Fünf Bausteine einer umfassenden sprachlichen Bildung
© Copyright Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2023. Open Access. Creative Commons-Lizenz 4.0 (BY-NC-ND).
Simone Naphegyi, Elisabeth Allgäuer-Hackl
Das Konzept der „5 Bausteine umfassender sprachlicher Bildung“ dient als
didaktisches Modell für die ganzheitliche und (mehr)sprachenbewusste Planung, Gestaltung und Reflexion von Sprachen- und Sachfachunterricht sowie
als Orientierungsrahmen für Schulentwicklungsprozesse, die eine breitangelegte sprachliche Bildung in den Mittelpunkt rücken. Dabei steht sowohl der
Aufbau von Wissen über die Welt als auch von Wissen über Sprache und
Sprachen im Zentrum. Im folgenden Beitrag werden die Grundgedanken hinter
den einzelnen Bausteinen skizziert und anhand eines konkreten Unterrichtsthemas illustriert.
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Zur Entstehung des Modells
Die Grundlagen für das Konzept der 5 Bausteine entstanden in einem mehrjährigen Prozess der Begleitung von Kindergärten und Schulen sowie der Fortbildung von Pädagog*innen. Diese wurden im Rahmen des Programms „mehr
Sprache“ von der Vorarlberger Projektstelle für Zuwanderung und Integration
okay.zusammen leben durchgeführt. In der Folge gab die Landesregierung von
Vorarlberg den Auftrag, ein Grundlagenpapier als Orientierungsrahmen für
sprachliche Bildung in Vorarlberg zu erstellen. Die Autorinnen, die selbst in
unterschiedlichen Bildungsebenen tätig waren, formulierten das Konzept in
Kooperation mit okay.zusammen leben aus. Es wurde 2018 vom Land publiziert
(Allgäuer-Hackl et al., 2018) und 2019 mit dem Europäischen Sprachensiegel
ausgezeichnet. Seither wird das Modell laufend adaptiert und weiterentwickelt
(z. B. Allgäuer-Hackl & Naphegyi, 2022; Naphegyi & Allgäuer-Hackl, i. V.). Zielgruppe sind Pädagog*innen vom Elementarbereich bis zum Ende der Pflichtschulzeit1.
Die zentrale Frage während der Begleitung von Pädagog*innen zur sprachlichen Bildung war sehr oft: „Wie kommen unsere Lernenden zu besserem
Deutsch?“ Dies ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Deutsch in Vorarlberg die Unterrichtssprache ist. Wenn (Sprachen-)Lernen aus der Perspektive
der 5 Bausteine umfassender sprachlicher Bildung beleuchtet wird, liegt der
Fokus jedoch auf dem vernetzten (Sprachen-)Lernen, wobei alle Sprache(n) als
Werkzeug für Kommunikation, Denken und Wissenserwerb eingesetzt werden.
Das Modell besteht aus fünf Bausteinen, die in gegenseitiger Ergänzung und
Wechselwirkung zueinander stehen (Allgäuer-Hackl et al., 2018). Den Kern des
Modells bildet das Bewusstsein von inneren Bildern und Konzepten, die als
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In Österreich beginnt die allgemeine Schulpflicht mit dem auf die Vollendung
des 6. Lebensjahres folgenden 1. September und dauert 9 Schuljahre.
Klaus-Börge Boeckmann et al., Band 1: Mit Sprache handeln,
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Ausgangspunkt jedes ko-konstruktiven Unterrichtshandelns gesehen werden
müssen. Um diese Basis der inneren Bilder und Konzepte sind vier weitere
Bausteine angeordnet, die das Bewusstsein von und den Umgang mit Mehrsprachigkeit, der Unterrichtssprache Deutsch, Sprachen- und Sprachlernbewusstsein sowie Vielfalt fördern.
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Die Bausteine des Modells können als Linsen herangezogen werden, mit denen
der Fokus in der Unterrichts- und/oder Schulentwicklung auf bestimmte
Aspekte von Sprache gelenkt wird. Deutschförderung ist also Teil einer umfassenden sprachlichen Bildung und Förderung, die anhand des Modells vernetzt
und kognitiv anspruchsvoll konzipiert, umgesetzt und reflektiert wird.
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Die Bausteine im Einzelnen
Im Folgenden werden die Bausteine wie in Abbildung 1 mit jeweils zentralen
Impuls- bzw. Reflexionsfragen kurz vorgestellt.
