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Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität Einleitung Die Singularität der Tiere ist ein wichtiger Pfeiler unserer ethischen und ästhetischen Beziehungen zu Tieren. Dies ist die zentrale These des vorliegenden Kapitels. Sie enthält zwei Unterthesen. Die erste betrifft die ethischen Aspekte, die zweite die ästhetische Dimension. Zunächst zur Ethik: Tiere als singuläre zu betrachten und zu behandeln, zeichnet Mensch-Tier-Beziehungen aus, die von Anerkennung ausgehen. Vom Standpunkt der Anerkennung sprechen wir, wenn wir uns nicht neutral auf andere Subjekte beziehen, sondern ihren Eigenwert bereits wahrnehmen und befürworten.1 Der Philosoph Axel Honneth umschreibt die anerkennende Beziehung zu anderen als »befürwortende Einstellung des Bekümmerns«2 oder »existenzielle Besorgnis«3 . Ich möchte allge1 2 3 Anerkennung versteht sich hier in Anlehnung an die Philosophen Axel Honneth und Stanley Cavell. Von Honneth übernehme ich die Idee, dass es sich bei der Anerkennung um eine »ursprüngliche Form der Weltbezogenheit« handelt: »damit soll hier vorläufig nur der Umstand hervorgehoben werden, daß wir uns in unserem Handeln vorgängig nicht in der affektiv neutralisierten Haltung des Erkennens auf die Welt beziehen, sondern in der existenziell durchfärbten, befürwortenden Einstellung des Bekümmerns: Wir räumen den Gegebenheiten der uns umgebenden Welt zunächst einen Eigenwert ein, der uns um unser Verhältnis mit ihnen besorgt sein lässt.«, Honneth 2005: 41 – 42. Cavell bereichert den Begriff der Anerkennung um die Idee, dass sich aus der anerkennenden Beziehung zu anderen Ansprüche ergeben: Vom Standpunkt der Anerkennung aus sind bestimmte Wünsche und Bedürfnisse von anderen für uns erkennbar und erfordern, dass wir uns zu ihnen verhalten, vgl. dazu Cavell 1976: 263. Dies markiert die normative Dimension im Konzept der Anerkennung. Vgl. Cavell 1976: 261 und Cavell 1999: xix. Honneth 2005: 42. Ebd.: 46. 76 Das Tier im Bild mein von einem Standpunkt der Fürsorge für andere Subjekte sprechen, durch die wir ein Verhältnis zu anderen herstellen, das nicht funktional organisiert ist (»Was nützt uns dies?«), sondern relational (Das Wohlergehen aller ist bedeutsam). In der Haltung der Anerkennung sind wir Teil eines fürsorglichen Beziehungsverhältnisses.4 Im Rahmen gegenwärtiger Mensch-Tier-Beziehungen besteht keineswegs Konsens darüber, dass Tiere einen Eigenwert haben und in einem Verhältnis zu uns stehen, das moralische Sorge erfordert. So wird in der Tierethik die grundlegenden Frage diskutiert, inwiefern Tiere überhaupt zu einer ethischen Gemeinschaft mit den Menschen gehören. Der Tierethiker Peter Singer legt etwa dar, dass die Empfindungsfähigkeit als notwendige und hinreichende Bedingung dafür anzusehen ist, dass ein Lebewesen, sei es tierlich oder menschlich, ethisch relevante Interessen hat. Vor diesem Hintergrund gilt es, die in der tierlichen Singularität verankerte Anerkennung in ihrer ethischen Bedeutung zu untersuchen. Wie lässt sich das Konzept innerhalb der ethischen Diskurse verstehen? Wie in Kapitel 1 dargelegt, zeichnet die tierliche Singularität eine vierfache Anerkennung aus: Die Anerkennung, dass es sich bei einem Tier um ein nichtauswechselbares Subjekt handelt, das ein eigenes Zentrum des Erlebens hat, situiert ist und auf verschiedene Weisen in einem relationalen Verhältnis zu uns steht. Die Singularitätsperspektive lässt sich durch diese vier verschränkten Kriterien zusammenfassend als ein Standpunkt der Anerkennung charakterisieren. Das Ziel des vorliegenden Kapitel ist, die tierlichen Singularität in gängige Modelle der Tierethik einzuordnen und ein Bild davon zu erlangen, worin ihr Potenzial aus metaethischer Perspektive besteht. Der Schritt zur ästhetischen Bedeutung der tierlichen Singularität – und damit zur zweiten Unterthese – ist hiervon nicht weit entfernt. Mit dem Begriff Ästhetik meine ich hier in einem weiten Sinne Wahrnehmungserfahrungen, die sich auf die (visuelle) Alltagskultur und Kunst beziehen.5 Ob und inwiefern Tiere ethisch berücksichtigt werden, zeigt sich unter anderem in der Weise, wie sie bildlich repräsentiert und visuell wahrgenommen werden. Zugleich scheinen die Weisen der Darstellung und Wahrnehmung mitzubedingen, wie wir Mensch-Tier-Beziehungen gestalten.6 Im Folgenden soll die Idee untersucht werden, inwiefern sich Anerkennung auch als die aufmerksame 4 5 6 Im Weiteren beruht der hier vorgeschlagene Ansatz auf der sogenannten Ethik der Fürsorge (Ethics of Care oder Care Ethics) sowie im Allgemeineren auf relationale Ethiken. Vgl. Korsmeyer 2020. Vgl. dazu u.a. Baker 2001. Burt 2005. Stewart/Cole 2009. Molloy 2011. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität und befürwortende visuelle Wahrnehmung eines Tiers als singuläres Tier verstehen lässt. Plan und Methode des Kapitels Wie ich in Kapitel 1 aufgezeigt habe, ist die tierliche Singularität ein relevanter Begriff für die interdisziplinären Animal Studies. Dass wir über einen klaren Ausdruck für die Unauswechselbarkeit von Tieren verfügen, sorgt dafür, dass relevante Aspekte unserer Beziehung zu Tieren präziser kommunizierbar sind und so auch ethisch und politisch eingefordert werden können. Der Begriff fungiert darüber hinaus als ästhetische Unterscheidungskategorie zwischen den Wahrnehmungen von Tieren als Stellvertreter einerseits und konkrete andere andererseits. In Kapitel 2 geht es näher um die ethische Bedeutung der Singularität von Tieren. Diese ist, wie ich zeigen werde, mit ihrer ästhetischen Bedeutung eng verbunden. Denn sie hängt davon ab, ob wir ein Tier in einer literarischen Erzählung, in einem journalistischen Bericht, im Film oder im direkten Kontakt auch als unauswechselbares Subjekt wahrnehmen können, zu dem wir in einer Beziehung stehen. Dies macht die tierliche Singularität zu einer Möglichkeit und Aufgabe unserer Wahrnehmung und den Kontakt zu Tieren zu einer wichtigen Ressource der Tierethik. Das Ziel des Kapitels ist, ein normatives Grundgerüst für den Begriff des singulären Tiers vorzustellen. Mein Vorgehen besteht darin, die Singularität der Tiere zunächst im Bereich aktueller tierethischer Debatten zu verorten und anschließend für ihre Relevanz zu argumentieren. Ich werde für den ersten Schritt, die Einordnung in die Debatten, zwischen prinzipienbasierten und partikularistischen Ansätzen in der Ethik unterscheiden. In ihrer stärksten Formulierung beruhen prinzipienbasierte Ansätze auf der Aufstellung allgemeingültiger Prinzipien, an denen sich unser Handeln orientieren soll. Singers Werk Animal Liberation kann exemplarisch für einen solchen Ansatz in der Tierethik stehen.7 Nach dem Prinzip der Gleichheit müssen vergleichbare Interessen gleich behandelt werden. Das bedeutet, dass auch die Interessen von empfindungsfähigen Tieren, die von menschlichem Handeln betroffen sind, in einer Güterabwägung berücksichtigt werden müssen. Die Gründe dafür, auf eine bestimmte Weise zu handeln, lassen sich auf der Grundlage des utilitaristischen Modells, das Singer vertritt, ermitteln.8 7 8 Singer 2002. Ebd.: 5; 7 – 9. 77 78 Das Tier im Bild Partikularistische Ansätze distanzieren sich mehr oder weniger stark von der Allgemeingültigkeit der Prinzipien. Handlungsgründe geben hier nicht oder nicht ausschließlich rational aufzusuchende universelle Prinzipien, sondern Gründe, die uns durch die Wahrnehmung, Empfindungen und kontextsensitives Verstehen zugänglich sind. Dazu gehört z.B. das Verstehen aus einer Situation heraus oder die Empathie.9 In der Tierethik steht Lori Gruens Ansatz der »relationalen Empathie« (entangled empathy) exemplarisch für eine partikularistische Ethik.10 Gruen hält die Reflexion von bestehenden emotionalen und kognitiven Dispositionen gegenüber Tieren und konkrete Begegnungen für wichtiger als das Aufstellen von Prinzipien. Mein Vorschlag lautet: Das geeignete Modell, um die Singularität der Tiere in ihrer metaethischen Bedeutung zu untersuchen, ist das partikularistische. Dieses Modell legt es nahe, die ästhetische Bedeutung miteinzubeziehen. Denn in Phänomenen der Sichtbarkeit von singulären Tieren verschränken sich die ästhetische und die ethische Bedeutung. Die visuelle Wahrnehmung von Tieren als kontextualisierte Subjekte (ästhetisch) ist unter anderem zentral für das Sichtbarwerden der Bedürfnisse von Tieren (ethisch). Der Aufbau meiner Argumentation ist Folgender: Wenn wir Tiere als singuläre Tiere ansehen, nehmen wir eine Haltung ein, die sich am besten mit den Modellen der partikularistischen Tierethik beschreiben lässt. Genauer gesagt: Es geht um solche partikularistischen Ethiken, die Beziehungen in den Fokus rücken und darum auch relationale Ansätze genannt werden. Im Fokus stehen die Beziehungen zu einzelnen Tieren, ob konkret oder ideell, und damit ein reiches Spektrum an ethisch relevanten Fähigkeiten von Menschen und Tieren, die unsere Wahrnehmung und Empathiefähigkeit betreffen. Eine reflektierte tierethische Haltung ist nicht von den Gelegenheiten unabhängig, ein einzelnes Tier adäquat und empathisch wahrzunehmen, wie Prinzipienethiken häufig suggerieren, sondern im Gegenteil auf das Engste damit verbunden. Die in der philosophischen Tierethik äußerst prominenten Prinzipienethiken können die Normativität des Begriffs tierlicher Singularität dagegen nicht erklären. Unter anderem haben die Ethikerinnen Clare Palmer und Ursula Wolf triftige Argumente für multikriteriale Ansätze in der Tierethik vorgetragen.11 Wolf stellte fest, dass in der prinzipienbasierten Ethik blinde Flecken bezüglich 9 10 11 Dancy 2017. Gruen 2015. Palmer 2010 und Wolf 2012. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität der Form und der Motivation unseres Handelns entstehen. Palmer beobachtete, dass die Kontexte und Beziehungsstrukturen zu partikular sind, um alleine von prinzipienbasierten Modellen abgedeckt zu werden.12 Eine Tierethik, die ausgehend von partikularistischen Überlegungen die tierliche Singularität einbezieht, hat bestimmte Vorteile, z.B., dass sie die ästhetische Seite, d.h. das sinnliche Wahrnehmen und Imaginieren, miteinbeziehen und damit Erfahrungen mit tierlicher Singularität einfangen und stärken kann. Die zentrale These, die ich über das Kapitel hinweg vertreten werde, lautet also: Es handelt sich bei der tierlichen Singularität um einen ethisch und ästhetisch relevanten Pfeiler unserer Beziehungen zu Tieren. Mit der Singularität ist genauer ein Set von Ansprüchen in den Beziehungen zu Tieren verbunden. Je nach Kontext kann das etwas anderes bedeuten. Grundsätzlich geht es darum, die heterogene Unauswechselbarkeit der anderen, ihre Subjektivität und Situiertheit sowie unsere Position wahrzunehmen und zu reflektieren.13 Tierethik beginnt nicht erst bei Fragen des Handelns und der moralischen Entscheidungen wie z.B. der Frage, ob wir Tiere zu unseren Zwecken nutzen dürfen. Relevant sind bereits die Weisen, in der wir Tiere ansehen, z.B. als in einer getrennten Sphäre lebend oder in Beziehung zu uns. Wir können eine Weise kultivieren, Tiere zu sehen, die ethisch relevant ist, nämlich Tiere als singuläre aufzufassen.14 Um ethische Beziehungen zu Tieren zu führen, ist es wichtig, Ansprüche erkennen zu können und die eigene Verantwortlichkeit gegenüber diesen Ansprüchen abzuwägen.15 Um die Bedeutung der Wahrnehmung singulärer Tiere für tierethische Fragen der Gegenwart im Folgenden zu erklären 12 13 14 15 Wolf 2012: 15. Palmer 2010: 6. Dies entspricht den vier Kriterien für die tierliche Singularität, die ich in Kapitel 1 eingeführt habe. Murdoch 1999: 411: »Moral change and moral achievement are slow; we are not free in the sense of being able suddenly to alter ourselves since we cannot suddenly alter what we can see and ergo what we desire and are compelled by. In a way, explicit choice seems now less important: less decisive […] and less obviously something to be ›cultivated‹.« Dies bedeutet, dass die Ansprüche eines konkreten Subjekts anerkannt werden können, ohne dass in jedem Fall danach gehandelt werden muss oder kann. Auch können wir nicht immer unmittelbar und nicht immer selbst eingreifen. Zum Beispiel kann eine Person einen verletzten Vogel finden und ihr kann das Bedürfnis des Tiers bewusst werden, ohne dass sie weiß, wie Erste Hilfe zu leisten ist. Sie kann dann alles daran setzen, eine Person zu finden, die sich des Tiers annehmen kann. Es handelt sich nicht um Supererogation, also das ethische Handeln Einzelner über ein erwartbares Maß hinaus. 79 80 Das Tier im Bild und zu verteidigen, brauchen wir ein partikularistisches Modell der Ethik und dabei einen besonderen Fokus auf relationale Ansätze; ein allein prinzipienbasiertes Modell reicht nicht aus. Das Ziel ist dabei keine vollständige Theorie der Tierethik, sondern eine Stärkung und Anwendung von bestehenden Ansätzen innerhalb der Tierethik, insbesondere von partikularistischen und relationalen Ansätzen. Der Kerngedanke dieser Ansätze lautet, dass sich das normative Gewicht von Handlungen und Lebensführung innerhalb gelebter Beziehungen entwickelt. Eine Person entwickelt beispielsweise ihre Empathiefähigkeit, weil und indem sie anerkennt, dass sie in Beziehung zu anderen Lebewesen steht. Kapitel 3 wird näher auf die Ethik der Fürsorge eingehen, während sich Kapitel 2 allgemeiner mit relationalen Ansätzen befasst. Verdinglichung Das tierethische Anliegen, auf das ich mich vornehmlich beziehen möchte, ist eine Kritik an der Verdinglichung von Tieren. Verdinglichung bedeutet, dass ein Subjekt bzw. eine Gruppe nicht als Subjekt, sondern als Ressource für andere betrachtet wird. Der verdinglichende Umgang mit Tieren hat viele Formen und tritt in verschiedenen Kontexten auf. Nicht alle Formen ziehen dieselbe ethische Problematik nach sich. Die wesentlichen Formen, die in unserer Kultur auftreten, sind die Einschränkung von Autonomie (z.B. Haltung in Gehegen und Ställen), die Schädigung (Schlachtung, Jagd, Tierversuche), die Auswechselbarkeit (z.B. das ausgediente Schulpferd, das weiterverkauft wird), die Reduzierung auf den ›bloßen‹ Körper, der Besitzstatus und die Leugnung ihrer Subjektivität (z.B. Aussagen wie »Fische empfinden keine Schmerzen«).16 Die Kontexte sind mannigfaltig; strukturell gehört die Verdinglichung zur Nutzung von Tieren in den Industrien dazu, d.h. in Landwirtschaft, Tierversuchslaboren oder der Unterhaltungsindustrie. Die Singularitätsperspektive auf Tiere steht in Opposition zu verdinglichenden Perspektiven auf Tiere. Wenn wir ein Tier als singuläres Tier wahrnehmen, dann lässt sich davon sprechen, dass es sich um eine mindestens zeitweise Abkehr von verdinglichenden Wahrnehmungen handelt. In diesem Sinne handelt es sich um ein ethisch relevantes Moment unserer Beziehung zu Tieren. Jedoch lässt sich daran zweifeln, ob sich die Wahrnehmung tatsächlich auch in ein Handeln übersetzen lässt und wie relevant es ist, sich zu einzelnen Tieren in Beziehung zu setzen, handelt es sich doch um ein Problem 16 Nach den Kriterien von Nussbaum 1995: 257. Langton 2009: 228 – 229. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität großen Ausmaßes. Es scheint demnach so zu sein, dass die Singularitätswahrnehmung wichtig für einen Wertewandel von den Tieren in verdinglichenden Perspektiven hin zu Tieren als unauswechselbaren Subjekten ist. Ein triftiger Einwand gegen dieses Argument lautet jedoch: Für diesen Wandel sind bereits Ethiktheorien im Einsatz, die zu weitaus mehr Tieren abstrakte Beziehungen aufnehmen können, als es einzelne Personen durch die direkte Wahrnehmung von Tieren vermögen, nämlich prinzipienethische Ansätze. Dies wäre ein Einwand gegen eine starke Interpretation meiner zentralen These, dass es sich bei der Singularität um einen wichtigen Pfeiler der Mensch-Tier-Beziehungen handelt. Meine These lässt sich auf zweierlei Weisen verstehen. In einer starken Lesart bedeutet sie: Wir brauchen ein partikularistisches Modell, um mit dem Blickwinkel der tierlichen Singularität gegen tierliche Verdinglichung vorzugehen. Jedoch bestehen bereits ethische Theorien, die das Ziel haben, für den Status der Tiere als moralisch relevante Subjekte zu argumentieren, also gegen die Verdinglichung. Mein Ansatz entspricht nicht dieser starken Lesart. Denn Prinzipien erfüllen ihren Zweck. Ein wichtiges Anliegen der klassischen prinzipienethischen Tierethik ist es, den instrumentalisierenden, verdinglichenden Umgang mit Tieren als moralisch falsch zu entlarven. Diese Ansätze kommen ohne den Bezug auf singuläre Tiere aus. Ich möchte meine These im Gegensatz dazu als schwach gelesen verstanden wissen: Wir brauchen einen relationalen Begriff des singulären Tiers in der Ethik, weil wir nur so von offensichtlich wichtigen Kriterien des Wertewandels weg von Tieren als Ressourcen, hin zu Tieren als unauswechselbaren Subjekten Gebrauch machen können. Eine Ethiktheorie, die den Begriff der tierlichen Singularität ausschließt, ist zwar möglich, jedoch kann sie die weiteren Lebenszusammenhänge wie das kulturelle Leben und ästhetische Erfahrungen als Quelle nicht integrieren. Und erst diese setzen uns in der Praxis in Beziehungen zu Tieren. Ich werde schließlich die These verteidigen, dass die ethische Bedeutung der Singularität auf das Engste mit unserer Wahrnehmung von Tieren verbunden ist. Im engeren Sinne ist es die Wahrnehmung von singulären Tieren mithilfe von Bildern, die eine wichtige Rolle für das ethische Nachdenken über Tiere spielt. Aufbau des Kapitels Im ersten Teil des Kapitels (2.1.) geht es mir darum aufzuzeigen, inwiefern die klassischen prinzipienbasierten Modelle nicht erklären können, worin die 81 82 Das Tier im Bild ethische Bedeutung der Beziehungen zu konkreten Tieren besteht. Die partikularistischen Ansätze dagegen können Erklärungen und Argumente dafür geben. Die klassischen prinzipienbasierten Ansätze negieren größtenteils, dass für die Besserung der Mensch-Tier-Beziehungen die relationale und emotionale Bezugnahme auf unauswechselbare Einzelne der richtige Weg ist.17 Prinzipienethiken lehnen partikularistisch-relationale Ansätze häufig pauschal auf der Grundlage ab, dass sich angesichts der Vielfalt und Vielschichtigkeit von Beziehungen keine wirkmächtigen Argumente entwickeln lassen. Unsere persönlichen Beziehungen zu Tieren werden dabei zu einer Privatangelegenheit erklärt. Mal wünschenswert, aber nicht obligatorisch, mal gar schädlich, werden sie in den Hintergrund der Ethiktheorien gerückt oder sie werden als verallgemeinerbare Fälle gesehen, auf die Prinzipien angewendet werden sollen. In der vorliegenden Studie vertrete ich die Auffassung, dass den Beziehungen zu Tieren damit der falsche Ort innerhalb des tierethischen Nachdenkens beigemessen wurde. Der richtige Ort soll, wie gesagt, mit dem Begriff der Singularität bezeichnet werden. Kontakte zu singulären Tieren ergänzen den Einsatz von systematisierenden, verallgemeinernden Ethiktheorien nicht nur, sondern können besondere Bedarfslagen erfüllen, die prinzipienbasierte Ethiktheorien entweder nicht erfüllen können oder sogar verhindern. Die Bedeutung der tierlichen Singularität für das Feld der Tierethik sehe ich vor allem darin, die Grundlage für bessere Mensch-TierBeziehungen zu stellen. Vor diesem Hintergrund schlage ich im zweiten Teil des Kapitels (2.2.) vor, singuläre Tiere in ethischer und ästhetischer Hinsicht näher zu beleuchten. Das Modell der partikularistischen Ansätze ist ein wichtiger Ankerpunkt, hat jedoch nicht eigens für die Rolle der Sichtbarkeit der tierlichen Singularität argumentiert. Wir können, wie ich zeigen möchte, moralisch relevante Aspekte wortwörtlich sehen: Beispielsweise können wir die Bedürfnisse eines konkreten Tiers wie ein Bedürfnis nach Schutz wortwörtlich sehen. Das öffnet den Blick auf zentrale Ressourcen für die Beziehungen, die wir zu singulären Tieren aufnehmen können: die Wahrnehmung im Alltag, aber auch in der visuellen Kultur, wie in fotografischen Bildern und Filmen. (2.3.) In einem dritten Schritt werde ich auf einen häufigen, gerade in prinzipienethischen Ansätzen formulierten Einwand gegen die partikularistischen Ethiken und insbesondere gegen deren relationalen Ansätze reagieren. Namentlich geht es um den 17 Alice Crary weist darauf hin, dass die prinzipienbasierte Ethik die relationalen Ansätze häufig ungeprüft ablehnt. Crary 2018: 165. