Hrsg.). Globalizing Feminisms, 1789–1945. Abingdon 2010, S. 139–152, S. 140. 12 Rupp, Worlds of Women 1997, S. 22. 13 Rupp, Constructing Internationalism 2010, S. 140. 14 Rupp, Worlds of Women 1997, S. 19. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Fragestellungen und Thesen 15 und Nationalität der verheirateten Frauen.15 In der Folge überlappten sich die Anliegen und die Mitgliedschaft von IAW und ICW.16 Der ICW und die IAW versuchten, eine Nicht-Einmischungsstrategie in die nationalen Angelegenheiten ihrer Sektionen zu verfolgen. Die WILPF blieb hingegen in ihren Anliegen pazifistisch orientiert und nahm in ihre Resolutionen Themen, die damals kontrovers waren, wie Minderheiten und Imperialismus, auf.17 In der Zwischenkriegszeit gingen diese Organisationen mehrere Koalitionen ein, um im Umfeld des Völkerbunds für ihre Anliegen zu agieren.18 Diese Frauenorganisationen waren von der Annahme einer auf universalen Erfahrungen basierenden Geschlechtersolidarität (universal sisterhood) überzeugt.19 Auf Basis dieser Überzeugung initiierten sie Vereinsgründungen in mehreren Ländern. Diese Vereinsgründungen waren als nationale Sektionen organisiert und hatten die gleichen Ziele wie ihre Dachverbände.20 Nach dem Ersten Weltkrieg waren auch Frauengruppen außerhalb Europas und der USA unter ihrem Dach zusammengeschlossen.21 Im Folgenden stelle ich meine Fragestellungen und danach die theoretische und methodische Einbettung meiner Untersuchung dar. Anschließend folgt der Forschungsstand über die osmanisch-türkische Frauenbewegung und die internationalen Frauenorganisationen, die im Fokus meiner Untersuchung stehen. Die Quellenlage, die damit verbundenen Überlegungen und einen Überblick über den Aufbau der vorliegenden Arbeit präsentiere ich in den letzten Teilkapiteln dieser Einleitung. 2. Fragestellungen und Thesen Die übergeordnete Fragestellung meiner Dissertation lautet: Welche Austauschprozesse und Interaktionen gab es zwischen Frauengruppen im Raum der heutigen Türkei und internationalen Frauenorganisationen im Zeitraum von 1895 bis 1935? Anhand der eingangs erwähnten osmanisch-türkischen Frauenzeitschriften möchte ich untersuchen, wie osmanisch-türkische Autorinnen und Autoren die Frauenbewegungen in Europa und den USA wahrnahmen, 15 16 17 18 19 20 Ebd., S. 23. Ebd., S. 25. Ebd., S. 30. Ebd., S. 40ff. Ebd., S. 82. Miller, Carol. »Geneva – the Key to Equality«. Inter-War Feminists and the League of Nations. In: Women’s History Review 3 (1994) 2, S. 219–245, S. 219f. 21 Berkovitch, Nitza. The Emergence and Transformation of the International Women’s Movement. In: John Boli (Hrsg.). Constructing World Culture. International Nongovernmental Organizations Since 1875. Stanford, Calif. 1999, S. 109f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 16 Einleitung inwiefern sie sich auf deren Konzepte und Forderungen bezogen und wie sie diese gegenüber ihrer Öffentlichkeit präsentierten. Die Autorinnen und Autoren der Zeitschrift Gazete waren nicht um einen bestimmten Frauenverein – wie im Fall von Kadınlar Dünyası und Türk Kadın Yolu – herum organisiert. Kadınlar Dünyası war das Publikationsorgan von Nisvan Cemiyeti. Es gab ein französisches Supplement von Kadınlar Dünyası, in welchem europäische Autorinnen mitschrieben. Der TKB, der von 1925 bis 1927 die Zeitschrift Türk Kadın Yolu herausgab, war mit der IAW verbunden. Inwiefern sich Beziehungen der Feministinnen und Feministen in Istanbul mit Frauenvereinen in Europa und den USA anhand dieser Frauenzeitschriften rekonstruieren lassen, ist eine weitere Frage, die ich in dieser Dissertation untersuche. Diese Beziehungsgeschichte erforsche ich vor dem Hintergrund des jeweiligen sozialen und politischen Kontextes der osmanisch-türkischen Frauengruppen. Die hier untersuchten osmanisch-türkischen Frauenzeitschriften erschienen in einer Zeit der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche im Gebiet der heutigen Türkei. Diese Umbrüche bezogen sich auf politische Revolutionen, Prozesse der Nationalstaatsbildung, den Ersten Weltkrieg und die Gründung der Republik Türkei. Die Gazete