Theorie
Archäologie
Reflexion 1
Kontroversen und Ansätze
im deutschsprachigen Diskurs
Martin Renger
Stefan Schreiber
Alexander Veling
(Hrsg.)
Theorie | Archäologie | Reflexion 1
Theoriedenken in der Archäologie (TidA)
Band 1
Herausgegeben durch die Arbeitsgemeinschaft
Theorien in der Archäologie e. V.
AG TidA
THEORIEN in der
ARCHÄOLOGIE
Theorie
Archäologie
Reflexion 1
Kontroversen und Ansätze
im deutschsprachigen Diskurs
Herausgegeben von
Martin Renger
Stefan Schreiber
Alexander Veling
ORCID®
https://orcid.org/0000-0002-7019-7043
Martin Renger
Stefan Schreiber
https://orcid.org/0000-0003-1065-5003
Alexander Veling
https://orcid.org/0000-0001-7246-8380
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Dieses Werk ist unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0
veröffentlicht. Die Umschlaggestaltung unterliegt der CreativeCommons-Lizenz CC BY-ND 4.0.
Diese Publikation ist auf https://www.propylaeum.de dauerhaft frei verfügbar
(Open Access).
urn:
urn:nbn:de:bsz:16-propylaeum-ebook-1092-9
doi:
https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092
Publiziert bei
Universität Heidelberg / Universitätsbibliothek, 2023
Propylaeum – Fachinformationsdienst Altertumswissenschaften
Grabengasse 1, 69117 Heidelberg
https://www.uni-heidelberg.de/de/impressum
Text © 2023, das Copyright der Texte liegt bei den jeweiligen Verfasser:innen.
Redaktion: Stephanie Renger
ISSN 2941-1904
eISSN 2941-1912
ISBN
ISBN
978-3-96929-182-5 (Hardcover)
978-3-96929-181-8 (PDF)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Reihenherausgeber*innen
ix
Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
Vorwort
xi
Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
Theorie | Archäologie | Reflexion: eine Einleitung
1
Fachbestimmung und Disziplinverortung
Kerstin P. Hofmann
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n).
Einige Bemerkungen aus Sicht einer prähistorischen Archäologin
21
Ulrich Veit
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft:
Genealogie und Zukunft eines unvollendeten Projekts
53
Susanne Grunwald
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie
Ralf Gleser
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen
der Prähistorischen Archäologie
Caroline Heitz
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne
83
129
167
v
vi — Inhaltsverzeichnis
Standpunkte und Positionierungen
Ulrike Rambuscheck, Sarah Gonschorek, Katja Winger,
Doris Gutsmiedl-Schümann
Archäologische Geschlechterforschung und feministische
Archäologie – Arbeitsanleitung für morgen
Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
Transkorporalität in der Archäologie: Subjektkörper diesseits
und jenseits ‚des Menschen‘
José Eduardo M. de Medeiros
Die Kritik an der Subjektlogik und ihre Auswirkung
auf die Interpretation von Hortfunden der Spätbronzeund Früheisenzeit
Aleksander Dzbyński
Kinosophische Archäologie. Archäologie verstehen
durch Kino, Philosophie und Literatur
Georg Cyrus
Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis –
wissenschaftliches Arbeiten zwischen Wahrheitsund Normdiskurs
221
249
293
335
355
Ethik und Verantwortung
Henriette Baron, Daniel Lau, Martin Renger,
Stefan Schreiber, Alexander Veling
Die Hinwendung zum Tier. Ein Interview zu (kritischen) Tierstudien
Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers
Die Toten sind unter uns! Entfremdung, (Ent-)Subjektivierung
und Othering der Vergangenheit als ethisches Problem
Kerstin P. Hofmann, Christina Sanchez-Stockhammer,
Philipp W. Stockhammer
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? (De-)Personalisierung
und Objektifizierung prähistorischer Menschen
377
397
423
Inhaltsverzeichnis — vii
Anonym
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa.
Ein archäologischer Blick auf die türkische Westküste,
Lesbos und Athen im Jahr 2017
Über die Autor*innen
453
491
Vorwort der Reihenherausgeber*innen
Wir freuen uns, hiermit den ersten Band unserer neuen Reihe Theoriedenken
in der Archäologie (TidA) vorlegen zu können. Bislang wurden Beiträge der
AG Theorien in der Archäologie bzw. zuvor Theorie-AG in verschiedenen
Organen publiziert. Neben dem ehemaligen Rundbrief T-AG (1996–2010)
veröffentlichen wir auch diverse Tagungsbände. Diese erschienen in den Reihen Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas (Bd. 2), B.A.R. International Series (Bd. 825), Tübinger Archäologische Taschenbücher (Bde. 3, 5, 7, 9),
Internationale Archäologie – Arbeitsgemeinschaft, Symposium, Tagung, Kongress (Bd. 14) und Archaeolingua (Bd. 30); in Themenheften der Zeitschriften
Archäologisches Nachrichtenblatt (Jg. 10/2), Ethnographisch-Archäologische
Zeitschrift (Jg. 52/1), Archäologische Nachrichten aus Schleswig-Holstein (Sonderheft 3) und im Forum Kritische Archäologie (Jg. 3 / Themenheft Zeichen
der Zeit); als eigenständige Sammelbände bei Sidestone Press (Massendinghaltung in der Archäologie) und transcript (Die Spur des Geldes in der Prähistorischen Archäologie) sowie als Wissenschaftsblog (Theorizing Resilience &
Vulnerability in Ancient Studies).
Um diese bisher disparaten Publikationen übersichtlicher zu gestalten, eine einheitliche Plattform zu schaffen sowie die Arbeit unserer AGMitglieder sichtbarer zu machen, waren wir seit längerem auf der Suche
nach einer neuen Publikationsform. Aufgrund dieser Genese war uns besonders wichtig, dass sie in Format, Design, Betreuung und Digitalität offen sein
soll. Durch die Unterstützung von Propylaeum ist dies möglich geworden;
dafür sind wir sehr dankbar.
Die Reihe Theoriedenken in der Archäologie erscheint im Gold Open Access
und als Print on Demand. Ziel der neuen Reihe ist es, Tagungs- und Kongressberichte, Sammelbände aber auch Monographien zu publizieren, die in der
Regel auf Veranstaltungen oder Initiativen der AG zurückgehen oder durch
sie unterstützt werden. Die hohe Qualität der Bände wird jeweils durch die
Herausgeber*innen und durch ein Peer-Review-Verfahren gesichert; die Publikationssprachen sind Deutsch und Englisch.
Inhaltlich steht die Reihe für eine reflektierte sowie kritische Wissenschaft und Forschung im Bereich von Theorien und Methoden besonders in
Der Vorstand und Beirat der AG TidA, Vorwort der Reihenherausgeber*innen, in: Martin Renger,
Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und
Ansätze im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023)
ix–x. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15019
ix
x — Vorwort der Reihenherausgeber*innen
der deutschsprachigen, aber auch in der internationalen Archäologie und
ihren angrenzenden Wissenschaften. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der
wissenschaftlichen Reflexion der theoretisch-methodischen Grundlagen archäologischer Forschung sowie ihrer gesellschaftlichen Bezüge.
Wir freuen uns daher sehr, dass der vorliegende Doppelband Theorie |
Archäologie | Reflexion den Auftakt unserer Reihe bildet, welcher erstmalig
einen multivokalen Überblick über die aktuelle deutschsprachige Theorielandschaft bietet. Der Band stellt keinen Kongressband dar, sondern ging aus
einem offenen Call for Articles hervor. Er ist als kollektive Zusammenarbeit
möglichst vieler Partizipant*innen der Theoriedebatte im deutschsprachigen
Raum entstanden und die Zahl der Beiträge verdeutlicht, dass dieses Anliegen von Erfolg gekrönt ist.
