MAGAZIN FÜR DEMOKRATISCHE
POLITIK
KULTUR
Luxemburgs Front gegen den Rechtspopulismus
21.07.2024 ● THIERRY SIMONELLI ●
POLITIK
von Thierry Simonelli
Lesedauer 9 Minuten
Scheinarchitekturen – Sala dei Palafrenieri des Palazzo Lancellotti von Agostino Tassi (© Foto Familiystudy)
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er Begriff des Rechtspopulismus ist nicht nur in der Wissenschaft schwammiger,
unbestimmter und weitaus vieldeutiger, als die verwandten Begriffe des
D
Rechtsextremismus, Radikalismus oder Nazismus. Er bleibt vor allem im politischen
und journalistischen Gebrauch so verschwommen, dass er alles bezeichnen kann, was nicht
links ist. Klar ist nur der durchgehend normative, wertende Sinn des Wortes: Populismus ist
böse. Und Rechtspopulismus ist noch böser.
Deshalb sollten scheindemokratische rechtspopulistische Parteien, Menschen oder
Meinungen in einer wahren Demokratie geahndet oder verboten werden. Dies gilt den
Wissenschaftlern, Politikern und militanten Journalisten selbstverständlich auch für das Volk
(populus). Das populistische Volk ist der Plebs, der gemeine Pöbel, die ungebildete, gemeine
Masse, der große Lümmel, oder der Sack von Kläglichen („basket of deplorables“).
Krankheit und ihre Erreger
Die Moral-Linke des Tageblatt, die neoliberale Linke der LSAP, die unentschieden linksextreme
Linke der Linken und die christkatholische Linke des Forum haben sich also zu einer heiligen
Hetzjagd gegen das rechte Gespenst mobilisiert und organisieren, jede für ihre eigenen
Abonnenten, Mitglieder, Freunde und Verbündeten, Vorträge, Diskussionsrunden und
Interviews gegen den Rechtspopulismus und für die Errettung der Demokratie.
Denn auch in Luxemburg scheint die Demokratie nach dem Wahlsieg der Mitte-rechten
Christsozialen und dem deutlichen Stimmengewinn der ADR durch den europaweiten
„Rechtsruck“ gefährdet. Wie seine Nachbarländer muss sich deshalb auch Luxemburg mit
seinen Wahlverlierern gegen den Einfluss der Rechts- bis Rechtsaußen-Parteien wehren. Es
geht den linken Demokratieverfechtern also um die Bekämpfung einer politischen „Krankheit“
und die Abwehr gegen deren „niederträchtigen“ Krankheitserreger.
Die Waffen, die unsere geistige Linke gegen die imaginären Rechtsextremen zu Felde führen,
sind das Prinzip der demokratischen Intoleranz, der „Cordon sanitaire“ („ein Cordon sanitaire
ist eine bewachte Linie, die eingerichtet wurde, um die Ausbreitung von Infektionskrankheiten
zu verhindern“, s. de Jonge, 2019, S. 193) und die wehrhafte Demokratie.
Das Prinzip der Intoleranz
Das Prinzip der Intoleranz leitet sich aus der Zuspitzung von Karl Poppers Paradox der
Toleranz ab. In einer Fußnote des ersten Bandes seiner Offenen Gesellschaft unterscheidet
Popper zwischen drei Paradoxa: dem Paradox der Freiheit, dem Paradox der Toleranz und dem
Paradox der Demokratie (Popper, 1975, S. 609-610).
Das Paradox der Toleranz entsteht dadurch, dass eine grenzenlose Toleranz zum Verschwinden
der Toleranz führen könnte. Das erklärt sich daraus, dass eine schrankenlose Toleranz es den
Intoleranten ermöglichen könnte „die Toleranten zu vernichten“. Sind die Toleranten dann
vernichtet, ist die auch Toleranz ausgelöscht.
In ähnlicher Weise bedingt das Paradox der Freiheit, dass „Gangster“ die Friedfertigen
unterdrücken und versklaven könnten. Das Paradox der Demokratie entsteht seinerseits,
wenn eine demokratische Mehrheit sich zu einem Diktator oder einer diktatorischen
Regierung, z.B. im Ausnahmezustand, entscheidet. Dieses letztere Paradox ist unseren
moralischen, neoliberalen und christkatholischen Linken trotz rezenten Ausnahmezuständen,
Ausgangssperren und immer stärker werdenden staatlichen und unternehmerischen
Kontrollen der Meinungsfreiheit selbstverständlich so unbekannt, dass sie es nicht einmal
erwähnen.