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität Einwand, dass die Subjektivität und andere moralisch wichtige Eigenschaften von Tieren zwar unter idealen Bedingungen wahrnehmbar und sichtbar sein mögen, doch angesichts eines problematischen moralischen Status quo, wie er aktuell vorliegt, sind diese Wahrnehmungen als unwahrscheinlich oder selten einzuschätzen. Wenn Tiere z.B. in der Landwirtschaft wie Objekte behandelt und konzeptualisiert werden, ist nicht klar, wie eine Person aus dieser problematischen Wahrnehmung heraustreten kann, ohne sich wiederum auf Prinzipien zu berufen.18 Ich werde dafür argumentieren, dass die Singularitätsperspektive nicht ausschließt, dass wir auch Muster der Verdinglichung erkennen können, sondern dass sie im Gegenteil dabei hilft, diese zu identifizieren und eine kritische Aufmerksamkeit gegenüber dem Status quo zu kultivieren. Die Singularitätsperspektive kann in diesem Sinne als eine Form der moralischen Wahrnehmung verstanden werden. Aktuelle Theorien der moralischen Wahrnehmung beziehen sich häufig auf Iris Murdoch.19 Auch wenn diverse Konzepte vorliegen, geht es, allgemein gesprochen, bei der moralischen Wahrnehmung um die Sichtweise, dass das Handeln unter moralischen Gesichtspunkten eng mit dem Sehen zusammenhängt: Wie wir andere betrachten und ob wir saliente Aspekte einer Situation sehen können (z.B. die Bedürfnisse von anderen), ist zugleich wortwörtlich in unserem Sehsinn und unserer Aufmerksamkeit verankert und moralisch relevant.20 Im Besonderen möchte ich die Idee einer fürsorglichen Wahrnehmung von Tieren, die von Lori Gruen angeregt ist, weiterverfolgen.21 Im Fokus steht hier die Möglichkeit, Empathie für singuläre Tiere zu kultivieren und als einen reflektierten, kritischen Prozess zu verstehen. 18 19 20 21 Vgl. »habits of thought« bei Singer 2002. Regan 2005. Zur Propaganda: Stanley 2015. Clarke 2012: 227. Vgl. Murdoch 1956/1993/1999. Vgl. Audi 2013. Blum 1994. Clarke 2012: 229 – 30: »On this account, excellent action originates in the very way the agent sees her circumstances.« Gruen 2015: 3. 83 84 Das Tier im Bild 2.1 Ethik: prinzipienbasierte und partikularistische Modelle 2.1.1 Blinde Flecken der Prinzipienethik Am Anfang meiner Überlegungen steht die Beobachtung, dass die ethische Bedeutung der tierlichen Singularität in modernen prinzipienbasierten Ansätzen der Tierethik teils zu wenig beachtet, teils explizit negiert wird. Dabei geht es insbesondere um die emotionalen und relationalen Aspekte. Beziehungen und Emotionen spielen in prinzipienbasierten Ansätzen eine untergeordnete Rolle, weil sie als Ausdruck von Partikularinteressen verstanden werden.22 Im Gegensatz dazu ist die Singularität der Tiere in partikularistischen Ansätzen der Tierethik als wichtige Orientierung enthalten. Innerhalb der partikularistischen Ansätze werde ich mich insbesondere auf den Aspekt der konkreten Beziehungen zwischen Menschen und Tieren beziehen. Wir können diesbezüglich dann auch von relationalen Ansätzen oder relationalen Aspekten sprechen. Partikularistische Ethiken sind der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur ethischen Bedeutung singulärer Tiere, d.h. zur nicht quantifizierbaren Bedeutung einzelner Tiere und der Relevanz der aufmerksamen, kontextsensitiven Wahrnehmung für die Kritik am Status quo. Warum sollten wir in der Tierethik auf alternative Ansätze zu den prinzipienethischen Wert legen? Wie bereits erwähnt, haben partikularistische Ansätze den Vorteil, dass sie Aspekte des Zusammenlebens mit Tieren einbeziehen, die offensichtlich und relevant sind, aber meist als ausschließlich persönliche Perspektiven bewertet werden. Zu diesen Aspekten gehört vor allem die sensuelle, emotionale und relationale Bezugnahme auf Einzeltiere. Prinzipienbasierte Ethiken hinterlassen hier bisher blinde Flecken. Ich vertrete nicht die Ansicht, dass die Prinzipienethiken – v.a. utilitaristische und deontologische Ansätze – in diesem Feld keinerlei Berechtigung haben.23 In gewisser Hinsicht stellen sie meines Erachtens wichtige Erfordernisse für bessere Mensch-TierBeziehungen dar. Die klassischen Ansätze der Tierethik vertreten Prinzipien jedoch im Rahmen einer starken ethischen Theorie, als ob sie den größten Teil der praktischen Probleme lösen könnten oder sollten, die im Umgang mit den 22 23 Vgl. Singer 2002: xxi. Regan 1983: 63. Vgl. zur Kritik an diesen Ansätzen u.a. Diamond 2003. Bailey 2005. Crary 2016. Gruen 2015. Vgl. Gheaus 2012: 584. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität nichtmenschlichen Tieren entstehen.24 Gemeinsam mit den Vertreter*innen der Ethik der Fürsorge, Tugendethik und weiteren partikularistischen Ansätzen in der Tierethik halte ich diese Annahme jedoch für falsch. Die entscheidenden Fehleinschätzungen, die ich im Folgenden herausstellen möchte, betreffen den Umfang, die Anwendungsbereiche und die Diskurszusammenhänge für diese Ansätze. Wenn wir identifizieren können, welchen Belangen die systematische, prinzipienethische Herangehensweise der Tierethik dient und welchen sie sogar hinderlich ist, wird deutlich, inwiefern wir partikularistische und relationale Ansätze stark machen sollten.25 Für die prinzipienethische Tierethik gibt es ein offensichtliches praktisches Erfordernis: Die öffentlichen und rechtlichen Strukturen der Verwendung von Tieren als Ressourcen stehen im Konflikt mit den Interessen der Tiere und zahlreicher Menschen. Da wir es hierbei mit national und global vernetzten Strukturen zu tun haben, die nicht von Privatpersonen und einzelnen nationalen Entscheidungsträger*innen verändert werden können,26 ist es erforderlich, dass sie mithilfe von Prinzipien explizit gemacht, konsistent vertreten und diskursiv verteidigt werden. Das gilt vor allem für die Interessensvertretung von Tieren in Politik und Rechtssystemen. Die Interessensvertretungen sind ungleich verteilt: So 24 25 26 Vgl. v.a. Regan 1983. Singer 2002. Ein Beispiel für einen neueren Ansatz ist Korsgaard 2018. Diese Perspektive lässt sich in Übereinstimmung mit funktionalen Genealogien von Ethiktheorien verstehen, wie von Damian Cueni und Matthieu Queloz (2021) entwickelt. Laut Cueni und Queloz lässt sich das Erfordernis eines prinzipienethischen Ansatzes an ihre praktischen Wurzeln rückbinden: Wir brauchen systematische, d.h. explizite, konsistente und diskursiv gerechtfertigte Prinzipien, um praktische Konflikte zwischen Werten in modernen demokratischen Gesellschaften zu lösen. Aufgrund der Größe und Komplexität moderner Gesellschaften und den darin geltenden Ansprüchen an legitimierte Autoritätsurteile ist es wichtig, sich auf unparteiische, rationale und systematische Herangehensweisen beziehen zu können. Cueni und Queloz argumentieren, dass diese Ansprüche jedoch skalierbar und kontextabhängig sind. Wir brauchen weder für die private noch für die öffentliche Bewältigung von Wertekonflikten eine vollumfängliche Ethiktheorie, die jedes Anliegen vor allen Mitgliedern einer Gemeinschaft nach rationalen, unparteiischen Kriterien regelt. In vielen Belangen ist sie sogar hinderlich, um zu angemessenen Urteilen und Handlungen zu kommen. Ausgehend von diesem Modell lässt sich die Prinzipienethik für Tiere als skalierbar und kontextabhängig verstehen. Im Weiteren gilt es aufzuzeigen, dass es in Hinblick auf die Tierethik besonders dringlich ist, die prinzipienethischen Überlegungen durch partikularistische und relationale Überlegungen zu ergänzen. Vgl. Wadiwel 2015: 31. Sanbonmatsu 2020/2011. 85 86 Das Tier im Bild steht etwa eine starke Fleisch- und Milchlobby den Interessen der Tiere gegenüber, die sich nicht selbst vertreten können und vergleichsweise wenige Fürsprecher*innen haben. Ohne die Frage beantworten zu wollen, wie umfänglich die Ethiktheorie für welche öffentlichen, rechtlichen und gesellschaftlichen Kontexte sein muss, gehe ich davon aus, dass Prinzipien innerhalb von demokratischen Gesellschaften unverzichtbar sind. In dreierlei Hinsicht ist die prinzipienethische Herangehensweise an das Feld der Tier-ethik jedoch nicht ausreichend bzw. sogar hinderlich, um bessere Mensch-Tier-Beziehungen herzustellen. Erstens sind der Ermittlung von bindenden Prinzipien dadurch Grenzen gesetzt, dass die Gruppe der nichtmenschlichen Tiere sich nicht selbst vertritt, d.h. nicht direkt durch Vertreter*innen aus den eigenen Reihen. Wie auch bei anderen sozialen Gruppen, die sich nicht ausreichend selbst vertreten können, z.B. Menschen mit schweren geistigen Behinderungen, handelt es sich daher um einen Sonderfall der öffentlichen Interessensvertretung. Einfühlungsvermögen, Erfahrungen mit Personen der entsprechenden Gruppen und Offenheit gegenüber Heterogenität sind hier in einem besonderen Maße gefragt. Eine Überbetonung der systematischen Verfahren hinterlässt mit hoher Wahrscheinlichkeit blinde Flecken, denn das Gute für solche Gruppen zu identifizieren erfordert, dass wir diese Gruppen kennen und verstehen. Da dies nicht immer sprachlich möglich ist, ist es besonders wichtig, relationale, empathische, aufmerksame, reflexive Formen des ethischen Lebens zu ermöglichen. Ich lese den Vorschlag von Sue Donaldson und Will Kymlicka in dieser Weise. Sie setzen sich für ein politisches Tierrecht ein, betonen dabei aber die Wichtigkeit der Präsenz der einzelnen Tiere, weil es ein Problem sein kann, die Interessen der Tiere zu pauschalisieren oder vorwegzunehmen. Tiere können sich politisch nicht selbst vertreten – es kann kein gewählter Vertreter einer Art oder Gruppe für die anderen sprechen. Für Donaldson/Kymlicka stellt dies jedoch kein absolutes Hindernis für politische Repräsentation dar. Wir kennen ein analoges Problem nämlich auch aus dem zwischenmenschlichen Bereich. Die Frage besteht, wie Menschen mit bestimmten Behinderungen politisch vertreten werden können. Donaldson/Kymlicka schlagen zweierlei vor: Es sollen Fürsprecher*innen als politische Repräsentant*innen eingesetzt werden, die in einer Beziehung zu den Menschen stehen, die nicht für sich selbst sprechen können. Außerdem sollen einzelne Personen auch dann bei Verhandlungen über politische Entscheidungen anwesend sein, wenn diese nicht aktiv an den Gesprächen teilnehmen können. Die bloße Anwesenheit macht einen Unterschied. Analog könnte man Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität sich das auch für Tiere vorstellen. Hier spielen also partikularistische Herangehensweisen eine wichtige Rolle.27 Zweitens ist die prinzipienethische Herangehensweise nicht ausreichend, da nicht alle Werte-Fragen über den Umgang mit Tieren Anliegen sind, die allgemeingültig bestimmt werden können. Ob wir eine Katze davon abhalten sollten, die Gartenvögel zu jagen, oder Ziegen als Haustiere halten, sind konfliktreiche Entscheidungen, die in der Praxis – aufgrund von Zeitdruck oder ihrer Art – nicht durch verallgemeinerbare, konsistente und systematische Prinzipien zu treffen sind, sondern in Hinblick auf die spezifische Situation und die spezifischen Beziehungen zum Tier entschieden werden müssen. Drittens wären die Probleme der Mensch-Tier-Beziehungen, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, selbst mit einer Vielzahl umfassender Veränderungen auf der öffentlichen und rechtlichen Ebene nicht geregelt. Die zugrundeliegenden psychologischen und kulturellen Mechanismen der Verwendung von Tieren als Ressourcen sind keine Frage von »richtig« oder »falsch«, »legal« oder »illegal«, sondern von kulturellen Praktiken. Sie können nicht durch rationalistische und unparteiische Diskurse und Urteile verändert werden. Die persönliche, emotionale und ästhetische Involviertheit Einzelner und die Schaffung von lokalen Plattformen sind hierfür wichtiger. Die Quellen für den kulturellen Wandel weg von Tieren als Ressourcen hin zu Tieren als unauswechselbare Lebewesen, den ich im Folgenden vorschlagen werde, ist treffend damit beschrieben, dass die Singularität von Tieren und unsere bereits bestehenden Beziehungen zu Tieren einbezogen werden. Dies bedeutet, dass wir für die meisten Bereiche der Tierethik nicht allein eine ethische Theorie brauchen, sondern dass der Fokus auf bestehende adäquate Praktiken und ihre Kultivierung gelenkt werden muss. Ich werde vorschlagen, dass wir vor allem für den Bereich des Privaten, die Interessensvertretung von Tieren und die Änderungen des kulturellen Status quo keine prinzipienethischen, sondern alternative Modelle brauchen. Einen gemeinsamen Ankerpunkt sehe ich hier in den Beziehungen zu Tieren in ihrer Singularität. 2.1.2 Tierliche Singularität und Prinzipien Die Prinzipienethik kann den Begriff der Singularität von Tieren in ihrer ethischen Bedeutung nicht hinreichend erklären. Es geht also zuerst darum, auf dem Weg zu einer angemessenen Tierethik ein wirkmächtiges, aber 27 Donaldson/Kymlicka 2011: 153f. Donaldson/Kymlicka 2017. 87 88 Das Tier im Bild ungeeignetes ethisches Modell auszuschließen. Unter prinzipienbasierten Modellen verstehe ich solche, die auf universalisierbaren Prinzipien beruhen, die unparteiisch nach rationalen Gesichtspunkten aufgesucht und nach regelgeleiteten Verfahren auf Situationen angewendet werden sollen. Klassische tierethische Versionen wie der Präferenzutilitarismus Singers oder Christine Korsgaards kantischer Ansatz lassen sich als solche Modelle beschreiben. Sie eint, dass sie prinzipiengeleitet, unparteiisch und abstrakt argumentieren. Warum kommen diese Modelle nicht infrage, um an ihnen die Bedeutung der tierlichen Singularität zu erarbeiten? Das ist die Leitfrage des vorliegenden Abschnitts. Allgemein gesprochen: Die Anforderungen an die Prinzipien und ihre Anwendung an Universalisierbarkeit und Unparteilichkeit sind zu hoch, um den situationsbedingten und variablen Aspekten des Singularitätsbegriffs gerecht zu werden. Einzelne Tiere und unsere Beziehungen zu ihnen variieren zu stark; sie hängen von konkreten Konstellationen und Kontexten ab und sind veränderlich.28 Universalistische, regelgeleitete und unparteiische Standpunkte haben hier eine geringe Aussagekraft bzw. stehen der Perspektive auf Beziehungen als ethisch relevant entgegen. Die Prinzipienethik allein kann die ethische Bedeutung der tierlichen Singularität nicht beschreiben. Namentlich bleibt der Bereich der moralischen Wahrnehmung, der Emotionen und der Beziehungen unberücksichtigt.29 Denn in prinzipienbasierten Ansätzen spielen konkrete Beziehungen zu Tieren für gewöhnlich eine zu vernachlässigende Rolle oder sie werden als motivational bzw. moralpsychologische Dimensionen gesondert behandelt.30 Unauswechselbarkeit, situierte Subjektivität oder die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren, wie sie für die tierliche Singularität auf der anderen Seite konstitutiv sind, bleiben folglich unberücksichtigt. Im Besonderen gilt, dass die prinzipienbasierten Ansätze allein sogenannte »generalisierte Andere« beachten, jedoch keine »partikularen Anderen« und dass ihnen damit ein relationaler Begriff fehlt.31 Zwar ist hier typischerweise auch der Fokus auf individuelle Fähigkeiten von Tieren (z.B. Schmerzfähigkeit) gelegt, doch dies führt gerade nicht auf ein 28 29 30 31 Hier sei auf die Forschung zur vielfältigen und veränderlichen Struktur der Beziehungen insbesondere zu domestizierten Tieren verwiesen: Wolf 2012: 95. Serpell 2017: 81 – 98. Hearne 2007. Shapiro 1990/2008. Dies entspricht der Kritik an prinzipienethischen Ansätzen in der Tierethik, vgl. Diamond 2003/2012. Crary 2016. Vgl. zu den Ausnahmen Palmer 2010. Palmer verbindet prinzipienbasierte und relationale Ansätze. Benhabib 1987: 163. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität singuläres Tier, sondern auf die Individualität.32 Beim Begriff der tierlichen Singularität handelt es sich um eine dichte Erfahrung, in der deskriptive und normative Aspekte zusammentreffen, wie ich in Kapitel 1 näher ausgeführt habe. Die tierliche Individualität kann dagegen auch als allein deskriptiver Term verstanden werden, der die Bedeutung dieses spezifischen Einzelnen ausklammert. Prinzipienbasiert ist also eine Tierethik, die die Richtigkeit, Angemessenheit oder das Gute im Umgang mit Tieren anhand ihrer Konformität mit Prinzipien beurteilt. Unter Prinzipien verstehe ich moralische Propositionen, die innerhalb eines Ethikmodells Gründe für das gute Handeln geben.33 Ein Prinzip könnte z.B. lauten, dass wir die vergleichbaren Interessen von Individuen gleich behandeln müssen, unabhängig von ihrer Spezieszugehörigkeit.34 Durch ihren Grundsatzcharakter haben Prinzipien in der Regel erstens einen Verallgemeinerbarkeits- oder Universalisierungsanspruch: Unter vergleichbaren Umständen gelten sie für alle in demselben Maße. Zweitens ist die Anwendung der Prinzipien regelgeleitet. Je nach den aufgestellten Prinzipien und der Methode gibt es Unterschiede in der Ermittlung und Anwendung von Prinzipien. Wenn zwei oder mehrere Prinzipien miteinander in Konflikt geraten, muss es eine Weise geben, über die Priorität der Prinzipien zu entscheiden. Abstrakte Regeln sollen dabei helfen, zwischen konfligierenden Prinzipien zu entscheiden.35 Drittens: Die Aufsuchung und Anwendung der Prinzipien erfolgt von einem unparteiischen Standpunkt aus, d.h. unabhängig von der konkreten Beziehung zu einem Tier oder von emotionalen Präferenzen. Beispiele für prinzipienbasierte Ansätze in der Tierethik sind der Präferenzutilitarismus nach Singer und deontologische Theorien nach Tom Regan sowie aktueller Korsgaard. So setzt Singer auf das oben angedeutete Gleichheits-Prinzip, nachdem wir gleiche Präferenzen gleich gewichten sollen. Was für empfindungsfähige Menschen gilt, soll auch für empfindungsfähige Tiere 32 33 34 35 Vgl. zum Begriff des Moralischen Individualismus Crary 2018: 158. Crary arbeitet mit einer Unterscheidung zwischen moralischem Individualismus und klassischem moralischem Individualismus. Letzterem ordnet sie z.B. Singer und Regan zu. Die Entscheidung über den moralischen Status von Tieren wird nicht in Hinblick auf ihre Speziesoder Artzugehörigkeit geklärt, sondern in Hinblick auf ihre individuellen Fähigkeiten wie Schmerzfähigkeit (Singer) oder Subjektivität (Regan). Grimm/Wild 2016. Gruen 2011. Das entspricht dem bekannten Gleichheits-Prinzip innerhalb von Singers Präferenzutilitarismus. Vgl. Dancy 2017 und Dancy 2004. 