erschien von 1895 bis 1908 im politischen Kontext der Regierungszeit von Sultan Abdulhamid II. Im Jahre 1908 endete mit der Jungtürkischen Revolution die Alleinherrschaft von Abdulhamid II. Die Epoche der Zweiten Konstitution mit beschränkten Herrschaftsrechten des Sultans dauerte bis 1922, als die neue Türkische Nationalversammlung die Abschaffung des Sultanats beschloss.22 Die Zeitschrift Kadınlar Dünyası gehört zu den zahlreichen Frauenzeitschriften, die in dieser Epoche gegründet wurden. Sie war die einzige Zeitschrift, die mehrere Jahre lang erschien. Mit der Gründung der neuen Republik Türkei im Jahre 1923 führte die türkische Regierung unter Mustafa Kemal (Atatürk) Reformen durch, um das Land nach europäischem Vorbild zu modernisieren.23 Türk Kadın Yolu erschien von 1925 bis 1927 und spiegelte Vorstellungen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen über die neue Republik aus feministischer Perspektive wider. Mein Untersuchungszeitraum endet im Jahr 1935, als der TKB unter dem Druck der Regierung aufgelöst wurde.24 Durch die Auflösung wurden internationale Verbindungen der türkischen Frauengruppe unterbunden. Bezüglich der internationalen Frauenorganisationen stelle ich die Frage, ob sie in Beziehung mit Frauen und Frauengruppen im Raum der heutigen Türkei 22 Kreiser, Das letzte osmanische Jahrhundert 2003, S. 319. 23 Kreiser, Klaus. Die neue Türkei (1920–2002). In: Klaus Kreiser/Christoph K. Neumann (Hrsg.). Kleine Geschichte der Türkei. Stuttgart 2003, S. 383–475, S. 409. 24 Toprak, Zafer. 1935 İstanbul Uluslararası Feminizm Kongresi ve Barış (The 1935 International Istanbul Feminist Congress and Peace). In: Toplum – Düşün (Society and Mentality) (1986) 24, S. 24–29, S. 29. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Fragestellungen und Thesen 17 standen und inwiefern sie auf deren Erfahrungen Bezug nahmen. Dieser Frage gehe ich anhand von Berichten der Frauenkongresse, von Protokollen und Korrespondenzen der jeweiligen Frauenorganisationen nach. Frauen aus dem Raum der heutigen Türkei nahmen an den Frauenkongressen des ICW, der IAW und der WILPF teil und erstatteten Bericht über die Situation und Aktivitäten der Frauen in ihrem Land. Ich untersuche diese Berichterstattungen inhaltlich anhand der Fragen, ob sie Vorstellungen in den jeweiligen Frauenzeitschriften, die ich in dieser Dissertation untersuche, widerspiegeln und inwiefern diese Berichte die Wahrnehmung internationaler Frauenorganisationen über Frauen im Raum der Türkei beeinflussten. In meiner Untersuchung gehe ich davon aus, dass internationale Beziehungen der osmanisch-türkischen Frauenbewegung für die Entwicklung der politischen und sozialen Rechte der Frauen in der Türkei bestimmend waren. Diese Beziehungen existierten bereits im 19. Jahrhundert und erreichten ihren Höhepunkt im Jahre 1935, als der TKB Gastgeber des 12. Frauenkongresses der IAW war. Die Garantie der politischen Mitbestimmungsrechte der Frauen in der türkischen Verfassung im Jahre 1934 ist teilweise auf die Beziehung des TKB zur IAW und auf die Bedeutung internationaler feministischer Kongresse für das Prestige einzelner Nationalstaaten zurückzuführen. Auf internationalen feministischen Kongressen wurde die Stellung der Frau in verschiedenen – vor allem westlichen – Ländern debattiert und kritisiert. Die Stellung der Frau in der Gesellschaft galt als Indikator für die Modernität und Zivilisiertheit eines Landes, die zugleich innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft, in welcher westliche Großmächte dominierten, als Legitimationsgrundlage für die nationale Souveränität dienten. Deshalb bedeutete die Teilnahme an den internationalen feministischen Kongressen, Teil der westlichen Zivilisation und der Modernität zu sein. Die türkische Regierung stand folglich unter Druck, feministische Reformen in die Verfassung aufzunehmen und Frauen gleichberechtigten Zugang zu Politik, Bildung und Wirtschaft zu ermöglichen. Ich gehe weiter davon aus, dass Beziehungen mit den osmanisch-türkischen Frauen für den ICW, die IAW und die WILPF relevant waren, um sich als internationale Frauenorganisationen, die alle Frauen in der Welt vertraten, zu präsentieren. Sie konnten ihre Forderungen der westlichen Öffentlichkeit gegenüber als universale Prinzipien legitimieren und somit von ihren internationalen Kongressen aus auf verschiedene Länder Druck ausüben, politische, wirtschaftliche und soziale Mitbestimmungsrechte der Frauen zu garantieren. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 18 3. Einleitung Theoretische und methodische Einbettung In meiner Untersuchung verwende ich Ansätze der entangled history, der Neuen Politikgeschichte, der Kulturgeschichte und der Diskurstheorie. Osmanisch-türkische Frauenzeitschriften liefern Erkenntnisse über Beziehungen von Frauengruppen im Raum der heutigen Türkei im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert zu europäischen und amerikanischen Frauengruppen. Die Konzepte und Forderungen der europäischen und amerikanischen Frauengruppen stellten für osmanisch-türkische Frauengruppen wichtige Referenzpunkte dar, um ihre eigenen Anliegen zu artikulieren. Um zu untersuchen, inwiefern osmanisch-türkische Frauen internationale Frauenorganisationen in ihrer Wahrnehmung und Arbeitsweise beeinflussten, analysiere ich den Quellenkorpus mit dem theoretischen Ansatz der entangled history. Dieser Ansatz wurde in den postkolonialen Studien entwickelt, die subalterne Gruppen als konstitutive Teile der Gesellschaft und des Staates betrachten und sie in den Fokus der Forschungen rücken.25 Die entangled history, in der Forschungsliteratur auch als Verflechtungsgeschichte beziehungsweise histoire crois8e26 bezeichnet, legt den Fokus auf Verflechtungen von Netzwerken oder Institutionen über Landesgrenzen hinweg und betrachtet diese aus verschiedenen Blickwinkeln. Anhand dieses Ansatzes möchte ich in der vorliegenden Dissertation der Frage nachgehen, ob man im Fall der Beziehungen zwischen osmanisch-türkischen Frauengruppen und westlichen internationalen Frauenorganisationen von einer entangled history sprechen kann. Die osmanisch-türkischen Autorinnen und Autoren verfügten über Französisch- und Englischkenntnisse, was die Übersetzungen der westlichen Schriften und Korrespondenzen in ihren Zeitschriften belegen. Diese Autorinnen und Autoren spielten die wichtigste Vermittlerrolle in den Transferprozessen. Übersetzte Texte und die Berichterstattung über Frauenbewegungen in Europa und den USA sowie die privaten Korrespondenzen veranschaulichen paradigmatisch solche Austauschprozesse. Diese Austauschprozesse scheinen gemäß den Dokumenten internationaler Frauenorganisationen auf den ersten Blick ungleich zu sein. Die Rekonstruktion einer Beziehungsgeschichte aus dem Blickwinkel der osmanisch-türkischen Frauengruppen hilft, diese ungleichen Austauschprozesse zu erklären, und trägt dazu bei, westliche Frauenorganisationen in ihrer Interaktion mit lokalen Frauengruppen zu fassen.27 25 Vgl. hierzu die in den postkolonialen Studien prägend gewirkten Untersuchungen in Chatterjee, Partha. The Partha Chatterjee Omnibus. New Delhi 2005 (4. Auflage). 26 David-Fox, Michael; Holquist, Peter et al. Entangled Histories in the Age of Extremes. In: Kritika 10 (2009) 3, S. 415–422, S. 421. 27 Ein Beispiel methodologischer Annäherungen zur entangled history liefert Julie Carlier in ihrer Arbeit über belgische Frauenorganisationen. Carlier stellt fest, dass die entangled Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen Theoretische und methodische Einbettung 19 Interpersonelle Netzwerke sind gemäß dem Ansatz der entangled history von besonderer Bedeutung, weil sie subalternen Gruppen ermöglichen, Einfluss auf Institutionen zu nehmen.28 Subalterne Gruppen sind Gayatri Chakravorty Spivak zufolge Menschen, die von politischer Mitsprache und der Produktion von Wissen ausgeschlossen sind.29 Spivak kritisiert die akademische Wissensproduktion, im Namen der hegemonialen Macht über subalterne Gruppen zu sprechen und diese nicht selber sprechen zu lassen. So sei die westliche Wissensproduktion über die »Dritte Welt« stets auch eine Rechtfertigung der kolonialen beziehungsweise imperialen Herrschaft. Ausgehend