Wie sollte man sich also, Popper zufolge, gegen die Gangster, die Intoleranten und die
Tyrannen wehren?
Durch ein politisches System, das „alle Menschen, die zur Zusammenarbeit bereit sind, das
heißt alle toleranten Menschen, toleriert“. Dieses Prinzip schließt auch diejenigen Gangster,
Intoleranten und Möchtegern-Tyrannen ein, die innerhalb der demokratischen Debatte ihr
Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Vereiniguns- und Parteienbildung wahrhaben möchten.
Und das würde bedeuten, dass jeder Gangster, jeder Rechtsextreme oder Rechtsradikale, der
bereit ist, auf der „Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreffen“, in einer pluralistischfreiheitlichen Ordnung seinen Platz hätte.
Die Niederschlagung des Diskurses als Grenze
Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, rät Popper sogar von der Unterdrückung der
Intoleranten ab: So lange „wir ihnen durch rationale Argumente beikommen und solange wir sie
durch die öffentliche Meinung in Schranken halten können, wäre ihre Unterdrückung sicher
höchst unvernünftig“.
Erst wenn die Gangster, die Intoleranten und die Tyrannen Argumente mit „Fäusten und
Pistolen“ beantworten, ist es an der Zeit, die Unduldsamen nicht mehr zu dulden. Die Toleranz
hört dort auf, wo Fäuste und Pistolen, wo, allgemeiner, die praktische Gewalt beginnt. Popper
sieht die rote Linie in der Niederschlagung des Diskurses, nicht in der Meinungsvielfalt und
Divergenz innerhalb des Diskurses.
Das Prinzip der Intoleranz verkehrt den demokratischen Gedanken der offenen Gesellschaft in
sein Gegenteil, indem es die Grenze der Intoleranz innerhalb der demokratischen Debatte
selbst zieht.
Hier sind es nicht mehr die Fäuste und die Pistolen, hier ist es nicht mehr die materielle Gewalt,
die bekämpft werden sollen, sondern der rationale und demokratische Diskurs selbst, wenn er
als Rechtsextrem, Rechtsradikal oder Rechtspopulistisch eingestuft werden kann. Nicht nur
die Gewalt, sondern auch der politische Diskurs selbst soll hier verboten, zensiert und
möglicherweise bestraft werden, wenn er dem als „demokratisch“ anerkannten Diskurs
widerspricht.
Wer entscheidet dann aber, was als Toleranz und was als Hass, was als demokratisch und als
undemokratisch, was als rational und irrational zu gelten hat?
Gibt es hier einheitliche, übergeschichtliche oder außergeschichtliche, unangefochtene,
konsensuelle Erkenntnisse, Wahrheiten und Normen, auf welche sich die heutigen Toleranten
und ihre Experten unabhängig von jeglicher politischen Ideologie und jedem gesellschaftlichen
System stützen könnten? Schwerlich.
Das Beseitigen der „inneren Feinde“
Die Idee der Demokratie, die Idee der Toleranz und der rationalen Diskussion, die Idee einer
„offenen“, im Gegensatz zu einer „geschlossenen“ Gesellschaft besteht zum Teil gerade darin,
dass die Vielfalt, die Verschiedenheit und auch die Gegensätzlichkeit der Gedanken und
Überzeugungen in gewaltlosen Debatten und Entscheidungsfindungen, ohne Pistolen und
Fäuste, ohne staatliche und mediale Knebel ausgetragen werden können.
Eine „geschlossene Gesellschaft“ unterscheidet sich, wenigstens in Poppers Begriffen, von
einer „offenen Gesellschaft“ dadurch, dass ihre Mitglieder durch die Teilnahme an
„gemeinsamen Anstrengungen, gemeinsamen Gefahren, gemeinsamen Freuden und
gemeinsamem Unglück zusammengehalten werden“ (Popper, 1975, S. 352).
Die geschlossene Gesellschaft kennzeichnet sich demgegenüber durch den Glauben an starre
Tabus und deren Sanktionen. In der offenen Gesellschaft haben es die Menschen gelernt „in
gewissem Ausmaß den Tabus kritisch gegenüberzustehen und die Entscheidungen (nach einer
Diskussion) auf die Autorität ihrer eigenen Intelligenz zu gründen“ (a.a.o. S. 407).