89 90 Das Tier im Bild gelten, also universalisierbar sein.36 Die Verfahren der Aufsuchung und Anwendung von Prinzipien sind in Singers präferenzutilitaristischer Theorie regelgeleitet und unparteiisch. Gemäß dem Prinzip der gleichen Behandlung gleicher Interessen muss etwa die Präferenz eines Tiers zu leben und nicht zu leiden der Präferenz des Menschen, Genuss am Fleisch zu empfinden, höher gewertet werden. Dies gilt unabhängig davon, ob aktives Mitgefühl mit den Tieren besteht oder nicht. Ich halte diesen Schluss für richtig. Diese Präferenz ist dann handlungsleitend bzw. gibt die Gründe vor. Wozu solche Ansätze jedoch nicht in der Lage sind, ist, die Bedeutung der Emotionen und Relationen miteinzubeziehen. Damit ist es auch nicht möglich, den Begriff des singulären Tiers zu integrieren und in seiner ethischen Relevanz verständlich zu machen. In Kapitel 1 wurden die vier Kriterien der Singularitätsperspektive auf Tiere erarbeitet: Unauswechselbarkeit, Subjektstatus, Relationalität und Situiertheit. Für sich genommen und isoliert könnten diese Aspekte auch in der Prinzipienethik berücksichtigt werden. So spielt für die Bewertung der Präferenz eines Tiers eine Rolle, in welcher Situation es sich befindet oder welche Emotionen es zeigt. Doch die prinzipienbasierte Ethik klassifiziert solche Aspekte entweder in abstrakter Weise oder als moralpsychologische und hermeneutische Aspekte.37 Sie erlangen innerhalb der Argumentation kein Gewicht oder werden unsystematisch und unkritisch als entweder förderlich oder hinderlich für das ethische Projekt selbst erklärt. Singer wendet sich etwa explizit gegen emotionale Prädispositionen wie Fürsorge als relevant für die Ethik. Wut und Empörung erscheinen dagegen mindestens unterstützend und motivierend.38 Sein Ansatz ist beispielhaft dafür, dass sich die prinzipienethischen Ansätze nicht oder nur eingeschränkt mit relationalen Aspekten verbinden lassen. Die besonderen Beziehungen zu Tieren sind irrelevant für die Anwendung der Prinzipien, wie Singer eindeutig herausstellt: 36 37 38 Speziesunterschiede treten in den Hintergrund. Vgl. »argument from marginal cases« oder »argument of species overlap« nach Horta 2014. Vgl. Singer 2002: xxii. Und Singer/Kuhse 2007. Singer, der allen englischsprachigen Ausgaben von Animal Liberation einen Bildanhang beigegeben hat, und Regan als Regisseur des Dokumentarfilms We are All Noah (USA 1986, R: Tom Regan) haben durchaus Bilder verwendet, um auf die Dringlichkeit der Tierethik aufmerksam zu machen. Konzeptuell handelt es sich hier jedoch nicht um einen Teil ihrer Methode und Theorie der Tierethik. Ebenso Regan 1983/2005. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität The assumption that in order to be interested in such matters one must be an ›animal-lover‹ is itself an indication of the absence of the slightest inkling that the moral standards that we apply among human beings might extend to other animals.39 In einer vielzitierten Passage erklärt Singer, dass eine besondere fürsorgliche Affinität zu Tieren problematische Implikationen habe: »The portrayal of those who protest against cruelty to animals as sentimental, emotional ›animallovers‹ has had the effect of excluding the entire issue of our treatment of nonhumans from serious political and moral discussion.«40 Singer bezieht sich hier auf eine Art Image-Problem des Tierrechtsaktivismus. In einer diskursiven Kultur, die Emotionen gegenüber vermeintlich sachlichen Argumenten abwertet, möchte ich Singer Recht geben. Zwei Aspekte sind ihm meines Erachtens jedoch entgangen: Zum einen ist das Problem nicht die Emotionalität selbst, sondern die Bewertung und Einschätzung der Emotionen durch den Diskurs. Im Gegenteil sind Gefühle im Minimum eine notwendige und wichtige Quelle des prosozialen Verhaltens gegenüber Tieren. Zweitens und eng damit verbunden verstetigt Singer diesen problematischen Diskurs der Emotionalisierung, indem er ausdrücklich die Emotionen und Beziehungen zwischen Personen als irrelevant für seinen utilitaristischen Ansatz bezeichnet. Ähnlich verhält es sich bei Regan. Auch Regan sieht Gründe dafür, seine Ethik explizit nicht auf emotionale und relationale Grundlagen zu stellen, sondern sich Prinzipien zu bedienen.41 Prinzipienethische Argumentationen spielen für die Leben von Tieren in vielen Bereichen eine elementare Rolle. Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen. Zum Beispiel waren und sind sie wirksam, um juridische Rechte für Tiere herzustellen. Es wurde argumentiert, dass wir Prinzipien immer dann brauchen, wenn der moralische Status quo problematisch ist und dann so normalisiert, dass die emotionalen Reaktionen darauf in Übereinstimmung mit dem Status quo bestehen. Das heißt, das kritische Potenzial muss in dieser Situation von den Prinzipien kommen.42 Ein Blick auf die systematische und normalisierte Gewalt gegen Tiere in unserer Gesellschaft könnte dann zu der Überzeugung führen, dass die Beziehungen zu konkreten Tieren von vornherein korrumpiert sind und eine rationale, nicht aber auch 39 40 41 42 Singer 2002: xxi. Ebd. Donovan/Adams 2007. Vgl. Clarke 2012: 227. 91 92 Das Tier im Bild emotional motivierte Kritik vonnöten ist. Diese Sicht teile ich nicht. Das weit verbreitete Mitgefühl mit einzelnen Tieren sowie die Empörung gegenüber den Umständen, wenn sie z.B. in fotojournalistischen Berichten sichtbar werden, weisen in die folgende Richtung:43 Wir sollten die Emotionen und Beziehungen zu konkreten Tieren besser verstehen. Das schließt einen kritischen und reflektierten Zugang keineswegs aus. Singer hat Recht damit, dass wir auch misstrauisch gegenüber emotionalen Neigungen gegenüber Tieren sein müssen, etwa starker Anthropomorphisierung und Verniedlichung. Darauf werde ich später näher eingehen. Entscheidend ist, dass die häufig suggerierte Zuordnung von Prinzipien zum Wert der Gerechtigkeit und zur Moral einerseits und von Beziehungen und Emotionen zum allein privaten guten Leben andererseits nicht aufrechtzuerhalten ist. Auch Mitgefühl und Beziehungen sind tierethisch über den Nahbereich hinaus relevant. Für die emotionalen, relationalen und empathischen Kontakte und das häufig nötige, kontextsensitive Wahrnehmen und Handeln im Umgang mit Tieren lassen prinzipienbasierte Ansätze keinen Raum. Die blinden Flecken, die den prinzipienbasierten Ansätzen eigen sind, sind bereits seit dem Beginn der philosophischen Tierethik kritisiert worden. Eine nennenswerte Reaktion stammt von Clare Palmer, die das Nachdenken über verbindliche Plichten gegenüber Tieren mit einem relationalen Nachdenken verbunden hat.44 Im Folgenden möchte ich die Kritik an den klassischen prinzipienethischen Ansätzen weiter ausführen, um den Weg zu meinem eigenen Ansatz der Singularität vorzubereiten. Für die klassischen Ansätze der Tierethik nach Singer und Regan ist diese Kritik bereits ausführlich dargelegt worden.45 Und auch neuere prinzipienbasierte Ansätze sind kein geeignetes Modell.46 Die Kritik an den prinzipienbasierten Ansätzen verstehe ich nicht als destruktives Projekt. Mit Gewinn lässt sich analysieren, wodurch die Kritikpunkte motiviert wurden und auf welche alternativen Verständnisse des moralischen Lebens sie führen.47 In einem nächsten Schritt möchte ich einige Punkte 43 44 45 46 47 Vgl. Fernández 2019. Palmer 2010. Vgl. u.a. Gruen 2015: 15f. Crary 2010/2016: 20f. Diamond 2003. Crary 2016: 25f. Ein Beispiel für einen neueren Ansatz stellt Korsgaard 2013/2018 dar. Korsgaard, die eine kantische Tierethik erarbeitet hat, ist sich der Kritik zwar vollauf bewusst, doch wiederholt sie schlussendlich dieselbe Problematik: In ihrem Ansatz ist kein Raum für kontextspezifische Analysen, die Individuen und ihre soziale Verortung. Cannold et al. 1995: 374f. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität der jüngeren Kritik an der prinzipienbasierten Tierethik noch einmal zusammenfassen. Dabei möchte ich vor allem verständlich machen, inwiefern ein allein prinzipienbasierter Ansatz blinde Flecken hinterlässt. Indem er Prinzipien und rationale Modi ihrer Auffindung in den Mittelpunkt stellt, Verallgemeinerbarkeit und Abstraktion betont, treten andere Aspekte in den Hintergrund, die ethisch relevant sind. Zu den blinden Flecken gehört explizit die Bedeutung der Unauswechselbarkeit von Tieren und unseren relationalen Wahrnehmungen, Gefühlen und moralischen Handlungen gegenüber Einzeltieren. Ich werde zwei Punkte herausgreifen. Sie sollen zeigen, inwiefern die prinzipienbasierten Ansätze dort blinde Flecken hinterlassen, wo die tierliche Singularität besonders in Erscheinung tritt. Abstraktion. Die Kritik lautet, dass die Modelle zu abstrakt bleiben. Die Heterogenität und Konkretheit der Tiere, mit denen wir es zu tun haben, bleibt damit außen vor. Mit Blick auf den wichtigen Begriff der tierlichen Leidensfähigkeit, auf den unter anderem Singer fokussiert, schreibt Gruen: First, the idea of ›animal suffering‹ was much too general and broad. The general slogans of the animal rights movement didn’t convey any of the depth of the experiences particular chickens, chimpanzees, cows, cats and others had – experiences that made their suffering specific for them, from their point of view.48 Die vielfältigen und wandelbaren Beziehungen, die zwischen Menschen und Tieren möglich sind, können nicht durch abstrakte Begriffe abgedeckt werden. In der Prinzipienethik handelt es sich insbesondere bei der Individualität um ein abstraktes Konzept: Die intrinsischen Eigenschaften wie Empfindungsfähigkeit bei Singer oder Subjektivität bei Regan und das Haben eines Gutes bei Korsgaard stehen im Vordergrund. Das Potenzial des Begriffs der Singularität von Tieren liegt jedoch darin, dass es je konkrete Tiere und Umstände meint. Aufgrund des Abstraktionsgrades werden kontextabhängige Gesichtspunkte in einer prinzipienbasierten Ethik vernachlässigt. Wenn die Präferenzen das entscheidende sind, dann werden diese als die intrinsische Eigenschaft eines Tiers behandelt. Präferenzen sind aber durchaus wandelbar und von Kontexten, Lebensgeschichte und Beziehungen abhängig. Ein Vertreter der Prinzipienethik wie Singer kann außerdem – und das ist besonders wichtig – nicht für den Wert eines Individuums unabhängig von seinen Fähigkeiten oder Präferenzen argumentieren. Individuen zählen nicht 48 Gruen 2015: 2. Zu Gruens Kritik an der Abstraktion in der Ethik vgl. ebd.: 33f. 93 94 Das Tier im Bild an sich, sondern gemäss ihrer sekundär ermittelten Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden.49 Fokus auf autonomes und rationales Handeln. Die Prämisse der prinzipiengeleiteten Ansätze ist, dass es jemanden gibt, der mehr oder weniger autonom nach diesen Prinzipien handeln kann. Was dabei aus dem Blick gerät, ist die Tatsache, dass Menschen sich üblicherweise in Beziehungsnetzwerken befinden, die mit je eigenen Verantwortlichkeiten einhergehen.50 Damit hängt der Umstand zusammen, dass in den prinzipienbasierten Modellen das Bild einer*s moralischen Akteurs*in primär rationalistisch ist. Zwar kann sie durch ihre Emotionen motiviert werden, doch diese selbst geben keine Handlungsgründe. Die Kritik an einem solchen auch als theoretisch-juridisch bezeichneten Modell lautet, dass es vom moralischen Handeln entfremdet (detached) ist.51 Die Trennung in Ratio auf der einen Seite und Gefühle auf der anderen Seite entspricht nicht den Theorien des praktischen Handelns und den Emotionen. Abschließend möchte ich ein Beispiel geben, in dem die Prinzipienethik an ihr Ende kommt und die ethisch richtige Entscheidung auf der Grundlage von Wissen und Erfahrung in einem partikularen Beziehungsnetz getroffen werden muss. Beziehungen und Netzwerke von Beziehungen sind handlungsrelevant für unseren Umgang mit konkreten Tieren. Ein Beispiel stellt die Euthanasie von alten Tieren dar. Die Geradlinigkeit der Frage, ob wir die Pflicht haben, ein altes und schwer krankes Tier von seinem Leiden zu erlösen, sagt uns nichts über die genaueren Umstände dieser schwierigen Entscheidung aus. Ich denke, dass wir uns mit den singulären Beziehungen und Umständen auseinandersetzen müssen, um die moralische Komplexität der Euthanasie von Tieren zu begreifen und darüber zu entscheiden. Üblicherweise müssen die Personen solch eine Entscheidung treffen, die zu den Tieren in einer besonders engen Beziehung stehen. Oder anders gesagt: Für sie wird die Entscheidung zu einem komplexen moralischen Konflikt. Gegen die veterinärmedizinische Empfehlung, ein unheilbar krankes Tier zu euthanasieren, stemmt sich der Widerstand, die unauswechselbare andere womöglich vorschnell gehen zu lassen. André Krebber beschreibt die Schwierigkeit der Entscheidung eindrück- 49 50 51 Das entspricht der Kritik deontologischer Ansätze an Singers Präferenzutilitarismus, vgl. Regan 1983. Walker 2007. MacIntyre 2006. Pick 2011. Gruen 2015: 8; 33. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität lich in Bezug auf persönliche und philosophische Beispiele.52 Es gibt Fälle, in denen gerade die schwere Entscheidung für eine Therapie mit geringen Aussichten auf Erfolg der singulären Beziehung gerecht wird. Umgekehrt kann das auch für die bewusste Entscheidung gegen eine weitere Therapie gelten. Prinzipienbasierte Modelle können singuläre Tiere also nicht nur nicht beschreiben, sondern schließen ihre wichtigen Aspekte wie den Beziehungsaspekt aus oder sind ihnen gegenüber kritisch eingestellt. Ein Problem entsteht, wenn als tierethisch relevant nur dasjenige gilt, was die Form einer prinzipienethischen Analyse hat, d.h., wenn die Beziehungen zu einzelnen Tieren und unsere Emotionen als ethisch unbedeutend oder sogar hinderlich erscheinen. Mit Blick auf die konkreten Vertreter*innen der Prinzipienethik scheint dies der Fall zu sein. Der zweite Blick ergibt jedoch, dass auch die Prinzipienethiker*innen über den Wert z.B. von bildlicher oder literarischer Sensibilisierung für tierethische Themen schreiben.53 Der Punkt, den ich machen möchte, lautet, dass hier eine Unterscheidung in ethisch motivationale oder moralpsychologische Aspekte einerseits und ethische Urteilsfindung andererseits getroffen wird. Das Resultat ist die Fehleinschätzung, dass sich der Bereich der Beziehungen und Emotionen von einem Bereich der Prinzipien trennscharf abgrenzen lässt.54 Es ist wichtig, dies deutlich zu machen, da tierliche Singularität unter anderem mit Verweis auf ein solches EthikVerständnis in Abrede gestellt wird. Wir müssen Singularität gegenüber solchen scheinbaren Einwänden verteidigen können. Die Philosophin Alice Crary weist darauf hin, dass die prinzipienbasierte Ethik die relationalen Ansätze häufig ungeprüft ablehnt.55 Diese Ablehnung geschieht auf der Grundlage, dass die Emotionen der Handelnden ihre Urteile verzerren und parteiisch machen würden. Die Beziehung einer menschlichen Person zum Tier wird hier außen vor gelassen und ebenso alle Formen der Schädigung, die das individuelle Tier (im Unterschied etwa zu Schmerz, Stress oder Freude) nicht selbst empfindet (wie z.B. die Verdinglichung von Tieren durch Sprache oder Repräsentationen). Damit kann eine Demütigung, die das Tier nicht nachweislich selbst empfindet, nicht in den Fokus rücken. Der Begriff der Singularität von Tieren ist im Gegensatz dazu in der Lage, diese relationalen Aspekte zu berücksichtigen. Um ein Beispiel zu geben: Ein zu einer Comicfigur frisierter 52 53 54 55 Krebber 2018. Singer 1999. Vgl. Steiner 2013. Crary 2018: 165. 95 96 Das Tier im Bild Hund mag nicht selbst unter der Frisur leiden.56 Eine Betrachterin kann jedoch sehr wohl verstehen, dass der Hund instrumentalisiert wurde und dass diese Weise, ein anderes Tier auf seine äußere Erscheinung zu reduzieren und diese in den Dienst eines menschlichen Interesses zu stellen, problematisch ist. Seine Würde wurde verletzt.57 Wieso wird die Bedeutung der Einzelnen auf eine Weise pauschal abgelehnt und auf eine andere zum wichtigen Drehund Angelpunkt der Ethik? Aus dieser Kluft innerhalb der Tierethik speisen sich das folgende Kapitel sowie zahlreiche Interventionen und Innovationen in den letzten Jahrzehnten. Prinzipienethische Ansätze bringen gerne das Argument, dass von den vielschichtigen und vielfältigen Beziehungen und variablen Kontexten abstrahiert werden müsse, um wirkmächtige Argumente zu entwickeln. Explizit oder implizit steht außerdem nicht selten eine prinzipienethische Idee dahinter, wenn z.B. die mediale Aufmerksamkeit für einzelne wenige Tiere verächtlich behandelt wird.58 Die Bedeutung der Befreiung eines einzelnen Tiers angesichts einer Welt, in der täglich Milliarden Tiere getötet werden und keine Notiz davon genommen wird, erscheint vernachlässigbar und fehlgeleitet. Im Folgenden möchte ich einen Vorschlag dafür machen, inwiefern die Bedeutung der Einzelnen über den Symbolwert hinausgehen und einen wichtigen Pfeiler der ethischen Beziehungen zu Tieren bilden kann. 2.1.3 Partikularismus als alternatives Modell Die prinzipienethischen Modelle sind nicht ausreichend, um die ethische Bedeutung der Singularität abzudecken. Tierliche Singularität in der Tierethik ist wichtig, weil sie epistemische Ungleichheit ausgleichen (Kapitel 1) und Weisen der Wahrnehmung berücksichtigen, auf die wir uns bereits in Opposition zu verdinglichenden Umgangsformen mit Tieren setzen: in persönlichen Nahbeziehungen, aber auch in Kunst und Kultur sowie als öffentliche Interessensvertreter*innen von Tieren. Während prinzipienethische Theorien die Weisen der Wahrnehmung und wichtige Aspekte der hermeneutischen Ungleichheit nicht berücksichtigen (z.B. den relationalen Begriff des Einzeltiers), integrieren alternative Theorien wie partikularistische Modelle die tierliche Singularität. Innerhalb der partikularistischen Modelle möchte ich diejenigen Ansätze 56 57 58 Weeks 2013. Zu einem relationalen Begriff der Würde vgl. Gruen 2014. Zu journalistischen Tier-Porträts und zum Diskurs um die Emotionalisierung vgl. Molloy 2011: 1. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität hervorheben, die Beziehungen in den Mittelpunkt stellen. Beziehungen und die vielfältigen veränderlichen Verantwortlichkeiten sind ein wichtiges Motiv dafür, Ethik nicht zu stark zu verallgemeinern. Unter dem Begriff der relationalen Ansätze werde ich also weiter dafür argumentieren, dass die Singularität in der Tierethik berücksichtigt werden muss und dass partikularistische Ansätze wie etwa die relationalen dazu in der Lage sind. Diese Integration der tierlichen Singularität in relationale Ansätze werde ich im Folgenden näher darstellen. Dabei soll auch deutlich werden, worin die Probleme und Grenzen von bisherigen relationalen Ansätzen in der Tierethik bestehen. Der Fokus auf das singuläre Tier über den Nahbereich hinaus – z.B. in Fotografien und Filmen – kann die Ansätze gegen Einwände stärken. Wenn die prinzipienbasierten Ansätze nicht ausreichend sind, um tierliche Singularität in ihrer normativen Kraft zu beschreiben, müssen wir uns fragen, inwiefern die Singularität der Tiere für ethische Mensch-Tier-Beziehungen relevant ist. Die Antwort sehe ich in alternativen feministischen Ethikmodellen angelegt. Im Bereich der Tierethik haben sich bereits Modelle zur Veränderung und Verbesserung von Mensch-Tier-Beziehungen entwickelt, die nicht primär auf Prinzipien beruhen. Als frühe Reaktion auf Singers Animal Liberation argumentierte zum Beispiel Mary Midgley, dass die Einfühlung in nichtmenschliche Tiere eine zentrale Rolle für die Anerkennung ihres moralischen Werts spielt.59 In ihren Aufsätzen machte auch Cora Diamond deutlich, dass die Lebenspraxis und unsere konkreten wie auch ideellen Beziehungen zu Tieren eine weitaus größere Bedeutung für die Ethik haben, als prinzipienbasierte Ansätze es zulassen. Die Tatsache, dass Tiere als Mitgeschöpfe (fellow creatures) wahrgenommen werden können, ist nach Diamond gewichtiger als ein biologischer, Objektivitätskriterien genügender Begriff des Tierleids.60 Mit Recht können Midgley und Diamond als Vordenkerinnen und wichtige Wegbereiterinnen partikularistischer – genauer: relationaler – Ansätze in der philosophischen Tierethik angesehen werden. Ich möchte im Folgenden eine Orientierung darüber geben, worum es sich bei relationalen Ansätzen handelt und wie sie sich definieren lassen. Drei Aspekte werde ich besonders hervorheben: erstens den Bezug zu den Gefühlen und anderen Formen der Sensibilität für Gründe, zweitens die partikularistischen Handlungsgründe und drittens den Fokus auf Beziehungen und Abhängigkeiten. 59 60 Midgley 1998. Diamond 1978: 474. 97 98 Das Tier im Bild Prinzipien geben rational erwogene Gründe zum guten Handeln. Daher kann man sich die Alternative zu einem prinzipienbasierten Ansatz am deutlichsten bewusst machen, indem man andere Quellen für moralische Handlungsgründe betrachtet. So können wir nicht nur Prinzipien betrachten und abwägen, sondern haben auch eine Sensibilität für moralische Gründe. Eine komplexe Emotion wie Schuld lässt uns empfinden, dass wir eine negative Situation für einen anderen herbeigeführt haben. Schuldgefühle können uns den Grund dafür geben, dass wir die Situation zu bessern versuchen oder uns entschuldigen.61 Einige Philosoph*innen vertreten die Ansicht, dass die relationalen Ansätze ihre philosophischen Wurzeln im Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts haben: allem voran in den Theorien von David Hume und Adam Smith.62 In systematischer Hinsicht entscheidend ist, dass relationale Ansätze unserer Empfindungsfähigkeit und insbesondere den Emotionen wie Empathie normatives Gewicht zusprechen. Es geht dabei ausdrücklich nicht darum, Gründe ausschließlich für das private gute Leben zu geben, sondern auch eine gemeinschaftliche oder politische Ebene zu schaffen, auf der die Gefühle relevant und handlungsleitend sind.63 Das ist der erste Punkt, den ich festhalten möchte: Relationale Ethiken sind in dem Sinne sentimentalistisch oder gefühlsbasiert, dass sie Gefühlen einen hohen Stellenwert für das moralische Leben beimessen. Auch prinzipienbasierte Ethiken können Gefühle und ihre motivationale Kraft einbeziehen.64 Ein zentraler Unterschied ist nun, dass wir mithilfe von Prinzipien über universelle Gründe nachdenken können, die Sensibilität gegenüber Gründen aber kontextabhängig ist. Damit ist das zweite Merkmal der relationalen Ansätze benannt: Relationale Ansätze in der Ethik sind partikularistisch.65 Das bedeutet: Relationale Ethiken erlauben partikulare Gründe für moralisches Handeln. Es besteht kein Verallgemeinerbarkeitsanspruch der Gründe, jedoch geht es auch nicht um einen Relativismus der Gründe.66 In partikularistischen Ethiken spielen die Kontexte und ihre Wahrnehmung eine wichtige Rolle, d.h. auch die Sensibilität, die Wahrnehmung und die Imagination. 61 62 63 64 65 66 Empathie spielt hier eine besondere Rolle, vgl. Aaltola 2018: 17. Hourdequin 2012: 410; 414. Vgl. Aaltola 2018. Slote 2007/2014. Vgl. für die Tierethik Gruen 2015. Allgemeiner in der Fürsorge-Ethik Tronto 1993. Prinz 2011. Dancy 2017. Vgl. Cannold et al. 1995: 373. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität Die Sensibilität für moralische Handlungsgründe und Werte steht in meiner Darstellung im Zentrum der relationalen Modelle. Allein damit ist die relationale Ethik aber nicht hinreichend beschrieben. Denn obwohl sich die Emotionen auf konkrete andere beziehen, gehört zur relationalen Ethik im engeren Sinne dazu, dass wir einen Begriff der Beziehungen zu den anderen haben. Wir müssen ein Verständnis von Handelnden annehmen, die nicht autonom und unabhängig sind, sondern sich als eng verwoben mit anderen wahrnehmen. Sie stehen in einem Netzwerk von Beziehungen. Innerhalb dessen ergeben sich verschiedene Verantwortlichkeiten. Auf diese Weise stellt sich die gemeinschaftliche Ebene der Moral her.67 Diesen dritten Punkt möchte ich als Beziehungsfokus bezeichnen. Aus der Sicht der relationalen Ethiken ist er keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit.68 Die Prämisse lautet, dass wir uns größtenteils nicht aussuchen können, ob wir in Beziehungen stehen oder nicht. Als vulnerable Lebewesen sind wir von anderen abhängig. Zu großen Teilen unseres Lebens sind wir auf die Hilfe von anderen angewiesen, wie etwa als Kind, im Alter oder bei Krankheit. Schwerwiegende Beeinträchtigungen und Behinderungen können uns jederzeit treffen.69 Zusammenfassend lässt sich die relationale Ethik also als partikularistische Ethik bezeichnen, die ihren Fokus auf Beziehungen legt. Durch die besondere Bedeutung der konkreten Fälle erhalten die Kontexte, unsere Wahrnehmungen und Emotionen Gewicht. Der Schluss, den ich ziehe, lautet, dass wir ein relationales Modell, kein prinzipienbasiertes brauchen, um die tierethische Bedeutung der singulären Tiere zu erklären und zu verteidigen. Die zentrale Prämisse lautet, dass der Begriff des singulären Tiers für die Tierethik wichtig ist. Es handelt sich um eine bessere Tierethik, wenn wir die Anerkennung von tierlicher Unauswechselbarkeit, Subjektivität, Situiertheit und Relationalität integrieren. Von den beiden Arten der Tierethik, die ich dargestellt habe, ist die prinzipienbasierte Tierethik nicht in der Lage, die hier relevanten Aspekte abzudecken. So kann sie z.B. nicht die Veränderlichkeit und Dynamik der Mensch-Tier-Beziehungen mit abdecken. Die partikularistischen Modelle – und insbesondere die relationalen Ansätze – sind demgegenüber gerade dazu in der Lage. 67 68 69 Walker 2007: insb. ix; 10 – 11. Ebd.: 84. Baier 1994: 233. MacIntyre 2006. Vgl. Walker 2007. Noddings 1990/2002. MacIntyre 2006. 99 100 Das Tier im Bild 2.1.4 Tierliche Singularität und Relationalität Ich erinnere daran, dass die tierliche Singularität bei der metaethischen Frage nach der richtigen Tierethik ins Spiel kommen muss, weil sie eine wichtige Dimension unserer Gestaltung von Mensch-Tier-Beziehungen darstellt. Neben einem empirischen Argument (»Viele Menschen stehen zu Tieren in einer Beziehung, in der die tierliche Singularität anerkannt wird.«) habe ich ein metaethisches Argument angeführt (»Wir sollten die tierliche Singularität in der Ethik nicht ausschließen, denn sie berücksichtigt – anders als abstrakte Ethiken – die Rolle von kontextspezifischen Wahrnehmungen«). Innerhalb der partikularistischen Modelle sehe ich die tierliche Singularität in aktuellen relationalen Ansätzen als Anspruch enthalten. Dies auszuführen, ist das erste Ziel des vorliegenden Abschnitts. In einem zweiten Abschnitt versuche ich eine systematische Annährung an die Bereiche der relationalen Ethiken, die für das Konzept der tierlichen Singularität besonders relevant sind. Damit meine ich die Rolle der Emotionen oder die Rolle der Imagination für die Ethik. Wie ich nun zeigen möchte, beinhalten einige relationale Ansätze die Anerkennung tierlicher Singularität. Besonders deutlich wird dies am Konzept der Empathie. Die für die relationale Ethik relevanten Vorstellungen von Empathie zeichnet im Unterscheid zu den ethisch nicht relevanten oder problematischen Formen aus, dass wir Tiere als unauswechselbare und situierte andere betrachten. Die ethisch relevante Form der Empathie nennt Gruen »relationale Empathie« (entangled empathy). An diese werde ich im Folgenden anknüpfen. Es handelt sich dabei um eine komplexe und anspruchsvolle Form der Einfühlung und des kritischen Sich-in-einen-anderen-Hineinversetzens, über die allein menschliche Tiere im vollen Umfang verfügen.70 Entscheidend ist, dass die Einfühlung auf den*die andere*n gerichtet sein muss. Der eigene Standpunkt wird miteinbezogen, aber bewusst von der Wahrnehmung des*der anderen getrennt.71 Die Gerichtetheit auf die andere lässt sich unmittelbar zu den Kriterien der Singularität in Verbindung setzen. Die Ideen 70 71 Nach Gruen (2018: 146) sind drei Aspekte besonders wichtig: Erstens ist Empathie ein affektiver Prozess, bei dem wir uns über Unterschiede hinweg in die Situation eines*r anderen einfühlen. Zweitens benötigt es die Intention, die Perspektive des anderen zu simulieren oder zu verkörpern, um die bloße Projektion der eigenen Gefühle zu vermeiden. Drittens spielt die längerfristige Schulung der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Reflexionsfähigkeit eine wichtige Rolle. Gruen 2015: 56f.; 81f. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität entsprechen sich: Wir fokussieren uns auf diese konkrete andere, nicht eine generische andere und möchten dies von den Projektionen – und hier insbesondere der Anthropomorphisierung – abgrenzen.72 Insofern scheint die Singularität der Tiere, genauer: die Unauswechselbarkeit und die Situiertheit, im ethischen Modell Gruens als Orientierung enthalten zu sein.73 Ein ähnliches Bild ergibt sich mit Blick auf den Vorschlag der Tierethikerin Elisa Aaltola. Aaltola bemisst die ethische Bedeutung der Empathie in ihren Varianten an einem bestimmten Begriff des*der moralischen Akteurs*in. Die ethisch relevanten Aspekte nach Aaltola korrespondieren teilweise mit der Singularitätsperspektive. Moralische Handlungsfähigkeit »rests on other-directedness« und »requires openness towards heterogeneity and difference«.74 Diese zwei von vier Kriterien wurden dahingehend kritisiert, dass Aaltola sie normativ setzt, aber nicht eigens dafür argumentiert.75 Obwohl Aaltola die Kriterien nicht eingehender zum Thema macht, stellen sie wichtige Orientierungen oder Ansprüche innerhalb ihrer ethischen Überzeugungen dar. Die ethisch besonders relevanten Varianten der Empathie – bei Aaltola sind das »affektive Empathie«, »verkörperte Empathie« und »reflexive Empathie« – weisen diese aus. Bei der Singularität der Tiere handelt sich also um einen wichtigen Pfeiler unserer Beziehungen zu Tieren, der in den relationalen Modellen bereits thematisiert wurde. Im Folgenden möchte ich neben der Empathie weitere Bereiche der relationalen Ethik benennen, für die tierliche Singularität wichtig ist. Ich werde drei Bereiche identifizieren und je diskutieren, welche Zugänge zur normativen Bedeutung der Singularität damit vorbereitet sind. Den Ansätzen ist gemeinsam, dass es mehr um die Sensibilität gegenüber Gründen (partikularistisches Modell) als um das Schließen auf Gründe und das Abwägen und Anwenden von Prinzipien (prinzipienbasiertes Modell) geht. Sie unterscheiden sich durch den Fokus auf dasjenige, was jeweils die moralische Bedeutung ins Spiel bringt. Die Bereiche sind: Emotionen, Wahrnehmung und Imagination. 72 73 74 75 Gruen 2015: 57. Ebd. Aaltola 2018: 9. Monsó 2019: 186f. 101 102 Das Tier im Bild Emotionen In zahlreichen relationalen Ansätzen ist der Bezug auf Emotionen enthalten. Die Grundidee lautet, dass Emotionen eine wichtige Rolle für die Ethik spielen. Um die Bandbreite der Positionen aufzuzeigen, die ich für sinnvoll halte, möchte ich drei verschiedene Positionen knapp systematisieren. i. Emotionen begleiten das ethische Handeln.76 Viele Menschen empfinden z.B. Scham, wenn sie eine Norm brechen, oder Genugtuung, wenn sie anderen helfen. ii. Emotionen orientieren das ethische Handeln. An unseren emotionalen Reaktionen können wir erkennen, was für uns und was für andere wichtig ist.77 iii. Emotionen motivieren ethisches Handeln. Emotionen sind grundlegend für ethische Urteile und Handlungen, da sie uns dabei helfen, andere als fühlende Subjekte wahrzunehmen und ihre Bedürfnisse zu erkennen.78 Emotionen ermöglichen unter anderem Empathie, d.h. eine prosoziale und ethisch relevante Einstellung, die uns dazu motivieren kann, für andere zu handeln. Wahrnehmung79 Es gibt eine Vielzahl an ethischen Theorien, deren partikularistischer Impetus bei der Wahrnehmung ansetzt.80 Blum übernimmt von Murdoch die Idee, dass wir Menschen nicht nur um moralisches Handeln im engeren Sinne bemüht sind, sondern auch um moralische Sichtweisen (moral vision).81 Yet although an agent may reason well in moral situations, uphold the strictest standards of impartiality for testing her maximes and moral principles, and be adept at deliberation, unless she perceives their moral character accurately. Her moral principles and skill at deliberation may be for naught.82 76 77 78 79 80 81 82 Vgl. Prinz 2007: 21; 68; 80. Nussbaum 2001: 90. MacIntyre 2006: 2 – 3. Aaltola 2018: 2. Gruen 2015. Blum 1994. Gruen 2015: 39f. Vgl. Murdoch (1956/1993/1999). McNaughton 1988. Blum 1994. Jacobson 2005. Döring 2007. Audi 2013. Vgl. auch Gantman/Bavel 2015 versus Firestone/Scholl 2016. Vgl. Blum 1994. Ebd.: 30. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität Wir sehen also, dass es sich nach Blum nicht allein um eine deskriptive Idee handelt, sondern auch um eine normative: Wir sollten uns um moralisches Sehen bemühen. Was zeichnet moralisches Sehen oder, allgemeiner gesagt, eine moralische Wahrnehmung aus? Und warum sollte sie für die Ethik wichtig sein? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich Murdochs Theorie der moralischen Wahrnehmung skizzieren. Nach Murdoch gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen bloßem Wahrnehmen und moralischem Sehen, zwischen »opening one’s eyes«83 und »the moral sense of ›see‹ which implies that clear vision is a result of moral imagination and effort.«84 Im moralischen Sehen verschränkt sich ein epistemologisch beschreibbarer Prozess auf das Engste mit einem ethisch beschreibbaren Prozess: »We do not simply, through being rational and knowing ordinary language, ›know‹ the meaning of all necessary moral words.«85 Die ethische Bedeutung von Konzepten erlernen wir in konkreten Situationen; wir lernen sie, indem wir uns um eine aufmerksame, d.h. auf den*die andere*n bezogene und möglichst gründliche Weise, bemühen, Situationen zu betrachten: »goodness is connected with knowledge. Not impersonal quasi-scientific knowledge of the ordinary world […] but with a refined and honest perception of what is the case.«86 Die beiden wichtigsten Merkmale einer moralischen Wahrnehmung sind die Bemühung um adäquate Wahrnehmung der Situation – Murdoch spricht auch von gerechter Wahrnehmung (just perception) – und eine wohlwollende, auf das Gegenüber bezogene Wahrnehmung – Murdoch spricht auch von liebender Wahrnehmung (loving perception). Um noch einmal den Bogen zurück zur Empathie zu schlagen: Eine Weise, die Emotionen und die moralische Wahrnehmung zusammenzudenken, stellen ethische Ansätze zur Empathie dar.87 Das lässt sich gut am Vorschlag der Tierethikerin Gruen betrachten. Gruen argumentiert dafür, dass es sich bei der moralisch relevanten Form der Empathie um einen Wahrnehmungsprozess handelt, durch den wir uns in andere einfühlen (stärker emotional) und hineinversetzen (stärker kognitiv).88 Sie spricht bei der Empathie auch von einer Form der fürsorgenden Wahrnehmung: »Entangled empathy is a type of caring 83 84 85 86 87 88 Murdoch 1999: 411. Ebd.: 408. Ebd.: 400. Ebd.: 410. Zur Empathie in der relationalen Tierethik, vgl. insb. Gruen 2015/2018. Aaltola 2018. Gruen 2018: 147 – 9. 103 104 Das Tier im Bild perception focused on attending to another’s experience of wellbeing.«89 Diese Form der Empathie ist nach Gruen relevant für die Ethik, denn sie stellt anders, als wenn wir uns allein auf Prinzipien berufen, eine Beziehung her. In Gruens Entangled Empathy ist die Singularität der Tiere als Anspruch enthalten. Nach Gruen ist die moralische Wahrnehmung eine auf den*die andere*n gerichtete Wahrnehmung. Gruen gibt ein Beispiel dafür, unter welchen Umständen wir moralische Wahrnehmung benötigen und woran sie scheitern kann. Aus einer sozial privilegierten Perspektive kann eine Person vielleicht nicht verstehen, warum eine obdachlose Person einen Hund hält. Sie mag dies als Teil des Problems betrachten, anstatt sich die Situation als Ganze zu vergegenwärtigen und die Bedeutung, die diese Beziehung zwischen Hund und Person hat. Der Anspruch hier ist, die einzelnen Beteiligten so adäquat wie möglich zu sehen.90 Imagination Sich in Beziehung zu anderen zu setzen, ist nicht allein vom direkten Kontakt oder einer Wechselseitigkeit abhängig. Vielmehr können wir auch durch unsere Vorstellungskraft, literarische Texte, Bilder oder journalistische Arbeit emotional und empathisch Beziehungen zu Einzelnen aufbauen. In der Tierethik haben Diamond und Crary dafür prominent argumentiert.91 Die Imagination von tierlichem Leben ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Angesichts der Fülle an anthropomorphen Tierdarstellungen in Kinderbüchern und in unserem Alltag wird deutlich, dass einzelne Tiere menschlichen Wünschen eine besondere Projektionsfläche bieten. Geht es in der moralischen Wahrnehmung darum, einen anderen möglichst adäquat zu sehen, scheint die moralische Vorstellungskraft kein direktes Gegenüber zu haben, an dem wir intersubjektiv und empirisch feststellen könnten, ob die Wahrnehmung adäquat ist.92 Für Fabulation und klischeehafte Fantasie scheinen Tür und Tor offen zu stehen. Vertreter*innen der moralischen Imagination grenzen sich darum explizit von instrumentalisierenden, egozentrischen oder unkritisch anthropozentrischen Formen der Vorstellungskraft ab.93 Das 89 90 91 92 93 Gruen 2015: 3. Ebd. Vgl. Diamond 1978/2008. Crary 2016. Für die weiteren Animal Studies vgl. auch Borkfelt 2020/2022. Vgl. Clarke 2012. Vgl. Aaltola 2018: 8f. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität zentrale Kriterium ist auch hier wiederum die Individualität bzw. die tierliche Singularität des anderen. Sie bleibt als ein Anspruch an die moralische Imagination erhalten.94 Wie die vorliegenden Abschnitte zeigen sollten, lässt sich der Begriff der tierlichen Singularität am besten mithilfe eines Modells der relationalen Wahrnehmung und Ethik beschreiben. Um noch einmal zusammenzufassen, welche Aspekte der Singularität ich mit diesem Modell zusammenhalten möchte, werde ich zwei definitorisch wichtige Punkte hervorheben: Zum einen sind solche Ethiken partikularistisch statt prinzipienbasiert. Zum anderen geht es nicht um intrinsische Eigenschaften, sondern um relationale Eigenschaften. Eine relationale Ethik ist eine partikularistische Ethik, in der Beziehungen zu Tieren im Fokus stehen, sowohl die gefühls- und wahrnehmungstheoretischen Bedingungen als auch der praktische Aufbau, die Pflege und das Unterlassen oder Beenden von Beziehungen, die uns Gründe zum Handeln geben. Meine Idee ist, dass tierliche Singularität ein Anspruch innerhalb solcher Ethik ist und sein muss und dass die Ansätze davon profitieren können, dies herauszuarbeiten. Dies wird diese Ansätze auch stärker gegenüber ihren Kritiker*innen machen. 2.2 Ästhetik: bloße Sichtbarkeit und Sichtbarkeit als Anerkennung It is one of those moments that will be engraved on my brain forever. For I really saw her. […] She was that proud, chunky chicken shape that makes one feel always that chickens, and hens especially, have personality and will. Walker 1989: 171 In der partikularistischen Ethik spielen singuläre Tiere eine wichtige Rolle – eine Rolle, die sie in prinzipienorientieren Ansätzen nicht zu spielen vermögen. Die partikularistische Ethik kann insofern als Modell dienen, um 94 Mit der Individualität schlägt Brigit Clarke ein zentrales Kriterium für die Unterscheidung vor. Vgl. Clarke 2012: 387 – 411. 105 106 Das Tier im Bild die ethische Bedeutung der Singularität herauszustellen. Es stellt sich dabei jedoch ein Problem. Obwohl die tierliche Singularität zentral ist, bleibt sie als selbstverständliche Prämisse der relationalen Ansätze teils unzureichend artikuliert. Ihr genuin normatives Potenzial ist darüber hinaus zwar eine zentrale Größe, doch zugleich besonders umstritten.95 Für symptomatisch halte ich den Dissens zwischen Jacques Derrida und Gary Steiner. Ausgehend von dieser Kontroverse werde ich im vorliegenden Unterkapitel dafür argumentieren, dass das normative Potenzial der tierlichen Singularität eng mit unserer visuellen und empathischen Wahrnehmung verbunden ist: Singuläre Tiere sind als solche sichtbar und diese Sichtbarkeit lässt sich mit Gewinn in das Zentrum der relationalen Ansätze rücken. Derridas berühmte Überlegungen zu seiner Katze lassen sich als Moment einer relationalen Ethik verstehen, die sowohl emotionale als auch wahrnehmungsbezogene Aspekte betrifft.96 Durch die Scham, die Derrida eines Morgens nackt im Badezimmer stehend gegenüber seiner Katze empfindet, erfährt er etwas Wesentliches über diese Katze und sein Verhältnis zu ihr und zu anderen Tieren. Schlagartig wird ihm bewusst, dass er diese Katze als ein autonomes Subjekt anerkennt; anders wäre ihm seine Scham unerklärlich. Derrida hadert in der Folge mit dem Kontrast dieser eindrücklichen Wahrnehmung zu seinem üblichen Sprechen und Nachdenken über andere Tiere als anonyme Masse.97 Im Blickwechsel mit der »kleinen Katze« nimmt Derrida die Singularitätsperspektive ein und sieht dabei zugleich, dass etwas am moralischen Status quo, gemäß dem Tiere häufig als Objekte behandelt werden, nicht stimmt. Steiner zweifelt nun daran, dass diese Szene und ihre Deutung in Derridas Theorie den moralischen Wert von Tieren über diese eine Katze hinaus verteidigen könne.98 Ihm zufolge beruht Derridas Beitrag auf idiosynkratrischer Erfahrung und ist aus diesem Grund unbestimmt, vielfältig und dem guten Willen einzelner Menschen unterworfen.99 Steiner übersieht meines Erachtens die wesentlichen normativen Aspekte in der Schilderung Derridas, die sich weiter herausarbeiten lassen. Sie haben mit der Möglichkeit zu tun, durch die Anwesenheit eines Tiers und seine bloße Sichtbarkeit etwas über dieses Tier 95 96 97 98 99 Vgl. Steiner 2013. Haraway 2008: 21. Haraway kritisiert lediglich, dass Derrida die Beziehung nicht eingehender verfolgte und reflektierte. Derrida 2010: 48f; 58. Steiner 2013: 3. Ebd. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität zu lernen sowie über Muster in unserem Verhältnis zu Tieren. Derrida hat nicht nur die Subjektivität seiner Katze empfunden und erkannt, sie hat ihn auch auf einen Perspektivwechsel gestoßen: Dieses konkrete Tier zu sehen, steht in einer Spannung zum anonymen und anthropomorph gelesenen Kollektivsingular ›das Tier‹. Momente dieses Bemerkens des konkreten anderen sowie von Mustern der Wahrnehmung spielen eine besondere normative Rolle in der relationalen Ethik. Ich gehe von der Idee aus, dass die bloße Anwesenheit eines Individuums, das zugleich als Vertreter*in einer sozial relevanten Gruppe wirkt, unser Nachdenken und Handeln gegenüber dieser Gruppe empathischer und reflektierter machen kann. In einem Vorschlag von Sue Donaldson und Will Kymlicka drückt sich diese Idee implizit aus: In ihrer gesellschaftspolitischen Theorie der Tierrechte schlagen sie vor, Vertreterinnen derjenigen domestizierten Tiere vor Gericht und im öffentlichen Raum präsent zu machen, über die politische Entscheidungen getroffen werden sollen.100 Vor dem Hintergrund der tierethischen Kontroverse über die Bedeutung der Einzelnen könnte die relationale Ethik davon profitieren, die tierliche Singularität stärker als Begriff herauszuarbeiten. Im Besonderen sollte deutlicher als in meiner obigen Darstellung (2.1.) werden, wie sich die Singularitätsperspektive auf Tiere in Beziehung zu unseren emotionalen, empathischen und wahrnehmungsbezogenen Fähigkeiten verhält. Die erste Frage lautet also: Können wir Singularität wahrnehmen und empfinden? Und wenn ja, wie? Die zweite: Inwiefern ist dieses Verhältnis kritisch oder reflexiv, sodass wir nicht in die Falle treten, relationalen Ethiken wie Steiner und andere den normativen Aspekt abzusprechen? Wie steht tierliche Singularität also im Verhältnis zu ethisch relevanten Mustern der Wahrnehmung?101 Die These, die ich vertreten möchte, lautet, dass singuläre Tiere den fühlenden und wahrnehmenden moralischen Akteur*innen in besonderem Maße durch das Sehen zugänglich sind und dass hierin das normative Potenzial liegt. Dies kann eine Reihe von Phänomenen erklären. So steht das aufmerksame Beobachten von Tieren nicht ohne Grund häufig am Anfang ihrer Anerkennung als individuelle Subjekte, statt sie ausschließlich als mehr oder weniger typische Artvertreter*innen zu betrachten.102 Wir können die Bedürfnisse von 100 Donaldson/Kymlicka 2011: 153f. Während es bei Donaldson und Kymlicka um die leibliche Anwesenheit geht, möchte ich mich auch mit anderen Weisen, Tiergruppen und singuläre Tiere sichtbar zu machen, befassen, z.B. mittles fotografischer Bilder. 101 Vgl. Clarke 2012: 246. 102 Vgl. Safina 2015. 107 108 Das Tier im Bild Tieren sehen, wenn sie in Not sind, hungrig oder zum Spielen aufgelegt. Dies gilt auch für Tiere in den Bildmedien, auf Fotografien oder in Filmen. Wir sind keine neutralen Beobachter*innen, sondern unsere Emotionen und Gedanken beim Betrachten eines Tiers stellen eine Beziehung her. Meine Argumentation im Folgenden wird diese These stark machen, insbesondere gegen die Annahme, dass uns einzelne Tiere notwendig unbekannt bleiben, weil sie sich von uns Menschen unterscheiden, sei es kognitiv oder im engeren Sinne, weil es sich um nicht lingualsprachliche Lebewesen handelt. Mein Vorschlag lautet dementsprechend, dass die tierliche Singularität sichtbar ist und dass diese Sichtbarkeit mit Gewinn ins Zentrum der relationalen Ansätze gerückt werden kann. Das Verhältnis, das ich betonen möchte, ist genauer dasjenige zwischen der Singularität einerseits und der visuellen Wahrnehmung und Empathie andererseits. Wie ich oben kurz angeführt habe, hängt die Empathie eng mit der Wahrnehmung zusammen. Das bedeutet, dass ich das visuelle Wahrnehmen und die Empathie genauer als Medien der Gestaltung unserer Beziehung zu Tieren betrachten möchte. Ich gehe davon aus, dass die Singularität der Tiere den wichtigsten Pfeiler für diese Beziehungen darstellt. Schließlich werde ich herausarbeiten, inwiefern wir davon sprechen können, dass die singulären Tiere bzw. unsere Perspektiven und Wahrnehmungen ein normatives Potenzial haben, also dazu führen können, dass wir über die Beziehung hinaus verstehen, wie das Tier ethisch angesehen wird. 2.2.1 Die Sichtbarkeit tierlicher Singularität Die Singularität von Tieren ist wortwörtlich sichtbar. So lautet die Annahme, für die ich an erster Stelle in diesem Unterkapitel argumentieren werde. In Kapitel 1 haben wir bereits gesehen, worin die zentralen Aspekte der Singularitätsperspektive bestehen: in Unauswechselbarkeit, Subjektivität, Situiertheit und Relationalität. Die Besonderheit meiner Interpretation dieser vier Aspekte besteht nun darin, dass sie allesamt sichtbar sind: sie sind visuell wahrnehmbar und erfahrbar. Wir können sie direkt sehen bzw. in einem empathischen Prozess erkennen. Statt darauf schließen zu müssen, dass es sich bei einem Tier um ein Individuum handelt, in welcher Situation es sich befindet und welche bestimmten Bedürfnisse es hat, kann uns die Anwesenheit bzw. physische Sichtbarkeit eines Tiers auf diese moralisch relevanten Aspekte stoßen; wir können sie bemerken. Alle vier Aspekte sind durch den visuellen Kontakt zu einem unauswechselbaren Individuum erkennbar. Dies werde ich im folgenden Abschnitt genauer ausführen. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität Ich werde dafür argumentieren, dass die Sichtbarkeit von Tieren die Singularitätsperspektive ermöglicht und nicht umgekehrt: Wir stellen Singularität nicht notwendig in einem Prozess her, der auf längerfristiger Interaktion beruht (z.B. indem wir ein Haustier kennenlernen) und auch nicht auf ausschließlich kognitiven Fähigkeiten (hier in Abgrenzung zu emotionalen und perzeptuellen). Es ist nicht so, dass wir eine langfristige Erfahrungs-Basis brauchen, um, wenn wir ein bestimmtes Tier zu Gesicht bekommen, seine singuläre Identität zu erkennen, sondern wir können die Singularität eines Tiers erfahren, indem wir das Tier ansehen und beobachten.103 Zwar ist die Wahrnehmung eines konkreten Tiers in epistemologischer Hinsicht reicher, wenn es sich um ein bekanntes Tier handelt sowie wenn Expert*innen ein Tier ansehen. Doch ist dies kein Widerspruch zu der Aussage, dass wir auch ein fremdes Tier gleichsam unmittelbar als situiertes Subjekt sehen können und uns in Beziehung setzen. In der Begegnung von Miriam und pattrice jones mit dem Hahn am Straßengraben etwa, die ich in Kapitel 1 als exemplarisch für die Erfahrungen mit tierlicher Singularität eingeführt habe, lag die Bedürftigkeit des Tiers klar zutage. Unter all den Weisen, auf die konkrete Tiere für uns wahrnehmbar werden können (durch ihre Spuren, Laute, Gerüche, Informationen etc.), ist die Sichtbarkeit der Individuen besonders relevant für die Singularitätserfahrung. Denn sie ist die privilegierte Möglichkeitsbedingung der dichten Erfahrung mit diesem Tier und auf die Distanz. Dieser Punkt ist wichtig für mein Argument, dass die Wahrnehmung von Singularität uns in Beziehung setzt und insofern Distanzen überwindet. Andernfalls wäre nicht viel gewonnen: Dann könnten wir allein sagen, dass aufmerksame, liebevolle Tierbesitzer*innen die Singularität ihrer Tiere sehen könnten. Die Annahme soll in einem nächsten Schritt exemplifiziert werden. Walkers literarische Essays104 können als Muster dienen, um den Zusammenhang von Singularität und Sichtbarkeit zu konzeptualisieren. Außerdem möchte ich daran verdeutlichen, was mit dem Begriff der Sichtbarkeit gemeint ist. Eine grundlegende Unterscheidung in physische Sichtbarkeit und ethisch-moralische Sichtbarkeit soll dabei herausgearbeitet werden.105 Denn mit Sichtbarkeit können wir meinen, dass etwas physisch in unserem Sichtfeld wahrgenommen wird. Bei moralischen Fehlwahrnehmungen (z.B. der Aberkennung, 103 Zur direkten Wahrnehmung zwischen Menschen vgl. Krueger 2018. 104 Walker 1989: 171. 105 Honneth 2003: 10. Clarke 2012: 235. Beide beziehen sich auf dem Roman von Ellison 1995. 109 110 Das Tier im Bild dass es sich bei einem Individuum vor meinen Augen um ein Subjekt handelt) sprechen wir dagegen auch davon, dass jemand oder etwas unsichtbar sei. Das scheint im Sinne seiner moralischen Anerkennung gemeint zu sein. Mit Honneth, Murdoch und Blum möchte ich darauf eingehen, dass es hier um eine moralische Unsichtbarkeit geht: Wir sehen einen anderen, jedoch nicht in der richtigen Weise bzw. wir übersehen, was moralisch relevant ist. Der bekannteste Fall ist die Weise, auf die sozial marginalisierte Personengruppen übersehen werden. Auch von Tieren kennen wir die Fälle, dass sie zwar durchaus im öffentlichen Raum gesehen werden oder sogar hyperpräsent sind wie viele Zootiere, jedoch keine Rücksicht (z.B. auf Geräuschempfindlichkeit oder Furcht) genommen wird. Entsprechend kann auch die Sichtbarkeit eines Tier als Phänomen zwischen physischer Sichtbarkeit (das Tier erscheint in meinem Blickfeld und ich nehme es wahr) und ethisch-moralischer Sichtbarkeit (ich erkenne das Tier als singuläres an, nehme seine ethisch wichtigen Eigenschaften wahr) verstanden werden. Ich möchte also herausarbeiten, was es bedeutet, ein Tier als singuläres in beiden Bedeutungen von Sichtbarkeit zu sehen. Dazu werde ich mich vor allem auf Ansätze aus den feministischen Animal Studies und den Critical Race Studies stützen, da hier das Verhältnis von Sehen und Moral besonders gut herausgearbeitet wurde.106 2.2.2 Am Beispiel eines balinesischen Huhns Ein literarischer Essay der Schriftstellerin Alice Walker illustriert, was mit der Sichtbarkeit eines einzelnen Tiers gemeint sein kann. In Why Did the Balinese Chicken Cross The Road? erzählt Walker, wie sie auf einer Reise einem Huhn begegnet ist, das mit drei Küken die Straße überquerte. Es ist bezeichnend, dass es sich um Tiere jenseits der menschlichen Obhut handelte: Tiere, die nicht unmittelbar von Menschen gelenkt oder überwacht wurden. It is one of those moments that will be engraved on my brain forever. For I really saw her. She was small and gray, flecked with black; so were her chicks. She had a healthy red comb and quick, light-brown eyes. She was that proud, chunky chicken shape that makes one feel always that chickens, and hens especially, have personality and will. Her steps were neat and quick and authoritative; and though she never touched her chicks, it was obvious she was shepherding them along. She clucked impatiently when, our 106 Kim 2018: 15f. Ko/Ko 2017/2020. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität feet falling ever nearer, one of them, especially self-absorbed and perhaps hard-headed, ceased to respond.107 Die Begegnung mit dem balinesischen Huhn hat sich tief in Walkers Gedächtnis eingegraben. In ihrer Erklärung – »For I really saw her« – verdichtet sich der Zusammenhang, den ich für die Sichtbarkeit von Tieren für konstitutiv halte. Ich möchte zwei Aspekte daran hervorheben. Zum einen ist der Gegenstand der Wahrnehmung ein konkretes Subjekt. Das bestimmte Personalpronomen (»her«) deutet darauf hin. Walker sieht kein Neutrum in dem Huhn, sondern repräsentiert das konkrete Huhn. Das Huhn ist jemand, nicht etwas. Wir müssen uns das Huhn als ein singuläres Tier vorstellen. Das Huhn, wie Walker es uns präsentiert, ist ein singuläres Tier. Es ist dieses bestimmte Huhn, ein Subjekt in einer konkreten Situation, das die Ich-Erzählerin innehalten lässt. Zum anderen verdichtet sich der Begriff des Sehens. Walker schreibt, sie habe das Huhn wirklich gesehen. Ich möchte diesen emphatischen Begriff des Sehens im Folgenden genauer untersuchen. Der Begriff lässt sich weder auf die bloße Sichtbarkeit des Huhns noch auf eine ausschließlich metaphorische Bedeutung reduzieren. Das Huhn wirklich gesehen zu haben, könnte einerseits bedeuten, es mit eigenen Augen gesehen zu haben, d.h., über eine Art Augenzeugenschaft zu verfügen. Die Emphase bezieht sich in diesem Fall auf eine Abgrenzung: Es geht darum, nicht allein vom Huhn erzählt bekommen zu haben oder eine grobe Skizze betrachtet zu haben, nicht aber das partikulare Individuum selbst. Andererseits legt der Text nahe, dass es um einen gleichsam vielschichtigeren Begriff des Sehens geht. Während die erste Hälfte des kurzen Essays die Begegnung schildert, handelt der zweite insbesondere von der Introspektion Walkers. Walker berichtet im zweiten Teil von der Traurigkeit, die sie beim Gedanken an all die Hühner überkommt, die bereits auf ihrem Teller lagen und von ihr gegessen wurden. Zwischen dem einen besonderen Huhn, das ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, und ähnlichen Lebewesen ist eine bedeutungsvolle emotionale Verbindung entstanden. Etwas an der Wahrnehmung des einen Huhns hat Walkers Sicht auf Hühner verändert. Man könnte sagen, sie hat ein Muster erkannt, nämlich ihre kulturell geprägte Sicht auf Hühner als Lebewesen, die zum Essen da sind. Obwohl sie niemals sicher wissen könne, »that the chicken I absolutely saw is a sister […], and that her love of her children definitely resembles my love of mine«, ist sie sich sicher, 107 Walker 1989: 171. 111 112 Das Tier im Bild dass das Huhn die Straße überquerte, um sie zu etwas bewegen: »To try to get both of us to the other side.«108 Die Wendung ›die andere Seite‹ ermöglicht eine neue Perspektive, die sich am besten mit dem Modell der Singularität umschreiben lässt. Ein Blick auf das einzelne Huhn als singuläres Tier und damit ein Blick auf die Ähnlichkeit, die zwischen Menschen und Tieren besteht, macht deutlich, dass Hühner keine anonyme und abstrakte Masse sind, wie sie häufig wahrgenommen werden, sondern je ein singuläres Tier. Diese Singularität wird von Walker nun aber nicht als atomistisch wahrgenommen. Dieses Huhn ist eine Vertreterin der Gruppe, die sie üblicherweise als Lebewesen, das zum Essen da ist (Muster der Wahrnehmung) erkennt, erscheint aber jetzt als unauswechselbares Subjekt, zu dem sie in einer Beziehung steht. Ich werde später noch darauf zurückkommen, wie wichtig diese Spannung für das normative Potenzial der Singularität ist. Aus tierethischer Sicht bietet insbesondere diese zweite Texthälfte an, sich mit dem transformativen Sehakt in Verbindung mit den anschließenden Überlegungen zum Vegetarismus bzw. Veganismus auseinanderzusetzen. Diese Lesart ist nicht ungewöhnlich: Als Coetzees Life of Animals erschien, wurden tierethische Bausteine aus dem Text extrahiert.109 Ich möchte mich von dieser Lesart abgrenzen: Sie schreitet zu voreilig vom erzählten Sehakt zu einer vermeintlich höherstufigen Reflexion voran. Diese Lesart verkürzt das, was wir durch den Text erfahren können, zugunsten von Argumenten.110 Kehren wir also noch einmal zur wörtlich verstandenen Sichtbarkeit des Huhns zurück, wie sie insbesondere im ersten Teil entfaltet wird. Damit meine ich die physische Sichtbarkeit des Huhns vor Walkers Augen. Eingangs habe ich die These präsentiert, dass sich der Begriff des Sehens weder auf die bloße Sichtbarkeit des Huhns noch auf eine ausschließlich metaphorische Bedeutung reduzieren lässt. Bislang habe ich ein mögliches Verständnis der physischen Sichtbarkeit gegeben (Augenzeugenschaft) sowie der Sichtbarkeit im Sinne der Anerkennung (ethische Erkenntnis). Im Folgenden geht es mir nicht darum, diese beiden Verständnisse zu verwerfen. Dennoch möchte ich dafür argumentieren, dass der Text noch etwas anderes, wichtiges über diese beiden Aspekte des Begriffs der Sichtbarkeit lehren kann: ihre Abhängigkeit voneinander. Es ist nicht so, dass das bloße Sehen die ethische Erkenntnis notwendig gleichsam mechanisch auslöst. Jedoch geht es darum, dass sie nicht so ge108 Walker 1989: 172. 