Kämper-van den Boogaart, Michael
Aufsatzmethodik in der Diskussion. Das Genre des dialektischen
Besinnungsaufsatzes in der didaktischen Publizistik der 1950er und 1960er
Jahre
Kämper-van den Boogaart, Michael [Hrsg.]; Reh, Sabine [Hrsg.]; Schindler, Christoph [Hrsg.]; Scholz,
Joachim [Hrsg.]: Abitur und Abituraufsätze zwischen 1882 und 1972. Prüfungspraktiken, professionelle
Debatten und Aufsatztexte. Bad Heilbrunn : Verlag Julius Klinkhardt 2023, S. 231-262
Quellenangabe/ Reference:
Kämper-van den Boogaart, Michael: Aufsatzmethodik in der Diskussion. Das Genre des dialektischen
Besinnungsaufsatzes in der didaktischen Publizistik der 1950er und 1960er Jahre - In: Kämper-van den
Boogaart, Michael [Hrsg.]; Reh, Sabine [Hrsg.]; Schindler, Christoph [Hrsg.]; Scholz, Joachim [Hrsg.]:
Abitur und Abituraufsätze zwischen 1882 und 1972. Prüfungspraktiken, professionelle Debatten und
Aufsatztexte. Bad Heilbrunn : Verlag Julius Klinkhardt 2023, S. 231-262 - URN:
urn:nbn:de:0111-pedocs-283384 - DOI: 10.25656/01:28338; 10.35468/6052-10
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-pedocs-283384
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Michael Kämper-van den Boogaart
Aufsatzmethodik in der Diskussion. Das Genre des
dialektischen Besinnungsaufsatzes in der didaktischen
Publizistik der 1950er und 1960er Jahre
1 Das zähe Genre
Wurde in den 1980er Jahren verächtlich vom Gesinnungsaufsatz gesprochen, war
bereits manchen jungen Lehrkräften gar nicht bewusst, dass dies der verdiente
Spitzname für eine schulische Schreibform war, die unter der Bezeichnung Besinnungsaufsatz Generationen von Schüler*innen beschäftigte. Dass dies in gewisser Weise auch heute noch der Fall ist, erschließt vornehmlich ein Blick auf den
Markt schulischer Ratgeberliteratur. Was hier als probate Schemata erfolgreichen
Schreibens zirkuliert, hat sich zwar von der Genrebezeichnung gelöst, verrät aber
doch eine frappante Kontinuität. Natürlich geschieht das ohne das Label „Besinnung“, das heute für kontemplative Esoterik oder die freundlichen Konventionen von Festtagswünschen – besinnliche Stunden in der Familie – reserviert zu
sein scheint. Angetreten mit dem Anspruch, die Intentionen der Schreibreformer
in den 1920er Jahren mit den Doktrinen der alten Schule zu versöhnen, den
Hiat zwischen Subjektivem und sachlich Objektivem zu lockern, wurde mit zunehmendem Argwohn aus dem Besinnungs- bald der Problemaufsatz und dann
wieder die Erörterung in ihren schulischen Varianten. Was wohl auch für andere
Felder des Deutschunterrichts zutreffend sein dürfte, belegt die Transformationsgeschichte der Genrebezeichnungen: Während die Fachdidaktik mit ihren Anleihen bei der Schreib- oder Schreibprozessforschung über das schulische Schreiben
ganz anders handelt, zeigt sich das unterrichtliche Brauchtum in bekannter Hartnäckigkeit, gerade wenn es darum geht, Schüler*innen Regeln richtigen Schreibens und Argumentierens an die Hand zu geben. In der didaktischen Literatur
hingegen stieß das Programm des Besinnungsaufsatzes nach 1968 auf erhebliche politische Einwände. Dies betraf die Themen und ihre Einbettung in eine
Aufsatzerziehung, die ihrerseits einer Spracherziehung, verstanden als Erziehung
durch und zur Sprache, korrespondierte. Mit der Fokussierung von Sprache als
einem Herrschaftsinstrument, das andere als bürgerliche Kommunikationscodes
diskriminiert, konvenierte die Aufwertung von Kommunikation als Leitbegriff
des Deutschunterrichts und damit wiederum ein erneuter Reputationsverlust rein
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schulischer Textgenres zugunsten einer Adressierung sozialer Praxis. Eine Tendenz
zum utilitaristischen Schreiben wurde durch das nun kreativ genannte Freie Schreiben kompensiert, beim noch vergleichsweise neuen Interpretationsaufsatz trat
hier das Gestaltende Interpretieren seine Karriere an. Blättert man durch das offizielle Praxishandbuch, das die Implementierung der Bildungsstandards für die
Allgemeine Hochschulreife seit 2015 begleitet, findet man für den Bereich Schreiben vieles, was auf Metastrategien, Prozessorientierung und situative Einbettungen verweist, aber wenig von dem, was für die Aufsatzmethodik der 1950er Jahre von Vorrang war1 und im Vergleich zu der anspruchsvollen Variabilität der
hier angeführten und funktional reflektierten Schreibformen und -verfahren für
schulisches Lernen elementar anmutet. Werden im Folgenden also Schlaglichter
auf die Hochzeit des Besinnungsaufsatzes – und hier insbesondere auf seine als
dialektisch geltende Variante – geworfen, bewegen wir uns nicht nur auf dem Terrain einer von der Gegenwart entrückten Praxis. In den Blick genommen werden
aber didaktische Denkfiguren notwendig normativen Gepräges, die so die 1960er
Jahre nicht überlebten. Im Unterschied zu manch harscher Kritik, die dem zähen
Genre des Besinnungs- bzw. Gesinnungsaufsatzes in der fachdidaktischen Publizistik nach 1968 zuteilwurde, ist meiner Rückschau durchaus daran gelegen, die
Ernsthaftigkeit der Bemühungen um eine Form erlernbaren Schreibens herauszustellen. Eine wichtige Rolle wird in diesem Versuch die Beschäftigung mit den
Vorschlägen Richard Bochingers spielen.
2 Das Textgenre des Besinnungsaufsatzes in der Kontinuität
des NS: Unsaubere Zuschreibungen
Spricht Wolfgang Hegele in seiner 1996 erschienenen historiographischen Monografie von dem „Kuriosum“, dass mit Ulshöfer der „anregendste Unterrichtsmethodiker der Nachkriegszeit gleichzeitig einer ihrer glücklosesten Didaktiker war“
(Hegele 1996, S. 111), klingt das fast noch vorteilhaft angesichts der Rezeptionsgeschichte in den 1970er und 1980er Jahren. Was die überregionale Wirkungsmacht
des Vielgescholtenen und seine Rolle als Protagonist in einer vielfach als Restaurationsgeschichte erzählten Nachkriegszeit ausmacht, ist, neben seiner Rolle als Politikberater, vor allem der in den Kritiken anklingende publizistische Erfolg. Hierzu
tragen nicht nur seine weitverbreiteten und bei Klett verlegten Methodiken für den
Deutschunterricht der Unter- und Mittelstufe bei, sondern namentlich auch die
Gründung und Herausgeberschaft der Zeitschrift ‚Der Deutschunterricht‘, die in
1 Vgl. Becker-Mrotzek/Kämper-van den Boogaart/Köster/Stanat/Gippner (2015). Bezeichnend ist,
wie lapidar „Defizite des traditionellen Aufsatzunterrichts“ hier abgehandelt werden, ohne zu realisieren, dass sich die Zielgruppe des Bandes – Lehrkräfte – in ihren Unterrichtspraktiken vielfach
auf diese „Traditionen“ bezieht (ebd., S. 82f.).
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Ulshöfers aktiver Zeit bis 1980 vor allem als eine Zeitschrift von Praktikern für
Praktiker gelten kann und entsprechend wirkungsvoll als ‚Gemeinschaftswerk der
Deutschlehrer‘ lanciert wird. Dass Ulshöfer zum Repräsentanten eines Deutschunterrichts taugt, der in Schriften wie der Ulrich Sonnemanns über ‚Schulen der
Sprachlosigkeit‘ (1970) und die Welt des deutschen Studienrats weit über den Kreis
des pädagogischen Milieus hinaus zum Gegenstand des Spottes wurde, hängt nicht
zuletzt mit einer Ausrichtung seiner Methodik zusammen, die anachronistischer
kaum klingen konnte. Dass es, wie hier bereits an anderer Stelle angeführt2, in pädagogischer Zielsetzung um den „ritterlichen Menschen“ gehen sollte, mochte anders gemeint sein, musste aber in den 1960er Jahren zum Beleg taugen, es beim
sogenannten Papst des Deutschunterrichts mit einem Ewiggestrigen zu tun zu haben. Diesen Eindruck vermochten auch die hastigen Reparaturarbeiten nicht zu
kaschieren, die Ulshöfer gar zu einem Rekurs auf Marx verführten, wie sich bei
Müller-Michaels (1980, S. 14ff.) nachlesen lässt. Schaut man aus heutiger Position
auf die Auseinandersetzungen um Ulshöfer, ist zweifellos dessen „Unbelehrbarkeit“
(ebd., S. 17) zu registrieren, aber wohl auch der Umstand, dass im Streit um sein
Leitbild, intendiert oder nicht, Stichworte geliefert wurden, die dazu angetan waren, ein gesamtes Kapitel der Nachkriegsdidaktik zu desavouieren, um dergestalt
den Paradigmen einer neuen und nunmehr kritischen Didaktik den Status einer
neuen, da mit der Vergangenheit aufräumenden Epoche zu verleihen. Dass es historisch notwendig sei, sich vehement von Ulshöfers Deutschunterricht zu lösen,
konnte nicht nur durch die Skandalisierung des ritterlichen Leitbildes und die von
ihm transportierte Vorstellung eines vorbürgerlich elitaristischen Bildungskonzepts
breitenwirksam postuliert werden, sondern dabei ließ sich auch auf notorische Kritikpunkte zurückgreifen, die das Negativimage des gymnasialen Deutschunterrichts
seit geraumer Zeit geprägt hatten. Dies gilt insbesondere für den einst so gefeierten
deutschen Aufsatz und dessen Verständnis als Instrument einer sprachlichen und
moralischen Erziehung. Gemeint ist dabei weniger der mäßig beliebte literarische
Aufsatz als vielmehr die Textgattung der Betrachtung oder des Besinnungsaufsatzes,
der, so Sonnemann, „fast sämtliche Gedankenlosigkeiten der Studienratswelt“ dekuvriere (Sonnemann 1970, S. 55).
In seinem 1991 erschienenen und über weite Strecken als Dokument einer anhaltenden Kränkungsgeschichte zu lesenden Band ‚Mein Deutschunterricht‘ (1991)
empört sich Robert Ulshöfer über die einschlägige Monographie Otto Ludwigs
‚Der Schulaufsatz‘ (1988). Das Motiv dieser Empörung ist wieder einmal, dass
sich Ulshöfer in seiner Rolle als Doyen der gymnasialen Deutschdidaktik der
Nachkriegszeit sehr ungerecht gewürdigt sieht. Das wäre, für sich genommen,
wahrscheinlich nicht sonderlich interessant, reihte sich Ludwig doch in Ulshöfers