Mit unserer neuen Reihe Theoriedenken in der Archäologie (TidA) möchten
wir Sie herzlich einladen, auch in Zukunft mit Publikationsvorschlägen an
unsere AG heranzutreten, da unsere Reihe die Diversität der verschiedenen
archäologischen Fächer abbilden möchte und deshalb von Ihren Beiträgen
lebt.
Der Vorstand und Beirat der AG TidA
Vorwort
Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis eines langen Entstehungsprozesses. Ausgangspunkt war die in den letzten Jahren zunehmende Diskussion um die Rolle der theoretischen Debatten, Kontroversen und Positionen
für die Archäologien der Gegenwart und Zukunft. Begonnen hat unser Weg
in der Vorbereitung der 100. Sitzung des Berliner Topoi-Theorie-Lesezirkels
unter dem Titel Wohin entwickelt sich archäologische Theorie? am 4. Juli 2018.
Gemeinsam mit mehreren externen Diskutant*innen reflektierten wir, wohin sich archäologische Theorie entwickelt oder entwickeln könnte. Allen
Teilnehmenden gilt unser herzlicher Dank, denn viele der angesprochenen
Punkte haben uns auf dem Weg zu diesem Buchprojekt implizit oder explizit
begleitet.
Neben der aktuellen inter-/nationalen Theoriedebatte waren es unsere eigenen sehr unterschiedlichen Positionen und Ansichten, die uns dazu
brachten, die Diskussion weiterführen zu wollen. Dazu entwarfen wir einen Call for Articles, den wir über verschiedene Wege zirkulieren ließen.
Wir danken hierbei besonders der Swiss TAG, welche uns im Rahmen ihrer
Gründungsveranstaltung am 24. Januar 2019 ermöglichte, unser Vorhaben zu
präsentieren. Unser Ziel war es, etablierte, insbesondere aber ebenfalls jungwissenschaftliche und bislang ungehörte Stimmen in den deutschsprachigen
Diskurs einfließen zu lassen. Die Resonanz von über 50 Abstracts, aus denen
schließlich 31 Beiträge wurden, freute uns sehr. Wir danken allen Kolleg*innen und Kommiliton*innen für ihre eingesandten Artikel, auch wenn aus
verschiedensten Gründen nicht alle in die fertigen Bände Einzug gehalten
haben. Unser Dank gilt zudem den vielen Reviewer*innen, die mit ihrer viel
zu oft unsichtbaren und ehrenamtlichen Arbeit dazu beigetragen haben, dass
die Beiträge noch einmal geschärft werden konnten. Unser ganz besonderer Dank geht an Sophie-Marie Rotermund, die uns einen weiten Weg zur
Buchherausgabe begleitet hat: Das Zustandekommen der beiden Bücher ist
ebenso dein Verdienst.
Zugleich danken wir der AG Theorien in der Archäologie, die unsere zwei
Bände als Auftakt in ihre neugegründete Reihe Theoriedenken in der Archäologie (TidA) aufgenommen hat. Ebenfalls geht unser Dank an Propylaeum
Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling, Vorwort, in: Martin Renger, Stefan Schreiber,
Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im
deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) xi–xii.
DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15020
xi
xii — Vorwort
für die Aufnahme des ersten Bandes in das Programm Publizieren+, was
uns ermöglichte, gemeinsam ein gelungenes Layout zu erstellen und uns
auf dem Weg zur Publikation begleitete. An dieser Stelle möchten wir uns
deswegen besonders bei Katrin Bemmann, Daniela Jakob, Frank Krabbes und
Jelena Radosavljević für die sehr gute sowie kompetente Zusammenarbeit
bedanken.
Der AG TidA und dem Berliner Antike Kolleg gilt weiterhin Dank für
die finanzielle Förderung des Lektorats und der Redaktion. Dieses konnte
dadurch in vorbildlicher Weise durch Stephanie Renger (geb. Merten) durchgeführt werden. Ihr gilt unser besonderer Dank, denn ein solches Mammutprojekt zu vereinheitlichen, zu lektorieren und redaktionell mitzubetreuen,
bei dem unterschiedliche Forschungstraditionen, Arbeits- und Schreibweisen aufeinandertreffen, kann nicht hoch genug geschätzt werden.
Die Korrektur der englischen Abstracts und Keywords wurde von Rubymaya
Jaeck-Woodgate und Ethan Dunn vorgenommen und wir danken ihnen sehr
herzlich für ihre gewissenhafte und sorgfältige Arbeit.
Zuletzt danken wir all den Autor*innen. Lange hat sich unsere Arbeit
hingezogen und wir haben viele neue Erfahrungen gesammelt, aber auch
kleine und große Fehler gemacht. Sie haben uns mit unendlicher Geduld und
Nachsicht auf unserem Weg begleitet und nun freuen wir uns, gemeinsam
den Doppelband ans Ziel gebracht zu haben.
Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
Theorie | Archäologie | Reflexion:
eine Einleitung
Martin Renger
, Stefan Schreiber
, Alexander Veling
Theory is back
Mit diesem Schlagwort1 reagieren wir auf die provokante These eines „Death
of Theory“, mit der John L. Bintliff und Mark Pearce 2011 die archäologische Theoriedebatte ihrer Meinung nach charakterisierten (Bintliff – Pearce
2011a). Knapp mehr als zehn Jahre nach der Publikation verbinden wir damit
allerdings nicht nur einen Wunsch, sondern eine Analyse der aktuellen Wissenschaftslandschaft. Theorie wird als Grundlage jeder wissenschaftlichen
Tätigkeit weitgehend anerkannt. Und gleichzeitig stellt Theorie nicht nur
Grundlage dar, sie ermöglicht zudem die Kommunikation der Wissenschaften
über die eigenen Institutsflure und Fachbereiche hinaus. Theorie ist damit ein
Ausgangspunkt und öffnet die Türen in die Zukunft. Theorie ist also nicht nur
noch am Leben; sie ist jung, agil und visionär und damit alles andere als tot.
Wir möchten dieses Selbstverständnis von Theorie an den Anfang des
Doppelbandes stellen, denn unserer Meinung nach gilt dies auch für die
deutschsprachigen Archäologien (vgl. Gramsch 2011). Was aber durchaus
verschwunden ist, und was im anglophonen Raum auf ähnliche Weise wahrgenommen wurde (vgl. Bintliff – Pearce 2011b), ist ein breiter Konsens eines
festen Theorie-Kanons, der zudem noch streng disziplinär verortet wäre. Die
Bewertung dieses Wegfalls fällt hingegen sehr unterschiedlich aus. Einerseits öffnet es das Feld für bislang kaum beachtete Themen, Ansätze und
Kontroversen oder ermöglicht, bislang nicht in Verbindung gebrachte Theorien gegenseitig in Anschlag zu bringen. Andererseits steht die Auflösung
1
Das Zitat haben wir von der Philosophin, Wissenschafts- und feministischen
Theoretikerin Rosi Braidotti (2016, xiv) entlehnt, die damit das Vorwort ihrer
Buchreihe Theory eröffnete und deren erklärtes Ziel es ist, die Humanities unter
neuen Vorzeichen auszuloten.
Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling, Theorie | Archäologie | Reflexion: eine
Einleitung, in: Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie |
Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der
Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 1–18. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15021
1
2 — Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
des Konsenses der Entwicklung einer umfassenden Theorie der Archäologie
diametral entgegen, da gerade für eine solche Metaarchäologie ein Konsens
notwendig wäre (vgl. Veit 2020, 164–168). Selbstverständlich stellt sich die
Frage, ob es eine solche überhaupt geben kann und sollte, genauso wie die
nach dem Eklektizismus pluraler Theoriebildungen, der oft einer gewissen
Beliebigkeit nicht entbehrt.