109 Diamond 2003: 49f. Coetzee/Gutmann 1999. 110 Diamond 2003. Moi 2011/2017. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität trennt sind, wie teilweise angenommen wird, denn es gibt visuelle Wahrnehmungen die zugleich die Form einer ethischen-moralischen Erfahrung haben. Was geschieht im ersten Teil des Textes, das den ersten Begriff des Sehens (Augenzeugenschaft oder bloße Sichtbarkeit) mit dem zweiten Begriff der Sichtbarkeit (moralische Sicht auf das Individuum) verbindet? Walker beschreibt die Gestalt des Huhns (»She was small and gray, flecked with black.«/»She had a healthy red comb.«), die Art ihrer Bewegung (»Her steps were neat and quick and authoritative«) und ihre Handlungen in nicht-generischer Weise. Sie sieht diese als konkrete Ausdrücke von Subjektivität. Für die Art von Sichtbarkeit, die der Text präsentiert, sind elementare Aspekte der Singularität, wie bereits angedeutet, konstitutiv: Dieses Huhn ist ein bestimmtes, unauswechselbares Huhn. Darüber hinaus fokussiert Walker auf sichtbare Merkmale des Huhns, die so fungieren, dass sie unmittelbar etwas moralisch Relevantes erkennbar machen. So bezieht sich die Beschreibung der Augen (»She had quick, light-brown eyes«) nicht allein auf das Sehorgan des Tiers. Diese als geschwind beschriebenen Augen sind Teil eines Gesichts und zeigen die Subjektivität des Huhns unmittelbar an.111 Walker beschreibt das Verhalten des Huhns als intentionales Handeln. Die Henne befindet sich in einer Situation: »though she never touched her chicks, it was obvious she was shepherding them along. She clucked impatiently when, our feet falling ever nearer, one of them, especially self-absorbed and perhaps hard-headed, ceased to respond.« Die Erzählerin ist sich bewusst, dass sich ihre eigenen Schritte – der Weg ihrer Familie ins eigene Zuhause – in derselben Sphäre abspielen wie die Schritte des Huhns112 und dass diese Schritte vom Huhn als potenzielle Bedrohung wahrgenommen werden. Sie nimmt sich in Relation zu dem Huhn wahr, das sich um seinen Nachwuchs sorgt. All diese Momente der Sichtbarkeit weisen Aspekte der physischen Sichtbarkeit und der Sichtbarkeit als Anerkennung auf. Es geht im Text um den Akt des Sehens in einem 111 112 Vgl. hierzu die Theorien direkter Wahrnehmung: Krueger 2018: 301f. Gallagher 2008. Overgaard/Krueger 2013. In der kontinentalphilosophischen Tradition entwickelte prominent Emmanuel Lévinas (1985: 95; 119) die Bedeutung der Sichtbarkeit und des Gesichts der anderen. Infolge Lévinas, der auf das menschliche Gesicht fokussierte, wurde auch das Gesicht des Tiers berücksichtigt. Atterton 2011. Vgl. Acampora 2005/2006, insb. Kapitel 2: Tiere und Menschen sind nicht gleich, teilen aber Eigenschaften wie ihre Verkörperung. Wir empfinden auf dieser Basis keine hermetisch abgeriegelten Sphären, wenn wir Räume wie einen Park mit anderen Tieren teilen. Acampora nennt dies auch »interspecies conviviality« und bezeichnet diese als integrale Dimension unseres Daseins. 113 114 Das Tier im Bild umfassenden Sinn, d.h., die Verbindung zweier Aspekte des Sehens steht auf dem Spiel: Es geht um den Akt des Sehens, der verweilenden visuellen Wahrnehmung. Die beiden Aspekte lassen sich nicht klar trennen; es handelt sich nicht um eine einfache Addition. Sie lassen sich in systematischer Sicht unterscheiden, jedoch hängen sie zusammen und bedingen sich gegenseitig. Wir brauchen einen genaueren Begriff davon, worum es hier geht. Ein solcher genauerer Begriff soll im Folgenden mithilfe eines Konzeptes der moralischen Wahrnehmung angegangen werden. Es lässt sich festhalten: Für beide Aspekte der Sichtbarkeit ist es zentral, dass das Huhn sowohl im visuellen Feld wahrgenommen wird, als auch, dass diese Wahrnehmung eine moralische Wahrnehmung ist, denn sie macht die Besonderheit des Huhns präsent. Ich verstehe dies als die Doppeldeutigkeit der Sichtbarkeit: Sie bezieht sich sowohl auf das physische Sehen mit den eigenen Augen wie auf das Sehen im Sinne des Sehens von Singularität, d.h. das je nach Kontext verschiedene Gewahrwerden der Subjektivität und der Relation, in der wir zu dem Tier stehen. Ich möchte die Singularität der Tiere und ihre vier Kriterien als einen wichtigen Referenzpunkt für die Sichtbarkeit im Sinne der Anerkennung verstehen. Es handelt sich um ein moralisch relevantes Sehen oder moralisches Sehen. Außerdem ist es wichtig, dass das Sehen der Singularität nicht ausschließt, dass wir auch generische oder strukturelle Wahrnehmungen haben. Gerade aus der Spannung, dass wir ein konkretes Individuum auch als Typus sehen können, ergibt sich das normative Potenzial, wie noch zu zeigen ist. 2.2.3 Bloße Sichtbarkeit und Sichtbarkeit als Anerkennung Der Begriff der Sichtbarkeit umfasst sowohl die physische Sichtbarkeit als auch die ethisch-moralische Anerkennung eines Subjekts.113 In Anknüpfung an Axel Honneth unterscheide ich zwischen dem visuellen Erkennen eines Individuums (physische Sichtbarkeit oder Sichtbarkeit) und dem Anerkennen des Individuums als Quelle legitimer Ansprüche (bei Honneth: Anerkennung; im Weiteren: ethisch-moralische Sichtbarkeit oder Sichtbarkeit). Im folgenden Kapitel geht es darum aufzuzeigen, inwiefern singuläre Tiere gemäß beider Bedeutungen sichtbar gemacht werden können, insbesondere bildvermittelt. 113 Honneth 2003: 10f. Dies entspricht der Unterscheidung bei Alter 1996: 111f., in »vision« (»sight as a physical operation«) und »visibility« (»sight as a social fact«). Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität Ausgehend von Honneths Theorie der Unsichtbarkeit lassen sich zwei Bedeutungen von Sichtbarkeit einführen, die im vorliegenden Zusammenhang relevant sein wird. Physisch sichtbar ist, was im visuellen Feld wahrgenommen wird. Im Folgenden werde ich die physische Sichtbarkeit als Sichtbarkeita kennzeichnen. Die ethisch-politische Sichtbarkeit bezieht sich darüber hinaus auf das anerkennende Wahrnehmen von Individuen als sozial, ethisch und politisch relevante Subjekte.114 Tritt ein Subjekt in den Raum, kann ich es als Individuum identifizieren (physische Sichtbarkeit). Nur wenn ich darüber hinaus seiner Präsenz Aufmerksamkeit schenke und ihm gegenüber offen und empathisch eingestellt bin, ist es auch im Sinne der sozialen Sichtbarkeit präsent (ethisch-politische Sichtbarkeit). Sichtbarkeit im zweiten Sinne ist von der Befürwortung oder Anerkennung dieser*s anderen gekennzeichnet und soll im Folgenden mit Sichtbarkeitb gekennzeichnet werden.115 Der entscheidende Moment für die soziale Identität und Anerkennung einer Person liegt nach Honneth in diesem zweiten Schritt. Soziale Exklusion geschieht gerade dadurch, dass Personen zwar körperlich anwesend sind, aber von den anderen in ihrer Identität, ihren Eigenheiten und Bedürfnissen ignoriert werden. Das Beispiel, auf das sich Honneth und andere beziehen, um die Gegenfigur zur physischen und sozialen Sichtbarkeit zu zeichnen, stammt aus Ralph Ellisons Roman Invisible Man116 : I am a man of substance, of flesh and bone, fiber and liquids – and I might even be said to possess a mind. I am invisible, understand, simply because people refuse to see me […]. When they approach me they see only my surroundings, themselves, or figments of their imagination – indeed anything except me.117 Der ›unsichtbare Mann‹, der über den Roman hinweg namenlos bleibt, wird als Person of Color übersehen; andere sehen gleichsam durch ihn hindurch. Ohne eine direkte Analogie zwischen der Wahrnehmung von marginalisierten Personen und marginalisierten Tieren herstellen zu wollen,118 gehe ich davon aus, dass sich zentrale Mechanismen ähneln. Sichtbarkeit bedeutet, dass physische Eigenschaften sichtbar sind, z.B. sehe ich, dass eine Person mich an114 115 116 117 118 Honneth 2003 : 15. Ebd. Ebd. : 10. Clarke 2012 : 235. Ellison 1995 : 3. Zur Problematisierung der direkten Analogie vgl.: Kim 2018: 15 – 32. Ko/Ko 2017. 115 116 Das Tier im Bild lächelt. Damit diese auch als für das soziale, ethische und politische Handeln relevant erscheinen, muss ich sie als soziale oder ethische Eigenschaft verstehen (z.B. ist sie kontaktbereit). Ohne diesen elementaren Schritt kann keine soziale, ethische und politische Anerkennung des Einzelnen stattfinden. Ähnliches gilt für das Sehen der Tiere. Was ich im Folgenden weiter entwickeln möchte, ist die These, dass die physische Sichtbarkeita und die ethisch-moralische Sichtbarkeitb für die meisten Anerkennungsprozesse von Tieren konstitutiv sind. Die physische Sichtbarkeit stellt nicht eine beiläufige Bedeutung von Sichtbarkeit im zweiten Sinne dar, sondern kann diese in vielen Fällen erklären. Hierzu möchte ich drei Beispiele geben. Die ersten beiden sind dem Dokumentarfilm Gunda (NOR/ USA 2020 R: Kossakovsky) entnommen. Zwei Filmstills sollen an dieser Stelle exemplifizieren, wie Sehgewohnheiten durch unkonventionelle Aufnahmen infrage gestellt werden. (1) Zu sehen, wie ausgelassen Kühe über die Weide rennen, gibt uns die Möglichkeit, ihr Bedürfnis nach Bewegungsfreiheit und Spiel zu erkennen und anzuerkennen (vgl. Abb. 3).119 Abb. 3: Filmstill aus Gunda (NOR/USA 2020 R: Kossakovsky). 119 Vgl. zur eindrücklichen Veranschaulichung auch die Drohnen-Aufnahmen in 73 Cows (GB 2018, R: Alex Lockwood). Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität Abb. 4: Filmstill aus Gunda (NOR/USA 2020 R: Kossakovsky). (2) Zu sehen, wie vital sich das einbeinige Huhn bewegt, kann das Verständnis bedingen, dass es trotz körperlicher Einschränkung ein Leben führt, das wir schützen sollten (vgl. Abb. 4).120 (3) Eine Fotodokumentation über Schweine zu betrachten, die durch menschliche Hand leiden, kann uns die Ungerechtigkeit der Tierindustrien aufzeigen. Zwar ist es für die soziale Anerkennung essenziell, dass wir diese Sichtbarkeit, wie oben beschrieben, im Lichte unseres moralischen Handelns begreifen und dies geschieht nicht automatisch. Dennoch ermöglicht es die verkörperte Anwesenheit von konkreten Subjekten, Eigenschaften eines anderen als ethisch und sozial wichtige Eigenschaften zu begreifen. Wie eine Gesellschaft aussehen sollte, die den Eigenheiten und Bedürfnissen von nichtmenschlichen Tieren gerecht werden kann, können wir nur verstehen, wenn wir möglichst viele von ihnen aufmerksam beobachtet haben, das Wissen zusammentragen und in konkreten Fällen und Kontexten ihre Singularität beachten. Sichtbarkeita + b ist insofern konstitutiv für dasjenige, was ich bereits als relationale Perspektive auf Tieren behandelt habe. Entsprechend gehe ich im Folgenden davon aus, dass bestimmte, noch näher zu definierende Bilder Sichtbarkeita+b von Tieren herstellen, wenn die Tiere physisch, d.h. im visuellen Feld als konkrete Individuen und in ethisch-politischer Hinsicht, sichtbar werden. In meinen obigen Beispielen – Kuh, Huhn und Schwein – handelte es sich jeweils um solche, 120 Vgl. das Huhn in Gunda (NOR/USA 2020, R: Kossakovsky). 117 118 Das Tier im Bild die wir vermittels von Fotografien erleben können. Der Unterschied zwischen diesen und gemalten oder beschriebenen Begegnungen ist, dass jene eine besondere Unmittelbarkeit zu unauswechselbaren Einzeltieren herstellen. Wir können es nicht glauben, dass dieses Schwein, mit dem wir mitfühlen, das Angst hat, getötet werden soll. Dieses Huhn – und kein anderes – zeigt uns direkt, wie agil und neugierig es ist. 2.2.4 Moralische Wahrnehmung Nachdem ich die Unterschiede und Zusammenhänge zwischen Sehen als Anerkennung und bloß physischem Sehen eingeführt habe, möchte ich in einem zweiten Schritt näher auf die moralische Bedeutung der sichtbaren Singularität innerhalb eines relationalen Ansatzes eingehen, d.h., die Idee der Anerkennung in einer ethischen Auffassung der Wahrnehmung verorten. Die Grundannahme lautet, dass das Sehen nicht passiv ist, sondern auch zum Bereich unseres Handelns gehört, der ethisch relevant ist. Wir können z.B. unsere Blicke steuern und mehr oder weniger aufmerksam sein. Wir können das Sehen kultivieren. Und Blicke können ein Machtinstrument sein, wenn wir andere bewusst an- oder übersehen.121 Meist erleben wir das Schauen als so alltäglich, dass solche Aspekte kaum auffallen. Doch gerade die Alltäglichkeit sollte dafür sprechen, die Rolle des Schauens für das Zusammenleben mit anderen stärker zu berücksichtigen.122 Der Zusammenhang von Sehen und Moral wird in Theorien der moralischen Wahrnehmung eigens behandelt.123 Ich halte solche Theorien für eine wichtige Ressource der Animal Studies.124 Mithilfe des Fokus auf die Weise, in der wir Tiere ansehen und konzeptualisieren, bewegen wir uns hin zu den grundlegenden Bedingungen für bessere Mensch-Tier-Beziehungen. Ich möchte die Theorie von Murdoch im Folgenden in Umrissen darstellen und sie anschließend um eine Analyse der Bedeutung des moralischen Sehens von Tieren erweitern. Vielfach wurde 121 Vgl. Duerr 1988. Pachirat stellt diese Zusammenhänge nach Michel Foucault und Norbert Elias dar, vlg. Pachirat 2018: 9 – 13. 122 Laugier 2012: 1007. 123 Vgl. Murdoch 1956/1993/1999. McNaughton 1988. Blum 1994. Jacobson 2005. Prinz 2006. Döring 2007. Audi 2013. 124 Murdoch 1999 und Frye 1983 werden in Aaltola 2018, Acampora 2006, Clarke 2012 und Gruen 2015 zum Ausgangspunkt ethischer Überlegungen. Clarke (2012) schlägt vor, Fryes Ansatz für eine vollständige kritische Theorie der moralischen Wahrnehmung zu nutzen. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität gesagt, dass es sich bei den relationalen Ansätzen, zu denen auch Murdochs Theorie der Wahrnehmung gehört, um ein Modell handelt, das kein eigenes kritisches Potenzial habe: Demnach können wir nicht aus der egozentrischen Wahrnehmung bzw. dem moralischen Status quo heraustreten. Ähnliches wurde auch in Hinblick auf die emotionalen und empathischen Modelle gesagt.125 Diese Einwände sollen im Folgenden mitbedacht und unter 2.3. eingehender behandelt und zurückgewiesen werden. Übereinstimmung in wesentlichen Punkten besteht zwischen der von mir beschriebenen Singularitätsperspektive und der ästhetischen Theorie Iris Murdochs. Murdoch argumentiert, dass das adäquate, aufmerksame und auf den anderen gerichtete Sehen zentral für das moralische Leben ist. Die Lebensrealität des*der anderen stellt die Ansprüche an die adäquate Wahrnehmung.126 Ein unhinterfragter Blick droht nach Murdoch alles durch die Linse der eigenen Erwartungen und Wünsche zu sehen und andere entsprechend in ihrer Unauswechselbarkeit zu verkennen. Statt ausschließlich unsere eignen Handlungen zu reflektieren, muss daher das Ziel sein, unsere alltäglichen Wahrnehmungen zu berücksichtigen und zu bessern.127 Murdochs Theorien stehen nicht für sich und bis heute sprechen Studien der Psychologie und Verhaltensforschung dafür, dass unsere Wahrnehmung eng mit unserem ethisch-moralischen Verhalten verbunden sind und dieses bedingen.128 Im Folgenden geht es mir darum, die Theorie Murdochs in denjenigen Aspekten vorzustellen, die für das Sehen der Tiere als andere bzw. Singuläre wichtig sind. Anschließend arbeite ich heraus, wie Menschen ihre Wahrnehmungen von Tieren bessern können, und mache dann einen Vorschlag, wie sich 125 126 127 128 Prinz 2011: 221 – 228. Murdoch 1999: 312 – 318. Murdoch führt an dieser Stelle das bekannte Beispiel der Frau M an, die ihre Schwiegertochter S zunächst abwertend betrachtet. M ist der Überzeugung, dass ihr Sohn »unter seinen Möglichkeiten« geheiratet hat. Im Laufe der Zeit sieht sie S im Wortsinn anders und bewertet das Verhalten und Auftreten von S nach und nach von deren Standpunkt aus. Das ist nach Murdoch ein Beispiel für die reflexiven Möglichkeiten der moralischen Wahrnehmung. Den Aufsatz veröffentlichte Murdoch erstmals 1964 unter dem Titel The Idea of Perfection. Murdoch 1999: 380. Murdoch (1956: 39) fasst zusammen: »When we apprehend other people we do not consider only their solutions to specifiable practical problems, we consider something elusive which may be called their total vision shown in their mode of speech or silence, their words, their assessments of others, their conception of own lives, what they think attractive or praise-worthy, they think funny: in short, the configurations of thought.« Gantman/Bavel 2015 und die Gegendarstellung Firestone/Scholl 2016. 119 120 Das Tier im Bild durch einen relationalen Ansatz konkret an der Besserung der Mensch-TierBeziehungen arbeiten lässt. Murdoch stellt fest, dass wir Aufmerksamkeit kultivieren müssen, damit unsere eher sinnliche Wahrnehmung zu einer moralischen Wahrnehmung wird. Die Ansprüche an diese Wahrnehmung sind zweierlei: Adäquatheit und ein fürsorglicher bzw. liebender Blick (loving gaze).129 Erstens ist es wichtig, adäquat zu sehen. Ich soll sehen können, was der Fall ist beziehungsweise wie eine Person wirklich ist. Murdoch umschreibt die moralische Wahrnehmung als »refined and honest perception of what really is the case«.130 Die Notwendigkeit, sich aktiv darum zu bemühen, hängt für Murdoch mit der Fehlbarkeit der Wahrnehmung zusammen. Mangelnde Aufmerksamkeit oder die Tendenz zu einer egozentrischen Deutung aller Wahrnehmungen stehen der moralischen Wahrnehmung im Weg.131 Dies scheint auch für die Wahrnehmung von singulären Tieren besonders relevant zu sein. Ich kann die Salienz einer Situation für ein Tier nicht sehen, wenn ich nicht versuche, sie von ihrer Warte aus zu sehen. Worauf bezieht sich die Adäquatheit der Wahrnehmung? Bei Murdoch ist es entscheidend, dass es um die unabhängige Realität des*der anderen geht. Dieser Gedanke korrespondiert besonders gut mit der Vorstellung, dass wir ein Tier und seine Wahrnehmungen einer Situation mitverstehen müssen, wenn wir eine Situation adäquat sehen wollen. In Kapitel 1 hatte ich bereits die Unterscheidung zwischen dem Sehen einer Situation und der Anthropomorphisierung eingeführt. Ich halte diesen Fokus auf den*die andere*n für entscheidend und werde das Verhältnis zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Subjekt im Folgenden aufgreifen. Es entspricht zum Beispiel der Idee, dass wir für eine relationale Ethik die Fähigkeit eines mehr oder weniger transparenten Selbst brauchen. Diese Formulierung soll bedeuten, dass wir einen anderen und seine Bedürfnisse wahrnehmen können, ohne dass sich die eigenen Bedürfnisse stets vorschieben. Beim transparenten Selbst handelt es sich nicht, wie man denken könnte, um eine stabile Charaktereigenschaft. Wir können diese Selbsttransparenz zwar trainieren und 129 Murdoch 1999: 327. 130 Ebd.: 330. 