Dem scheinen die heutigen Kämpfer für die freiheitliche Grundordnung der Demokratie zu
widersprechen. Der Begriff des Tabus bezieht sich auf das, was nicht getan, nicht gesagt, nicht
gedacht und nicht berührt werden darf. Tabus kennzeichnen im politischen Diskurs der
geschlossenen, also undemokratischen und intoleranten Gesellschaft, die „Grenzen des
Handelns, Redens und Denkens“ (s. Mildenberger & Schöder, 2012).
Theorie des „Cordon sanitaire“
Diese systematische Praxis der Tabusperre drückt sich am bevorzugt im Aufrichten eines
„Cordon saniraire“ aus. So haben die christkatholischen Linken im September 2023
„parteipolitisch neutral“ und mit der Forderung nach einer „demokratischen Verfasstheit
unserer Gesellschaft“, allen Ernstes und ohne jeglichen Sinn für performative
Selbstwidersprüche, ein Plädoyer gegen die Alternativ Demokratische Reformpartei (ADR)
verfasst. Dieser solle keine „Bühne“ mehr im Monatsblatt forum gegeben werden, da sie gleich
eine ganze Reihe von politischen Tabubrüchen begangen habe.
In der Aufzählung der katholischen Moralisten bestehen diese Tabubrüche unter anderem in
einer „völkische Ideologie“ mit viermaliger Erwähnung des „Bevölkerungsaustausch“-Begriffs,
die anscheinende Mitgliedschaft von „Bewunderer[n] des Drittes Reichs“, das anscheinende
Veröffentlichen von Hitler- und Holocaust-Witzen auf sozialen Medien, das
„Männlichkeitsbild“, das dem Mussolinis und Putins (sic) nahekommt, und die scheinbaren
„Hassreden“ auf Frauen, LGBTQIA+-Personen, Flüchtlinge, Muslime und Ausländer im
Allgemeinen. Aber auch die Mitgliedschaft der ADR in der Fraktion der Europäischen
Konservativen und Reformer im EU-Parlament ist ein zwingender Grund, die ADR aus dem
politischen Diskurs auszuschließen.
Mit 5 Sitzen im luxemburgischen Parlament und 9,27 % der Wählerstimmen (21‘445 von
231‘344 gültigen Stimmen) schließt das moralisch-publizistische Cordon sanintaire somit nicht
nur den politischen Krankheitserreger der rechtspopulistischen Partei aus ihren heiligen
Seiten aus, sondern sie verordnet fast 10 % der Wähler Luxemburgs ein demokratisches
Redeverbot.
Die demokratischen Unterzeichner des Plädoyers fordern darüber hinaus, in tiefster Achtung
der Artikel 1, 2, 7, 18, 19 (Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung) und 21
(Mitwirken an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar
oder durch frei gewählte Vertreter) der allgemeinen Menschenrechtserklärung, dass der
demokratisch-freiheitlich Maulkorberlass nicht nur für Medien, sondern auch für andere
gewählte Parteien gelten solle (außerhalb der gesetzlichen Gleichbehandlung des Wahlkampfs,
s. Kalmes et al., S. 11).
Hier plädieren die Christkatholischen also nicht nur für ihre eigene lobenswerte politische
Moral, sondern auch gegen die Artikel 23 (Meinungsfreiheit) und 27 (Pluralismus der
politischen Parteien) der luxemburgischen Verfassung. Mehr offene Gesellschaft
verfassungswidrige Forderungen und Empfehlungen!
Mit dem Cordon sanitaire wird das Paradox der Demokratie also zur Anweisung der
gesellschaftlichen und politischen Diskriminierung, zur diskursiven und praktischen
Polarisierung sowie zur Aberkennung der konstitutionellen Meinungs– und Redefreiheit und
des Rechts der Beteiligung am politisch-demokratischen Prozess. Zweifelsohne, alles für den
guten Zweck.
Solche verfassungswidrigen Anweisungen sind selbstredend nur zum Schutz der
wohlwollenden, einheitlichen Tyrannei eines erfundenen politischen Allgemeininteresses
gedacht. Und sie gleichen nur zufällig den Kennzeichen der undemokratisch geschlossenen
Gesellschaft, die vorgeblich bekämpft werden sollte.
Weniger Demokratie wagen
Seit Covid war die moralische Linke des Tageblatt anderen Moralisten immer einen Schritt
voraus. Der damalige Chefredakteur vermochte es, ganz ohne Hassrede und mit den besten
demokratischen Absichten, den Vorsitzenden der ADR öffentlich als „niederträchtigen
Drecksack“ zu bezeichnen. Es versteht sich dann fast von selbst, dass diese Linke sich noch
einen Schritt weiter als die Katholischen in den Grabenkrieg gegen die pluralistische
Demokratie wagt.