Neben der Auflösung eines Konsenses hat sich aber auch die Vorstellung
und Bewertung, was Theorie überhaupt ist, leisten kann und soll, durch verschiedene Entwicklungen der letzten 15 Jahre gewandelt. Es scheint fast so,
als ob mit der Etablierung und Selbstverständlichkeit von Theorie in der
Archäologie dieser die Selbstreflexion ihres Grundes abhanden kommt. Sie
gehört mittlerweile in jeden Antrag oder jede Qualifikationsarbeit, ohne dass
über den Zusammenhang diskutiert wird. Innovation wird nicht auf dem
Feld der Theorie, sondern in der Entdeckung neuer Grabungs(be)funde und
Datenerhebungen sowie der Methodenentwicklung gesehen. Der klassische
Dreischritt Empirie-Methode-Theorie (in welcher Leserichtung auch immer)
scheint sich hin zu einem Dualismus (oder positiver: zu einer Dialektik) aus
Empirie und Methode zu entwickeln, die dazu führt, dass die Rolle von Theorie neu diskutiert werden muss. Dafür sehen wir mehrere Gründe.
Erstens führt eine zunehmende (Forderung / Förderung der) Einbeziehung
naturwissenschaftlicher und archäometrischer Methoden zu einem Fokus auf
die Leistung dieser Methoden. Kristian Kristiansen bezeichnet diesen Wandel als „third science revolution“ (2014) und diskutiert deren Folgen. Zwar
ließe sich diskutieren, ob insbesondere für die deutschsprachige Debatte
eher ein Abnehmen der Methodenfokussierung im Vergleich zu den 1990ern
und 2000ern zu beobachten ist und statistische Methoden, 14 C- und Dendrochronologie, GIS etc. die Archäologie breit erfasst haben und mittlerweile
selbst eine unhinterfragte Monopolstellung innehaben. Oder aber, ob es derzeit zu einer Hybridisierung und Umwandlung der Methoden, die man in
den letzten 20 Jahren z. B. aus Naturwissenschaften übernommen hatte, in
Forschungsparadigmen kommt. Dennoch scheint trotz oder gerade wegen
der gestärkten Theorie-Selbstverständlichkeit der Fokus auf der Methodik zu
liegen. Man könnte positiv formulieren, dass sich mit der Etablierung naturwissenschaftlicher Methoden auch die popper’sche naturwissenschaftliche
Erkenntnistheorie durchsetzt, die eine weitere Theoriereflexion eher an den
Schnittpunkten zu sozial- und geisteswissenschaftlichen Deutungen notwendig macht. Oder wie Bintliff und Pearce formulieren:
„Would archaeologists then also be much better off if unitary theoretical
paradigms were ignored in favour of a freer application of methodologies appropriate to our real aims, which many maintain are to create as
Theorie | Archäologie | Reflexion: eine Einleitung — 3
truthful a reconstruction of what happened, and why, and how life was,
as we can achieve with current techniques?“ (Bintliff – Pearce 2011b, 1)
Zweitens führt die Abkehr von postmodernen Konstruktivismen zu einem
pragmatischen Neo-Empirismus (Siapkas 2015). Dabei werden konstruktivistische Konzepte pragmatisch gewendet und in methodisch-abstrakte Modelle
übersetzt. Hier ist bewusst keine theoretische Abstrahierung in Bezug auf
Zusammenhänge und Begriffe, sondern eine Operationalisierung hin zu Proxies und statistischen Vereinheitlichungen gemeint. Diese Modelle ermöglichen dann, ehemals subjektive Selbstbeschreibungen und -wahrnehmungen
als quantifizierbare Außenbeschreibungen zu verwenden und zu modellieren.
Drittens verschieben theoretische Neukonzeptionen wie der Neue Materialismus, digitale Ontologien, der Ontological Turn, Multispezies-Archäologien oder Theorien des dritten Weges die Rolle der Theorie selbst. Durch
den als paradigmatisch beschriebenen Wechsel von epistemologischen zu
ontologischen Fragen wird eine theoretische „quiet revolution“ (Henare u. a.
2007, 7) ausgelöst, die bisher kaum im deutschsprachigen Raum zu erkennen
ist. Durch den Fokus auf die eigene materielle und körperliche Involviertheit
sind epistemologische und theoretische Praktiken nur ein Teil aller Praktiken
des „engagement with things“ (Witmore 2014, 223), die sich zwar qualitativ, aber nicht grundsätzlich von empirischen oder methodischen Praktiken
unterscheiden. Reflektieren und Theoretisieren sind hier keine Metaebene
der Forschung, sondern Archäologie wird zur Ökologie aller Praktiken mit
Dingen (Witmore – Shanks 2013) und die Trennung in Empirie, Methode und
Theorie hätte in diesem Verständnis ausgedient.
Viertens pluralisieren sich die Themenfelder, in denen die Rollen der Theorie sichtbar werden. Waren es vor wenigen Jahrzehnten noch vor allem Theorien, die den Forschungsgegenstand betrafen, stellt sich nun eine Vielzahl an
Themenfeldern theoretischen Herausforderungen, die zuvor in der Archäologie eher ein Nischendasein fristeten. Emanzipatorische Ansätze, ethische
Diskussionen, Wissenschaftsgeschichte, postkoloniale Kritik, Standpunkttheorien, DIY, Bottom-up-Ansätze, Subalternität, Subjektivität und Kritische
Theorie – in all diesen Feldern verspüren Archäolog*innen einen steigenden
Bedarf an theoretischer Auseinandersetzung, die dadurch nicht nur die Einbindung von Theorie, sondern auch ihr Verständnis verändert und erweitert.
Mit diesen vier Verschiebungen im wissenschaftlichen Feld ändert
sich auch das Verständnis von Theorie und das Selbstverständnis, wie sie
in die eigene Arbeitsweise eingebunden wird. Diese Änderungen des
(Selbst-)Verständnisses haben allerdings einen ambivalenten Charakter.
Einerseits fördern sie ein selbstbewusstes und kreatives Ausprobieren, ein
Herantasten und Testen. Andererseits führen sie auch dazu, dass Theorie
4 — Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
als akademisches Feigenblatt einer eklektizistischen Arbeitsweise verkommt.
Letztlich fasst Daniela Hofmann aus ihrem eigenen, theorieoffenen Selbstverständnis diese eklektizistischen Arbeitsweisen so zusammen:
„Archäologen wie ich bedienen sich in der theoretischen Diskussion
ein klein wenig wie eine Elster im Juwelierladen – ein klein bisschen
hier nachschlagen, ein klein wenig dort, und sich einen Ansatz zusammentragen, der für ein konkretes Fallbeispiel oder eine bestimmte
Problemstellung, an der man gerade arbeitet, am vielversprechendsten
erscheint. Alles in allem ein sehr gemütlicher Zustand. Ist für diese
Personengruppe die Bezeichnung ‚theoretische Archäologen‘ wirklich
hilfreich?“ (Hofmann 2018, 31)
Diese Arbeitsweisen sind jedoch nicht nur als theorie-pragmatisch zu bezeichnen, denn anders als in vergangenen Jahrzehnten, wo um den generellen Anteil der Theorie in der Archäologie gestritten und sich verschiedentlich
wie in einem Werkzeugkoffer bedient wurde, stellt sich heute die Frage dahingehend neu, welche Basis, welche Position, welche Fundierung, ja: welchen Zusammenhalt Theorie in der Archäologie braucht oder ob sie selbst
die Grundlage sei (vgl. Veling 2021). Das verflochtene methodisch-empirischtheoretische ‚engagement with things‘ erzeugt auch ein neues Theoriedesign.