von Spivaks Ansatz der Subalternität sind osmanisch-türkische Frauen als Gruppen zu betrachten, die in ihrem soziopolitischen Kontext sowohl von politischer Beteiligung als auch von Entscheidungen der westlichen Frauenorganisationen ausgeschlossen waren. Um ihre Einflussmöglichkeiten auf Institutionen und auf den Nationalstaat rekonstruieren zu können, untersuche ich deren Netzwerke und Zeitschriften. Diese Netzwerke und Zeitschriften verstehe ich als Instrumente, die die Frauen einsetzten, um ihren politischen Handlungsspielraum zu erweitern und auf den Staat Einfluss zu nehmen – und dies in einem Kontext, in dem sie kaum über Mittel der formalen politischen Einflussnahme (zum Beispiel über das politische Mitspracherecht) verfügten. Damit stütze ich meine Untersuchung auch auf die Neue Politikgeschichte. Die Neue Politikgeschichte begreift das Politische über den Rahmen der traditionellen Institutionen- und Interessenpolitik hinaus und erweitert es auf Felder, die von sozialen Gruppen bestimmt werden. Das Politische ist in der geschichtswissenschaftlichen Forschung konsequent zu historisieren.30 Frauenzeitschriften spielten insofern eine Rolle, als sie den politischen Handlungsspielraum der Frauen ausdehnten. Sie erweiterten die Öffentlichkeit dahingehend, dass sie den Frauen ermöglichten, für ihre Anliegen aufzutreten und die Geschlechterordnung zu kritisieren. Feministische Zeitschriften im Besonderen dienten als Instrumente, um die etablierte Öffentlichkeit herauszufordern und auf politische Institutionen Einfluss zu nehmen. Beispielsweise wurde Jus Suffragii, das Publikationsorgan der IAW, aufgrund ihrer mehrsprachigen Ausgahistory als eine kritische Geschichtsschreibung die Kolonialgeschichte mitberücksichtigt und neue Möglichkeiten für die Untersuchung der Frauenbewegungsgeschichte eröffnet. Carlier, Julie. Forgotten Transnational Connections and National Contexts: An Entangled History of the Political Transfers that Shaped Belgian Feminism, 1890–1914. In: Women’s History Review 19 (2010) 4, S. 503–522, S. 503–522. 28 Becker, Felicitas. Netzwerke vs. Gesamtgesellschaft: Ein Gegensatz? Anregungen für Verflechtungsgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) 2, S. 314–324, S. 315. 29 Spivak, Gayatri Chakravorty. Can the Subaltern Speak? in: Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/ Helen Tiffin (Hrsg.). The Post-Colonial Studies Reader. London, New York 2006 (2. Auflage). S. 28–37, S. 28. 30 Vgl. Bourdieu, Pierre; Schultheis, Franz. Politik. Konstanz 2010. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 20 Einleitung ben international breit rezipiert. Diese Publikation machte die Vernetzung der Frauenvereine über nationale Grenzen hinweg und die Verbreitung von Ideen und Konzepten möglich. Lokale Frauenzeitschriften wie Türk Kadın Yolu trugen ihrerseits zur Verbreitung von westlichen feministischen Konzepten im Raum der Türkei bei. Osmanisch-türkische Frauenzeitschriften übersetzten und diskutierten Schriften und Forderungen von westlichen Feministinnen in einer Form, die an die Erwartungen und Deutungsmuster der osmanisch-türkischen Öffentlichkeit anschlussfähig war. Auch ihre Vertreterinnen auf internationalen Kongressen versuchten, ihrem Publikum entgegenzukommen, indem sie ihre Berichte in Begriffe und Deutungsmuster des jeweiligen Publikums übersetzten. Dabei spielten persönliche Intentionen der jeweiligen Repräsentantinnen ebenfalls eine Rolle. Um diesen Prozess der Übersetzung zu erklären, verwende ich den Ansatz der kulturellen Übersetzung von Peter Burke. Dieser Ansatz hilft, den Blick darauf zu lenken, was in den Übertragungen von Ideen in unterschiedliche Kontexte verändert beziehungsweise für ein spezifisches Publikum »domestiziert« wird. Übersetzung ist ein aktiver Prozess, an dem einzelne Personen oder Gruppen beteiligt sind, um das Fremde zugänglich zu machen und zu »domestizieren«.31 Diesem Prozess liegt eine doppelte Betrachtungsweise auf das zu übersetzende Material zugrunde. Aus der Perspektive des Empfängers ist die Übersetzung eine Form der Anreicherung der eigenen Kultur durch Anpassung