131 Ebd.: 342 – 343. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität kultivieren, jedoch ist es hinreichend, wenn wir grundsätzlich unser Selbst zurückstellen bzw. kritisch betrachten.132 Von Murdochs Verständnis der moralischen Wahrnehmung kann der Begriff der Singularität und die Frage, was es beutetet, sie zu sehen, profitieren. Ich möchte dafür argumentieren, dass sich die Wahrnehmung der tierlichen Singularität als eine Form der moralischen Wahrnehmung von einzelnen Tieren beschreiben lässt. Adäquatheit und Fokus auf das Individuum sind zwei wichtige Ansprüche an die Singularitätswahrnehmung. Anders als bei Murdoch möchte ich aber das, was sie die »unabhängige Realität« oder das »Gute des Anderen« nennt, anders verstehen, da dies bei Murdoch eine anthropozentrische Deutung erfährt. Wir sollten uns zuerst fragen, was Murdoch genau mit der Adäquatheit gemeint hat. Dabei wird ersichtlich, dass diese mit Murdochs Theorie des Guten zu tun hat. Es gibt für Murdoch eine unabhängige Realität der andern. Ich gehe davon aus, dass wir diesen Begriff anpassen müssen. Auf diesem Weg kommt der flexible fürsorgliche Blick ins Spiel. Dieser besteht darin, dass ich sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten zwischen mir als Subjekt und des*der anderen als Subjekt zu erkennen versuche. Für Murdoch ging es um die unabhängige Realität der anderen. Wir müssen uns nun fragen, ob dasselbe tatsächlich so auch für Tiere gelten kann, wie sie es für Personen notiert hat. Weiter stellt sich die Herausforderung, dass die Verdinglichung von Tieren so weit vorangeschritten ist, dass sie als moralischer Status quo unsere Wahrnehmungen mitprägt. Es wird moralisch gerechtfertigt, dass bestimmte Tiere instrumentell betrachtet werden können und sollen. Es scheint also wie auch bei marginalisierten Subjekten der Fall zu sein, dass eine besondere Problematik darin besteht, die konkrete Individualität des*der anderen unter den gegebenen sozialen und psychologischen Bedingungen zu sehen: zu sehen, wie er*sie wirklich ist. Der zentrale, damit verbundene Einwand lautet: Fürsorgendes Schauen scheitert letztlich an dem moralischen Status quo der Tiere. Denn die Wahrnehmung von konkreten einzelnen Tieren wird besonders dadurch erschwert, dass die kulturellen Muster sie in der Wahrnehmung vielmehr als Typen oder reine Repräsentanten bzw. Objekte je schon vorgeprägt haben. In den Animal 132 Kittay 2020. Card (1990) hat auf das Problem hingewiesen, dass sich unter diesen Bedingungen übertriebene Aufopferung und Missbrauch einstellen können. Das absolute Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse ist explizit nicht das Ziel. Vgl. dazu Frye 1983. 121 122 Das Tier im Bild Studies wurde dies vor allem als Normalisierung beschrieben: Menschen sehen keine Spannung zwischen der Instrumentalisierung von Tieren und ihrer persönlichen Beziehung zu ihnen, wie sich z.B. in Streichelzoos oder auf Show-Farmen eindrücklich zeigt.133 Instrumentalisierung bedeutet die Reduktion eines anderen Subjekts auf eine bestimmte Funktion, die nicht ihm selbst festgelegt wird. In Gesellschaften, in denen Tiere größtenteils rechtlich als Eigentum gelten, in denen die Zerstörung des Lebensraums von Tieren einen Kollateralschaden darstellt, die ökonomische Ausbeutung so weit fortgeschritten ist, dass sie die Individualität von Tieren strukturell außer acht lässt, und zahlreiche Haustiere Gewalt erfahren, reicht es nicht, dass wir bei richtiger Aufmerksamkeit Gründe zum guten Handeln angeben. Wenn der Status quo der Beziehungen in einem so schlechten Zustand ist, dann scheint es aussichtslos, sich auf Empathie und fürsorgende Wahrnehmung zu beziehen. Ich werde vorschlagen, dass wir ein anderes Verständnis von Empathie und fürsorgendem Schauen benötigen, eines, in dem dieser triftige Einwand aufgegriffen wird und der es auch schafft, kritisch mit den eigenen Wahrnehmungen umzugehen.134 Andernfalls würde Steiner recht behalten: Es hinge ausschließlich von den Wahrnehmungen vereinzelter Menschen ab. Angesichts dieser Ausgangslage, so möchte ich vorschlagen, benötigen wir ein fürsorgendes Schauen und eine Praxis der Empathie, die sich als Prozess verstehen lassen. In der Tierethik wurde dies bereits vorgeschlagen.135 Lori Gruen beschreibt die fürsorgende Wahrnehmung bzw. relationale Empathie als Prozess, in den sowohl geschärfte Wahrnehmung als auch kritische Reflexion eingebunden werden, um zu einem möglichst adäquaten und holistischen Bild zu gelangen. Ausgehend von diesem Verständnis möchte ich im Folgenden näher dem Einwand nachgehen, dass wahrnehmungsgebundene Ansätze angesichts des aktuellen Status quo scheitern müssen. 133 134 135 Vgl. Pachirat 2018 : 344f. Vgl. Clarke 2012. Gruen 2015. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität 2.3 Schnittstellen: Fürsorge und Wahrnehmung 2.3.1 Die visuelle Wahrnehmung kultivieren Das kritische Potenzial der moralischen Wahrnehmung gilt als umstritten. Das gilt auch für die inhärente Singularitätsperspektive. Mitunter wurde dieses Problem so identifiziert, dass die Sichtbarkeit von Bedürfnissen gegenüber denjenigen stärker ist, mit denen wir bereits in Beziehung stehen; dass bestehende emotionale Dispositionen daher nur verstetigt statt kritisiert werden und davon abhängen, wie wir sozialisiert wurden; dass es sich schlussendlich um einen unkritischen Modus handelt, der den moralischen Status quo schützt, weniger um eine Ethik als einen Ethos.136 Bridget Clarke hat das als »Vorwurf des unkritischen Konservatismus« bezeichnet.137 Wir müssen diesen Einwand in Hinblick auf Tiere besonders ernst nehmen. Denn die aktuellen Mensch-Tier-Verhältnisse legen es nahe, zwar aufmerksam für die Perspektive einiger Tiere zu sein, andere Tiere jedoch als Objekte zu betrachten.138 Viele Menschen sind offen dafür, niedliche Tiere als singulär zu betrachten, andere jedoch als Nutzobjekt oder Plage. Wieder andere komplett zu übersehen, wie zum Beispiel Insekten oder Fische. Die feministische Studie von Carol Adams zeigt unter anderem auf, wie in der visuellen Kultur die Subjektivität von Tieren systematisch geleugnet wird.139 Im Modus der moralischen Wahrnehmung muss es möglich sein, sich kritisch gegenüber bestehenden Normen der Wahrnehmung zu verhalten. Nur unter dieser Bedingung kann Wahrnehmung tatsächlich normativ bedeutsam sein, nämlich als reflektierte und kritische Wahrnehmung gegenüber dem Status quo. Es ist also wichtig aufzuzeigen, wie dies in Hinblick auf Tiere möglich ist, ohne sich wiederum primär auf Prinzipien zu beziehen.140 Das Ziel des folgenden Abschnitts ist daher, das kritische Potenzial der Wahrnehmung von tierlicher Singularität herauszuarbeiten. Die zentrale Frage lautet: Wie können wir aus dem moralischen bzw. sozialen Status quo heraustreten, wenn er ungerechte Verhältnisse normalisiert hat? Es ist mittlerweile gut untersucht, 136 137 138 139 140 Vgl. die Kritik z.B. bei Prinz 2011. Clarke 2012. Clarke 2012: 228. Vgl. Sebastian 2019. Stewart/Cole 2009. Vgl. Adams 2010. Clarke 2012: 227. 123 124 Das Tier im Bild dass die Wahrnehmung von Tieren und der Grad der Empathie gegenüber verschiedenen Tierarten auch von der Sozialisierung in der Kindheit und kulturellen Praktiken abhängt. Wir lernen, Haustiere als potenzielle Gefährten anzusehen, Nutztiere als legitime Ressourcen mit einer eingeschränkten Fähigkeit zum Kontakt mit Menschen.141 Ich möchte argumentieren, dass ein Konzept der moralischen Wahrnehmung möglich ist, das solche Prädispositionen kritisch miteinbezieht. Gruen kann nämlich nur Recht gegeben werden, wenn sie schreibt, dass wir uns bewusst machen müssen, dass wir bereits in Beziehungen zu Tieren stehen – und zwar größtenteils in problematischen oder schlechten Beziehungen.142 Die wichtige Frage ist, ob es der relationalen Ethik möglich ist, gegen diesen Standard der korrumpierten Beziehungen vorzugehen und auf welche Weise sie das tun kann. Wie können wir hier heraustreten, ohne uns primär auf Prinzipien zu beziehen? Mein konkreter Vorschlag besteht darin, dass wir die Wahrnehmung von Singularität als eine emotionale und kognitive Fähigkeit verstehen können, die sich kultivieren, verbessern und ausweiten lässt. Diese Flexibilität ist wichtig, weil die geschulte Wahrnehmung es ermöglicht, unsere Beziehungen zu Tieren wahrzunehmen sowie Ansprüche, die sich in bestimmten Situationen und Kontexten an uns stellen. Moralische Sichtbarkeit schließt in meinem Ansatz keine gegen die bestehenden Verhältnisse gerichtete kritische Haltung aus. Genauer gesagt: Die Sichtbarkeit der singulären Tiere lässt sich auf diese Weise verstehen, wenn wir sie (i.) bewusst als empathische Wahrnehmung verstehen und (ii.) die empathische Wahrnehmung nicht ausschließlich von einer Sensibilität für bestehende soziale und politische Verhältnisse her konzipieren. Der Ansatz, um den es mir hier geht, steht ausdrücklich in einer Analogie oder Nähe zur Wahrnehmung anderer marginalisierter Subjekte. Clarkes Theorie geht von der Unsichtbarkeit von People of Color aus.143 Frye ging es vor allem um den Sexismus.144 Häufig wurde davon gesprochen, dass die analoge Kategorie bei Tieren – die ungerechte Andersbehandlung von Mitgliedern einer anderen Spezies allein aufgrund des Speziesunterschieds – als Speziesismus zu bezeichnen ist. Ich verstehe diesen Begriff als ein heuristisches Instrument mit wichtigen diskursiven Funktionen. Für die folgenden Argumentation ist das Konzept des Speziesismus jedoch zu breit und verallgemeinernd. 141 142 143 144 Vgl. Stewart/Cole 2009. Clarke 2012. Gruen 2015: 2. Clarke 2012: 235f. Frye 1983/1992. Card 1986: 149. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität Es ist hier sinnvoll, sich stattdessen auf spezifischere Muster wie z.B. auf die Verdinglichung zu beziehen, die sowohl gegenüber Personen als auch tierlichen Subjekten problematisch ist. Nicht selten werden Menschen und Tiere gemeinsam bzw. durch miteinander zusammenhängende soziale und politische Mechanismen verdinglicht. Die spezifischen Besonderheiten sind nicht kategorischer Natur; es ist nicht etwas grundlegend anderes, ob ich ein Tier oder einen Menschen verdingliche. Es handelt sich eher um graduelle Unterschiede. Wir müssen uns je fragen, inwiefern die Verdinglichung als Muster nicht nur die Individuen verletzt, sondern die gesamte Gruppe, und welche Weisen die Empathie bietet, der Verdinglichung entgegenzusteuern. 2.3.2 Empathie und fürsorgliche Wahrnehmung Ich schlage also vor, dass der Wert der Singularitätsperspektive in der Fähigkeit zur Empathie verankert ist und sich hier eine deutliche Schnittstelle zwischen Ethik und Ästhetik zeigt. Abschließend werde ich eine Form der Empathie näher bestimmen – die fürsorgliche Wahrnehmung – und die Relevanz derselben gegen Einwände verteidigen, nach denen wir Empathie als moralische Wahrnehmung kritisch betrachten sollten. Beim Begriff der fürsorglichen Wahrnehmung handelt es sich um eine Übersetzung von Gruens Ausdruck »caring perception«.145 Meine These lautet, dass der Begriff bestens dafür geeignet ist, den Zusammenhang zwischen dem Fokus auf tierliche Singularität und einer ethisch relevanten Form der Empathie zu kennzeichnen und weiter zu erforschen. Tiere als singuläre wahrzunehmen, ist ohne unsere Fähigkeit zur fürsorglichen Wahrnehmung nicht begreiflich. Sie ist eine geeignete Erklärung dafür, warum uns der Kontakt mit einem konkreten Tiers Anlass zum Handeln für dieses Tier und für andere Tiere unter vergleichbaren Umständen geben kann. Zunächst handelt es sich bei den beiden Thesen, dass wir Empathie als eine Form der fürsorglichen Wahrnehmung verstehen können und dass es sich hierbei um eine Form der moralischen Wahrnehmung handelt, um eine Intuition: Einen konkreten anderen empathisch zu anzusehen, erscheint uns ethisch wertvoll. Diese Intuition gilt in Bezug auf menschliche wie auch nichtmenschliche Tiere, wie ich in den vorherigen Kapiteln bereits aufgezeigt habe. Immer wieder wurde diese Intuition jedoch in Zweifel gezogen und argumentiert, 145 Gruen 2015: 24. 125 126 Das Tier im Bild dass Empathie aus ethischer Sicht problematisch sei. Bevor wir das zweite Kapitel schließen, in dem es um die Schnittstellen der ethischen und ästhetischen Bedeutung der Singularitätsperspektive geht, werde ich mich mit dieser Kritik an der Empathie auseinandersetzen. Der zentrale Einwand lautet, dass die Fähigkeit der Empathie fehleranfällig sei und, wie oben skizziert, den Status quo erhalte. Ein starker Vertreter der Kritik an der Empathie ist der Philosoph Jesse Prinz. Prinz geht davon aus, dass wir Empathie nicht benötigen, um moralisches Verhalten und moralische Motivation zu erklären (deskriptive Untauglichkeit). Darüber hinaus sollten wir unser Handeln auch nicht an der Empathie orientieren, weil sie mit zahlreichen Mängeln besetzt ist (normative Untauglichkeit). Bei Prinz im Besonderen und in der Debatte um die Empathie im Allgemeinen werden zwei Aspekte häufig übersehen: die Prozesshaftigkeit und die Kultivierbarkeit der empathischen Wahrnehmung. Mein Ziel ist, entgegen der von Prinz vertretenen Position, die empathische Wahrnehmung und insbesondere die fürsorgende Wahrnehmung als Prozesse verständlich zu machen, an denen verschiedene Formen der Empathie beteiligt sind, und zu argumentieren, dass ein höher entwickeltes Konzept von Empathie als ein Konzept angesehen werden sollte, das Aufmerksamkeit und relationale Aspekte der Wahrnehmung einschließt. Grundlegend für meine Argumentation ist der Diskurs um die Varianten der Empathie. Die Unterschiede in den Fähigkeiten, die weithin unter das Etikett Empathie fallen, sind weitreichend: So ist es etwas anderes, ob ich mir vorstelle, in der Situation einer*s anderen zu sein (projektive Empathie), als zu fühlen, wie es ist, in dieser Situation zu sein (simulative Empathie), ob ich mich mit meinem eigenen Horizont in die Situation hineinversetze oder mich dem annähere, was es für die andere Person bedeutet (Einfühlung).146 Eine wichtige Perspektive auf die verschiedenen Formen der Empathie scheint mir zu sein, dass sie nicht starr voneinander abzugrenzen sind. Empathie ist als Prozess zu verstehen.147 Damit zur Kritik an der Empathie als Schnittstelle zwischen Ethik und Ästhetik. Einige neuere Veröffentlichungen wie die Arbeiten von Prinz oder The Dark Side of Empathy von Fritz Breithaupt weisen auf Mängel des Begriffs Empathie im Bereich der Ethik hin. Prinz bietet in seinem Aufsatz Is Empathy Necessary for Morality eine Liste an, warum dies so ist. Für Empathie gilt demnach: 146 Gruen 2015: 81f. 147 Ebd. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) Empathie ist nicht sehr motivierend, kann zu einer Vorzugsbehandlung führen, unterliegt Vorurteilen einschließlich Niedlichkeitseffekten, ist leicht zu manipulieren, ist hochselektiv, ist anfällig für gruppeninterne Vorurteile, unterliegt Proximitätseffekten, unterliegt Salienzeffekten.148 Nach Prinz ist diese menschliche Fähigkeit daher sogar hinderlich für die Ziele des moralischen Lebens.149 Damit meint er zum Beispiel gerechte bzw. unparteiische Urteilsfindung. Gegen diese Zweifel an der Empathie werde ich im Folgenden mit einem partikularistischen Modell der fürsorglichen Wahrnehmung nach Gruen argumentieren. Während Empathie in dem engen Sinne, in dem Prinz sie versteht, tatsächlich versagt, verändert ein Verständnis von Empathie, das eine fürsorgliche Wahrnehmung beinhaltet, das Bild. Wie bereits erwähnt, stehen zahlreiche Definitionen von Empathie im Raum.150 Vor diesem Hintergrund möchte Prinz sein eigenes Konzept genauer bestimmen. Die Empathie beschränkt sich seiner Ansicht nach auf einige Kernstrukturen und kann so von anderen Phänomenen unterschieden werden, z.B. von der Sorge (concern) und vom Mitleid (sympathy). Prinz verteidigt eine moralisch-sentimentalistische Sichtweise, d.h., Emotionen übernehmen seines Erachtens zentrale Funktionen in der Ethik. Die empathischen Emotionen möchte er jedoch explizit davon ausnehmen. Prinz glaubt, es handle sich um eine Art stellvertretende Emotion: »it’s feeling what one takes another person to be feeling. And ›taking‹ here can be a matter of automatic contagion or the result of a complicated exercise of the imagination.«151 In der Regel führe uns das jedoch nicht dazu, moralisch gute Entscheidungen zu treffen und gut zu handeln. Zu Prinz’ Definition gehört etwas, das er als die Quellen der emotionalen Mimikry betrachtet: verkörperte Emotionen oder Situationen, von denen angenommen wird, dass sie bestimmte Emotionen oder Dispositionen für Emotionen hervorrufen.152 Bei genauerer Betrachtung 148 149 150 151 152 Prinz 2011: 225 – 227. Ebd.: 211. Ebd. Ebd.: 212. Ebd. 127 128 Das Tier im Bild wird deutlich, dass Prinz jede Komponententheorie der Empathie ablehnt. Dementsprechend vertritt Prinz die Ansicht, dass Theoretiker wie Daniel Batson, die mehr als ein Merkmal kombinieren, um Empathie zu definieren, fehlgehen.153 Vergleichen wir diese Definition mit der Definition von Empathie durch die Fürsorgeethikerin Gruen. Wie Batson kombiniert sie mehr als einen Aspekt von Empathie. Gruen schlägt vor, dass es diverse Varianten der Empathie gibt, die jedoch nicht alle gleichermaßen ethisch relevant sind.154 Die ethisch relevante Empathie ist eine anspruchsvolle, komplexe Fähigkeit, die so vermutlich ausschließlich Menschen besitzen und nicht alle Menschen. Denn sie stellt hohe Ansprüche an unsere affektiven und kognitiven Fähigkeiten, genauer gesagt, an die Wahrnehmung, Reflexion und Fürsorge: First, empathy involves an imaginative resonance across differences; this is akin to the affective part of empathy. The second is the intention to shift perspectives or simulate/embody the perspective of another; this is the cognitive part of empathy.155 Einerseits müssen wir uns in den*die andere*n einfühlen können, anderseits müssen wir uns aktiv und reflexiv in die Perspektive hineinversetzen, um zum Beispiel eine bestimmte Bias zu korrigieren. Auf der Basis dieser Art von Empathie, die auch relationale Empathie genannt wird, lässt sich nach Gruen eine alternative Tierethik gründen. Diese ist in der Folge partikularistisch; ihre Wurzel liegt in der Fürsorgeethik. Aus Prinz’ Sicht scheint Gruen die Komponenten fälschlicherweise nicht zu unterscheiden. Eine aufmerksame Wahrnehmung ist für Prinz eher mit einer Struktur der Sorge (concern) verbunden als mit der empathischen Fähigkeit selbst. Fürsorge ist Prinz zufolge weder kausal noch in irgendeiner anderen wesentlichen Weise mit dem empathischen Gefühl verbunden, das man braucht, um sich in eine andere Person einzufühlen. Prinz glaubt, sich in die Lage eines anderen zu versetzen, führe nicht unbedingt zu prosozialem und moralischem Handeln. Eines seiner Gegenbeispiele ist ein Mensch, der einen anderen foltert und seine Empathie nutzt, um herauszufinden, was sein Opfer besonders verletzt. In der Tierethik wird häufig Temple Grandin als ein Beispiel für eine Person genannt, die von der Empathie mit Tieren geleitet ist, und 153 154 155 Prinz 2011: 212. Darüber herrscht breiter Konsens, vgl. u.a. den Ansatz bei Aaltola (2018). Gruen 2018: 146. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität dies unter anderem dazu nutzt, Tieren negative Emotionen auf dem Weg zur Tötung zu ersparen. Ihre Vorschläge betreffen die Strukturen und baulichen Anlagen der Schlachthäuser und sollen den Prozess des Tötens nicht kritisieren, sondern allein die Weise des Tötens.156 Solche Fälle bilden einen relevanten Einwand gegen die Empathie in der Ethik. Wir könnten fragen, ob Gruen (oder Batson) die Konzepte von fürsorglicher Wahrnehmung und Empathie tatsächlich nicht trennen konnte. Meine Perspektive ist, dass sie die Konzepte bewusst als verbunden verstanden wissen will. Bei genauerer Betrachtung von Gruens Ansatz erkennt man einen regulativen Zusammenhang zwischen Empathie und einer fürsorglichen Einstellung.157 Ich schlage vor, dass Gruen als Befürworterin eines Komponentenmodells der Empathie nicht angemessen beschrieben ist (wohl aber Batson), sondern dass sie ein Prozessmodell vorschlägt. Der Fokus sollte meines Erachtens nicht auf den Varianten liegen, sondern auf dem Prozesscharakter der Empathie. Prinz andererseits arbeitet mit dem, was ich ein »mechanistisches Modell« nennen möchte. Ein mechanistisches Modell befasst sich mit den genauen Mechanismen, die vernünftigerweise als Empathie bezeichnet werden können. Zu diesem Modell gehören beispielsweise auch Theorien der direkten Wahrnehmung oder der verkörperten Simulation.158 Zweifellos gibt es gute Gründe, wie Prinz vorzugehen, um bestimmte Merkmale zu isolieren, die unter dem Oberbegriff Empathie diskutiert werden. Es garantiert gemeinsame diskursive Grundlagen. Andererseits legt seine Ablehnung komplexerer Theorien als Komponententheorien nahe, dass diese Theorien verschiedene Dinge fälschlicherweise vermischen. Prinz reduziert alle komplexen Theorien von Empathie zu Komponententheorien und führt so eine Diskussion, die in der Tat relevant für die Frage ist, ob Wahrnehmung und Empathie von moralischer Bedeutung für die Ethik sind. Damit etwas ein Prozessmodell für Empathie ist, muss es einen Ansatz zur Erklärung darüber enthalten, wie verschiedene Aspekte der Wahrnehmung und Einfühlung miteinander verbunden sind. Es erklärt dann unterschiedliche Ebenen der Empathie und die Möglichkeit für Fortschritt bzw. Rückschritt, d.h. einer mehr oder weniger adäquaten und ethisch relevanten Empathie. Dies ist in der Tat anspruchsvoll, wie ich nun ausführen möchte. Komponenten werden nicht willkürlich kombiniert, sondern prozessual geordnet. 156 157 158 Grandin 1995 nach Gruen 2018: 143. Gruen 2015: 39 – 42. Vgl. Zahavi 2011: 541; 558. Freedberg/Gallese 2007: 197. 129 130 Das Tier im Bild Hierarchische Ansichten über Empathie sind beispielsweise von Amy Coplan bekannt, die zwischen Grundformen der Empathie (emotionale Ansteckung, direkte Wahrnehmung von Emotionen anderer) und komplexeren Formen (kognitive Empathie, narrative Empathie) unterscheidet.159 In einem Prozessmodell werden solche Ebenen als miteinander verbunden angesehen. Der Fokus liegt nicht bei diversen Varianten an sich, sondern auf der Weise, wie die Formen ineinander übergehen können. Gruens Ansatz ist exemplarisch für dieses Verständnis eines Prozessmodells. Grundformen (z.B. affektive Ansteckung) können etwa durch das Überprüfen der Wahrnehmung und die bewusste Überwindung von Voreingenommenheit zu weiter entwickelten Formen verändert werden.160 Ich mag mich zunächst aus meiner eigenen Perspektive in ein Tier hineinversetzen (»Wie würde ich mich fühlen, wenn…«). Diese Annäherung kann verbessert werden, indem ich mich mit den Parametern der Wahrnehmung des Tiers auseinandersetze, z.B. durch empathische Einfühlung oder Reflexion. Was bedeutet es etwa für ein Tier, auf der Flucht zu sein? Was bedeutet es für das Individuum, wie ich es kenne, z.B. für ein ängstliches Tier? In Entangled Empathy betrachtet Gruen die Empathie ausdrücklich als einen Prozess.161 Obwohl dieser Prozess möglicherweise nicht linear verläuft, können wir uns die verschiedenen Teile des Prozesses so vorstellen: Das deutlich werdende Bedürfnis eines anderen erregt die Aufmerksamkeit einer Person; diese versetzt sich reflektierend in die Position des*der anderen hinein; empfindet mit; schließlich urteilt sie über die Bedingungen, die die Situation des Gegenübers prägen. Die empathische Person wird die Situation sorgfältig bewerten, um herauszufinden, welche Informationen relevant sind, um sich effektiv in den betreffenden anderen hineinzuversetzen. Diese Art von Empathie trennt nicht strikt in Emotionen und Erkenntnisse und führt zu Handlungen, bei denen sich die Aufmerksamkeit auf das Wohl der anderen bezieht. Auffallend ist die Tatsache, dass Empathie von einer genauen Wahrnehmung abhängt, und genaue Wahrnehmung beinhaltet auch, im Lichte der Informationen zu reflektieren.162 Um die Ausführungen über die Empathie zusammenzufassen: Gruen glaubt, dass Fortschritte beim Verständnis anderer sowohl von emotionalen 159 160 161 162 Coplan/Goldie 2011: 3 – 18. Gruen 2015: 77f. Gruen 2015. Gruen 2018. Gruen 2015: 3 – 4. Aaltola 2018: 88. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität als auch von kognitiven Prozessen abhängen, die jeweils entwickelt und verfeinert werden können. Um einen anderen zu verstehen, ist es erforderlich, die empathische Kapazität durch kritische eine Auseinandersetzung mit der spontanen, mechanischen oder unkritischen Reaktion – sei es in Bezug auf unsere Gefühle oder die Wahrnehmung – zu erweitern. In Bezug auf diese Perspektive kann Prinz’ Einwänden gegen die Empathie entsprechend begegnet werden. Prinz’ Auffassung der Empathie unterscheidet sich grundlegend von den durch die partikularistische Ethik informierten wie dem Ansatz Gruens. Die Unterschiede liegen gerade darin, dass die Empathie einmal eher mechanistisch und kaum veränderlich und einmal mit anderen Fähigkeiten im Verbund angesehen wird. Ich schlage vor, dass die pauschale und häufig vorschnelle Ablehnung der partikularistischen Ethiken (v.a. in Hinsicht auf die Bedeutung der Wahrnehmung und Empathie) insbesondere daher rührt. Vieles spricht dafür, dass es bei der Empathie und der Wahrnehmung eher um eine prozessual verstandene Fähigkeit geht. Es gibt Hinweise darauf, dass die frühe Kindheit und die Sozialisierung einen großen Einfluss darauf haben, ob, welche und wie stark entwickelte Fähigkeiten zur Empathie ein Mensch entwickeln kann.163 Das Problem der Definition von Empathie bei Prinz liegt darin, dass sie explizit von der Fürsorge getrennt wird. Dadurch konzentriert sich Prinz nur auf einen Moment und kann nicht erklären, wie es möglich ist, Empathiefähigkeit zu verbessern und zu kultivieren. Gruen hingegen integriert Kritikschleifen in ihr Konzept. Nach Gruen haben wir nicht immer schon eine genaue Vorstellung davon, wie sich jemand fühlt, und nur indem wir kritisch überlegen, können wir durch Erzählungen und andere Informationen eine adäquatere Wahrnehmung entwickeln. Wie ich vorschlagen möchte, kann ein Fokus auf die Unauswechselbarkeit uns dabei helfen, ein adäquateres Bild zu erlangen. Ich werde dies insbesondere in Kapitel 4 entwickeln. An dieser Stelle ist es wichtig hervorzuheben, dass sich im Verständnis der partikularistischen Ethik der Prozesscharakter der Empathie entwickeln lässt. Empathie wird hier durch einen regulativen Zusammenhang definiert: Empathische oder fürsorgliche Wahrnehmung bedeutet dementsprechend, eine Form der moralischen Wahrnehmung zu kultivieren. Während Empathie in dem engen Sinn, den Prinz aufgreift, tatsächlich nicht verständlich machen kann, inwiefern Empathie uns moralisch bessern kann, verändert ein partikularistischer Ansatz, der die fürsorgende, relationale Wahrnehmung kultiviert, das Bild. 163 Aaltola 2018: 27; 31. 131 132 Das Tier im Bild Es liegt also nahe, den Fokus auf die Kultivierbarkeit der Empathie als Fähigkeit zu lenken. Die Fähigkeit zur fürsorglichen Wahrnehmung steht jedoch nicht in einem Vakuum. Im nächsten Abschnitt werde ich näher darauf eingehen, was es heißen soll, auch die Bedingungen der Wahrnehmung gegenüber bestimmten marginalisierten Gruppen miteinzubeziehen. Die Ansprüche, die wir dann an das Sehen von Tieren stellen können, sind, dass wir ein konkretes Tier sehen, es empathisch wahrnehmen und Muster der Wahrnehmung hinsichtlich der Art oder Gruppe des Tiers wahrnehmen. In einem nächsten Schritt möchte ich weiter darauf eingehen, dass unsere Wahrnehmung von Tieren von einem Status quo der Marginalisierung von Tieren abhängt. Wir können und sollten diesen nicht außen vor lassen, wenn wir davon sprechen, dass das Sehen der singulären Tiere ethisch und politisch relevant ist und wir die Sichtbarkeit zu verbessern streben. Wie die feministische Philosophin Marilyn Frye es ausdrückt: »to recognize a person as oppressed, one has to see that individual as belonging to a group of a certain sort.«164 Das gilt auch, wie ich zeigen möchte, für das Erkennen der Tiere. 2.3.3 Visuelle Wahrnehmung als Prozess: Muster erkennen Wie ich bereits dargestellt habe, gilt es, bei Theorien moralischer und fürsorglicher Wahrnehmung besonders darauf zu achten, strukturelle Aspekte mitzuberücksichtigen. Mit den strukturellen Aspekten meine ich z.B. kulturell entstandene Werte oder Muster der Wahrnehmung. Ohne diese miteinzubeziehen, bleibt die Wahrnehmung des*der anderen unvollständig. Es ist also zu klären, was die Bedingungen für einen Modus fürsorglicher Wahrnehmung ist, in dem die strukturellen Aspekte berücksichtigt werden. Mit der Prozessualität der Empathie habe ich bereits einen wichtigen Parameter genannt. Jedoch lassen sich mit Beruf ausschließlich darauf kaum folgende Einwände gegen die Empathie und Wahrnehmung in ethischer Hinsicht ausmerzen: Die Tatsachen, dass unsere Empathie manipuliert werden kann, selektiv und von Vorurteilen belastet ist sowie dass sie diejenigen, die uns nahe sind, bevorteilt. Diese drei Einwände haben meines Erachtens damit zu tun, dass wir uns immer wieder von einer normalisierten Sichtweise abgrenzen müssen. Wenn wir etwa mit dem Wahrnehmungsmuster aufgewachsen sind, dass Kühe dazu da sind, Milch zu geben, werden wir das Melken einer Kuh schwer als eine Form 164 Frye 1983: 8. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität oder ein Muster ihrer Schädigung erkennen. Viele können sich nicht in die gesamten Prozesse hineinversetzen, die eine Milchkuh schädigen bzw. sind nicht darüber informiert.165 Um die Lage eines Subjekts zu verstehen, das Mitglied einer unterdrückten Gruppe ist, und eine normalisierte Wahrnehmung moralisch zu korrigieren, ist es wichtig, Muster erkennen zu können, die eine Gruppe von Tieren betrifft. Im folgenden Abschnitt möchte ich daher näher darauf eingehen, dass zu den wichtigen Faktoren der Wahrnehmung eines singulären Tiers gehört, dass wir es potenziell auch als Vertreter einer Gruppe wahrnehmen. The »inhabitant« of the »cage« is not an individual but a group, all those of a certain category. If an individual is oppressed, it is in virtue of being a member of a group or category of people that is systematically reduced, molded, immobilized. Thus, to recognize a person as oppressed, one has to see that individual as belonging to a group of a certain sort.166 Insbesondere Strukturen, die die Empathie gegenüber bestimmten Gruppen unwahrscheinlicher machen, müssen miteinbezogen werden.167 Es ist bezeichnend, dass Jason Stanley Propaganda als Mechanismus definiert, unsere empathische Bezugnahme und unser aufmerksames Hinsehen von einer marginalisierten Gruppe abzulenken, bei einer anderen aber zu stärken. Vor diesem Hintergrund müssen wir davon ausgehen, dass es auch strukturelle Aspekte in der Wahrnehmung gibt, die es überhaupt erst verständlich machen, in welcher Lage sich ein singuläres Tier und wir uns sozial verorten lassen. Der Zusammenhang der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit von marginalisierten Gruppen soll also noch einmal eigens zum Thema gemacht werden. Der Hintergrund ist der in der partikularistischen Ethik laut werdende Anspruch, dass die konkreten sozialen Bedingungen des moralischen Handelns und Wahrnehmens berücksichtigt werden müssen.168 Im Folgenden schließe ich an den Ansatz von Clarke an, die die Überlegungen Murdochs mit dem feministischen Konzept der Mustererkennung in der feministischen Theorie nach Frye verbindet: 165 166 167 168 Vgl. u.a. Marino/Allen 2017 und Linné 2016: 721f; 728f. Frye 1983: 8. Zum Begriff von Empathie und Propaganda vgl. Stanley 2015. Vgl. Walker 2007: 1f. 133 134 Das Tier im Bild Our game is pattern perception; our epistemological issues have to do with the strategies of discovering patterns and articulating them effectively, judging the strength and scope of pattern, properly locating the particulars with reference to patterns, understanding the variance of experience from what we take to be a pattern.169 Welche Muster müssen wir erkennen können? Die Mustererforschung ist ein umfassendes Projekt. An dieser Stelle möchte ich die Richtung vorgeben, in die sich meine Überlegungen weiterentwickeln. Die Singularitätswahrnehmung ist m.E. vor allem in Abgrenzung zur Wahrnehmung von Tieren als Ding, Objekt oder Ressource relevant und führt auf die relationale Wahrnehmung als Subjekt mit einem eigenen Zentrum des Erlebens. Es geht also darum, problematische Formen von Verdinglichung auszuschließen. Verdinglichung ist, wie u.a. Nussbaum herausgestellt hat, nicht per se moralisch problematisch. Sie ist es jedoch dann, wenn der*die andere ausschließlich als Instrument meiner Zwecke bzw. der Zwecke anderer angesehen und behandelt wird. In Hinblick auf die Wahrnehmung von vielen Tiergruppen sind verdinglichende Weisen der Status quo der Wahrnehmung. Dafür wurde in den Animal Studies überzeugend argumentiert.170 Die bahnbrechende Studie von Adams zeigt unter anderem, dass in der visuellen Kultur eine analoge Leugnung von Subjektivität hinsichtlich von Frauen und hinsichtlich von Tieren stattfindet.171 Einige Autor*innen sind sogar davon überzeugt, dass wir Tiere aufgrund der üblichen Schau-Dispositive stets durch die Linse menschlichen Nutzens sehen.172 Das entspricht ungefähr dem, was Frye als arroganten Blick bezeichnet: Wir sehen alles als für uns oder gegen uns; nicht aber als unabhängige Subjektivität.173 In der Analyse ist bezeichnend, dass dieser Blick bedingt ist von einer bestimmten (visuellen) Kultur, und die Aufgabe der Kritik besteht darin, die verdinglichenden Muster zu identifizieren und zu kritisieren. Diese feministische Theorie lässt sich auch auf die Sichtweise auf Tiere beziehen. Denn die Erörterung der Singularität hat bereits gezeigt, dass bestimmte Menschen Tiere (unter bestimmten Bedingungen) als unauswechselbare Subjekte erkennen können. Auf der anderen Seite liegt es auf der Hand, 169 170 171 172 173 Frye 1992: 66. Vgl. u.a. Cronin/Kramer 2018 und Cole/Stewart 2009. Adams 2010: 216f. Mönnig 2013/2017. Frye 1983: 52 – 83. Kapitel 2: Ethik und Ästhetik der tierlichen Singularität dass dies nicht immer der Fall ist und dass der Status quo eher bei verdinglichenden Sichtweisen liegt. Wir können also davon ausgehen, dass es zwei Bedingungen gibt, die für unsere Wahrnehmung von Tieren gegeben sein müssen: Wir müssen die tierliche Singularität erkennen und aufmerksam für Muster bzw. typisierte Wahrnehmungen sein. Mit letzteren müssen und können wir kritisch umgehen. Dazu gehört zum Beispiel die normalisierte Sichtweise auf Kühe als Nutztiere. In Kapitel 4 werde ich näher darauf eingehen, welche Muster besonders relevant sind. Solche Sichtweisen manipulieren die tierliche Singularität. Konklusion Das zweite Kapitel hat die tierethische Bedeutung der Singularität herausgearbeitet. Ein erstes wichtiges Ergebnis (2.1.) lautet, dass ein Ethik-Verständnis nach Vorgaben der Universalisierbarkeit und der damit einhergehende Fokus auf die intrinsischen Eigenschaften von Individuen für dieses Thema nicht ausreichend ist. Denn die tierliche Singularität bezieht sich nicht auf intrinsische, sondern auf relationale Eigenschaften, nämlich das bestimmte, situierte, lebendige tierliche Gegenüber. Das volle ethische Potenzial der möglichen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren kann auf dem Wege der prinzipienbasierten Ansätze nicht entfaltet werden. Insbesondere fehlt diesen Ansätzen die Flexibilität und der Raum für Imaginationen, von denen die Beziehungen zu Tieren leben. Stattdessen treten partikularistische –genauer gesagt: relationale – Formate der Ethik in den Vordergrund. Diese berücksichtigen auch die ästhetische Bedeutung der Singularität. Entscheidend für die ethische und ästhetische Bedeutung der Singularität sind die relationalen Eigenschaften von Einzeltieren und Menschen. Was wir sehen, wenn wir ein Tier sehen, sind auch relationale Eigenschaften. Diese sehen zu können, ist entscheidend dafür, bessere Mensch-Tier-Beziehungen zu führen. Direkter Kontakt und ästhetische Erfahrungen mit Tieren als konkrete Einzelne sind ein wichtiger Aspekt für eine Reihe an moralisch relevanten Themen, so etwa moralische Ansprüche, die aus den Begegnungen resultieren. Dabei geht es darum, eine fürsorgliche Wahrnehmung zu entwickeln, d.h., unsere Wahrnehmung und insbesondere unsere empathischen Fähigkeiten und Gewohnheiten zu kultivieren und zu verbessern. Es spielt auf der einen Seite eine Rolle, das konkrete singuläre Tier zu sehen, auf der anderen Seite mitwahrzunehmen, welche Muster der Fehl- 135 136 Das Tier im Bild wahrnehmung bzw. der verdinglichenden Wahrnehmung mitschwingen (z.B. Nutztier). In Unterkapitel 2.2. und 2.3. konnte ich zeigen, dass ein bestimmtes Verständnis von Empathie – die fürsorgliche Wahrnehmung – dazu führen kann, die Ansprüche des Tiers wahrzunehmen und dabei kritisch Fehlwahrnehmungen auszuschließen. Mein Vorschlag gegenüber den partikularistischen Ethiken lautete, dass wir den Fokus statt auf die Varianten der Empathie auf ihre Kultivierbarkeit legen. Ein prozessbasiertes Verständnis der Empathie, wie Gruen es vorschlägt, bietet hierfür eine gute Grundlage. Kultivierbar ist die Empathie letztlich auch dadurch, dass wir das Erkennen von Mustern verbessern, indem wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Mit Blick auf die Lage der Tiere in unserer Gesellschaft ist das durch Fotojournalismus möglich. In Kapitel 3 werde ich dafür argumentieren, dass fotografische Bilder eine wichtige Rolle für die fürsorgliche und kritische Wahrnehmung von Tieren spielen. Dazu wird die mediale Alltagskultur auf die Möglichkeit hin befragt, tierliche Singularität sichtbar zu machen und es werden spezifische Herausforderungen der Repräsentation von Tieren behandelt. Dabei wird es insbesondere um das für die Darstellbarkeit von Singularität prädestinierte Medium der Fotografie und des Films gehen. Mein Argument lautet, dass ein bildtheoretischer Ansatz das Konzept der Sichtbarkeit von singulären Tieren und die fürsorgende Wahrnehmung über eine Ethik der Nähe hinaus entwickeln kann.