Theorie hat seinen festen Platz an einem Ende – welches Ende ist sicherlich
umstritten – der Erkenntniskette verloren. Abgewandelt für die Archäologie
könnte man daher in den Worten Oliver Marcharts formulieren:
„Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, Theorieelemente in ein
starres Raster zu zwängen oder einen Theoriebau more geometrico zu
errichten. Alternativ hierzu könnte man sich als theorieästhetisches
Ideal vielleicht den Bau eines Mobile vorstellen. […] Mobiles [bestehen] aus sorgfältig ausbalancierten Verstrebungen, die es möglich machen, dass das Objekt entlang verschiedener Achsen in interferierende
Bewegungen versetzt wird. […] [E]s [handelt] sich bei einem Mobile
um einen Gegenstand, der nicht in seinen Materialien, sondern ausschließlich in den Bewegungen existiert, die ihn zum Tanzen bringen.“
(Marchart 2018, 55–56)2
2
In ähnlicher Weise aktiviert Donna J. Haraway die Figur des ‚tentakulären Denkens‘, das ähnlich einem Tentakel vorsichtig, nichtlinear, aber auch entschieden
umhertastet und dadurch wissensproduzierende Bewegungen durchführt (Haraway
2018, 47–83).
Theorie | Archäologie | Reflexion: eine Einleitung — 5
Zugleich nimmt Theorie gerade in Deutschland aber mittlerweile einen anderen Stellenwert in interdisziplinären Forschungsverbünden, Verbundprojekten und Exzellenzclustern ein. Die oben genannte Scharnierstelle weist
bereits darauf hin, dass Theorie zu einer wesentlichen Verständigungsebene zwischen Disziplinen und Wissenschaftstraditionen wird (Hofmann –
Stockhammer 2017; vgl. Bernbeck 2017, 38). Theorie wird hier zur Reflexion
über die Möglichkeiten der Zusammenarbeit, da Theorie flexibler und anschlussfähig erscheint. Gerade die Anschlussfähigkeit führt jedoch auch zu
einer stärker metaphorischen und figurativen Verwendung. Starre Konzeptionen von Begriffen und Modellen, die nur für eine spezifische Anwendung
entwickelt werden, erscheinen hierbei ungeeignet, auch wenn immer noch
ein Hang zur ‚Entdeckung‘ allgemeingültiger Definitionen zu beobachten ist.
Gleichzeitig ist der früher bemängelte ‚Theorieimport‘ (Veit 2020, 167)
im Gegensatz zu genuin archäologischen Theorien (geschweige denn einer
Theorie der Archäologie, vgl. Veit 2002a, 42–47) nun zu einem Garanten dieser Anschlussfähigkeit geworden. Archäologisch-theoretisch zu arbeiten, bedeutete u. E. schon immer interdisziplinär zu arbeiten. Gerade die Flexibilität
von Theorien erfordert und ermöglicht zugleich, dass diese angepasst, umgewandelt, eingearbeitet, weitergedacht, transformiert und in die eigenen Bedürfnisse ‚übersetzt‘ werden. So ist es wenig überraschend, dass in neueren
Thematisierungen zur Rolle von Theorie(n) in der Archäologie im Gegensatz
zu einem strikten, harten Theorieverständnis eher auf eine weiche Auffassung von Theorie Wert gelegt wird. Dieses stellt die Mobilität und Wandelbarkeit (Lucas 2015), die Unfertigkeit und Fragilität sowie Assoziationsfähigkeit ins Zentrum (Pétursdóttir – Olsen 2018). Es gibt also mehr als genug
gute Gründe und sogar Notwendigkeiten, heute engagiert über Theorie zu
diskutieren. Unabhängig davon, ob man diesen Entwicklungen folgt oder sie
ablehnt, ist ein Ignorieren kaum möglich und eine Debatte notwendig. Das
betrifft nicht nur die beispielhaft angesprochenen Themen, sondern Theorie(n) insgesamt. Was die Debatte der deutschsprachigen Archäologie angeht, fehlt aber ein Raum, in der die mehr oder weniger latent stattfindenden
Theoriedebatten dokumentiert werden. Ein solches Forum wollen wir mit
diesen Bänden schaffen.
Theorie | Archäologie | Reflexion –
Zur Entstehungsgeschichte der Bände
„Ein Verzicht auf explizite Theorie [kommt] einem Verzicht auf Wissenschaftlichkeit gleich – er führt uns also geradewegs in den Bereich der Ideologie“ (Veit 2002a, 40). Mit diesem prägnanten Satz formulierte Ulrich Veit
6 — Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
bereits vor 21 Jahren den Anspruch theoretischer Reflexion. Lange wurde in
den deutschsprachigen Archäologien vor allem die anglophone Diskussion
reflektiert.3 Seit den 1990er Jahren kam es parallel vermehrt zu Auseinandersetzungen mit theoretischen Ansätzen vor allem aus den Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch zu Versuchen, eine Theorie der Archäologie zu
entwickeln.4 Da sich der akademische Diskurs jedoch stetig weiterentwickelt,
waren und sind zahlreiche Differenzierungen und Kontroversen die Folge.
Dies führte u. E. dazu, dass grundsätzliche Verortungen und Positionsbestimmungen seit den 2000er Jahren kaum noch versucht wurden. Stattdessen wurde die Aufmerksamkeit in Arbeiten mit umfangreichen Theoriereflexionen
gesteckt, wie viele Qualifikationsarbeiten belegen (vgl. die umfangreiche Zusammenstellung in Hofmann – Stockhammer 2017).
Der im vorigen Abschnitt skizzierte Bedeutungs- und Praxiswandel der
Theorie und Theoriearbeit führte in den vergangenen Jahren jedoch erneut zu
einer umfangreichen Diskussion. Neben anglophonen Debatten (Domańska
2014; Lucas 2015; Thomas 2015a; 2015b), wurden in letzter Zeit ebenso im
deutschsprachigen Raum wieder Verortungen der Theoriedebatte vorgenommen (zuletzt Veit 2020).
Als ein Ausgangspunkt kann sicherlich der Beitrag Beyond Antiquarianism. A Review of Current Theoretical Issues in German-Speaking Prehistoric
Archaeology von Kerstin P. Hofmann und Philipp W. Stockhammer (2017) in
den Archaeological Dialogues gelten. Ursprünglich eher als Literatur-Review
gedacht, wurde dieser zum Diskussionsartikel, da das Editorial Board weitere
Archäologen mit einschlägiger Erfahrung mit und in der deutschsprachigen
Theoriediskussion um ihre Meinungen bat.5
Kürzlich stieß zudem Ulrich Veit eine Grundsatzdiskussion über die
Zukunft der Theorie an. Publiziert in der Ethnographisch-Archäologischen
Zeitschrift verfolgte sie das erklärte Ziel, dass die Eingeladenen jeweils
„in einem kurzem Beitrag ihre Vorstellungen von einer zukünftigen Theorie in der Archäologie dar[…]legen“ (Veit 2018a, 13). Zwar waren hierbei
mindestens drei Generationen an Forschenden versammelt, wie hervorzuheben ist und auch explizit betont wurde. In dieser Diskussion kamen jedoch insbesondere Ur- und Frühgeschichtliche Professoren zu Wort, die
zudem bereits eine personelle Schnittmenge mit den Kommentatoren des
3
4
5
Z. B. Wolfram 1986; Bernbeck 1997; Eggert – Veit 1998.
Z. B. Mante 2000; 2011; Veit 2002b; Eggert – Veit 2013.
Bernbeck 2017; Kristiansen 2017; Meier 2017; Veit 2017. Dies waren in der gedruckten Version tatsächlich ausschließlich männliche Professoren, ob Personen
anderen Geschlechts oder akademischen Status gefragt wurden, ist uns nicht
bekannt.