eines Konzeptes an die eigene Sprache. Vom Standpunkt des Senders aus kann sie eine Form des Bedeutungsverlusts sein und zu Missverständnissen und Fehldeutungen führen, weil sich in Übersetzungen bestimmte Begriffe nicht wortwörtlich übersetzen lassen oder der Übersetzung widerstehen. Für Kulturhistorikerinnen und -historiker schlägt Burke vor, gerade diejenigen Elemente zu analysieren, die einer Übersetzung widerstehen und die bei der Übersetzung von einer Kultur in die andere verloren gehen, um die Prozesse der Aneignung und Verhandlung nachzuvollziehen.32 Frauenrechtlerinnen im frühen 20. Jahrhundert verstanden sich als eine Gruppe mit gemeinsamen Erfahrungen und Anliegen aufgrund ihres Geschlechts. Ausgehend von dieser Vorstellung konstruierten sie das universale Subjekt »Frau«, das in der Begegnung verschiedener Kulturen ständig neuen Herausforderungen unterlag. Zum einen waren die Begegnungen der osmanisch-türkischen Frauen mit den westlichen Frauenrechtlerinnen von Wissensordnungen und Deutungsmustern geprägt, die die Interaktionen und Beziehungen strukturierten und kulturelle Differenzierungen herstellten. Zum 31 Burke, Peter. Cultures of Translation in Early Modern Europe. In: Peter Burke (Hrsg.). Cultural Translation in Early Modern Europe. Cambridge 2007, S. 7–38, S. 10. 32 Burke, Peter. Cultural Hybridity. Cambridge 2009, S. 60f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 21 Forschungsstand anderen standen beide Gruppierungen spezifischen Erfahrungen der Frauen in jeweiligen kulturellen Kontexten gegenüber, die ihren eigenen Horizont erweiterten und alternative Handlungsformen aufzeigten. Die Beziehungen der Frauenrechtlerinnen untereinander bestimmten also im Sinne von Joan Wallach Scott primär das soziale Geschlecht, das jedoch in einem interdependenten Verhältnis zur Klasse und Ethnie stand. Die historische Geschlechterforschung betrachtet im Anschluss an Scott Geschlecht einerseits als eine zentrale Differenzkategorie und Achse sozialer Ungleichheit und anderseits als ein Medium, das auf der symbolischen Ebene Unterschiede und Hierarchien aller Art abbildet und stabilisiert.33 Als soziale Kategorie steht Geschlechterdifferenz in einem Interdependenzverhältnis zu anderen Differenzkategorien (Klasse, Nationalität, Hautfarbe, Religion etc.).34 Um den Quellenkorpus im Hinblick auf Deutungsmuster zu analysieren, verwende ich als theoretischen Ansatz die Diskurstheorie angelehnt an Michel Foucault. Dieser Ansatz betrachtet Wissen und soziale Wirklichkeit als vermittelt und räumt der Sprache die zentrale Rolle ein, das Wissen und die Wirklichkeit zu konstruieren.35 Texte aller Art sind als diskursive Handlungen zu betrachten. Sie beinhalten Weltdeutungen und verfestigen oder verändern diese durch stetiges Wiederholen.36 4. Forschungsstand 4.1. Die osmanisch-türkische Frauenbewegung Die Frauenbewegung im Raum der Türkei im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wird in der Forschung als die erste Welle der Frauenbewegung in der Türkei bezeichnet.37 Im Folgenden stelle ich die Forschungsliteratur dar, die 33 Scott, Joan Wallach. Gender : A Useful Category of Historical Analysis. In: American Historical Review 91 (1986), S. 1053–1075. 34 Walgenbach, Katharina. Gender als interdependente Kategorie. In: Katharina Walgenbach (Hrsg.). Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen 2007, S. 23–64 und Klinger, Cornelia; Knapp GudrunAxeli. Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht, »Rasse« / Ethnizität. In: Transit 29 (2005), S. 72–95. 35 Vgl. Sarasin, Philipp. Diskursanalyse. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.). Geschichte. Ein Grundkurs. 3. R Hamburg 2007 (3. Auflage), S. 199–217. 36 Lüders, Christian. Deutungsmusteranalyse. In: Ronald Hitzler (Hrsg.). Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen 1997, S. 57–79, S. 60. 37 Çakır, Serpil. Feminism and Feminist History-Writing in Turkey. The Discovery of Ottoman Feminism. In: Aspasia 1 (2007) 1, S. 61–83, S. 62. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 22 Einleitung diese Frauenbewegung in die kulturellen und politischen Verwestlichungsprozesse und in den Nationalstaatsbildungsprozess einbettet. Frauen im Osmanischen Reich begannen Mitte des 19. Jahrhunderts, sich öffentlich mit ihrer gesellschaftlichen und politischen Stellung auseinanderzusetzen und diese zu hinterfragen.38 Die intellektuelle Auseinandersetzung der Frauen mit ihrer Stellung wird in der Forschungsliteratur auf die Bildungsreformen während des 19. Jahrhunderts zurückgeführt.39 Bildung der Frauen wurde während des 19. Jahrhunderts zunehmend von der osmanischen Staatsführung und den Intellektuellen als nötig erachtet, um Lösungen für die wirtschaftliche Rückständigkeit des Reiches gegenüber Europa zu finden.40 Die von der osmanischen Staatsführung und Intellektuellen als notwendig betrachtete Bildung sollte den traditionellen Rollen der Ehefrau und Mutter entsprechen. Deshalb waren die ersten berufsbildenden Schulen für Mädchen, die im Jahre 1869 eröffnet wurden, auf die Ausbildung von Krankenschwestern und Lehrerinnen ausgerichtet.41 Die Forschungsliteratur definiert von diesem Befund ausgehend die Frauenfrage als ein Resultat der Auseinandersetzung der osmanischen Staatsführung und Bildungsschicht mit der wirtschaftlichen und politischen Überlegenheit Europas. Diese Bildungspolitik brachte intellektuelle Frauen hervor, die sich rund um Wohltätigkeitsvereine und um Frauenzeitschriften gruppierten und versuchten, auf die öffentlichen Debatten über die Stellung der Frauen Einfluss zu nehmen. Die feministische Bewegung, die Zugang der Frauen zu den universitären Bildungsinstitutionen, die zivilrechtliche Verbesserung der Stellung der Frauen wie die Aufhebung der Polygamie forderte, situiert die Forschungsliteratur in der Zweiten Konstitutionellen Epoche, die von der Jungtürkischen Revolution im Jahr 1908 eingeleitet wurde.42 Von der Revolution inspiriert und aufgrund der Aufhebung des Verbots von Vereinsgründungen und der Pressezensur traten Frauen der Ober- und Mittelschicht mit bestimmten Forderungen an die Öf38 Vgl. Çakır, Osmanlı Kadın Hareketi (Die Osmanische Frauenbewegung) 2010 und Demirdirek, Aynur. In Pursuit of the Ottoman Women’s Movement. In: Zehra F. Arat (Hrsg.). Deconstructing Images of »The Turkish Woman«. New York 1998, S. 65–81. 39 Kaymaz, Kadriye. Gölgedeki Kalem. Emine Semiye (Schreiben im Schatten. Emine Semiye). Vefa, İstanbul 2009, S. 12f. 40 Küper-Başgöl, Sabine. Frauen in der Türkei zwischen Feminismus und Reislamisierung. Münster 1992, S. 32. 41 Kaymaz, Gölgedeki Kalem 2009, S. 12f. 42 Talay Keşoğlu, Birsen; Keşoğlu, Mustafa. Türk Kadını 1918/1919 (Yeni Harflerle). İstanbul 2010, S. XVII. Nicole van Os untersucht die Frauenorganisationen in der Epoche der Zweiten Konstitution: Os, Nicole A. N. M. van. Feminism, Philanthropy, Patriotism. Female Associational Life in the Ottoman Empire. Leiden 2013; Haerkötter-Uzun, Ruth. Öffentliche Diskussion in der Istanbuler Frauenpresse zu Beginn der Zweiten Konstitutionellen Periode am Beispiel Mahasin. In: Christoph Herzog/Raoul Motika/Anja Pistor-Hatam (Hrsg.). Presse und Öffentlichkeit im Nahen Osten. Heidelberg 1995, S. 83–92. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 23 Forschungsstand fentlichkeit. In dieser Epoche verdichteten sich die Modernisierungsdebatten der Intellektuellen, in denen die Frauenfrage wiederum eine zentrale Stellung einnahm.43 Gemäß Aynur Demirdirek verliefen die Forderungen der Frauen im Osmanischen Reich und in der Türkei parallel zu dem Kampf für das Frauenstimmrecht in Europa.44 Sie verfolgten die Frauenbewegungen in der ganzen Welt, dennoch blieben sie in ihren Forderungen innerhalb des Rahmens, den ihnen eine islamische Gesellschaft anbot. Demirdirek beobachtet in ihrer Untersuchung, dass Frauen ab der Jahrhundertwende in ihren Argumenten säkular auftraten und sich tendenziell von Referenznahmen auf den Islam distanzierten. Laut ihr beschäftigten sich die Frauen mit Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen und definierten ihre Probleme in Begriffen der Weiblichkeit und Männlichkeit. Im Zuge des Übergangs zur Ära der Republik habe sich die Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen abgeschwächt. Neben Modernisierungsprozessen hebt die Forschungsliteratur einen zentralen Einfluss des türkischen Nationalismus auf die Frauenbewegung hervor.45 Die nationalistischen Bewegungen eröffneten neue Handlungsräume. Nationaler Aufstieg wurde direkt in Verbindung mit der Verbesserung des sozialen Status der Frauen gesetzt. Dabei wurden Frauenrechte nicht als individuelle Rechte gefordert, sondern als Gegenstand des nationalen Aufstiegs.46 Nach der Gründung der Republik Türkei wurden bestimmte Frauenrechtsreformen realisiert. Diese Reformen basierten auf der kemalistischen Ideologie, die eine radikalisierte Form der nationalistischen Vorstellungen der jungtürkischen Bewegung war. Von diesen Reformen konnten jedoch nur Frauen aus den gesellschaftlichen Eliten profitieren.47 Die Historikerin Bora Aksu betont, dass die Beziehungen zwischen den nationalistischen Bewegungen und den Frauengruppen viel komplexer waren, als es auf den ersten Blick erscheint. Sie bezieht sich auf Chatterjee und behauptet, dass die Angst vor der Moderne und das Bedürfnis, sich vom Westen zu diffe43 Aksu, Bora. Hatırlananlar ve Unutulanlar: İslam Coğrafyasında Modernleşme ve Kadın Hareketleri (Remembering and Forgetting: Modernization in Islamic Geography and Women’s Movements). In: Bilig 53 (2010), S. 51–66, S. 54. 44 Demirdirek, In Pursuit of the Ottoman Women’s Movement 1998, S. 78ff. 45 Durakbaşa, Ayşe. Cumhuriyet Döneminde Kemalist, Kadın Kimliğinin Oluşumu (The Formation of Kemalist Women’s Identity in the Republican Period). In: Tarih ve Toplum (1988) 51, S. 39–43, S. 39. 46 Ebd., S. 39. 47 Durakbaşa, Ayşe. Kemalism as Identity Politics in Turkey. In: Arat, Deconstructing Images 1998, S. 139–155, S. 152. Berktay, Fatmagül. Osmanlı’dan Cumhuriyet’e Feminizm (Feminism: From the Ottoman Period to the Republic). In: Mehmet Alkan (Hrsg.). Tanzimat ve Meşrutiyet’in Birikimi: Osmanlıdan Cumhuriyete Düşünsel Miras (The Accumulation of Tanzimat and Constitutional Periods: Intellectual Heritage from the Ottoman to Republican Period). Istanbul 2001, S. 348–361, S. 354. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 24 Einleitung renzieren, sich an der Stellung der Frauen und der Geschlechterbeziehungen auskristallisierten.48 Die Interpretation von Aksu steht im Widerspruch zu den Studien von Nilüfer Çağatay und Yasemin Nuhoğlu-Soysal. Diese Historikerinnen interpretieren die Gewährung der Frauenrechte in den ersten Jahrzehnten der Republikgründung als charakteristisch für Staatsgründungen. Çağatay und Nuhoğlu-Soysal betrachten die Frauenrechtsreformen in diesem Prozess als »ein[en] Teil der Bemühungen dieser Staaten um einen Platz innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft«.49 Deshalb gebe es durchaus Parallelen zwischen der Frauenpolitik der jungen Staaten und den liberalfeministischen politischen Vorstellungen in Europa. Darüber hinaus hätten die Kemalisten versucht, laizistisch-westliche Ideen in ihrer Ideologie aufgehen zu lassen, indem sie sich auf eine »alttürkische« soziale Ordnung beriefen, von der angenommen wurde, dass sie hinsichtlich der Geschlechterbeziehung an Gleichberechtigung orientiert war.50 Den Zusammenhang zwischen der Frauenbewegung und dem Nationalismus in der Türkei problematisiert Ellen Fleischmann aus einer anderen Perspektive: Frauen, die während des Prozesses der Nationalstaatsgründung den öffentlichen Raum betraten, waren zugleich Nationalistinnen, die sich im »nationalen Befreiungskampf« engagierten.51 Erst die Orientierung am nationalistischen Diskurs habe laut Fleischmann den Frauen ermöglicht, in das öffentliche Leben einzutreten. Sie hätten damit kulturelle, soziale und politische Normen hinterfragt und mit der Zeit eine eigene Kritik an der Geschlechterordnung formuliert. Der Nationalismus habe für Frauen als ein legitimierender Diskurs für ihre Emanzipation fungiert und ihnen die Integration in die Gesellschaft ermöglicht. Gleichzeitig seien die Grenzen des kulturell akzeptierten Verhaltens der Frauen bestätigt und die Frauen gezwungen worden, ihre geschlechtsspezifischen Interessen mit Begriffen und Referenzen zu artikulieren, die ihnen der nationalistische Diskurs anbot, beispielsweise als »Mütter der Nation«. In der Artikulation in nationalistischen Terminologien sieht Fleischmann durch die explizite oder implizite Akzeptanz der Strategie »nationale Befreiung jetzt, Befreiung der 48 Aksu, Hatırlananlar ve Unutulanlar 2010, S. 54. 