Wahrnehmung nur in eine Reihe böswilliger Hexenjäger. Doch lohnt es sich, an
2 Vgl. den Beitrag zu Robert Ulshöfer (Kämper-van den Boogaart/Reh i. d. B.)
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dieser Stelle etwas genauer hinzuschauen. Deshalb sei zunächst ein Blick auf Ulshöfers Replik geworfen:
„Weshalb aber diese Verzeichnung der Fakten? – Ludwigs Blick ist offenbar nicht auf
die reale Situation in der Schulstube gerichtet; vielleicht kennt er die Nöte der Lehrer und der Schüler/innen bei der Einübung der Schreibformen, der Themenstellung,
der Gedankenentwicklung, der Aufsatzkorrektur und -benotung zu wenig. Er erörtert
Begriffe und Theorien von Didaktikern in der Annahme, dadurch ein geschichtswissenschaftliches Werk zu schaffen. So beschäftigen ihn die Fragen, ob und wann die Begriffe
Erziehung oder Bildung, sprachschaffender oder sprachgestaltender Aufsatz verwendet
werden und unter welche dieser Begriffe man die Epoche von 1945 bis 1970 subsumieren kann. Und was hält der Verfasser nun für der Weisheit letzten Schluß auf dem Gebiet
des Schreibens: den ‚kommunikativen Aufsatz‘. [sic!] Mit ihm wird nach Meinung des
Verfassers zu Beginn der 70er Jahre ein neues, noch nicht übersehbares ‚Kapitel der Geschichte des deutschen Schulaufsatzes aufgeschlagen‘.“ (Ulshöfer 1991, S. 238)
Tatsächlich kann man mit Blick auf Ludwig und auf einen Großteil der deutschdidaktischen Historiographie monieren, dass sein Monumentalwerk wohl eher eine
Ideengeschichte erzählt als die Geschichte des Schulaufsatzes, wie es der Untertitel
verheißt. Insofern wären, dies nur nebenbei, unsere Daten und praxeologischen Prämissen (vgl. Reh/Kämper-van den Boogaart/Scholz 2017) vielleicht dichter an der
angesprochenen Schulstube. Auch wenn Ulshöfer diesen Begriff nicht gebraucht,
wird man zudem befinden können, dass Ludwig seiner Erzählung eine teleologische Perspektive verleiht, insofern er einem Modernisierungsparadigma anhängt,
das zunächst einmal auf eine Tendenz zur Versachlichung und zur kommunikativen Situierung des Aufsatzschreibens hinausläuft. In dieser Perspektive erscheint
Ulshöfers Projekt eher als ein retardierendes Kapitel und fügt sich in allgemeinere Vorstellungen eines restaurativen Neubeginns nach 1945. Für diese Verortung
spricht namentlich die Karriere des Besinnungsaufsatzes und eines pädagogischen
Verständnisses von Sprachgestaltung, wobei man in letzter Hinsicht nicht die ubiquitäre Präsenz der Sprachlehre Leo Weisgerbers (vgl. Kämper-van den Boogaart
2015) übersehen sollte. Wie ja auch Weisgerbers tiefer Fall mit einer Dekuvrierung
seiner NS-Zuarbeiten zusammenhing, geht es in Ludwigs Erzählung um eine personelle Kontinuität zwischen 1933 und 1945. Ludwigs Skandalfall bildet Fritz Rahn,
der sich in den ersten Jahrgängen von Ulshöfers ‚Der Deutschunterricht‘ lautstark
für das Genre des Besinnungsaufsatzes eingesetzt hatte (vgl. Rahn 1949), eine Form,
die er bereits vor 1945 protegierte. Ludwig notiert:
„Auch an anderen Stellen hat Fritz Rahn versucht, seine im Zusammenhang mit den amtlichen Lehrplänen der Nationalsozialisten entwickelten Vorstellungen vom Aufsatzunterricht nach 1945 zu propagieren und durchzusetzen. In mehreren Aufsätzen der Zeitschrift
‚Der Deutschunterricht‘ hat er sich für den Erhalt des Besinnungsaufsatzes eingesetzt, bei
dessen Taufe 1938 er vermutlich selbst Pate gestanden hatte […] ‚Es geht um das Lebensrecht des Besinnungsaufsatzes‘, so beginnt der erste Artikel in dieser Reihe (F. Rahn
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1948/1949: 45), acht Jahre später ein anderer: ‚Immer noch steht im Mittelpunkt der Aufsatzerziehung an der Oberstufe unserer Gymnasien der sog. Besinnungsaufsatz‘ (F. Rahn
1957: 24). Im Verlauf der fünfziger Jahre hatte sich der Besinnungsaufsatz, wie ihn Rahn
Ende der dreißiger Jahre konzipiert hatte, an den Gymnasien der Bundesrepublik durchgesetzt. Er war zur klassischen Form des Oberstufenaufsatzes aufgestiegen. Was Rahn im
Dritten Reich nicht geschafft hatte, das erreichte er nach 1945.“ (Ludwig 1988, S. 426)
Ludwig rekurriert hier auf Forschungen zu Rahn, die er 1987 zusammen mit
Eckehart Merchert publizierte und die Rahn als den „Mann im Hintergrund“
jener Passagen des Schulerlasses von 1938 zur Aufsatzlehre ausweisen, wobei der
Nachweis über eine tatsächliche Beteiligung nicht erbracht werden kann (vgl.
Ludwig/Merchert 1987). Allerdings tritt Rahn offen als Autor von Handreichungen zum Erlass von 1938 hervor, die den Besinnungsaufsatz als favorisiertes Genre
konturieren. Elementar sind dabei die Diskriminierung von Sach- und Wertfragen
und die entschiedene Präferenz einer Ausrichtung von Aufsatzthemen an Wertfragen. Für diese Präferenz spricht die zunächst einmal nicht abwegig anmutende
Würdigung der mit ihr verbundenen Entscheidungszwänge, eine Motivation, die
seit einiger Zeit auch mit dem Lernpotenzial guter Multiple-Choice-Aufgaben in
Verbindung gebracht wird (vgl. Kämper-van den Boogaart 2006, 2009). Zudem
findet sich bei Rahn die schon bei Nietzsche und Zeitgenossen platzierte Warnung, dass das geforderte Werten und Entscheiden die Erfahrungswelt der Schüler nicht transzendieren dürfe – so auch die Weimarer Abiturordnung.
Übersehen wird in Ludwigs Entlarvungspathos, dass auch sehr praktische Motive dafür zu sprechen schienen, Alternativen zu diesem Genre hintanzustellen. In
‚Der Deutschunterricht‘ Heft 1/2 von 1950, in dem übrigens auch die Stuttgarter
Studienrätin Emmy Frey im Rekurs auf Rahn die Potenziale des Besinnungsaufsatzes herausstreicht und die „Wertfrage“ als einen „jugendpsychologischen Treffer“ kennzeichnet (Frey 1950, S. 90), findet sich ein empirischer Beitrag, der im
Kontext unseres Projekts von großem Interesse ist. Unter dem Titel „Erfahrungen
mit Reifeprüfungsaufsätzen“ referiert hier der Studienrat Walter Haußmann seine
Erfahrungen als staatlich bestallter Drittgutachter in Württemberg-Hohenzollern
im Korrekturjahr 1949 (Haußmann 1950). Hier galt in Variation des französischen Bewertungsprozederes: Erstgutachten durch den heimischen Fachlehrer,
Zweitgutachten durch einen auswärtigen Fachlehrer und Endgutachten durch
einen von drei staatlich bestellten Prüfern. Sehr nüchtern informiert Haußmann
über die nicht spektakulären Bewertungs- und Kommentierungsdiskrepanzen,
die, wie zu erwarten, insgesamt zeigen, dass die die Prüflinge unterrichtenden
Lehrkräfte vorteilhaftere Bewertungen vornehmen als die anonymen Zweitkorrektoren. Dies gilt insbesondere bei Literaturaufsätzen, wobei Haußmann die
Vermutung hegt, dass die Erstkorrektoren hier mit Wohlwollen die Inhalte des
von ihnen verantworteten Unterricht wiedererkannten. Da ein Beispiel so tragikomisch ist, wie der Autor schreibt, sei es hier wiedergegeben:
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Abb. 1: Haußmann 1950, S. 114
Haußmann folgert aus seinen Daten, dass der literarische Aufsatz in der Reifeprüfung
fehl am Platze sei, zumal es in Deutschland an einem gesellschaftlichen Konsens über
„Kategorien literarischer Urteilsbildung“ (ebd., S. 114) und mithin über einen intersubjektiven Referenzrahmen der Korrektur mangele – ein Desiderat, das er übrigens
für Frankreich nicht als gegeben sieht. Wir erkennen jedenfalls, dass in die Diskussion
um den Aufsatz nicht allein ideologische Muster eingehen, sondern auch sehr praktische Überlegungen, die aus dem Konnex von Aufsatz und Abiturleistung resultieren.
Bevor ich diesen Faden gleich noch einmal aufnehme, zunächst noch ein Hinweis
auf gewisse Unschärfen bei Ludwig. In dem Beitrag von 1987 schreiben die Autoren, dass Jürgen Grzesiks ‚Muß das Thema eines Besinnungsaufsatzes notwendig eine
Wertfrage sein?‘ (1963) das Ende des Besinnungsaufsatzes eingeleitet habe. Das mag
man so interpretieren können, allerdings nur, wenn man Grzesik gegen den Strich
liest. Dem Wortlaut nach nämlich geht es ihm in seinem bildungsphilosophisch
profunden Beitrag darum, das Genre um eine zweite Variante zu erweitern: Neben
das gerühmte Werten stellt er das Beschreiben, eine terminologische Kennzeichnung,
die meines Erachtens durchaus motivierter ist, als das Ludwig und Merchert, wahrscheinlich das Genre der Beschreibung im Blick, meinen. Tatsächlich kehrt Grzesik
mit dieser Erweiterung formal wieder zu dem Verständnis der zwei Arten zurück,
das Rahn 1938 mit seinem Votum für das Werten zu modifizieren versuchte. Dabei
kritisiert er auch gar nicht die Option für das Werten; im Gegenteil: er attestiert dem
wertenden Besinnungsaufsatz tatsächlich Lebenshilfe und Bewusstsein entfaltendes
Potenzial (Grzesik 1963, S. 87) und befindet: „Mit Recht ist Rahn davon überzeugt,
daß diese Aufsatzform einem Bedürfnis junger Menschen entspricht, das sich deutdoi.org/10.35468/6052-10
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lich in ihrer Debattierfreude zeigt“ (ebd., S. 88). Insofern gilt ihm der beschreibende
als objektivierender Aufsatz lediglich als eine auf der Oberstufe notwendige Ergänzung zu dem Genre, das unter Schülern oft als Pro & Contra kommuniziert wird.
Möglicherweise könnte Ludwig argumentieren, dass das von Grzesik skizzierte Aufsatzformat wieder die alte Form der Abhandlung rehabilitiert. Das soll uns hier aber
nicht interessieren, zu einer expliziten Absage an den Besinnungsaufsatz kommt es
1963 jedenfalls keinesfalls. Wichtiger ist für unseren Kontext etwas anderes: Grzesik
legitimiert seinen Erweiterungsvorschlag nämlich damit, dass der Druck zur objektivierenden Weltwahrnehmung, wie er in der geordneten Beschreibung von Sachverhalten wirksam werde, auf die wissenschaftliche Erfassung der Welt vorbereite. Zwar
ist es naheliegend, Grzesiks Impuls als Beleg für jene Versachlichungstendenz wahrzunehmen, die die Historiographie des Deutschunterrichts so gern bemüht. Aber
ich kann den legitimierenden Hinweis auch in dem Kontext reflektieren, der von
der privilegierten Rolle des deutschen Aufsatzes für die Erlangung der allgemeinen
Hochschulzugangsberechtigung handelt.
3 Besinnungsaufsatz: Erziehung zur Maturität
Dieser Zusammenhang ist nun, bekanntermaßen, kein übersichtlicher. Ein
Schweizer Leser der wirkungsträchtigen ‚Ordnung der Reifeprüfung an den höheren Schulen Preußens vom 22. Juli 1926‘ bemerkte 1929 mit leichter Irritation:
„Die schriftlichen Prüfungsarbeiten sollen den Schülern Gelegenheit geben, ‚ihre Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit’ nachzuweisen; das dürfte eine zu hoch gegriffene
Zielsetzung sein, zum mindesten wenn — was ja schon im Begriff ‚wissenschaftlich’
eingeschlossen liegt — produktive Arbeit gemeint ist, denn die blosse richtige Anwendung wissenschaftlicher Arbeitsmethoden ist nicht Wissenschaft, sondern Technik; der
deutsche Aufsatz ist, wenn es sich nicht um ein Thema literarischer oder sprachlicher Art
handelt, entschieden keine wissenschaftliche Leistung.“ (Zollinger 1929, S. 64)
Was mit dem Aufsatz als Ausweis von Reife und Maturität überprüft werden soll,
steht irgendwie in Verbindung mit der Kompetenz zu wissenschaftlicher Produktivität, ist aber andererseits keine wissenschaftliche Produktion. Dies gilt, wie der
Schweizer Rezensent befindet, insbesondere für die allgemeineren Abhandlungen,
die später zu Besinnungsleistungen modelliert werden. In der Sache ist diese Ambivalenz verständlich: Einerseits befindet man sich mit dem Abitur nach Humboldt
im Übergang zur Universität3 und zur Wissenschaft, andererseits weiß man um die
Nebenwirkungen der Überforderung, die eine Positionierung zu Fragen bedeutet,
die so ganz außerhalb der eigenen Erfahrungswelt stehen: das Phrasendreschen und
3 „Ihr [der höheren wissenschaftlichen Anstalten] Wesen besteht […] darin, innerlich die objektive
Wissenschaft mit der subjectiven Bildung, äusserlich den vollendeten Schulunterricht mit dem beginnenden Studium unter eigener Leitung zu verknüpfen, oder vielmehr den Uebergang von dem
einem zum anderen zu bewirken.“ (Humboldt 2010, S. 255).
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dergleichen (Nietzsche usw.).4 Nun verweist schon die Rede von Aufsatzerziehung
darauf, dass die Autoren des Deutschunterrichts dem Aufsatz nach 1945 selbst
eine erziehende Funktion zuwiesen, die auf die sukzessive Ermöglichung von Reife
zielt. Damit gemeint ist oftmals Sprachbildung, verstanden als eine (Selbst-)Bildung durch Sprache bzw. durch die Entfaltung der sprachlichen Erfassung von sich
und der Welt. Dazu zählt nicht nur bei Ulshöfer eine Sensibilisierung für kategoriale Beziehungen und begriffliche Differenzen bzw. Relationen (Begriffsklärung
bei Rahn). In einer Streitschrift aus dem Jahr 1996 bemüht sich Ulshöfer um eine
Rehabilitierung dieses Verständnisses und fordert auch für das Abitur
„eine Aufwertung des vor rund 30 Jahren abgewerteten Problemaufsatzes. Vor 30 Jahren
begann der Kampf gegen den Besinnungsaufsatz. Man hat ihn als Gesinnungsaufsatz
denunziert. Das Wort Besinnung galt als anrüchig, und keine Gesinnung zu haben, war
die neue Mode. Die Schüler/innen würden – so wurde argumentiert – durch den Besinnungsaufsatz zum Nachbeten der Gesinnung des Lehrers/der Lehrerin gezwungen. Mit
dem Begriff ‚Erörterung‘ hoffte man, die Gefahr beseitigt zu haben. Doch allmählich hat
die literarische Textinterpretation – eine unerhört wichtige Neuerung der 50er Jahre –
die Erörterung verdrängt. Erst langsam entdeckt man wieder den sprachbildenden Wert
dieser Darstellungsform; sie ist heute in bescheidenem Umfang wieder zugelassen. […]
Nach 1945 hat man der ‚Erziehung zum Schreiben‘ große Aufmerksamkeit geschenkt.