Theorie | Archäologie | Reflexion: eine Einleitung — 7
Archaeological-Dialogues-Artikels aufwiesen.6 Institutionen wie beispielsweise die AG Theorien in der Archäologie oder auch andere archäologische
Disziplinen fanden hier kaum bzw. keine Stimme.
Eine der institutionalisierten Formen, in der wir uns selbst verorten und
theoretisch sozialisierten, ist das Netzwerk verstreuter Theorie-Lesezirkel.
Diese reichen vom 2012–2019 existierenden Berliner Topoi-TheorieLesezirkel,7 der ab 2019 als Theorie-Lesezirkel des Berliner Antike Kollegs
weitergeführt wurde und 2022 in das dortige Theory Network8 mündete, über den 2017–2019 existenten RGK-Theorie-Lesezirkel der RömischGermanischen Kommission des DAI, welcher seit 2019 in Kooperation mit
dem Römisch-Germanischen Zentralmuseum (jetzt LEIZA) und seit 2020
als VARM-Theorie-Lesezirkel9 stattfindet, den 2018–2022 aktiven Freiburger
Theorie-Lesezirkel,10 bis hin zu kurzzeitig bestehenden Formaten wie den
Marburger11 oder den Züricher Theorie-Lesezirkel sowie thematischen Lesezirkeln wie jenem der AG Religionsarchäologie (RelArch).12 All diese Zirkel
zeichnen sich durch eine partizipative, offene, interdisziplinäre und neuerdings digitale Struktur aus, die es gerade jüngeren Wissenschaftler*innen
erlaubt, sich zu erproben, Texte kennenzulernen, Ansätze gegeneinander
abzuwägen und gemeinsam Theorien zu erschließen und im besten Sinne
Theoriearbeit zu leisten.
Im Rahmen einiger dieser Theorie-Lesezirkel wurden die Beiträge in
den Archaeological Dialogues und der Ethnographisch-Archäologischen Zeitschrift wahrgenommen, diskutiert und reflektiert. Dabei zeigte sich ein enormer Redebedarf, der über das Spektrum der in den Beiträgen behandelten
Themen weit hinausging. Im Anschluss an die Diskussionen kam daher der
Wunsch auf, diese Diskussionen im breiteren Kreis weiterzuführen und zugleich durch Ansätze von bisher weniger gehörten Stimmen zu bereichern.
6 Bernbeck 2018; Hansen 2018; Härke 2018; Hofmann 2018; Holtorf 2018; Karl
2018; Meier 2018; Müller 2018; Samida – Eggert 2018; Veit 2018a.
7 http://www.topoi.org/event/14656/.
8 https://www.berliner-antike-kolleg.org/transfer/theory_network/index.html.
9 Verbund Archäologie Rhein-Main. https://varm.hypotheses.org/category/ag/theorie;
vgl. Schreiber 2019.
10 https://www.vorderasien.uni-freiburg.de/mitarbeiterinnen/wissmit/MRenger/
theorie-lesezirkel.
11 Seit 2022 in einer Neuauflage als Marburger Centrum Antike Welt-Theorielesezirkel weitergeführt, https://www.uni-marburg.de/de/mcaw/mcaw-nachwuchs
gruppe/aktivitaeten/mcaw-theorielesezirkel.
12 Für eine aktuelle Zusammenstellung s. https://www.agtida.de/aktivitaeten-und-out
put/lesezirkel-und-diskussionskreise/.
8 — Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
Dazu wurden auf dem 100. Treffen des Berliner Topoi-Theorie-Lesezirkels
am 4. Juli 2018 unter dem Titel Wohin entwickelt sich archäologische Theorie?
14 Fragen bzw. vielmehr Fragenbündel zur Diskussion gestellt. Sie gliederten
sich in folgende Schwerpunkte: Strukturen (Frage 1–4), Orte (Frage 5–6), Akteur*innen (Frage 7–11) und Inhalte (Frage 12–14):
1) Gibt es in Deutschland paradigmatische Theorien, oder baut man
meist auf den Kenntnissen der Vorgänger*innen auf (Zwerge auf den
Schultern von Riesen, Hermeneutik)? Führt dies zu divergierenden
Diskussionssträngen (Lehrmeinungen und Schulen; Diskurse statt
Paradigmen?), und / oder gibt es innerhalb der Schulen und Diskurse
starke (paradigmatische?) Wechsel? Welches sind die primären Einheiten, in denen Theoriebildung und -wandel stattfinden (Schulen,
Diskurse, Paradigmen)?
2) Was kennzeichnet die deutschsprachige Theorie-Diskussion oder
handelt es sich nur um eine verspätete Diskussion anglophoner Ansätze?
3) Wie wichtig sind unterschiedliche Sprachen für die Theoriediskussion? Benötigen wir eine lingua franca (vgl. Bernbeck 2008)? Wenn
nicht, wie lässt sich ein offener, anregender Diskurs gestalten? Wie
gehen wir damit um, dass viele anglophone Autor*innen den nichtenglischsprachigen Raum nicht / kaum wahrnehmen?
4) Ist eine theoretische Wende in der Archäologie vollzogen? Oder
wird das Fach immer noch aufgrund der widersprüchlichen Ziele /
Inhalte (Denkmalpflege, Museumsarbeit, Forschung, … sowie der
Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner?), Gesetzeslage und
öffentlichen Erwartungshaltung fundamental als empirische Wissenschaft gesetzt? Ist die Entwicklung einer Wissenschaft gerichtet?
Entwickelt sich also zuerst ein ‚Handwerk‘ der Archäologie, das erst
nach und nach theoretisiert wird (vielleicht vergleichbar mit David
Clarkes [1973] Stufen der Archäologie-Entwicklung)? Gibt es im
Theoriediskurs Phasen der Sättigung? Wann bringt Theoriearbeit
keine neuen Erkenntnisse mehr? Ist der Theoriediskurs irgendwann
abgeschlossen?
5) Ist eine strikte Trennung zwischen Theorie und Praxis / Empirie
sinnvoll und wenn ja, wann (Stichwort: empiriegeladene Theorie und
theoriegeladene Empirie [Hirschauer 2008]; ist Theorie, die sich nicht
durch Praxis irritieren lässt, wissenschaftlich wertlos? [Bourdieu])?
Welches Selbstverständnis haben Theoretiker*innen und welches
wird ihnen zugeschrieben? Löst ein inter-/transdisziplinärer Diskurs
diese Trennung notwendigerweise auf? Wo ist in der Archäologie
der Ort der Methode?
Theorie | Archäologie | Reflexion: eine Einleitung — 9
6) Welchen Ort kann die Theorie-Diskussion haben, würden z. B. die
altertumswissenschaftlichen Exzellenzcluster / Verbundforschungen etc. wegfallen? Wer kann sich Einarbeitung in Theorie ‚erlauben‘ ohne diese institutionelle Einbindung? Wie wirken sich der
Bologna-Prozess und die zunehmende Beteiligung an Verbundforschungen auf die Theorie-Diskussion in Deutschland aus? Kann
archäologische Theorieentwicklung sogar nur noch als Verbundforschung stattfinden?