Abb. 1: Bausteine umfassender sprachlicher Bildung (Allgäuer-Hackl & Naphegyi, 2022,
S. 147; adaptierte Version, eigene Darstellung)
Die einzelnen Bausteine werden in den folgenden Ausführungen mit einem
konkreten Unterrichtsthema praktisch verortet und illustriert. Dafür haben wir
die Auseinandersetzung mit den Vergleichsstufen der Adjektive im Deutschen
gewählt.
2.1 Baustein Deutsch als Unterrichtssprache
Im Baustein Unterrichtssprache Deutsch geht es wesentlich um den Aufbau von
bildungssprachlichen Kompetenzen. In der Schulentwicklungsforschung zu
sprachlicher Bildung (mit Fokus auf Deutsch als Unterrichtssprache) besteht
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Einigkeit darüber, dass sich Lehrpersonen und im Idealfall Schulteams darüber
austauschen sollten, wie die Lernenden von der Sprache des Alltags zur Bildungssprache kommen. Diagnosekompetenz und das Erkennen der sprachlichen Hürden des Deutschen sind dabei wichtige Bestandteile.
Die Einführung der Vergleichsformen im Deutschen geschieht in der Primarstufe in Österreich im zweiten Jahrgang. Zahlreiche Lehrwerke verwenden
dazu Lückentexte mit Größen- oder Geschwindigkeitsvergleichen aus dem
Tierreich. „Der Regenwurm ist lang. Die Schlange ist länger. Der Gartenschlauch
ist am längsten“ (Henickl et al., 2020, S. 24). Um die Vergleichsstufen eines Adjektivs im Deutschen korrekt bilden zu können, bedarf es bei den Lernenden
der Einsicht in die Morphemkonstanz des Deutschen und des Prinzips der
Affigierung (schnell – schneller – am schnellsten). An vielen Schulen lassen sich
Tendenzen dahingehend beobachten, dass z. B. isoliertes Artikeltraining oder
Grammatiktraining ganz wesentliche Elemente der Deutschfördereinheiten,
v. a. im DaZ-Unterricht, sind.
Sprachliche Bildung aus der Perspektive der 5 Bausteine beschränkt sich keinesfalls auf die hier genannten, meist von den Alltagserfahrungen losgelösten
mechanischen Trainingseinheiten. Umso wichtiger erscheint es, neben dem
Baustein Deutsch noch weitere Aspekte aufzuzeigen, die unseres Erachtens zu
einer umfassenden sprachlichen Bildung gehören. Als ersten Schritt setzen wir
also den Baustein Deutsch in Verbindung mit dem Baustein Innere Bilder und
Konzepte.
2.2 Baustein Innere Bilder und Konzepte
Um als Lernende*r das sprachliche Konzept und die Notwendigkeit von sprachlichen Vergleichsformen verstehen zu können, bedarf es der Auseinandersetzung damit, was hinter dem Konzept vergleichen steht. Ausgehend von Alltagserfahrungen überlegen Lehrpersonen gemeinsam mit den Lernenden, wann
und warum in Alltagssituationen Vergleiche angestellt werden und was wie
verglichen wird. Dabei spielt die Bewusstmachung der Tatsache, dass aufgrund
von Vergleichen jeder Art Bewertungen und Hierarchisierungen entstehen (vgl.
die Rolle von Noten im Schulsystem) und der Superlativ die beiden Extrempole
darstellt, eine wichtige Rolle.
Es erscheint uns wichtig, immer wieder zu betonen und darauf hinzuweisen,
dass Sprache nicht zum Selbstzweck da ist, sondern dass damit die Konzepte der
Welt fassbar und verstehbar gemacht werden. Sprache und sprachliche Bildung
sind nie isoliert von den Erfahrungen der einzelnen Lernenden und den darauf
aufbauenden inneren Bildern und Konzepten, also Wissen über die Welt, zu
sehen.2
2
Cummins nimmt in seinem Konzept der Common Underlying Proficiency oder
CUP (Cummins, 1984; Cummins et al., 2001) eine allen Sprachen zugrundeliegende Basis an Wissen an, auf welche die einzelnen Sprachen zurückgreifen
können.