Damals wurde sie ‚Aufsatzerziehung‘ genannt, ein Wort, das vor 30 Jahren zu unrecht
in Verruf kam; denn das ‚Aufsetzen‘, ‚Aufbauen‘, ‚Gliedern‘, ‚Entfalten‘ oder ‚Komponieren‘ eines Sprachgebildes sollte im Gymnasium sorgfältig geübt werden. […] Damals
war Aufsatzerziehung und Aufsatzkorrektur noch ein Thema, dem die Medien große
Beachtung schenkten. Wer kümmert sich heute noch darum? Würde ein ähnliches Heft
für die letzten zehn Jahre zusammengestellt – mit Beiträgen aus den deutschen Bundesländern und aus Österreich, der Schweiz und Großbritannien, so könnte man sehen,
welche Fülle von lohnenden Themen vorhanden ist und welchen Wert die Aufsatzform
der Erörterung für die Denkschulung, Entfaltung des sprachlichen Gestaltungsvermögens und Weitung des Blickfeldes der Schüler hat. Für das zukünftige Berufsleben der
Abiturienten spielt die Erörterung eine weit größere Rolle als die Interpretation einer
Textstelle aus dem Roman ‚Stiller‘“. (Ulshöfer 1996, S. 46f.)
1950 heißt das Programm bei Ulshöfer dezidiert und in Referenz auf Wilhelm
Flitner ‚Aufsatzunterricht als Lebenslehre‘. Dabei konstatiert er, nicht ohne
Ambivalenz, dass es in der gegenwärtigen – pluralistischer geratenen – Gesellschaft schwieriger geworden sei, per Besinnungsaufsatz die Welt zu deuten. Diese
Schwierigkeit führt selbstredend nicht zu einer Absage an den Aufsatz und seine
Ziele, im Gegenteil geht es ihm um eine forcierte Erziehung:
„Im Besinnungsaufsatz soll der junge Mensch seine Fähigkeit zur Besinnung, zur Sinngebung oder Sinndeutung allgemein bedeutsamer geistiger Erscheinungen und Lebensvorgänge bekunden. Er muß deshalb durch die Schule und besonders durch den Sprach4 Vgl. für diesen Zusammenhang Kämper-van den Boogaart (2013) und Hamelmann/Kämper-van
den Boogaart 2013.
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unterricht der Oberstufe zur Besinnlichkeit erzogen werden, es müssen seine geistigen
Sinne und damit sein Ausdrucksvermögen auf dem Gebiet des innermenschlichen und
des zwischenmenschlichen Lebens besser entwickelt werden. […] Nun bilden sich aber
im jungen Menschen die geistigen Sinne nur in dem Maße, wie er sich selbsttätig mit
den Grundfragen des Daseins auseinandersetzt. Deshalb sollte das Fach, das in besonderem Maß dazu anregen kann – die Sprach- und Aufsatzerziehung –, sich mehr als
bisher um die Klärung und Vertiefung des Wertbewußtseins und die Entwicklung des
sprachlichen Unterscheidungsvermögens bemühen. […]
Wir müssen vom Beginn der Oberstufe ab planvoll und regelmäßig das Sich-Besinnen
über die Grundformen und -vorgänge des sittlichen, religiösen; sozialen, politischen und
ästhetischen Lebens mit den Schülern üben, damit sich ihr Sprachbewußtsein, d. h. ihre
geistige Gestaltungskraft entwickle.
Man kann einwenden, das geschehe im Geschichts-, im Physik- und Biologieunterricht,
in der Philosophie ohnehin. Geschieht es wirklich? Dort lernen die Schüler zwar viel, aber
nicht das Nachdenken über die Fachbegriffe, auch nicht, in ihrer eigenen Sprache die Begriffsinhalte auszudrücken. Sprachbildenden Wert hat aber ein Unterricht nur dann, wenn
der Schüler sich in seiner Sprache über den erarbeiteten Gegenstand äußern muß.
Was also nicht nur im Hinblick auf die Reifeprüfung, sondern auch auf das Bildungsideal unserer höheren Schule zu wünschen wäre, ist dies: eine Aufsatzerziehung als Lebenslehre vom Beginn der Oberstufe ab in Form einer Arbeitsgemeinschaft für alle Schüler.“
(Ulshöfer 1950, S. 47f.)
Für eine solche „Arbeitsgemeinschaft“ liefert Ulshöfer praktische Beispiele und
Zielsetzungen, zu denen nicht weniger als die „Entstehung eines einheitlichen
Weltbildes“ (ebd., S. 51) zählt, was wohl nicht vorschnell mit Weltanschauung
identifiziert werden sollte. Die Praxishinweise enthalten zuvörderst natürlich Themenvorschläge für Aufsätze und Debatten, aber liefern auch Vorstellungen von
der basalen Wortfeldarbeit, die buchstäblich dazu führen soll, sich Begriffe von der
Welt zu machen und dergestalt zu der immer wieder angemahnten Klarheit der
Gedankenführung zu gelangen. Was hier für den Deutschunterricht und den Abituraufsatz nahegelegt wird, fußt einerseits auf dem Sprachkonzept Weisgerbers,
dessen Marginalisierung Ulshöfer noch in ‚Mein Deutschunterricht‘ betrauert;
andererseits interagieren die Vorstellungen mit dem noch rudimentären Konzept
einer erst noch zu entwickelnden Disziplin namens Gymnasialpädagogik. Hier
soll es um eine Didaktik der höheren Schule gehen, um eine Erziehungs-, Ausleseund Unterrichtslehre, die sich dezidiert von einem Bildungsdiskurs absetzen soll,
den Ulshöfer als leer oder geschwätzig geraten sieht. In seiner programmatischen
Abhandlung schreibt er für das Eröffnungsheft von ‚Gymnasialunterricht‘:
„Junge Menschen wollen erzogen werden zum Lesen, zum Schreiben, zum Rechnen, zum
Schönschreiben, zum Arbeiten, zum rechten Verhalten, zu selbständigen Denken und Handeln, zur Ehrfurcht, zu Bescheidenheit und zum Selbstvertrauen, zur Freiheit, zur Scham, zu
Kirche, zum Staat. […] Durch Erziehung während der Jugend gelangt der Mensch zur Bildung in der Zeit des Mannes- und Frauentums. Unsere Jugend wird auf Grund einer bedenklichen Bildungsideologie falsch angefaßt und zu wenig erzogen.“ (Ulshöfer 1959, S. 31f.)
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Solche Sätze klingen nicht erst in aktueller Sicht in der für das Bild Ulshöfers prägenden Art reaktionär. Gleichwohl sollte nicht verkannt werden, dass die Kritik an
einem inflationären Bildungsbegriff um einen diskursiven Ort bemüht ist, Fragen
des gymnasialen Unterrichts konkret zu verhandeln, um für diese Schulform ein Profil zu finden, das Ableitungen in die unterschiedlichsten Facetten schulischer Praxis bietet. Ulshöfer und seine Gemeinde haben dabei eine vergleichsweise deutliche
Vorstellung davon, was die Rolle der Absolvent*innen bzw. Abiturient*innen sein
soll – Führungsschicht einer (halbwegs) modernen Gesellschaft. Aus diesem Konzept heraus erwachsen letztlich auch seine Erwartungen an die im Aufsatz dokumentierte Maturität: Klarheit, Urteilsfähigkeit, Wertorientierung, Substanzialität.
Im Vergleich zu dem, was andere als Wissenschaftspropädeutik ins Auge fassen, ist
dies fachunspezifisch und sicher nicht abbilddidaktisch. Nicht vergessen werden darf
dabei, gerade mit Blick auf die Selektionsrolle der Reifeprüfung, dass in Ulshöfers
gymnasialpädagogischem Ansinnen neben der Erziehung der heranwachsenden Elite
deren Auslese einen wichtigen Platz einnimmt. Schon 1959 hält er den Anteil der
Gymnasiast*innen für zu hoch und postuliert eine rigidere Selektion. Dass auslesestrategisch dem Besinnungsaufsatz als Denk- und Sprachschulung bzw. als Genre
einer kategorial ausgewiesenen Wertung eine Schlüsselrolle zukommt, verdeutlichen
seine Auslassungen von 1949 (Ulshöfer 1949). Hier zitiert er, interessant genug, statistische Erhebungen des Jahres 1941 (1942 publiziert), die eine verschwindend geringe
„positiv auslesenden Wirkung der Fächer der deutschkundlichen Gruppe“ belegten,
was im Kontrast zu Mathematik und den Naturwissenschaften stehe. Ulshöfer selbst
bringt zur Erklärung für diese Tendenz vor allem eine einseitige durchgeführte und
missverstandene Reformbewegung im Laufe des 20. Jahrhunderts in Anschlag, die
im Ergebnis aus dem Deutschunterricht ein Unterhaltungsfach gemacht hätten, das
nicht länger auf „sprachliche Zucht“ achte. Als probate Reaktion präsentiert er seine 1947 für Württemberg-Hohenzollern erstellten Reifeprüfungsaufsatzrichtlinien,
die im Ergebnis Deutsch wieder zu einem „auslesekräftigen Fach“ (Ulshöfer 1949,
S. 21) gemacht hätten. Tatsächlich wurden 1947 15 Prozent der Abituraufsätze mit
‚schlechter als mit ausreichend‘ bewertet, 37 Prozent mit ausreichend.
4 Besinnungsaufsatz und dialektische Erörterung
4.1 P&C: das persistente Schema
Das oben zitierte Lamento Ulshöfers über die Diskreditierung des Problem- bzw.
Besinnungsaufsatzes verführt zu der Annahme, dass ein entsprechendes schulisches
Textgenre mittlerweile aus der Unterrichts- und Prüfungspraxis verschwunden sei.
Und dieser wird man vermutlich auch folgen, blättert man in Überblicksartikeln zur
Entwicklung der Schreibdidaktik, die ganz andere Akzente zu setzen scheinen, wenn
das kommunikative oder das heuristische Schreiben differenziert, die Orientierung
auf Schreibzwecke hervorgehoben und die Prozessorientierung des Schreibens in den
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Aufsatzmethodik in der Diskussion
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Mittelpunkt gestellt werden. Wie sehr man sich bei solchen Annahmen täuschte,
macht ein rascher Blick in die digitale Welt der im Netz kursierenden Schülerhilfen
deutlich. Geht es um die Erörterung und um Formen postnarrativen Schreibens,
dominieren nach wie vor die Grundschemata der inkriminierten Aufsätze, die hier
mit Fritz Rahn und Robert Ulshöfer assoziiert wurden. Dass dieser Eindruck nicht in
die Irre geht, zeigt Helmuth Feilke in seinen „Beobachtungen zum Gebrauch didaktischer Werkzeuge“ sehr anschaulich, wenn er an Beispielen verfolgt, wie Lernende
in der Konfrontation mit Impulsen zu einem situierten Schreiben explizit auf vertraute Textschemata zurückgreifen, so das „PRO-CONTRA Schema“, das so verinnerlicht zu sein scheint, dass man im Austausch gar von „pro-igeren Argumenten“
spricht (Feilke 2017, S. 65).5 Diese Schemata, die wirkungsmächtig und nachhaltig
die Praktiken schulischen Schreibens bestimmen und die auch noch das Schreiben
in nachschulischen Zusammenhängen prägen, werden in Genres gelernt und geübt,
die nicht mehr Besinnungsaufsätze heißen, aber noch wie in den 1950er Jahren nach
„Stilformen“ unterschieden werden. Mit der für Schematisierungen typischen Neigung zu klaren Klassenbildungen6 wird jetzt oft zwischen drei Formen unterschieden,
nämlich eine lineare, eine dialektische oder kontroverse und eine textgebundene Erörterung. Unterscheidungen wie diese kursieren eher in Lern- und Unterrichtshilfen
und weniger in curricularen Vorgaben wie namentlich den Bildungsstandards; daher
darf man annehmen, dass sie in der Praxis als probate, da zu vermittelnde Operationalisierung wenig elaborierter Normierungen fungieren. Mit anderen Worten: Für
Lernende und Lehrende klären sie, was unter der „zentralen Schreibform“ „Erörtern“
(KMK-Standards MSA, S. 21) konkret zu verstehen ist und wie diese „Schreibform“
unterrichtet, geübt und ihre Beherrschung überprüft werden kann. Dabei ist anzunehmen, dass die Stabilität von Genres wie denen der dialektischen und linearen
Erörterung wesentlich damit zusammenhängt, dass sie den Praktiker*innen als gut
vermittelbar erscheinen und dass ihre normativen Strukturmerkmale Kriterien liefern, die das notorische Bewertungsproblem zumindest nicht verschärfen.