Mit ihrer wissenschaftlichen Expertin für Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus fordert
das Tageblatt über den Cordon sanitaire hinaus die „wehrhafte Demokratie“.
So gäbe es, folgt man der Expertin Léonie de Jonge beim Warmlauf gegen die offene
Gesellschaft, ein großes Missverständnis bezüglich des politischen Cordon sanitaire. Denn
dieser heiße nicht, dass man jemanden zum Schweigen bringen würde. Demokratisch gewählte
Volksvertreter nicht zu veröffentlichen, ihnen nicht zuzuhören und nicht mit ihnen in
Parlamenten zu diskutieren, verbiete den so Ausgeschlossenen nicht zu reden. Sie dürfen so
viel reden, wie sie möchten, allerdings sollte niemand ihnen zuhören und vor allem niemand
darauf antworten.
Der Cordon sanitaire, so die Extremismuswissenschaftlerin, beschneide ja nur die derzeit noch
verfassungsgemäße Meinungsfreiheit der gewählten Volksvertreter und deren Wähler. Das
bekannte politische Hygieneprinzip Jean-Louis Barraults findet bei Cordon sanitaire
Anwendung auf die rechten Bazillen: „La dictature, c’est ‘ferme ta gueule’ ; la démocratie, c’est
‘cause toujours.“
Es ist, so die Expertin des Tageblatts, vonnöten, dass sich die Demokratie gegen ihre „inneren
Feinde“ wehrt. Und aus der wertneutralen wissenschaftlichen Forschung (sic!, de Jonge & Dörr,
2023) wissen wir, „dass eine Kombination aus Strategien wirken kann“, die inneren Feinde zu
isolieren und demokratisch auszumerzen.
„Ausscheidung oder Vernichtung“
Der Cordon sanitaire ist jedoch nur eine der Waffen gegen die vom Volk demokratisch
gewählten Feinde. Denn die parlamentarische Opposition ist für die moralische Linke längst
nicht mehr politischer Gegner, sondern zu beseitigender Feind.
Die moralisch-wissenschaftliche linke Abwehr gegen Rechtspopulisten weiß, dass jeder
„religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz […] sich in einen
politischen Gegensatz [verwandelt], wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und
Feind effektiv zu gruppieren“ (Schmitt, 1991, S. 37).
Wie während den COVID-Zeiten, weiß das Tageblatt wieder im geistigen Zusammenschluss
von Wissenschaft und einheitlicher politischen Wahrheit, dass jede wirkliche Demokratie
darauf „beruht […], dass nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz,
das Nicht-gleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens
Homogenität und zweitens – nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des
Heterogenen“ (Schmitt, 2017, S. 14).
Demokratisch souverän ist also, wer die staatlichen Feinde bestimmt. Und zur Bestimmung der
inneren Feinde ist nichts besser geeignet als die Etikettierung mit schwammigen Begriffen, die
sich klaren Grenzen entziehen und deshalb im politischen Machtkampf mit unterschiedlichen
Bedeutungen und emotionalen Gehalten aufladen werden können.
Feinde sind aber im Prinzip immer die Anderen: die nicht gleichen, die nicht homogenisierten,
sei es aufgrund von ethnischen, religiösen, moralischen, ideologischen, wirtschaftlichen oder
politischen Gegensätzen.
Während die offene Gesellschaft solche Diversität und Pluralität der Andersdenkenden auf der
Ebene der rationalen Debatte, oder wenigstens der in regelmäßigen Abständen stattfindenden
Wahlen aushandelt, greift die neue geschlossene Demokratie der Linken, genauso wie die
missbilligte Rechte, auf die „Zähne“ (de Jonge) der wehrhaften Demokratie zurück.
Da solche „Zähne“ aber weniger zum Reden als zum Beißen gemeint sind, darf auch die
„demokratische“ Ausschaltung der Andersdenkenden sich nicht auf den alleinigen mediale und
politische Eliminierung aus der demokratischen Debatte begrenzen. Mit Zähnen und Krallen,
und einer Kombination von andren wissenschaftlich erprobten Strategien, warum nicht mit
Fäusten und Pistolen, sollen die Rechtspopulisten und andere Gegner der Demokratie und des
europäischen Einigungsprozesses ausgesondert werden.