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Die Anschlussfähigkeit der vermittelten Inhalte im Unterricht an die Vorstellungen der Lernenden, die über Sprache zum Ausdruck kommen, ist eine zentrale Herausforderung des Modells. Es geht dabei einerseits um die gedanklichen Bilder und (Prä-)Konzepte der Lernenden, andererseits auch um die von
uns als Lehrpersonen (tradierten) Konzepte und ihr bewusstes Hinterfragen.
Neben der sprachlichen Anschlussfähigkeit geht es also um die konzeptuelle
Passung, die für die Vermittlung der Lerninhalte zunächst analysiert und in
weiterer Folge hergestellt werden muss.
Ausgehend vom Alltagskonzept des Vergleichens sollen die Lernenden z. B.
auch verstehen können, welche Idee hinter einer mathematischen Gleichung
steht, die auf abstrakte Weise mit Zahlen und Rechenzeichen dargestellt wird.
Schumacher und Stern (2018, S. 180) sprechen in diesem Zusammenhang von
konzeptioneller „Umstrukturierung von Wissen“, das für alle Lernenden eine
Herausforderung darstellt.
2.3 Baustein Vielfalt
Der Baustein Vielfalt nimmt die Wahrnehmung und Wertschätzung der sozioökonomischen, persönlichen, kulturellen, religiösen, familiären (um einige
Aspekte zu nennen) Vielfalt der Gruppe oder Klasse als Ressource in den Blick.
Vielfalt bezieht sich unter anderem auf die lebensweltlichen Erfahrungen und
Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen, welche keineswegs immer jenen
entsprechen, die Bildungseinrichtungen für die Vermittlung von Bildungsinhalten voraussetzen.
Im Zusammenhang mit unserem Beispiel eröffnet dieser Baustein die Möglichkeit der vertieften Auseinandersetzung damit, wie in unterschiedlich kulturell
und politisch geprägten Gesellschaften Vergleiche angestellt werden und welchen Stellenwert das Vergleichen im gesellschaftlichen Leben hat. Im neoliberalen Wirtschaftsdenken besteht aufgrund der Angebotsfülle, die der Markt
bietet, gewissermaßen ein dauernder Vergleichszwang hinsichtlich des PreisLeistungs-Verhältnisses bzw. auch die Ausrichtung auf das individuelle Ziel des
„immer mehr – immer größer – immer besser“. Als Gegenentwurf für diese
Denkweise könnten Fabeln wie „Der Hase und der Igel“ im Hinblick auf das
Vergleichen analysiert werden. Indigene Gesellschaften betonen die Bedeutung
von Leistungen der Einzelnen für Gesellschaft und Natur; ihre Vergleiche werden also anders ausschauen.
Die Aufgabenstellungen folglich dahingehend zu konzipieren und zu transferieren, dass diese für die heterogenen Lebenswelten der Lernenden anschlussfähig sind und Lernende sich in den Aufgabenstellungen wiederfinden, soll mit
diesem Baustein ins Bewusstsein rücken.
2.4 Baustein Mehrsprachigkeit
Im Deutschunterricht bzw. Einzelsprachenunterricht ist normalerweise eine
Zielsprache im Vordergrund. Vergleiche mit den anderen an der Schule unter-
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richteten Sprachen oder mit den Familiensprachen der Lernenden sind eher
selten. Der Baustein Mehrsprachigkeit lädt dazu ein, alle sprachlichen
Ressourcen, die die Lernenden in den Unterricht mitbringen, zuzulassen, wertzuschätzen und in den Unterricht einzubinden. In unserem Beispiel kann das
u. a. bedeuten, die Steigerungsstufen der Adjektive mehrsprachig zu behandeln,
wie Abbildung 2 zeigt.
Abb. 2: Sprachen vergleichen zur Schaffung von Sprachenbewusstsein (eigene Darstellung)
Mit dem mehrsprachigen Unterricht wird nicht nur die Unterrichtssprache
(Deutsch) gestärkt, sondern auch die Familiensprache(n) der Lernenden. Das
Nachdenken über Sprachen und sprachliche Formen kann bereits zu einem
sehr frühen Zeitpunkt im Schriftspracherwerb angeregt werden und somit
kann Platz für alle vorhandenen Sprachen geschaffen werden.