5 Zum zähen Nachleben des Formats vgl. auch die Befunde von Jasper und Müller-Michaels: „Bereits
in den Richtlinien von 1963 wurde der Besinnungsaufsatz in seiner engen Bedeutung als Problemaufsatz gestrichen. Dennoch zeigt er in seiner rationalen Variante ein Beharrungsvermögen über das
Jahr 1963 hinaus. Im Gymnasium Remigianum Borken lautet das Thema im Abiturjahrgang 1969,
durchaus in vertrauter Wendung: Wir stehen gegenwärtig in einer schweren Autoritätskrise. Stellen Sie
einige Bereiche dar, in denen sie sich bemerkbar macht, und setzen Sie sich mit der Frage auseinander, ob
es auch ohne Autorität geht!“ (Jasper/Müller-Michaels 2010, S. 380f., Hervorh. i. O.). Das Aufsatzkorpus des Forschungsprojekts weist für andere Schulen aus, dass dort noch länger Besinnungsaufsätze im Abitur bearbeitet werden konnten.
6 Kennzeichnend dafür ist die viel diskutierte Matrix von Marthaler (1962). Eine aktualisierte Darstellung der Matrix auf der Plattform Teachsam: https://www.teachsam.de/deutsch/d_schreibf/
schr_schule/mmf/images/aufsatztypen%20marthaler%201962%20740px.png. Diskutiert wurde
insbesondere die Unterscheidung zwischen sachlichen, verstandesmäßigen und persönlichen, gefühlsbetonten Aufsätzen. Marthaler fasst die Abhandlung als sachliche Form und die Betrachtung
als persönliche Form auf, wobei die Abhandlung als Erörterung, der Besinnungsaufsatz als Betrachtung gilt. Vgl. Ludwig (1998, S. 440) sowie Decker (2016, S. 39ff.).
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Michael Kämper-van den Boogaart
4.2 Richard Bochingers Handwerk dialektischen Schreibens
Sichtet man die Literatur zum Besinnungsaufsatz, die in den 1960er Jahren zunehmend kritische Töne anschlägt, findet man neben den Verweisen auf die Themenhefte von Ulshöfers Zeitschrift ‚Der Deutschunterricht‘ vor allem Hinweise
auf den 1959 in erster Auflage bei Klett erschienen und streng methodisch ausgerichteten Band des Gymnasiallehrers Richard Bochinger mit dem Titel ‚Der dialektische Besinnungsaufsatz‘. Von noch größerer Wirkung als diese Monographie
für den Praktiker dürfte das Lehrbuch ‚Deutsche Spracherziehung‘ gewesen sein,
das unter den Namen von Fritz Rahn und Wolfgang Pfleiderer viele Jahre und in
vielen Auflagen hochgradig präsent war. 1933 auf den Weg gebracht, erschienen
die Bände dieses Schulbuchs seit 1951 bei Klett. Den VII. Band und dessen Heft
1 zur ‚Gestaltungslehre‘ und mithin zum Besinnungsaufsatz bearbeitete Bochinger unter Mitwirkung Rahns 1958 bis 1960 (vgl. König u. a. 2003, S. 1458).
Bochinger starb bereits 1966, zwei Jahre nach Rahn, im Alter von 41 Jahren in der
Folge eines Wanderunfalls, wie sein Verlag Klett in einer posthum erschienen Monographie Bochingers zum ‚Oberstufenaufsatz als Textaufgabe‘ in einer einleitenden Würdigung mitteilte. Zum Zeitpunkt seines Todes war Bochinger seit 1964
Leiter des evangelischen Internats Schloss Gaienhofen. Anders als Bochinger dürfte Rahn, dessen Name sich mit der ‚Deutschen Spracherziehung‘ verbindet und
der, wie gesehen, von Ludwig als Hintermann der NS-Geschichte des Besinnungsaufsatzes auf nicht unproblematische Weise enttarnt wurde, nicht nur Insidern bekannt sein.
Im Januar 1956 brachte er es immerhin auf
die Titelseite des ‚Spiegel‘, der nicht nur über
seinen Widerstand gegen eine Rechtschreibreform berichtete, sondern eine regelrechte
Home-Story über den begeisterten AutoWanderer, Geiger, Schmetterlingssammler
und vielseitigen Autor und Gymnasiallehrer
liefert (Der Spiegel 4/1956, S. 32). Obschon
mit Rahn verbunden, liefert Bochinger mit
seiner Methodenlehre zum dialektischen Besinnungsaufsatz keine Apologie des Meisters,
sondern weist bereits auf den ersten Seiten auf
Inkonsistenzen in dessen Schriften zum Genre
hin; und Gleiches gilt auch für die Würdigung
Ulshöfers. Als Rahns Verdienst gilt Bochinger
insbesondere, dass dieser es gewesen sei, der
Abb. 2: SPIEGEL-Titel 1956
die Forderung Martin Havensteins7 nach einer
7 Zu Martin Havenstein vgl. Kämper-van den Boogaart 2019 und Born/Kämper-van den Boogaart (i. V.).
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Aufsatzmethodik in der Diskussion
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Versöhnung zwischen der 1930 noch neuen „subjektivistischen“ und der „objektivistischen“ Richtung in der Aufsatzerziehung umgesetzt und mit den Vorschlägen zum
Besinnungsaufsatz „schulpraktisch gemacht“ habe (Bochinger 1961, S. 36).
Geht es um die thematische Ausrichtung des Besinnungsaufsatzes, kommt zu der
methodisch vielleicht anspruchsvollsten Erwartung, eine Fragestellung zu generieren, die sich nur möglichst dialektisch mit einer „synthetisch“ auftretenden Lösung
bearbeiten lässt, ein grundlegendes Problem der Aufsatzerziehung, verstanden als
Erziehung durch das Aufsatzschreiben, hinzu. Mit der Vorstellung Ulshöfers, die
Arbeit mit dem Besinnungsaufsatz als Teil einer Lebenslehre zu verstehen, teilt
Bochinger das Ziel, dass das Verfassen von Besinnungsaufsätzen den Schülern helfen müsse, in der Oberstufe sukzessive ein Weltbild aufzubauen. Sehr viel klarer ist
aber für Bochinger, dass es am Ende der 1950er Jahre kein „allgemein verbindliches
Weltbild“ mehr geben könne, in dessen Aufbau die Lehrkraft ihre Schüler durch
geeignete Themengestaltung „dirigieren“. Diskreditiert sieht er auf der Basis der
historischen Vorstellungen die Ideale eines humanistischen Weltbildes; angesichts
des offenbar gewordenen Bösen in der Grundanlage des Menschen sei es nur noch
wenigen gegeben, ungebrochen an die guten Anlagen des Menschen zu glauben
(ebd., S. 90). Nicht universalisierbar seien in einer auf Toleranz und Pluralität verpflichteten Gesellschaft zudem die konfessionellen Weltbilder. Da Erziehung also
nicht allgemein einem Weltbild unterworfen werden könne, fasst Bochinger, wie
zuvor Ulshöfer, die Möglichkeit eines leitenden Menschenbildes ins Auge, verwirft
aber Ulshöfers Leitbild des ritterlichen Menschen entschieden wie höflich, wenn
er die damit verbundene Blickrichtung als „zu retrospektiv“ kennzeichnet und
vorsichtig andeutet, dass Ulshöfer über den eigenen Vorschlag nicht hinreichend
nachgedacht habe (ebd., S. 91). Statt solcher Setzungen versucht Bochinger „aus
der modernen Wirklichkeit die Züge zu erschließen, die der moderne Mensch tragen müßte, wenn er mit der modernen Welt fertig werden will und wenn uns die
allseits angefochtene Freiheit unserer Lebensordnung erhalten bleiben soll“ (ebd.,
S. 92). Hierbei konzediert er, dass dieses zwischen individuellem und sozialem Wohl
ausbalancierte Bild nicht dem gegenwärtigen Menschen oder den empirischen Verhältnissen abzulesen sei, sondern dass dessen Wesenszüge zum Teil erst dadurch
sichtbar würden, „daß die moderne Wirklichkeit sie zu entbehren scheint“ (ebd.).
Was er in dieser Richtung positiv aufführt, entspricht strukturell in mancher Hinsicht jenem Ausgewogenheitsideal, das mit der Lösung des dialektischen Aufsatzes
verbunden werden kann (ebd., S. 92ff.). Nicht nur „zwischen Geiz und Verschwendung“ halte der ideale Mensch der Moderne „die rechte Mitte“, auch in anderen
Fragen der Lebenspraxis meide er Einseitigkeiten und sei um Balance bemüht (ebd.,
S. 92). Entwirft Bochinger dergestalt auf mehreren Seiten Züge eines Menschen,
der ihm als der in jeder Hinsicht probate Sozialcharakter des modernen Menschen
erscheint, sind zwei Einschränkungen zu beachten. Zum einen betont auch er für
seinen „Versuch“ (ebd.), dass dieser lediglich die Schüler der gymnasialen Oberstufe
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Michael Kämper-van den Boogaart
adressiere, mithin von „den geistig geschulten, innerlich selbständigen Menschen“
handele, während für Schüler anderer Schultypen „notgedrungen“ andere Leitbilder
ausgearbeitet werden müssten (ebd.). Zum anderen räumt er ein, dass die pädagogische Ausrichtung auf ein entsprechendes Menschenbild kraftlos bliebe, würde
sie den Lehrkräften oktroyiert, zumal diese als Individuen in einer pluralisierten
Gesellschaft unterschiedlichen „Denkrichtungen“ folgten und daher verschiedenen
metaphysischen Legitimationen anhingen, welche ihm als Fundierung eines pädagogisch kraftvollen Menschenbildes unverzichtbar erschienen (ebd., S. 91, S. 94).
Mit diesem Akzent auf die Autonomie der Lehrenden schließt er seine erziehungstheoretischen Reflexionen und macht deutlich, wie er das Dirigieren der Lehrkraft
im Aufsatzunterricht der Oberstufe begreift:
„Hat er sich entschieden, dann wird ihm ein wirklich gezieltes Vorgehen möglich sein,
denn jetzt kann er die einzelnen Züge des Menschenbildes, das er herausarbeiten läßt,
auch mit allem dem vertreten, was er als Mensch einzusetzen hat. Er wird sie so herausarbeiten lassen, daß er sie zum Gegenstand der dialektischen Synthese (= Lösung) macht.
Will er z. B. den Schüler die beschriebene Art der Bescheidenheit finden lassen, wird er das
Thema stellen: ‚Soll man stolz sein auf das, was man ist und kann, oder soll man sich stets
vor Augen halten, wieviel mehr andere sind und können?‘ – Natürlich wird er sich dann
auch nicht bloß in der Aufsatzarbeit um die schrittweise Entfaltung des Weltbildes im
Schüler mühen, sondern er wird, solange er mit einer Klasse arbeitet und was immer er mit
ihr macht, diesem einen Ziel zustreben. Aber der Aufsatz als unvorbereitete, dem Schüler
allein übertragene Aufgabe wird immer eines der wesentlichsten Stücke dieser Arbeit sein,
weil er hier den Schüler dazu ansetzen kann, sozusagen die Gelenkstellen dieses Menschenund vielleicht schon Weltbildes in eigener Denkarbeit selbst zu entdecken.“ (ebd., S. 94)
Abb. 3: In: Deutsche Spracherziehung
VII H.1
Wie noch zu sehen sein wird, spielen in den
kritischen Debatten über die thematischen Affinitäten gymnasialer Besinnungsaufsätze solche Verständnisse dirigierender Erziehung notwendig eine Rolle. Allerdings gewönne man
einen falschen Eindruck der von Bochinger
auf die Praxis ausgehenden Wirkungen,8 verengte man seine Einlassungen zur Aufsatzmethodik auf die Ebene pädagogischer Letztbegründungen. Dass sich Bochinger 1963 im
Themenband VII des ‚Deutschunterrichts‘ explizit eines „Handwerk[s] des Schreibens“ annimmt, scheint konkret Anwürfen geschuldet,
die Karl-Ernst Jeismann ein Jahr zuvor in der-
8 Dass seine und Ulshöfers Vorschläge zur Frage der normativen Erziehungswerte des Aufsatzunterrichts
unbeachtet geblieben seien, merkt Bochinger selbst enttäuscht an (vgl. Bochinger 1963, S. 64, FN 4).