7) Ist Theorieentwicklung eine Sache des akademischen Alters bzw. der
jeweiligen Position in der eigenen akademischen Biographie? Sind
archäologische und praktische Grundkenntnisse Voraussetzung für
eine kompetente fachbezogene theoretische Reflexion? An welcher
Stelle einer wissenschaftlichen Biographie kann / sollte eine Theoriereflexion einsetzen? Sind eher Doktorand*innen die Theorieproduzent*innen oder braucht man eine ‚gewisse‘ Erfahrung (Professur,
Ruhestand)? Oder anders: Wann hat man eigentlich Zeit, sich mit
Theorieentwicklung zu beschäftigen?
8) Ist eine Hinwendung zu theoretisch(er)en Fragen Anzeichen eines
kommenden Paradigmenwechsels? Steht eine Theoriediskussion
immer als Avantgarde einer ‚normalen Wissenschaften‘ (im Kuhnschen Sinne) gegenüber? Oder anders: Ist ‚normale Wissenschaft‘
zwangsweise theoriefrei (sprich unreflektiert), da ja das Paradigma
die Richtung sowieso vorgibt? Trifft dies nicht auch auf den Wandel in Diskursen und Schulen zu? Oder gibt es gar einen ständigen
avantgarden theoretischen Bestandteil der Archäologie, die immer
am Rand bleibt (und bleiben will)?
9) Wer macht Theorie? Wer wird in Zukunft Theorie machen?
10) Kann / soll Theorie aufgrund der enormen Vielfalt und Komplexität
nur noch kollaborativ funktionieren? Macht das System individueller
Autor*innenschaft überhaupt noch Sinn?
11) Muss sich Theorie auf anerkannte / angesagte wissenschaftliche
Autoritäten stützen? Was ist eine legitime, was eine nicht-legitime Theoriebildung? DIY-Theorien statt Bruno Latour, Max Weber
und Michel Foucault? Überschätzen wir die Konsistenz autoritärer
Theoriegebäude? Ist es egal, woher Theorien kommen? Sollte die
Archäologie Theorien selbst entwickeln (müssen), statt vorhandene
zu übersetzen?
12) Welche Arten von Theorien braucht die Archäologie (Reichweiten,
Meta-, Mikro-, Makro-, Kritische / Ethische, archäologische Erkenntnistheorie, archäologische Ontologie)? Welche Regeln und Ethiken ergeben sich aus den spezifischen Theorie(diskussione)n?
10 — Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
13) Ist die Postprozessuale Archäologie endgültig zu Ende und gibt es
eine eigenständige archäologische Theoriediskussion überhaupt
noch? Oder ist diese fundamental post-disziplinär? Ergibt ‚TheorieImport‘ als Kritikpunkt überhaupt noch Sinn (vgl. Travelling Concepts, Post-Disziplinarität)? Ist die Archäologie dabei, sich so weit zu
emanzipieren, dass sie anstatt Theorieangebote der Nachbarfächer
nur zu verarbeiten, diese zunehmend selbst problematisiert? Wie
sähe eine Philosophie der Archäologie aus? Gibt es auch TheorieExporte?
14) Was soll / kann / müsste Theorie künftig thematisieren? Sollen / müssen wir Diskurse der Gegenwartsgesellschaft aufgreifen (Klimawandel, gender, Macht, Posthumanismus etc.)? Sollen / müssen wir
Diskurse der Vergangenheit aufgreifen?
Wie zu erwarten, ließ sich die Diskussion anhand der 14 Fragen kaum einengen, da das Thema offensichtlich explorativ und zu groß für einen einzigen
Abend war. Einen Grund dafür sehen wir darin, dass archäologische Forschung und damit Theorieentwicklung mittlerweile nicht nur an Universitäten, sondern verstärkt ebenso in interdisziplinären Verbünden und außeruniversitären Formaten stattfindet. Ebenso verändern neue Studiengänge sowie
Graduiertenschulen und -kollegs die Grenzen und zunehmend das Selbstverständnis der Archäologien und genauso der Archäolog*innen. Gleiches
gilt für die Digitalisierung als Dienstleistung und Grundlage für Public und
Citizen Sciences.
Auch wenn all diese Faktoren durchaus zur Auffächerung der Theorieund Fachdiskurse beigetragen haben dürften, sind diese nicht zwangsläufig
expliziert und kritisch reflektiert. Zudem ist die gesellschaftliche Rückwirkung auf die Wissenschaft spürbar; sei es in sich verändernden Fragen an
die Vergangenheit, im Einfluss ethischer Überlegungen auf die Forschungspraxis, ob im Feld oder bei der Analyse, sowie in der Plausibilisierung von
Forschungsideen, -konzepten und -ansätzen und dem Rechtfertigungsdruck,
der ebenfalls für die Theoriearbeit die Legitimationsfrage stellt.
Dieser Diversität, die den archäologischen Theoriediskurs heute prägt
und sich unter anderem zunehmend in universitären (Abschluss-)Arbeiten
zeigt, geben wir mit dem vorliegenden Doppelband ein Forum. Dazu wurde breit ein Call for Articles13 verteilt und gezielt beworben, so z. B. auf der
Gründungsveranstaltung der Swiss TAG. Uns interessierten dabei vor allem,
welche Themenfelder derzeit erschlossen werden, welche Ansätze sich als
13 http://www.agtida.de/call-for-articles-theoriesammelband/.
Theorie | Archäologie | Reflexion: eine Einleitung — 11
fruchtbar und lebendig erweisen, ohne bisher den Eingang in eine zusammenfassende und übergreifende Auseinandersetzung gefunden zu haben?
Wo können die Archäologien eigene Blickwinkel zu theoretischen Diskursen
beitragen, wo liegen theoretische Kompetenzen von archäologischen Zugängen? Gibt es begründete Vorbehalte gegen theoretisches Arbeiten?
Zugleich soll ein Blick in die Zukunft geworfen werden: Wird der theoretische Diskurs ein spezifisch archäologischer bleiben oder im breiten Feld der
Kultur- und Sozialwissenschaften aufgehen, und sollte das vielleicht sogar
passieren? Brauchen wir einen strukturellen Unterbau und / oder eine Vielfalt
an Orten und Formaten, um den Theoriediskurs inhaltlich und institutionell
zu fordern und zu fördern? Sorgt die zunehmende Komplexität dafür, dass er
sich beispielsweise von methodologischen Diskussionen, der Vermittlungspraxis oder der Feldforschung entkoppelt? Welche Themenbereiche bieten
Potenzial einer theoretischen Auseinandersetzung, wo sind Leerstellen und
Lücken, wo die Archäologien untertheoretisiert? Welche Theoriedebatten
werden in den unterschiedlichen archäologischen Teildisziplinen geführt
und worin unterscheiden sie sich? Warum spielt Theorieausbildung in den
deutschsprachigen Studiengängen zumeist nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle oder wird an das Ende der universitären Ausbildung gestellt?
Neben strukturellen stellen sich gleichermaßen inhaltliche Fragen: Worin unterscheiden sich Archäologien nach dem Cultural Turn noch von den
Kulturwissenschaften nach dem Material Turn? Sollten wir beispielsweise
ebenso aktuelle sozial- und kulturwissenschaftliche Debatten um Empathie,
Emotionalität und Affekt aufgreifen? Welche anderen Themen wie Identifizierungen, soziale Praxis, Digitalität, oder Genetic History können und
sollten archäologisch reflektiert und theoretisch begleitet werden? Was bedeutet die posthumanistische Kritik an anthropozentrischen Positionen für
die Archäologien, beispielsweise durch den New Materialism oder die posthumanistische Philosophie? Welche Herausforderungen und Konsequenzen
bringt die verstärkte Diskussion ontologischer Perspektiven? Wie beeinflussen naturwissenschaftliche Ansätze und Überlegungen den Theoriediskurs?
Und liegt die Zukunft der Archäologie überhaupt in der Erforschung der
Vergangenheit (vgl. Nativ – Lucas 2020)?