2.5 Baustein Sprach(en)bewusstsein – Sprachlernbewusstsein
Über Sprache(n) zu reflektieren und gemeinsam herauszufinden, wie diese
funktionieren, wie ähnlich oder unterschiedlich sie sind, was man für eine neue
Sprache übernehmen kann (Transfer) und was nicht, das ist das Anliegen dieses
Bausteins. Im türkisch-deutschen Vergleich von Abbildung 2 können die Lernenden darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Deutsche beim Komparativ mit Endungen (plus Vokalveränderung) operiert, während das Türkische
einen Begriff voranstellt, so wie auch das Spanische (más), das Französische
(plus) oder auch das Englische (more) bei mehrsilbigen Adjektiven. Beim
Superlativ sehen wir sowohl im Deutschen als auch im Türkischen einen vorangestellten Begriff; das Deutsche markiert den Superlativ zusätzlich noch mit
Vokaländerung und Endung. Beim Türkischen hingegen bleibt das Adjektiv in
allen drei Stufen unverändert.
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Ein Beispiel aus den aktuellen Musteraufgaben der standardisierten Testungen
am Ende der dritten Schulstufe der österreichischen Schulen macht deutlich,
dass der Aufbau von Sprachenbewusstsein auch für diese Testformate notwendig ist bzw. wird. In dem Beispiel in Abbildung 3 geht es um das linguistische
Verständnis zur Bildung von Vergleichsstufen in einer konstruierten Sprache.
Abb. 3: Musteraufgabe 6 (IQS – Institut des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen, 2022, S. 9)
3
Zusammenfassung
Entlang eines konkreten Unterrichtsbeispiels haben wir versucht aufzuzeigen,
wie ein sprachliches Phänomen (Vergleichsstufen) durch die Linse der „Fünf
Bausteine“ umfassend(er) beleuchtet und somit ein Beitrag zum vernetzten
Sprachenlernen, d. h. zum Erwerb von Sprachen sowie zum Erwerb von Wissen
über Sprachen und über die Welt, geleistet werden kann. Die konzeptuelle
Passung und Umstrukturierung des (Alltags-)Wissens in bildungssprachlich
relevantes Wissen sowie die mehrsprachige Bildung stehen dabei im Zentrum
der Unterrichtsgestaltung, die eine ganzheitliche sprachliche Entwicklung zum
Ziel hat.
Literatur
Allgäuer-Hackl, E. & Naphegyi, S. (2022). 5 Bausteine umfassender sprachlicher Bildung im Muttersprachenunterricht. In I. Amberg, B. Holub, N.
Tahmasian & M. Wiedner (Hrsg.), Handlungsfeld Mehrsprachigkeit in der
Elementar- und Primarstufe (S. 145–156). wbv.
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Fünf Bausteine einer umfassenden sprachlichen Bildung
Allgäuer-Hackl, E., Naphegyi, S., Sammer, G. & Steinböck-Matt, S. (2018). 5
Bausteine umfassender sprachlicher Bildung. okay.zusammen leben. Projektstelle für Zuwanderung und Integration. https://sprachelesen.vobs.at/
sprache/5-bausteine
Cummins, J. (1984). Language proficiency and academic achievement. In C.
Rivera (Hrsg.), Multilingual matters: Bd. 10. Language proficiency and academic achievement (S. 2–19). Multilingual Matters.
Cummins, J., Baker, C. & Hornberger, N. H. (2001). An introductory reader to the
writings of Jim Cummins. Bilingual education and bilingualism. Multilingual
Matters.
Henickl, K., Judtmann, M., Kirschner, E. & Schatz, F. (2020). Wunderwelt Sprache 2. ÖBV.
IQS – Institut des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen (2022). Deutsch (Einsicht in Sprache durch Sprachbetrachtung) in der
iKMPLUS im Detail (samt Förderempfehlungen): Primarstufe. https://www.iqs.
gv.at/downloads/nationale-kompetenzerhebung/ikm-plus-volksschule/
lehrpersonen
Naphegyi, S. & Allgäuer-Hackl, E. (i. V.). 5 Bausteine umfassender sprachlicher
Bildung als Bezugsrahmen für den schulischen Umgang mit Sprachen in
der Migrationsgesellschaft. In İ. Dirim, M. Döll, A. Gouma, S. Guldenschuh
& M. Weichselbaum (Hrsg.), Der muttersprachliche Unterricht aus migrationspädagogischer Perspektive. Budrich.
Schumacher, R. & Stern, E. (2018). Verstehendes Lernen. In A. Nassehi & P.
Felixberger (Hrsg.), Kursbuch. 301 Gramm Bildung (S. 168–182). Murmann
Publishers GmbH.
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