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Aufsatzmethodik in der Diskussion
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selben Zeitschrift vorgetragen hatte. Jeismann, der später als streitbarer und wirkungsmächtiger Geschichtsdidaktiker hervortreten und von 1978 bis 1984 das
Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig
leiten sollte, polemisiert in seinem Beitrag ‚Zur Themenkritik des Oberstufenaufsatzes‘ gegen die Perversionen, die eine Aufsatzmethodik der Rahn-Schule auslöse,
gegen „Entleerung und Formalismus“, „Monotonie und Überdruß“ als Folge der
Hegemonie eines Thementyps schulischer Aufsätze (Jeismann 1963, S. 41). Und
er greift massiv den kleinschrittigen und auf Übung setzenden Lehrgangscharakter an, den Bochingers Bearbeitung der „Gestaltungslehre“ im „Rahn-Pfleiderer“
Lehrwerk (s. u.) auszeichnet:
„Welchen Schülertyp züchten wir, wenn wir Aufsatzerziehung so handhaben? Wir unterstützen geistige Mediokrität, die Kompromisse für Synthesen nimmt und sich damit
beruhigt; die routiniert Gedanken zu manipulieren weiß, ehe überhaupt gedacht wurde,
oder einfach brav ein Schema lernt.“ (ebd., S. 38)
Wie angesichts seiner vorliegenden methodischen Hinweise und ihrer Umsetzung
in der „Spracherziehung“ nicht anders zu erwarten, liefert Bochinger in seiner
Replik9 eine Apologie der handwerklichen Grundlagen des Schreibens und
setzt sich gleichsam vom Vorwurf ab, das Handwerkliche zu hypostasieren und
einer Erziehung zu schematischem Schreiben beizutragen. Eine zentrale Analogie
für seine Verteidigung handwerklichen Übens liefert der Geigenunterricht und
dessen Etüden, die auch für den talentierten Violonisten unerlässlich seien, die
aber keineswegs das subjektive Moment der Begabung obsolet machten, sondern
diesem vielmehr die Möglichkeit seiner Entfaltung sicherten (Bochinger 1963,
S. 67). Verbunden mit dieser Rehabilitation des Handwerklichen werden zwei
Aspekte, die das Genre des dialektischen Besinnungsaufsatzes besonders rechtfertigen sollen. Zum einen ist dies das jugendpsychologische Argument, dass die
Erarbeitung dialektischer Lösungen dazu beitrage, altersbedingte „einseitige Entscheidungen“ relativieren zu lernen:
„Indem ihn nun die dialektische Grundform der Darstellung darauf hinweist, daß ganz
anderesgeartete einseitige Entscheidungen ebenso möglich sind wie die seine, leitet diese
Grundform ihn an, auch solche Entscheidungen mitzubedenken; und indem sie ihm die
‚Lösung‘ vorschreibt, zeigt sie ihm den Weg, auf dem er zu einer Entscheidung finden
kann, die nicht mehr einseitig ist.“ (ebd., S. 69f.)
Läuft diese Legitimation des Genres eindeutig auf jene bildungstheoretische Begründung hinaus, die den Zusammenhang zwischen Menschenbild und Aufsatz9 Aufschlussreich scheint mir zu sein, dass Bochinger sich vornehmlich mit Jeismanns Anwürfen
auseinandersetzt, aber nicht mit den für seinen Ansatz eigentlich substantielleren, die Grzesik im
gleichen Themenheft vorträgt. Dessen Kritik wird uns noch beschäftigen (s. u.).
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Michael Kämper-van den Boogaart
form ins Licht setzen soll, kann eine zweite Legitimation eindeutig als eine methodische gekennzeichnet werden. Sehr freimütig räumt Bochinger nämlich ein,
dass der Besinnungsaufsatz eine Schulpflanze sei, die im Alltag „so nur selten vorkommt“ (ebd., S. 68). An dieser Schulgattung seien aber bestimmte Formen des
Schreibens mit geringem Aufwand und am einfachsten zu lernen und zu üben.
Spricht für die Erlernbarkeit die starke Schematik des Genres, ist indes, wie so oft,
schnell der Einwand aufgerufen, dass solch ein Schreibtraining zu einem Schematismus führe. Bochinger räumt diese Gefahr grundsätzlich ein und schlägt pragmatisch vor, die rein schematische Reproduktion des Gelernten mit der „Note 4“
zu quittieren (ebd., S. 72). Zudem verweist er darauf, dass das Selbstbewusstsein
des Schreibenden, das nötig sei, um zu eigenen Aussagen zu gelangen, von der Beherrschung des Handwerklichen abhänge. Dessen „Aussagefreudigkeit“ entzünde
sich erst in der Konfrontation mit einer Aufgabe und insbesondere dann, wenn
der Schreibende das Gefühl habe, sie aufgrund seines handwerklichen Könnens
bewältigen zu können.
Worauf zielen nun die aufsatzmethodischen Ratschläge, die Bochinger den
Lehrkräften erteilt, um mit dem dialektischen Besinnungsaufsatz eine Form zu
etablieren, die den Lernenden ein Training geeigneter Etüden erlaubt? Geringe
Schwierigkeiten scheinen in methodischer Hinsicht die Grundpläne des Genres
zu machen, die Bochinger in eine strenge thetische und eine lebendigere, eher
diskursive Form unterteilt. Während in der thetischen Form nach einer Einleitung erst die Argumente der ersten These abgearbeitet werden sollen, bevor
nach der zweiten These die sie stützenden Argumente ausgeführt werden, wird
in der anspruchsvolleren zweiten Variante nach einer Gegenüberstellung der sich
widerstreitenden Thesen (Pro & Contra) von Argument zu Gegenargument wie
in einem (idealen) Streitgespräch gesprungen, bevor wie in der ersten Variante
eine Lösung angesteuert wird, die wichtige Aspekte von These und Gegenthese
in eine Balance bringen soll, was ihr den Titel einer Synthese einträgt.10 Im Unterricht oder bei den Etüden zu diesen Formen komme es unter anderem darauf
an, Textmuster für die einzelnen Teile und ihre Übergänge kennenzulernen und
zu erproben, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Qualität von Argumenten,
ihren Abstraktionsgrad und die Distinktion zwischen Argumenten und Beispielen
gelegt werden solle. Beide Grundpläne verlangen dem Schreibenden zudem ab,
den von beiden Thesen erfassten Zusammenhang als einen ganzen wahrzunehmen, den die Lösung als solchen zu bearbeiten habe. Die Schreibenden müssten
folglich davon abgebracht werden, eine der beiden These als ihre Meinung zu
identifizieren und in der Lösung dominieren zu lassen:
10 Bochinger betont an verschiedenen Stellen, dass es trotz der durch die Bezeichnungen nahegelegten Assoziationen nicht darum gehe, in Hegels Philosophie einzuführen.
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„Es geht überhaupt nicht um Meinungen und persönliche Wahl. Sondern es handelt sich
darum, eine komplizierte Sache überzeugend so darzustellen, daß das in ihr angelegte
Problem durch diese Darstellung seiner Lösung zugetrieben wird. […] Weil […] die
Argumentation zu beiden Thesen im Grunde eins ist, weil sie nur verschiedene Seiten
der einen Sache aufzeigt, ist von der Sache her, Einseitigkeit und Widersprüchlichkeit
ausgeschlossen. (Darauf, daß sie sich in der Praxis nur durch Übung ausschließen lassen,
wird noch zurückzukommen sein).“ (Bochinger 1961, S. 20)
Die Wahrnehmung der Aufgabe als „komplizierte Sache“ setzt neben der Übung
auch voraus, dass Thematik und Aufgabenformat einerseits Klarheit über die zu
traktierende antithetische Konstellation verschaffen, andererseits aber auch eine
hinreichende Offenheit der Entscheidungsfindung signalisieren. Ebendies scheint
kein kleines Problem zu sein, wie Bochingers Reflexionen zur Themenwahl demonstrieren. Diverse Strukturen kurrenter Themenstellungen wie zum Beispiel
das Zitat als Aufgabenstellung werden diskutiert und verworfen, um letztlich die
Ausrichtung auf eine „dialektische Wertfrage“ als geeignetste Form herauszustellen. Bochinger knüpft durchaus an Rahn an, wenn er die Wertfrage als eine Frage
definiert, „die zu einer Entscheidung auffordert, diese Entscheidung aber nicht
auf privatsubjektiver Basis zuläßt, sondern allgemeinverbindlich verlangt“ (ebd.,
S. 55). Das Attribut dialektisch solle der Frage indes nur zufallen, wenn ihre Lösung die Produktivität des Schreibenden erzwinge. Ausgeschlossen werden sollen
damit Entscheidungsfragen, die a priori bzw. vor dem besinnenden Schreibprozess schon entschieden sein können. Dies könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn
sich die alternativen Thesen als Bewertungen der Sache deutlich ausschließen und
nicht zwei (respektable oder nicht zu ignorierende) Seiten einer umfassenden Beurteilung der Sache umfassen. Doch auch im letzten Fall reichte es nicht aus, die
antithetische Konstellation einer Wertfrage zu formulieren, wenn diese Konstellation „keine die beiden Thesen umgreifende Lösung erlaubt“ und die Bearbeitung
der Aufgabe sich als „ausweglos“ herausstellt (ebd., S. 65).
Die Präferenz für eine dialektische Wertfrage dieses Zuschnitts impliziert für die
Lehrkraft erhebliche Aufwände. Schnell zeigt sich nämlich, dass viele der „handelsüblichen“ Aufgabenstellungen für Betrachtungen, Erörterungen oder Problem- und
Besinnungsaufsätze sich nicht auf die Struktur einer in diesem Sinn funktionierenden dialektischen Frage zurückführen lassen. Betrachtet man beispielsweise die
Sammlung, die Ulshöfer 1965 für ‚Themen der Reifeprüfungsaufsätze 1958–1964‘
vorlegte, zeigt sich rasch, dass das Gros der Aufgaben den Ansprüchen Bochingers
nicht einmal im Ansatz entspricht. Auch bei den nichtliterarischen Themen dominieren Aufgaben, die Bochinger wohl eher der Facharbeit bzw. dem Fachaufsatz zugewiesen hätte (Bochinger 1961, S. 86ff.). Selbst wenn man wie Rahn großzügiger
verführe und jede Bearbeitung einer „Wertfrage“ als Besinnungsaufsatz fasste, könnte man die meisten Aufgabenstellungen nicht einem Besinnungsgenre zurechnen,
da sie eher auf die Klärung eines Sachverhalts hin angelegt sind – ganz zu schweigen
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von der großen Palette der nicht nur bei Bochinger inkriminierten Zitatthemen
(ebd., S. 43ff.)11 wie: „‚Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du
für dein Land tun kannst‘ (John F. Kennedy)“ (Rheinland-Pfalz 1964). Und auch
dezidiert als „Besinnungsthemen“ gruppierte Aufgaben verweisen größtenteils nicht
Entscheidungs- oder Wertfragen, zum Beispiel „Mauer – Brücke – Turm. Gegenstand und Sinnbild“ (Berlin). Bochinger ist angesichts dieser Situation in seiner
Monographie zum dialektischen Besinnungsaufsatz sehr daran gelegen, Lehrkräfte
für die aufwändige Entwicklung geeigneter „dialektischer Wertfragen“ zu motivieren und instruieren. Mit Blick auf das dem Genre zugesprochene Produktivitätspotential geben seine methodischen Anregungen hierbei zu erkennen, dass sich dieses
Potential erst im Zuge einer eigenen Argumentationsentfaltung taxieren lässt. Dem
Postulat, die Aufgabenstellung gut zu bedenken, dürfte demnach idealiter die Praxis
entsprechen, den avisierten Aufsatz probeweise selbst zu skizzieren.
Da die produktive Leistung des Schreibenden gerade das sein soll, was den Besinnungsaufsatz aus den Gefilden der alten Aufsatzerziehung heraushebt und die
Rede von einer Synthese aus alten und reformerischen Schreibpraktiken rechtfertigen soll, kommt der Auseinandersetzung mit einem verbreiteten Monitum große Bedeutung zu. Dieses Monitum lautet, dass die dem Schreibenden abgeforderte Auseinandersetzung mit allgemeinen Weltfragen zum Phrasendreschen verleite,
da er sich über etwas gewichtig auszulassen habe, das nicht in seinem Erfahrungshorizont liege. Ebendiesen Zusammenhang bestreitet Bochinger mit dem Verweis
auf einen „psychologischen Zwang der Situation“: „Nicht deshalb, weil jemand
zu einem allgemeinen, nicht persönlich gefaßten Gegenstand, zu dem er keine
Beziehung hat, schreiben soll, sondern weil er gezwungen ist, etwas zu schreiben,
was nicht seine Überzeugung ist, fabriziert er Phrasen.“ (Bochinger 1961, S. 71)
Ebendiesem Zwang sieht er Schreibende ausgesetzt, denen die Preisgabe persönlicher Bekenntnisse aufgegeben wird. Dem kontrollierenden Zugriff auf die
Gesinnung entziehe man sich mit dem reproduktiven Rückgriff auf die Phrase,
und mithin gehe die Rechnung nicht auf, dass die Adressierung persönlicher Erfahrungen einem phraseologischen Schreiben zuwiderlaufe. Mit dieser Distanzierung von der Identifikation des Besinnungs- als Gesinnungsaufsatz verbindet
Bochinger zudem die These, dass das Verlangen nach einem höchstpersönlichen
Ausdruck einer expressionistischen Vergangenheit zuzurechnen sei, in die er auch
Walter Schönbrunns Weckungsdidaktik mit ihrem Postulat einreiht, jeder Aufsatz
müsse ein Bekenntnisaufsatz sein: „Warum sollen wir denn auch den Schüler zu
der irrigen Auffassung verleiten, als sei an seiner privat-persönlichen Meinung zu
einer Frage so viel gelegen?“ (ebd., S. 72)
11 Vgl. z. B. die Empfehlungen des Schulkollegiums Düsseldorf zum deutschen Reifeprüfungsaufsatz
1961: „Häufig wird das Problemthema in Form eines Zitates gestellt. Davor ist eindringlich zu warnen.
Außer der Gefahr der unklaren Themenstellung […] besteht die Gefahr der Mißdeutung, wenn man
einen Einzelsatz aus seinem Zusammenhang herauslöst und absolut setzt.“ (vgl. Ulshöfer 1965, S. 21).