Enttäuschte, getäuschte, verletzte und gekränkte Menschen
Wer entscheidet also hier über Freund und Feind der Demokratie? Wer entschiedet darüber,
was Freiheit, was Toleranz und was Demokratie bedeuten?
Diejenigen, die in Namen der Demokratie am stärksten zubeißen!
Man wird bemerkt haben, dass solche Fokalisierung auf vermeintliche Demokratiefeinde und
auf politische Parteien einen scheinbaren Nebendarsteller aus dem Demokratiebegriff
ausschließt: das Volk. Werden Parteien nicht von Bürgern gewählt? Sind Parteien nicht dem
Begriff nach politische Verbände, die der Interessenartikulation und Interessenaggregation
von Bürgen dienen sollten?
Dass Bürger und deren Belange in solchen wissenschaftlichen Analysen nicht vorkommen, ist
kein Zufall. Forschungen wie die von Richard Sennett, Thomas Frank oder Arlie Hochschild, die
dem Phänomen des Populismus aus der Perspektive der verstehenden Soziologie von
enttäuschten, getäuschten, verletzten und gekränkten Menschen nachgehen, sind den
Elitewissenschaften ebenso fremd, wie sie es herablassenden Politikern und Journalisten je
waren. Folgte man aus dieser Sicht den inakzeptablen Wahlentscheidungen des unklugen,
uniformierten und manipulierbaren Volkes, wären die Grenzen der Toleranz und der Freiheit
schon lange überschritten.
Damit die Demokratie sich erhalte, kann sie folglich nur auf die moralische Vormundschaft
gesellschaftlicher Eliten gegründet werden, die mit einer Kombination aus wissenschaftlichen
und medienpolitischen Strategien die unerwünschte Pluralität auf eine einheitliche Linie
bringen.
Wissenschaft soll dann auch nicht dazu beitragen, Fragen über die Funktion und die Legitimität
der Beeinflussung, der Manipulation und Indoktrination in der Demokratie zu klären. Sie soll
vornehmlich dazu dienen, die effizientesten Antworten auf die Bedürfnisse der staatlichen und
privaten Investoren zu liefern. Politikwissenschaften, Soziologie und Psychologie werden
entsprechend auf die technischen Lösungen eines Social Engineering heruntergefahren, das
praktische Gebrauchsanleitungen zur erwünschten Meinungs- und Handlungsorientierung des
unmündigen Volkes liefern soll.
Die „wehrhafte Demokratie“ erscheint nun als das, was sie ihrem Wesen nach sein soll: als
Machtstrategie derer, die das Volk zwar vertreten, aber dennoch mit Verachtung davon
abhalten möchte, sich selbst zu regieren.
Literatur
Schmitt, Carl. 2017. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. [1923] Zehnte Auflage. Berlin: Duncker
& Humblot.
de jonge, Leonie und Julian Dörr. 2023. „Interview / ‚Die Linien zwischen Mainstream und rechtem Rand verschwimmen‘“.
(https://www.tageblatt.lu/headlines/die-linien-zwischen-mainstream-und-rechtem-rand-verschwimmen/ ).
de Jonge, Léonie. 2019. „The Populist Radical Right and the Media in the Benelux: Friend or Foe?“ The International Journal
of Press/Politics 24(2):189–209.
Kalmes, Albert, Sonja Kmec, Thomas Köhl, Pierre Lorang, Jean-Pierre Nicolay, Michel Pauly, Jürgen Stoldt, Viviane Thill, und
Raymond Weber. o. J. „Plädoyer für ein cordon sanitaire gegenüber der ADR – Forum.lu“. Forum 433.
Mildenberger, Florian, und Hartmut Schröder. 2012. „Tabu, Tabuvorwurf und Tabubruch im politischen Diskurs“. bpb.de.
(https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/75862/tabu-tabuvorwurf-und-tabubruch-im-politischen-diskurs/ ).
Popper, Karl R. 1975. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 1: Der Zauber Platons. 4. Aufl. München: Francke.
RTL, 22 März 2024. „Invité vun der Redaktioun – Léonie de Jonge: Och zu Lëtzebuerg gëtt et een Rietsruck an der Politik“.
Abgerufen 1. April 2024 (https://www.rtl.lu/radio/invite-vun-der-redaktioun/a/2179818.html).
Schmitt, Carl. 1991. Der Begriff des Politischen: Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 3. Aufl. der Ausg.
von 1963. Berlin: Duncker & Humblot.