Diese leicht zu erweiternde Auswahl zeigt bereits, dass es uns um das
Zusammenbringen vielfältiger Stimmen und Perspektiven ging und weniger
um den gemeinsamen Entwurf eines abgeschlossenen Theoriekanons oder
einer ganzheitlichen Theorie der Archäologie. Sinnbild dafür ist bereits der
Titel, der mit Theorie | Archäologie | Reflexion drei Schlagworte umreißt, deren Verhältnis – insbesondere im jeweiligen Kollektivsingular – nicht immer einvernehmlich oder komplementär ist und sein kann, sondern in der
Vergangenheit und Gegenwart vielfältige Brüche quer zu den Disziplinen
12 — Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
produziert hat. Diese Brüche wollen wir als produktive Momente verstehen,
die Kontroversen anstoßen, weiterführen und speisen, statt eine oder mehrere kohärente Theorien der Archäologie zu entwerfen.
Wir haben uns bewusst auf Kontroversen und Diskussionen im deutschsprachigen Raum beschränkt. Nicht etwa, um eine isolationistische Perspektive einzunehmen, sondern einen Lackmustest für die deutschsprachige Diskussionslandschaft vorzunehmen. Dies geschieht selbstverständlich mit all
den Folgen, die eine Internationalisierung der Archäologie mittlerweile mit
sich bringt – man denke nur an die Rolle der EAA – und die eine klare Abgrenzung schon von Anfang an verbietet und konterkariert.
Zudem haben wir versucht, die Einstiegshürde – z. B. durch die Möglichkeit experimenteller Formate – niedrig zu halten. Ziel war es, sowohl
wissenschaftlichem Nachwuchs als auch Wissenschaftler*innen mit bislang
weniger Erfahrung in Auseinandersetzung mit theoretischen Kontroversen
den Zugang zu ermöglichen. Zwar hielten sich bis auf ein schriftliches Interview (Beitrag Baron u. a.) und eine eher metaphorische Auseinandersetzung
(Beitrag Dzbyński) experimentelle Formate in Grenzen, dafür war die Rückmeldung mit knapp 50 Beiträgen, von denen über die Hälfte in die beiden
Bände aufgenommen werden konnte, überwältigend. Wir freuen uns besonders, dass ein großer Teil der Beiträge aus dem Mittelbau- und Nachwuchsbereich stammt, verschiedene Archäologien vertreten sind und zudem das
Geschlechterverhältnis der Autor*innen relativ ausgeglichen erscheint.
Gliederung der Beiträge in Band 1
Aufgrund des breiten Spektrums der Beiträge wählten wir eine Einteilung,
die sich an den Arten der Zugänge und weniger an konkreten Theorien
orientierte. Der erste Band umfasst mit den Themenblöcken ‚Fachbestimmung und Disziplinverortung‘, ‚Standpunkte und Positionierungen‘ sowie
‚Ethik und Verantwortung‘ eher meta- und wissen(schaft)shistorische und
-ethische Zugänge zur Archäologie. Der zweite Band befasst sich mit spezifischen Themenfeldern, die wir in die Blöcke ‚Relationen – Beziehungen –
Sozialitäten‘, ‚Zeitlichkeiten – Räumlichkeiten – Landschaften‘ sowie ‚Vergleiche – Modelle – Abstraktionen‘ unterteilt haben.14
Der Themenblock ‚Fachbestimmung und Disziplinverortung‘ widmet sich
Diskussionen, die Theorie, Theorien und Theoriearbeit im akademischen,
archäologischen Feld verorten. Die Rolle von Theorie(n) in der Archäologie
14 Die Übersicht über die Beiträge sind bandspezifisch; die zu den Beiträgen von
Band 2 sind in der sonst textgleichen Einleitung im Band 2 enthalten.
Theorie | Archäologie | Reflexion: eine Einleitung — 13
und deren mögliche Zukünfte wird im Beitrag von Kerstin P. Hofmann eingehend anhand der kommenden Herausforderungen, aber ebenso der heutigen
Positionen diskutiert. Als eine wesentliche Aufgabe stellt sich der Autorin
die inhaltliche Übersetzungsleistung unterschiedlicher Konzepte und Ansätze in die jeweiligen disziplinären Zusammenhänge und Fragestellungen,
an der sich zukünftig der Erfolg entscheidet. Dagegen entwirft Ulrich Veit
in seinem Beitrag eine Sicht, in der Archäologie die historisch weit zurückreichende ständige Anpassung an andere Geistes- und Kulturwissenschaften überwinden soll. Er fordert, prähistorische Archäologie konsequent als
Historische Kulturwissenschaft auszuarbeiten, und weist auf die vielfältigen
theoretischen Umstrukturierungen hin, die dazu nötig sind. Auch Susanne
Grunwald wirft einen Blick zurück in die Geschichte der (Prähistorischen)
Archäologie. Anhand des Themenkomplexes der Entnazifizierung stellt sie
vor, welche historischen Prozesse die Entwicklung der Disziplin nach dem
Zweiten Weltkrieg prägten, und wie dieses Fachverständnis wiederum als
theorieabstinent bezeichnet werden konnte. Eher mit einer erkenntnistheoretischen Bestimmung der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie befasst
sich Ralf Gleser. Dazu stellt er in seinem Beitrag die Rolle der Archäologie
als empirische Wissenschaft heraus, entwickelt jedoch die Erkenntnisgrundlagen dahingehend weiter, dass er nomologische Erklärungen um narrative
Erläuterungen ergänzt. Dadurch wird es möglich, dass die Archäologie die
Wissenschaftstheorie um neue Zugänge erweitert, ohne sich jedoch konstruktivistischen Deutungen anzuschließen. Dagegen stellt Caroline Heitz in
ihrem Beitrag eine Archäologie epistemologisch dritter Wege vor. Diese verbinden bisherige materialistische und idealistische, realistische und relativistische sowie moderne und postmoderne Positionen hin zu einer metamodernen Archäologie. Diese löst die epistemologischen Widersprüche jedoch
nicht auf, sondern nutzt sie produktiv und stellt somit ein mögliches theoretisches Fundament für kommende Herausforderungen in den Archäologien
bereit.
Im Themenfeld ‚Standpunkte und Positionierungen‘ werden Anschlüsse der Archäologie an disziplinenübergreifende Diskurse sowie deren Konsequenzen reflektiert. Ulrike Rambuscheck, Sarah Gonschorek, Katja Winger
und Doris Gutsmiedl-Schümann entwerfen eine Arbeitsanleitung zu einer
archäologischen Geschlechterforschung und feministischen Archäologie.
Nach einem Blick zurück auf die Entwicklung dieser Diskurse entwickeln die
Autorinnen eine kritische Perspektive auf zukünftige Herausforderungen,
die sie im Bereich der Forschungsfragen, Arbeitspraxis und Vermittlung der
relevanten Narrative sehen. Körper und Körperlichkeit werden im Beitrag
von Stefan Schreiber und Sophie-Marie Rotermund anhand des Konzeptes der
Transkorporalität diskutiert. Dabei wird aus der Perspektive der New bzw.
14 — Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
Feminist Materialisms der Body Turn um sich wechselseitig durchdringende
Körper- und Subjektperspektiven erweitert und nach den archäologischen
Herausforderungen und Konsequenzen gefragt. Subjekte und deren subjektive Logiken stehen im Zentrum des Beitrags von José Eduardo M. de Medeiros.