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Abb. 4: „Stoffsammlung und Ordnung der Gedanken“. In: Deutsche Spracherziehung VII Bd. 1
Sachlichkeit und „Sachdisziplin“ sind nicht nur Attribute, die dem modernen
Menschenbild Bochingers eignen und deshalb Erziehungsziele darstellen, sie
scheinen ihm nachgerade auch Bedingung dafür zu sein, dass es im schulischen
Schreiben zu einer „inneren Beteiligung des Schreibers an dem, was er schreibt“
(ebd.), komme. Vollzieht man diese Argumentation nach, bleibt aber dennoch
die Frage, wie die Jugendlichen über etwas schreiben sollen, was sich ihren Kenntnissen und Erfahrungen entzieht. Bochinger verweist in diesem Zusammenhang
auf eine ansehnliche Zahl aufsatzmethodischer Kommentare, die, angefangen
mit Rahn (1938), darauf insistieren, dass das Thema des Aufsatzes im Unterricht
vorbereitet sein müsse, etwa durch sachliche Vorklärungen, Wortfeldarbeit oder
andere Formen der Einstimmung. Auch dem widerspricht allerdings Bochinger,
wiederum in der Sorge, dass unterrichtlich vermittelte Muster die Produktivität
der Schüler*innen hemmten. Statt einer stofflichen Vorbereitung setzt er neben
der Orientierung auf ein überfachliches Schulwissen der Oberschüler*innen darauf, einer Anregung Ulshöfers folgend, mit sogenannten „Sachfragen“ Schemata
zu üben, die die Erschließung zu klärender und zu bewertender Sachverhalte erlauben. Mit diesen Sachfragen soll während der „Stoffsammlung“ ein Bewusstsein textstrategisch zentraler Begriffe und ihres funktionalen Zusammenhangs im
Rahmen des Aufsatzthemas hergestellt werden – eine Praxis, die sich wie andere
Arbeitsschritte auch isoliert üben lässt und die zu Klarheit und Konzentration
der schriftlichen Gedankenführung beitragen soll. Im Lehrbuch werden solche
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Michael Kämper-van den Boogaart
Sach- als Schlüsselfragen eingeführt und von den Lernenden erarbeitet, wie das
Beispiel aus der Spracherziehung zeigt. Eine propädeutische Bedeutung wird zudem vorbereiteten Diskussions- und Debattierstunden zugesprochen, da der Gesprächscharakter und der überzeugende Vortrag von Sachargumenten zur Klärung
einer gemeinsamen Streitfrage mit Praktiken des dialektischen Besinnungsaufsatzes konveniere.
Diese Diskussionen geben wie die Themensetzungen der Aufsätze der Lehrkraft
zudem die Möglichkeit, die Lernenden durch die bedachte Wahl thematischer
Impulse unbemerkt in sein „Sinngefüge von Lebenswerten“ einzuführen: „Je
mehr in der Stille die Sache sich vollzieht, desto mehr Aussicht auf bleibenden Erfolg hat sie“ (Bochinger 1961, S. 89). Da es den Lernenden so erscheinen müsse,
als seien sie selbst es, die besagtes Sinngefüge aufbauten, wäre erläuternd hinzuzufügen. Was wahrscheinlich die Attraktivität der aufsatzmethodischen Arbeiten
Bochingers ausgemacht hat, war aber weniger diese Dirigentenpädagogik als vielmehr der Lehrgangscharakter, der die Monographie für die Lehrenden und das
Unterrichtswerk für die Lernenden auszeichnet. Während die Monographie in
einem umfangreichen „Praktischen Teil“ Pläne für den Aufbau oder zumindest die
Lösungsteile dialektischer Besinnungsaufsätze zu 150 unterschiedlichen Themen
liefert, enthält das Unterrichtswerk neben knappen Instruktionen eine Vielzahl
von Angeboten zur selbständigen Vertiefung und insbesondere Übungen zu den
Teilschritten unterschiedlicher Aufsatzformate. Hierbei handelt es sich zum Beispiel um Gliederungsaufgaben, um Aufgaben zu Argumenten und illustrierenden
Beispielen, zu den Übergangspassagen und zur Generierung der „Lösung“, die auf
der Basis antithetisch organisierter Argumente gebildet werden soll (siehe Abb. 5).
Abb. 5: In: Deutsche Spracherziehung VII, H 1, S. 14
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Abb. 5: In: Deutsche Spracherziehung VII, H 1, S. 14 (Fortsetzung)
Dass beide Bände Bochingers reichhaltig mit Beispielen ausgestattet sind, ist trotz
des erwartbaren Hinweises, dass man hier „nichts Endgültiges und Erschöpfendes“ (Bochinger 1961, S. 113) suchen solle, wie stets in solchen Fällen, von zwiespältiger Wirkung. Einerseits stellt das Angebot von Musterthemen und -plänen
einen nicht zu unterschätzenden Service für die Praktiker*innen dar, die wie in
einem Warenkatalog Passendes auswählen können und mit dem Thema auch den
konkreten Erwartungshorizont des Experten geliefert bekommen. Andererseits
erweist sich die Emission konkreter Beispiele aber als hochgradig riskant, bieten
diese doch die Möglichkeit, die Konsistenz des theoretischen Modells kritisch zu
prüfen.
4.3 Bewahrende Skepsis; Bochingers Genre in der Diskussion der frühen
1960er Jahre
Genau dies geschieht, wie bereits angedeutet, im 1962 erschienenen ‚Der
Deutschunterricht‘-Themenheft zur Aufsatzerziehung in einer filigranen Kritik
Jürgen Grzesiks. Wie dem im selben Heft gegen Rahn und Bochinger argumentierenden Karl-Ernst Jeismann steht 1962 auch Grzesik noch eine akademische
Karriere bevor. 1965 wird er als Studienrat an die Universität zu Köln abgeordnet
werden, wo er sich 1973 habilitieren und eine Professur für Unterrichts- und
Curriculumtheorie innehaben wird. In der Deutschdidaktik wird er insbesondere in den 1990er und 2000er Jahren durch seine kognitionspsychologischen
Arbeiten zum Textverstehen zu einer wichtigen Referenzgröße werden. Wie Jeismann widmet sich auch Grzesik Fragen der Themenfindung für dialektische Besinnungsaufsätze. Anders als dieser nimmt er sich allerdings der systematischen
Ansprüche an, die Bochinger mit seiner Weiterentwicklung des Rahnschen Genres verbindet. Dass er dabei mit leichter Hand zu zeigen vermag, dass sie philosophischen Implikationen des Dialektik-Begriffs von der Aufsatzmethodik nicht
umgesetzt werden können, dürfte das Bochinger-Lager nicht so sehr irritieren, da
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Bochinger selbst einräumt, diese Kontexte nicht bedienen zu wollen.12 Gravierender ist die Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der konstitutiven Wertfrage,
das für Bochingers Genrebestimmungen und für die Praxis probater Themenstellungen schließlich eine gravierende Rolle spielt. Unter anderem Beispiel des
immer wieder herangezogenen Themas „Ist die Arbeit Segen oder Fluch?“13 kann
Grzesik geltend machen, dass die Vorstellung Bochingers, eine Wertfrage könne
mit einem allgemeingültigen Werturteil beurteilt werden, nicht zu rechtfertigen
ist. Wird die Ausgangsfrage tatsächlich als Wertfrage zu einer entsprechenden
Stellungnahme heruntergebrochen, bestehe die avisierte Lösung zumeist in einer persönlichen Wertschätzung, die nur als allgemein gültige vorgetragen werde
und die dabei von einem Wert- in ein Seinsurteil umformuliert werde: „Es gibt
eben in der Praxis keine einzige, objektiv richtige Antwort auf eine Wertfrage,
wie Bochinger es annimmt“ (Grzesik 1962, S. 25), zumal die Alternative zu einer persönlichen auch keine allgemeine Entscheidung sein könne. Im Grundsatz
lädiert diese Feststellung dann auch die in Verbindung mit der Lösung gehegten
Erwartungen an einen synthetischen, nämlich die Geltungen von These und Antithese respektierenden Schluss, da sich nicht kategorisch ausschließen lässt, dass
auch eine Entscheidung, die die These oder Antithese vollständig zurückweist,
legitim sein kann: „Selbst wenn Bochinger recht hätte, daß im aristotelischen Sinne die rechte Wertung die Mitte zu suchen habe, können wir an diesem Maßstab nicht die Richtigkeit einer Schülerantwort messen, wenn wir uns nicht dem
berechtigten Verdacht einer Gesinnungsdiktatur aussetzen wollen“ (ebd., S. 26).
Ob sich tatsächlich von einer Gesinnungsdiktatur sprechen lässt, sei dahingestellt;
viel spricht jedenfalls dafür, dass die Orientierung auf Entscheidungen, die eine
ausgleichende Note zeigen, sich mit der Zeit auf institutionelle Vorstellungen sozialer Erwünschtheit auswirken, wenn es um die Demonstration von Besinnung
oder eines Reflexionsurteils geht. War hier weiter oben konstatiert worden, dass
Bochingers Ansprüche an dialektische Wertfragen so formuliert sind, dass sie
nur wenigen der bekannten Aufsatzthemen in Abiturarbeiten entsprechen, zeigt
Grzesiks Untersuchung, dass etwa der folgende Themenvorschlag Bochingers ein
Seins- und kein Werturteil impliziert: „Ist künstlerisches Schaffen Sache ernster
Arbeit oder Frucht besonderer Begabung?“ Reflektiert man die von der Lösung
erwarteten Geltungsansprüche, zeigt sich in der Tat, dass es sich hierbei nicht um
12 Vgl. z. B. das Vorwort zur zweiten Auflage (Bochinger 1961).
13 Dass die Themenformulierung selbst formallogisch nicht einer Wertungsfrage entspricht, da sie
zumindest nicht eindeutig als persönlich zu entscheidende Wertfrage formuliert ist (vgl. Grzesik 1962, S. 25), ist gegebenenfalls nicht so bedeutsam, wenn man unterstellt, dass routinierte
Schüler*innen die Frage immer schon übersetzen in: „Sehen Sie (persönlich) in der Arbeit Fluch
oder Segen?“. Ähnliches wird ja auch bei Geschmacksurteilen prozediert, wenn die Äußerung eines Betrachters, dass er etwas schön finde, in das Verständnis übersetzt wird, dass dem Betrachter
das Betrachtete gefalle oder er es als schön empfinde oder indem aus einem „Das schmeckt gut“
ein „Das schmeckt ihm gut“ wird usw.
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ein Problem der Formulierung handelt. Strafverschärfend tritt hinzu, dass auch
die gewünschte Seinsaussage nicht dialektischer Natur ist, sondern darauf setzt,
dass künstlerisches Schaffen sowohl als Sache ernster Arbeit als auch als Frucht
besonderer Begabung erkannt wird, dass demnach lediglich das oder der Entscheidungsfrage in der Lösung in ein und transformiert wird (ebd., S. 33).
Im Ergebnis seiner Kritik an Bochingers methodischen Darlegungen steht erneut
keine fundamentale Absage an das Genre. Vielmehr konzediert Grzesik, dass der
schroffen Polarisierung zweier Werturteile die Funktion zufallen kann, den Lernenden zu helfen, sich in die gefragte Problematik „hineinzufinden“ (ebd., S. 31),
sofern der Charakter von Wertfragen so verstanden wird, dass die Lösungen offen
bleiben und dass sich die Lösungswege auf den „Wissens- und Erfahrungshorizont
sowie die Person des Schülers“ (und nicht die Allgemeinheit) beziehen (ebd., S. 32).
Diskussionsbeiträge wie die Jeismanns und Grzesiks zeigen, dass die Doktrinen
von Rahn und Bochinger im Spektrum von Ulshöfers Zeitschrift ‚Der Deutschunterricht‘ eine gewichtige Rolle spielen, geben aber ebenso deutlich zu erkennen,
dass deren Aufsatzlehre keineswegs unkritisiert geblieben ist. Eher dominieren
eine Skepsis gegenüber einem Königsweg der Aufsatzerziehung und das Verlangen, den Raum für alternative Genres und für Varianten des Besinnungsaufsatzes
aufzuhalten. Hält man sich die folgende Formulierung der Arbeitsgemeinschaft
Deutsche Höhere Schule aus einer Denkschrift vor Augen, die immerhin vom
Deutschen Germanistenverband und vom Deutschen Philologenverband mitunterzeichnet wurde, wird man diese Pluralität und Bereitschaft zu ernsthafter Kritik
betonen müssen:
„Die Erziehung zum Schreiben umfaßt mehr als nur die Anleitung zum rechten Gebrauch der Formen der schriftlichen Äußerung. Sie wendet sich immer an den Personkern; sie schult das Denken und das Ausdruckvermögen im Bereich des Humanen und
weckt das Gefühl der Verantwortung vor der Sprache und den Sinn der Wahrhaftigkeit
und Sachgemäßheit. Schreibzucht ist Denkzucht und Willenszucht.“ (Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule 1958, S. 32)
Im stofflichen Bildungsplan für die Oberstufe im Fach Deutsch heißt es in derselben Denkschrift: „Festigung der Stilformen des Besinnungsaufsatzes und des
Stimmungsbildes. Der Aufsatz steht im Dienste der Klärung des Weltbildes:
Grundbegriffe des sittlichen und gesellschaftlichen Lebens und der ästhetischen
Wertung werden erörtert.“ (ebd., S. 69)
Was hier – insbesondere in der triadischen Beschwörung einer Zucht – recht kategorisch daherkommt, suggeriert einen stabilen Zusammenhang von Erziehung,
Aufsatzgenre und Weltbild, der sich in den methodischen Einlassungen der publizierenden Gymnasiallehrer so nicht finden lässt. Dies gilt auch für Bochinger, dessen praktische Wirkung dank des Lehrgangs in der ‚Deutschen Spracherziehung‘
über seinen Tod hinaus nicht zu unterschätzen ist, bedenkt man seine Versuche,
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Ulshöfers lebenskundliche Aufsatzerziehung mit einer rettenden Kritik auf zeitgemäßere Beine zu stellen. Zwar überleben seine Basisschemata als Pro & ContraAnsatz bis in die heutige Schulgegenwart, da sie sich offenkundig tatsächlich als
so lern- und handhabbar erweisen. In dieser Hinsicht scheint seine Apologie des
Handwerklichen zu greifen: Wer das einfache Pro & Contra-Schema kennt und
von der Erwartung an ausgleichende Formeln in der Synthese weiß, wird sich vor
dem leeren Blatt nicht so schnell rettungslos verloren sehen.14 Ob Lehrkräfte und
Schüler*innen dann tatsächlich Wert-, Geschmacks- und Sachfragen auseinanderhalten und ob dabei dem stummen Plan gefolgt wird, der auf ein modernes
Menschenbild zielt, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.