49 Çağatay, Nilüfer ; Nuhoğlu-Soysal, Yasemin. Frauenbewegungen im nationalen Einigungsprozess. Die Türkei und andere Länder des Nahen Ostens im Vergleich. In: Ayl. Neusel/Şirin Tekeli/Meral Akkent (Hrsg.). Aufstand im Haus der Frauen. Frauenforschung aus der Türkei. Berlin 1991, S. 202–213, S. 203f. 50 Ebd., S. 211f. Çağatay-Nuhoğlu sieht die Begründung von Nationalismus mit der vorislamischen Periode auch in Ägypten. 51 Fleischmann, Ellen L. The Other ›Awakening‹: The Emergence of Women’s Movements in the Modern Middle East, 1900–1940. In: Offen, Globalizing Feminisms 2010, S. 170–192, S. 171. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474 Elife Biçer-Deveci: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen 25 Forschungsstand Frauen später« eine »Degradierung« der Frauenbewegung zum »Dienst« am Nationalismus.52 Den Zusammenhang zwischen kulturellen Austauschprozessen und der Entstehung einer Frauenbewegung im Osmanischen Reich beleuchten Studien, die sich mit der armenischen Frauenbewegung auseinandersetzen.53 Diese Studien betonen die Rolle westlicher Missionarinnen und Missionare, insbesondere des American Board of Commissioners for Foreign Mission, die westliche Norm- und Wertvorstellungen in die armenischen Gemeinschaften importierten. Die Einführung der Frauenbildung ist den missionarischen Tätigkeiten zu verdanken, was die Stellung der Frauen verbesserte und die Akzeptanz der außerhäuslichen Beschäftigung der Frauen ermöglichte.54 Durch ihre Ausbildung in missionarischen Bildungsinstitutionen stärkten Armenierinnen ihren zivilgesellschaftlichen Einfluss in ihren Gemeinschaften.55 Houri Berberian verweist auf diese missionarischen Tätigkeiten, wenn sie argumentiert, dass im Osmanischen Reich eine breite Schicht von Armenierinnen gebildet und stärker als Musliminnen politisiert war, obwohl die Geschlechterordnungen dieser religiösen Gemeinschaften sich kaum voneinander unterschieden.56 Biographien der führenden Akteurinnen der osmanischen Frauenbewegung betonen, dass diese Akteurinnen sich intensiv mit der westlichen Kultur auseinandersetzten und eine westliche Bildung genossen. Hervorzuheben sind die Biographien von Halide Edip Adıvar (1884–1964)57 und Nezihe Muhiddin (1898–1958).58 Zudem sind im Sammelband Biographical Dictionary of Women’s Movement Nezihe Muhiddin, Ulviye Mevlan (1893–1964), Suat Derviş (1903– 1972) und Fatma Aliye (1862–1936) kurz vorgestellt. Bei diesen Frauen handelt sich um Angehörige der gesellschaftlichen Elite und um Akteurinnen, die führende Positionen in der Frauenbewegung innehatten. Halide Edip Adıvar sei an das American College for Girls gegangen, eine um 1871 in Istanbul von amerikanischen Missionarinnen gegründete Schule mit frauememanzipatorischen Curricula.59 Ausführlich mit der Biographie von Halide Edip Adıvar hat sich İpek 52 Ebd., S. 171. 53 Berberian, Houri. Armenian Women in the Turn-of-the-Century Iran. Education and Activity. In: Rudolph P. Matthee/Nikki Ragozin Keddie (Hrsg.). Iran and Beyond. Essays in Middle Eastern History in Honor of Nikki R. Keddie. Costa Mesa, Calif. 2000, S. 70–98. 54 Ebd., S. 141f. 55 KılıÅdağı, Ohannes. The Armenian Community of Constantinople in the Late Ottoman Empire. In: Richard G. Hovannisian/Simon Payaslian (Hrsg.). Armenian Constantinople. Costa Mesa, Calif. 2010, S. 229–241, S. 236f. 56 Berberian, Armenian Women 2000. 57 Çalışlar, İpek. Halide Edib. İstanbul 2011 (1. Auflage: 2010). 58 Zihnioğlu, Kadınsız İnkılap 2003. 59 Durakbaşa, Ayşe. Halide Edip Adivar. In: Francisca de Haan/Krasimira Daskalova/Anna Loutfi (Hrsg.). Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms in Central, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847107477 – ISBN E-Lib: 9783737007474