5 1968ff.: Kritik am Gesinnungsaufsatz
In einem ursprünglich 1968 in der Westberliner Zeitschrift ‚alternative‘ erschienenen Beitrag fasst Martin Berg das Grundkonzept Bochingers recht bündig zusammen:
„Das ‚dialektische‘ an der Aufgabenstellung ist dies: Zwei Standpunkte, die einander
widersprechen oder sich ausschließen, erfassen nur ein Stück der Wirklichkeit, die Wahrheit liegt in der Mitte. Aus der ‚Zusammenschau‘ wird der ‚die ganze Wirklichkeit umspannende Begriff‘ gefunden. Die neue Formulierung hat dann unbedingte Gültigkeit.
‚Lösungen‘ zu finden wird also zur Aufgabe des Schülers gemacht: die Kunst des Lehrers
besteht darin, ‚dialektische‘ Themen zu finden, durch die der Schüler genötigt werden
kann, ‚ein Stück Welt in Gebrauch zu nehmen‘. Die Gebrauchsanweisung für die ‚Welt‘,
so wird man folgern können, ist auf die beiden sprachlichen Formeln ‚sowohl – als auch‘,
‚weder – noch‘ zu bringen.“ (Berg 1970, S. 195)
Die Bündigkeit hat ihren Preis: Gewiss intervenierte Bochinger, da er, anders als
hier zusammengefasst, gerade Wert darauf gelegt hat, dass die antithetischen Ausgangspunkte sich „nur bei oberflächlicher Betrachtung“ ausschlössen (Bochinger
14 Zu den Kritikern Bochingers gehört auch Andreas Pauldrach mit seiner meines Erachtens zu wenig beachteten Dissertationsschrift von 1976: Deutschlehrplan und Fachdidaktik – Darstellung
und Kritik des gymnasialen Deutschunterrichts nach 1945. Wie andere auch zerlegt Pauldrach
Bochingers Dialektik-Anleihen, um dann zu notieren: „Was Dialektik mit der Komplexität einer
Sache zu schaffen hat […], verschweigt der Autor allerdings, was er dagegen äußert, verrät, daß
die Erklärung der Phänomene, die er behandeln will, sein Problem auf jeden Fall nicht ist. Ihm
geht es vielmehr darum, nicht die Richtigkeit, sondern allein die Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit
der von ihm bevorzugten Aufsatzform nachzuweisen“ (Pauldrach 1979, S. 268). So nachvollziehbar diese Charakterisierung erscheint, ist doch auch aufschlussreich, dass die Kritik die Frage der
„Richtigkeit“ einer „Aufsatzform“ gegenüber der „Nützlichkeit“ priorisiert, was wiederum impliziert, dass Nutzen und Richtigkeit der Form zwei kategorial verschiedene Kriterien sind. Auch
wenn man unterstellen darf, dass Pauldrach nicht die Richtigkeit einer Form, sondern die ihrer
Ableitung im Blick hat, wird man festhalten müssen, dass in solcher Kritik Nützlichkeitsfragen
hintangestellt werden – eine Prämisse, die in der Praxis auf wenig Verständnis stoßen dürfte.
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1961, S. 56). Glücklich wäre er wohl auch kaum mit der Identifikation von Lösung und Begriff, und wahrscheinlich wiese er seine Leser*innen auch darauf hin,
dass er mit Bedacht erwähnt habe, dass seine beispielhaften Lösungen eben keine
von unbedingter Gültigkeit („nichts Endgültiges oder Erschöpfendes“ seien (ebd.,
S. 113)). Für die Rezeption der Kritik Martin Bergs, die zusammen mit Rolf Guttes kritischer Sichtung deutscher Reifeprüfungsthemen in der wirkungsmächtigsten „Bestandsaufnahme Deutschunterricht“ das schulische Schreiben in den
Fokus nimmt, dürften solche Diskrepanzen nicht ausschlaggebend gewesen sein.
Entscheidend ist wohl bei beiden Beiträgen die Auflistung vorgeschlagener oder
empirischer Aufsatzthemen, die offensichtlich beim avisierten Publikum für sich
sprechen. Jedenfalls belässt es Berg zum Schluss seines Beitrags mit einem unkommentierten Abdruck von Auszügen aus Bochingers methodischem Teil. Studiert
man seinen gesamten Beitrag, stößt man auf eine ganze Reihe kritischer Topoi, die
aber nicht leicht in einen konsistenten Zusammenhang zu rücken sind. Dies ist
zunächst einer kursorischen Referenz auf „die Sprachtheorie“ oder „den Sprachbegriff“ geschuldet. Dabei gilt die Unterstellung, dass im Deutschunterricht ein
„dichterischer Sprachbegriff“ obwalte, der, einseitig und unreflektiert, die Welt auf
irrationale Weise spiegeln solle (Berg 1970, S. 188f.) bzw. selbst irrational, da an
Dichtung orientiert, sei (ebd., S. 200). Davon abgesetzt wird als wissenschaftlich
ein Sprachbegriff, der Sprache als soziales Kommunikationsmittel begreift. Während nach diesem Verständnis das Verhältnis von Sprache und Individuum ein gesellschaftlich vermitteltes sei, suggeriere der didaktisch dominante Sprachbegriff,
dass Sprache dem Individuum einen unmittelbaren Zugang zur Welt eröffne. Was
das für den Besinnungsaufsatz bedeuten soll, ist nicht eindeutig auszumachen,
zumal der Sprachaspekt schulischen Schreibens noch in anderer Hinsicht in Anschlag gebracht wird: So wird einerseits von einer „Zertrümmerung sprachlicher
Komplexe“ durch die Verpflichtung auf willkürliche Stilformen gesprochen (ebd.,
S. 192), dann davon, dass die Variabilität dieser Formen durch die Konzentration
auf die Aufsatzformen konterkariert werde zugunsten einer Anpassung an Muster.
Dabei schwingt mit, dass die Sprachlichkeit der Aufsätze von der außerschulischen
Sprachpraxis weit entfernt sei. Belastet wird das Sprachkonzept zudem mit einem
anderen Dualismus, der den Unterscheidungen Marthalers (s. o.) folgt: die „Trennung in Sachlichkeit und Persönlichkeit“, wobei der Schüler lerne, dass das Persönliche praktisch folgenlos bleibe, sofern man keinen Geniestatus besitze (ebd.).
Inwieweit diese Ausrichtung die starke These fundiert, dass „soziale Verhältnisse
[…] innen entschieden“ (ebd.) würden, wird nicht ganz klar, auch nicht die These
von einer musischen Überhöhung. Referentiell nachvollziehbarer wird die Darstellung, wenn sie sich direkt auf Bochinger und Rahn bezieht. Hier stößt sich
Berg zunächst an der Option für Wertfragen, übersieht dabei aber, dass ebendiese
Ausrichtung die Dichotomie von Persönlichem und Sachlichem überwinden soll,
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und unterstellt unstimmig, dass Rahn und Bochinger Sachfragen vermeiden wollen. Ebendiese sollen bei Bochinger ja in den Facharbeiten traktiert werden. Eine
immanente Kritik am Faible für die Wertfragen, wie sie Grzesik vorgetragen hat,
entgeht Bergs Abrechnung, die zudem nicht berücksichtigt, dass Bochingers Gestaltungslehrgang in der ‚Deutschen Spracherziehung‘ durchaus auch andere Aufsatzformen adaptiert. Dessen Fokus auf der dialektischen als der am leichtesten
zu beherrschenden Form wird hingegen vornehmlich als Freiheitseinschränkung
gewürdigt. Wird zunächst die „Unverbindlichkeit“ von Bochingers Lösungen als
lediglich deklarierte Freiheit etikettiert (ebd., S. 195), gilt das Augenmerk dann
den erziehungstheoretischen Zuschreibungen, wobei die Differenz zwischen Ulshöfer und Bochinger trotz der expliziten Auseinandersetzung in der Monographie
zum Besinnungsaufsatz eingeebnet wird. Stattdessen wird die, zugegeben wenig
klare, Rede von einem „Sinngefüge“ mehr oder weniger mit der Verpflichtung
auf ein „Weltbild“ identifiziert (was Bochinger ja eben nicht intendieren will).
Diese Amalgamierung erlaubt Berg dann aber die wiederum starke These, die
Methoden des Aufsatzunterrichts beförderten den „Aufbau einer formierten Gesellschaft“ (ebd., S. 196) – und zwar so, dass der Schüler nicht merken solle, wie
er dirigiert wird. Lässt sich in diesem Punkt zweifellos Bochingers Argumentation
wiedererkennen, gilt dies auch für den Elitarismus, den dessen ideales Menschenbild mit Blick auf die Elitebildung der gymnasialen Oberstufe durchaus prägt.
Symptomatisch für die linke Kritik der späten sechziger Jahre scheint mir indes
zu sein, dass die sprachliche Pro- oder auch Reproduktivität, die dem Besinnungsaufsatz eigen sein soll, mit einem „herrschenden Sprachgebrauch“ in Verbindung
gebracht wird. Symptomatisch scheint mir dies zu sein, weil die bisherige Kritik
eher darauf zielte, dass die Sprachproduktion der Aufsätze die Grenze zur sozialen
Praxis abschotte. Tatsächlich bleibt Berg auch dabei, dass auf diese Weise „nicht
einmal Abiturienten“ auf den herrschenden Sprachgebrauch „verwiesen werden“
(ebd., S. 198). Wäre dies so, müsste man folgern, dass Besinnungsaufsätze das Ziel
einer Förderung kapitalistischer Eliten ebenso verfehlten wie sie einer Emanzipationspädagogik für die Arbeiterklasse zuwiderliefen. Dies wäre ein Befund, der
durchaus begründbar erscheint; er wird aber bei Berg letztlich aufgegeben, wenn
in Richtung auf die Gesamtschulen Vorstellungen negiert werden, das methodische Repertoire der Aufsatzlehre im Sinne einer kompensatorischen Erziehung zu
nutzen. Dass mit dieser erneuten Wendung die Position der kritischen Sprachtheorie immer unklarer wird, mag Berg gespürt haben, wenn er kategorisch formuliert: „Der dem Deutschunterricht zugrunde gelegte Sprachbegriff muß vollständig revidiert werden“ (ebd.) und in diesem Zusammenhang ein „Versagen der
Germanistik“ bei der Ausbildung ins Spiel bringt, dessen Konsequenz er in einer
Forderung nach „Ausbau des Linguistischen Lehrstuhls“ sieht (ebd.).
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6 „Das Pauken ist nicht das Übel schlechthin“ (Pierre Bourdieu)
Die 1968 noch fehlende Kohärenz solcher Ableitungen dürfte durch die ostentative Betrachtung der Aufsatzthemen kompensiert werden. Dass bei Bochinger
diese Vorschläge kein Engagement für „Abrüstung, die gerechte Verteilung der
Güter auf der Welt“ (ebd., S. 197) auf den Plan rufen, ist nicht zu verkennen,
allerdings kann man bald die Erfahrung machen, dass Themen wie „Atomkraft –
Fluch oder Segen“, „Aufrüstung: Kriegsgefahr oder Friedenssicherung“ mit dem
Schema des Besinnungsaufsatzes möglich und alltäglich werden. Dass mit dieser Transformation weder die Formelkompromisse der dialektischen Form noch
die Vermischung von Wert- und Sachfragen aus der Welt geschaffen sind, bleibt
gleichwohl zu bedenken, und so ist die Affinität für intellektuelle Mittelwege, eine
nicht wirklich begründbare Priorität für ein ausgleichendes Urteil in jeder Frage,
vielleicht bis heute die größte erzieherische Wirkung, die diesem Modus schulischen Schreibens ausgeht. Neben der Ambivalenz, die solche Leistung prägt,
scheint mir aber noch ein anderer Aspekt von Interesse, der indirekt auch in der
zeitgenössischen Kritik an Rahn und Bochinger eine Rolle spielt. Sowohl die Debatten in ‚Der Deutschunterricht‘ als auch die mit Berg und anderen einsetzende
linke Abrechnung monieren einen Schematismus der Bochinger-Methoden, der
motivations- und entfaltungshemmend sein soll. Wenn Bochinger hierauf mit
dem Exempel der Etüden des begabten Pianisten reagiert, lässt er sich letztlich
auf die Vorstellung ein, dass schulisches Schreiben und künstlerische Produktion
irgendwie komplementär zu denken seien. Mit Blick auf den Anspruch, die Erwartungen der Schreibreformer nicht zu brüskieren, sondern sie – synthetisch –
durch die Akzentuierung der Produktivität dialektischen Schreibens aufzunehmen, gerät etwas in den Hintergrund, was er an anderen Stellen ausführt, wenn er
das Lernbare seiner Methode hervorhebt und hierbei Schüler*innen in den Blick
nimmt, denen die schriftliche Entfaltung nicht leicht fällt und die auf die Hilfen
des Unterrichts angewiesen sind. Obgleich selbstverständlich auch sein Konzept
gymnasialer Oberstufe eines ist, das wie Ulshöfers dem Gedanken an Auslese verpflichtet bleibt, zumal es die zukünftige Führungselite (der moderne Mensch)
adressieren soll, nimmt es doch entschieden den Gedanken auf eine möglichst
systematische Förderung auf. Insinuiert Berg eine Affinität des dialektischen
Besinnungsaufsatzes zur Poesie und zur Genieästhetik, übersieht er, was er im
selben Beitrag über die einschnürende Wirkung von Bochingers Schreibtraining
beklagt hat. Diese Konstellation erinnert meines Erachtens nicht wenig an jene im
Frankreich der 1960er Jahre, die den Horizont für Bourdieus Gegenüberstellung
einer traditionalen Schule und einer rationalen Pädagogik absteckte. Während
der traditionale Unterricht auf ein geerbtes kulturelles Kapital der ihm passenden
Schüler*innen setze und Schüler*innen, die bei der Bildung von Kulturkapital
auf die Schule angewiesen seien, durch eine faktische Abwertung methodischen
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Lernens diskriminiere, setze die postuliert rationale Pädagogik darauf, Techniken
des Lernens zu schulen:
„Die formale Gleichheit, die die pädagogische Praxis bestimmt, dient in Wirklichkeit als
Verschleierung und Rechtfertigung der Gleichgültigkeit gegenüber der wirklichen Ungleichheit in Bezug auf den Unterricht und der im Unterricht vermittelten oder, genauer
gesagt, verlangten Kultur. So erscheint z. B. die im höheren Schul- und im Hochschulunterricht gängige »Pädagogik« objektiv als eine »Erweckungspädagogik«, wie Weber sagt, die
die in einigen Ausnahmeindividuen schlummernden »Talente« durch Verzauberungstechniken wie das verbale Bravourstück des Meisters wecken will. Eine rationale und wirklich
universale Pädagogik würde, da sie nicht für erworben hält, was einige wenige nur ererbt
haben, sich von Beginn an nichts schenken und sich zu einem methodischen Vorgehen im
Hinblick auf das explizite Ziel verpflichten, allen die Mittel an die Hand zu geben, all das
zu erwerben, was unter dem Anschein der »natürlichen« Begabung nur den Kindern der
gebildeten Klassen gegeben ist. Im Gegensatz dazu wendet die pädagogische Tradition sich
im untadeligen Gewand der Gleichheit und Universalität in der Tat nur an die Schüler
oder Studenten, die in der besonderen Situation sind, ein den kulturellen Anforderungen
der Schule entsprechendes kulturelles Erbe zu besitzen. Nicht nur lässt sie die Frage außer
Acht, wie allen das Wissen und das Know-how am effektivsten zu vermitteln wäre, das sie
von allen verlangt, und das die verschiedenen Klassen nur in sehr ungleichem Maße vermitteln. Sie neigt auch noch dazu, die auf dieses Ziel gerichteten pädagogischen Praktiken
als primitiv und vulgär, ja paradoxerweise »schulmäßig« abzutun. Es ist kein Zufall, dass
die Mittelschule, die, als sie zum klassischen Gymnasium in Konkurrenz trat, die Kinder aus den Volksklassen weniger ihrer Tradition entfremdete, sich die Geringschätzung
der Elite eben deshalb zuzog, weil sie expliziter und methodischer »schulmäßig« verfuhr.
Es sind auch zwei Auffassungen von Kultur und Techniken der Kulturvermittlung, die
in Gestalt korporativer Interessen heute noch in den Konflikten zwischen den aus dem
Grundschulwesen und den aus dem höheren Schulwesen hervorgegangenen traditionellen
Lehrern zum Ausdruck kommen. Man müsste sich auch nach den Funktionen fragen,
die der heilige Schrecken vor dem Pauken, im Unterschied zur »Allgemeinbildung«, für
die Gymnasiallehrer und die Angehörigen der gebildeten Klasse erfüllt. Das Pauken ist
nicht das Übel schlechthin, wenn man sich bloß eingesteht, dass man die Schüler aufs
Abitur vorbereitet und sie dadurch dazu bringt, sich einzugestehen, dass sie sich aufs Abitur
vorbereiten. Die Abwertung der Techniken ist nur die Kehrseite der Verherrlichung der
intellektuellen Virtuosität, die den Werten der kulturell privilegierten Klassen strukturell
affin ist. Die statusmäßigen Besitzer der richtigen Art und Weise sind stets geneigt, die
Qualitäten als schwerfällige und mühselig erworbene abzuwerten, die nur als angeborene
zählen.“ (Bourdieu 2001, S. 39f.)15
Zu konzedieren dürfte sein, dass Forderungen wie die hier zu lesende eine Frage
außer Acht lassen, die in der Kunstsoziologie Bourdieus eine eminent wichtige
Rolle spielt, nämlich die, inwieweit sich die Artefakte, zu deren Rezeption und
Produktion der Unterricht Kompetenzen ausbilden soll, sich nicht systematisch
15 Zu den unterrichtspolitischen Uneindeutigkeiten der Stellungnahmen Bourdieus mit Blick auf
den Interpretations- bzw. Literaturunterricht umfassender: Kämper-van den Boogaart 2018.
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einem effektiven Lernen und Pauken entziehen. Konkret auf den Aufsatzunterricht bezogen: Man wird einer Methodik wie der Bochingers attestieren dürfen, dass sie durch den Akzent auf die handwerklichen Aspekte Schüler*innen
lehrgangsmäßig in die Lage versetzt, die generativen Schemata des dialektischen
Besinnungsaufsatzes so zu beherrschen, dass sie entsprechende Aufsätze zustande
bringen. Ob allerdings diese Aufsätze das sind, was außerhalb der Schule als virtuoses Schreiben oder als nämlich Argumentation wahrgenommen wird, bleibt
fraglich. Sind sie, von außen betrachtet, nicht eher das Gegenteil, nämlich Dokumente, die illustrieren, dass das Spiel nicht verstanden wurde? Was passiert,
wenn die strikten Schemata des dialektischen Aufsatzes in ein Genre wie den des
unreglementierten Essays, wie wir es aus der Publizistik kennen, übertragen werden? Bewirkt dies nicht eher Effekte unfreiwilliger Komik? In die Richtung solcher Fragen argumentieren Bochingers Kritiker zweifellos, wenn sie die von ihm
eingeräumte Schulaffinität des Genres zur Schwäche erklären. Indes, sprechen sie
auch von der einschnürenden Wirkung des Schemas auf die Selbstentfaltung der
Schüler*innen und denken dabei, mehr oder weniger explizit, an die begabten
unter ihnen, so verfallen ihre Prämissen ebenso zweifellos der Kritik, die Bourdieu
für die traditionale Schule Frankreichs formuliert. Ein durch seine Metapherngestaltung schönes Beispiel für die Wertschätzung von Aufsatzformen, die als Alternative dem Einerlei der Besinnungsaufsätze entgegengestellt werden, liefert 1962
die Apologie der „Text-Bearbeitung“ von Rudolf Strasser:
„Geht der Korrektor von der Masse der Besinnungsaufsätze zu Text-Bearbeitungen über,
so ist es, als träte er – aus einem Kiefernwald kommend – in eine Landschaft von sehr
variabler Vegetation ein. Zwar gibt es in dieser viel Wildwuchs, auch Unkraut, aber man
sieht es wenigstens. Gewächse, die nach was aussehen und im Grunde nichts sind, finden
sich in der Landschaft der Text-Bearbeitungen kaum.“ (Strasser 1962, S. 6)
Im selben Heft der ‚Schulwarte‘ formuliert Emmy Frey etwas nüchterner in ihrer
Auswertung von Abituraufsätzen in Baden-Württemberg einen ähnlichen Befund
zur Überlegenheit textgebundener Aufgaben:
„Jedoch, merkwürdig, die schlecht, nicht oder kaum ausreichenden Arbeiten sind auf
eine gesündere, überzeugendere Art schlecht, die guten auf eine überzeugendere Art gut
als man es gewohnt ist. Also muß es so sein, daß die Textaufgaben zwar wie jedes der
anderen Themen sowohl gute wie schwache Begabungen angezogen haben, daß aber besonders die guten Köpfe an diesen Aufgaben produktiver geworden sind; warum? Vielleicht weil sie die jugendgemäßeren, moderneren, sachlicheren und dabei individuellere
Leistungen ermöglichenden, kurz die besseren Aufgaben sind?“ (Frey 1962, S. 10)
Die Sympathie für den Mischwald und für Formate, die produktivere Leistungen erlauben, ist auch bei einem linken Kritiker wie Berg nicht zu verkennen,
obschon dieser mit der Option für die Gesamtschule entschieden auf eine Politik
der Chancenverbesserung der Kinder der Arbeiterklasse setzt. Vielleicht haben wir
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es angesichts dieser Gemengelage mit einer Antinomie (vgl. etwa: Lindow/Wieser
2013) zu tun, die letztlich die Akteur*innen der Praxis auszubaden hatten und
wohl heute noch haben.
Literatur
Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule (1958): Bildungsauftrag und Bildungspläne der Gymnasien. Berlin u. a.
Becker-Mrotzek, Michael/Kämper-van den Boogaart, Michael/Köster, Juliane/Stanat, Petra/Gippner, Gabriele (Hg.) (2015): Bildungsstandards aktuell. Deutsch in der Sekundarstufe II. IQB. Braunschweig.
Berg, Martin (1970): Besinnungsaufsatz zur Ideologie des Fachs Deutsch. In: Ide, Heinz (Hg.): Bestandsaufnahme Deutschunterricht. Ein Fach in der Krise. Stuttgart, S. 187–204.
Bochinger, Richard (1961): Der dialektische Besinnungsaufsatz. 2. Aufl. Stuttgart.
Bochinger, Richard (1963): Der Oberstufenunterricht und das Handwerk des Schreibens. In: Der
Deutschunterricht, 15, H. 5, S. 62–73.
Born, Stefan/Kämper-van den Boogaart, Michael (i. V.): Brüche und Kontinuitäten: Positionen konservativer Deutschdidaktik gegen Ende der Weimarer Republik.
Bourdieu, Pierre (2001): Die konservative Schule. In: ders.: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über
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Decker, Lena (2016): Wissenschaft als diskursive Praxis – Schreibend an fachlichen Diskursen partizipieren. Duisburg.
Feilke, Helmuth (2017): „Auf offener See“ – Beobachtungen zum Gebrauch didaktischer Werkzeuge.
In: Didaktik Deutsch, 22, H. 42, S. 53–69.
Frey, Emmy (1950): Zur pädagogischen Theorie des Aufsatzes auf der Oberstufe. In: Der Deutschunterricht, 2, H. 1/2, S. 89–99.
Frey, Emmy (1962): Zur Textbetrachtung in der Reifeprüfung: ein praktischer Fall. In: Die Schulwarte, 15. Jg., H. 1, S. 9–19.
Grzesik, Jürgen (1962): Zur Frage der Sachgerechtheit der dialektischen Themenfassung und ihres
Verhältnisses zur Schülerleistung. In: Der Deutschunterricht, 14, H. 4, S. 20–34.
Grzesik, Jürgen (1963): Muß das Thema eines Besinnungsaufsatzes notwendig eine Wertfrage sein? In:
Der Deutschunterricht, 15, H. 5, S. 74–90.
Hamelmann, Monique/Kämper-van den Boogaart, Michael (2013): „Kritik am Privileg wird zum
Privileg: so dialektisch ist der Weltlauf“: einige Anmerkungen zur Crux kritischen Urteilens im
Deutschunterricht. In: Dawidowski, Christian/Wrobel, Dieter (Hg.): Kritik und Kompetenz: die
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Haußmann, Walter (1950): Erfahrungen mit Reifeprüfungsaufsätzen. In: Der Deutschunterricht, 2,
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Autor
Dr. Michael Kämper-van den Boogaart war von 1997 bis 2023 Professor für Neuere deutsche Literatur
und Fachdidaktik Deutsch an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach diversen Studien zu Aspekten
literarischer Rezeptionskompetenz und anderen aktuellen Fragen des Deutschunterrichts der Sekundarstufe forscht und publiziert er in jüngerer Zeit vorwiegend zu Themen der Fachgeschichte.
E-Mail: michael.kaemper-van.den.boogaart@rz.hu-berlin.de
doi.org/10.35468/6052-10