Mithilfe der historisch-genetischen Theorie der Subjektlogik des Soziologen
Günter Dux entwirft er einen Interpretationsraum für archäologische Fundkomplexe, die er anhand von Hortfunden der Spätbronze- und Früheisenzeit
diskutiert. Der Beitrag von Georg Cyrus befasst sich mit der Interpretationsarbeit. Ausgehend von der Wahrheitstheorie Jürgen Habermas’ thematisiert
Cyrus den Unterschied von Wahrheits- und Normdiskursen und beleuchtet
damit den Geltungsanspruch archäologischer Aussagen. Damit bettet er diesen in den Rahmen einer Kommunikationslogik ein, der sie anschlussfähig
an andere gesellschaftlich relevante Diskurse macht. Der Aussagekraft und
-möglichkeit der Archäologie nähert sich Aleksander Dzbyński über Wissenswerkzeuge und Wissenslogiken, die er als kinosophische Archäologie
versteht. Durch das Medium des Films verknüpft er Ausdrucksmittel des
Kinos, der Philosophie und der Literatur, um experimentell Vergangenheit
verstehbar zu machen. Dadurch schafft er Anschlüsse, die bislang wenig beachtet wurden.
Im abschließenden Block des ersten Bandes, ‚Ethik und Verantwortung‘,
stellen sich die Autor*innen den Effekten und gesellschaftlichen Aufgaben
von Archäologie. Das Themenfeld wird durch ein schriftliches Interview der
Herausgeber mit Henriette Baron und Daniel Lau zu Verantwortung von Tierstudien in der Archäologie eröffnet. In diesem werden Argumente der Critical Animal Studies einerseits und der archäozoologisch arbeitenden Human
Animal Studies andererseits ausgetauscht und wechselseitig aufgrund ihrer
gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Funktion ausgelotet. Dass Verantwortung für Subjekte der Vergangenheit nicht mit deren Tod endet, diskutieren Stefan Schreiber, Sabine Neumann und Vera Egbers in ihrem Beitrag. Sie
plädieren aus einer subjektivierungstheoretischen Perspektive dafür, Verstorbene der Vergangenheit nicht zu entsubjektivieren und zu entfremden und
dadurch zu ‚Anderen‘ der Vergangenheit zu machen, sondern in einen spekulativen Dialog mit ihnen zu treten. Mit dem archäologischen Umgang mit
Verstorbenen beschäftigt sich ebenfalls der Artikel von Kerstin P. Hofmann,
Christina Sanchez-Stockhammer und Philipp W. Stockhammer. Anhand der
archäologischen Praxis, Verstorbenen Namen zu geben, wägen sie das Für
und Wider ab, indem sie das Thema unter der Perspektive von (De-)Personalisierung und Objektifizierung prähistorischer Menschen betrachten. Dazu
führten sie u. a. eine Befragung unter Archäolog*innen durch, um sich den
ethischen und pragmatischen Dimensionen dieser Praxis zu nähern. Den
Abschluss dieses Bandes bildet ein Beitrag anonymer Autor*innen, welche
Theorie | Archäologie | Reflexion: eine Einleitung — 15
auf Basis eines Feldprojektes an der türkischen und griechischen Küste eine
der jüngsten undokumentierten Migrationen und Fluchtbewegungen untersuchten. Hierbei wird deutlich, dass Archäologie anhand materieller Quellen
deutlich andere und nichtsdestotrotz relevante Geschichten der sog. Flüchtlingskrise beitragen kann. Zugleich wird aber die Problematik einer solchen
interventionistischen Archäologie deutlich.
Zwar sind die Beiträge in Reichweite, Anspruch und Theoretisierung
durchaus divers, dennoch wird deutlich, welche Wege der Theoriediskurs
in den Archäologien mittlerweile genommen hat und welche Dimensionen
er erreicht. Die Beiträge haben unserer Meinung nach gemeinsam, dass, obwohl bislang eine fachspezifische Perspektive eingenommen wurde, es kaum
einen Unterschied macht, in welcher archäologischen Disziplin die Autor*innen jeweils sozialisiert wurden. Alle angesprochenen Themen betreffen die
archäologischen Disziplinen gleichermaßen (wenn auch nicht immer zu
gleichen Teilen). Im für diesen Band gewählten Dreiklang Theorie | Archäologie | Reflexion schwingt genau dieses Verständnis mit, bei dem nicht nur die
Grenzen zwischen den Disziplinen, sondern ebenso jene zwischen den drei
Arbeitsweisen durchlässiger werden. Das macht Mut für eine Zukunft, für
die unserer Meinung nach programmatisch gilt: Theory is back.
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Kontakt
Martin Renger | Universität Heidelberg | heiQUALITY-Büro | Fischmarkt 2 | 69117
Heidelberg | martin.renger@heiquality.uni-heidelberg.de
& Freie Universität Berlin | Institut für Vorderasiatische Archäologie | Fabeckstraße
23–25 | 14195 Berlin | martin.renger@fu-berlin.de | https://orcid.org/0000-00027019-7043
Stefan Schreiber | Leibniz-Zentrum für Archäologie | Ludwig-Lindenschmit-Forum 1 |
55116 Mainz | stefan.schreiber@leiza.de | http://orcid.org/0000-0003-1065-5003
Alexander Veling | Freie Universität Berlin | Institut für Prähistorische Archäologie |
14195 Berlin | Fabeckstraße 23–25 | Alexander.Veling@fu-berlin.de | https://orcid.
org/0000-0001-7246-8380
Fachbestimmung und
Disziplinverortung
Zur Zukunft der Theorie(n) und
der Rolle der Archäologie(n).
Einige Bemerkungen aus Sicht
einer prähistorischen Archäologin
Kerstin P. Hofmann
Zusammenfassung Über die Zukunft der Theorie und der Archäologie wird
in den letzten Jahren viel diskutiert und dies nicht nur anlässlich von Jubiläen,
sondern auch aufgrund struktureller Änderungen der Forschungslandschaft
inklusive der Förderungsbedingungen sowie der Berücksichtigung anderer
Ontologien und Epistemologien, der Einführung neuer Methoden und des sog.
digital turns. Im Rahmen dieses Beitrags soll nach einer Analyse der Ausgangssituation mit Fokus auf die deutschsprachige Prähistorische Archäologie den
Fragen nachgegangen werden, was eigentlich Theorie ist und wie und wo sie
entsteht. Anschließend werden Herausforderungen, Inhalte und Themen genannt, die uns vermutlich auch in Zukunft beschäftigen werden. Danach soll
kurz angesprochen werden, was es in der Praxis für eine produktive Theoriearbeit benötigt. Abschließend wird festgestellt, dass Theorien und Archäologien im Zusammenspiel viel farbenprächtiger und kreativer sind, als es ihr Ruf
vermuten lässt.
Schlüsselbegriffe Theorien; Archäologie; Praktiken; Reflexion; Zukunft;
Wissensproduktion
Abstract The future of theory and archaeology has been much discussed in
recent years, not only on the occasion of anniversaries, but also in view of
structural changes in the research landscape, including funding frameworks,
as well as the consideration of other ontologies and epistemologies, the introduction of new methods and the so-called digital turn. This paper seeks to
analyse the current state primarily of German-speaking prehistoric archaeology and to explore on this basis what theory actually is and how and where
Kerstin P. Hofmann, Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n). Einige
Bemerkungen aus Sicht einer prähistorischen Archäologin, in: Martin Renger, Stefan Schreiber,
Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im
deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 21–52.
DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15022
21
22 — Kerstin P. Hofmann
it emerges. Building on this, it will identify potential challenges, contents and
topics that will probably keep us busy in future and address what it takes in
practice for theoretical work to be productive. Finally, the paper concludes
that theories and archaeologies, and their interaction in particular, are much
more colourful and creative than their reputation suggests.
Keywords Theories; Archaeologies; Practices; Reflection; Future;
Knowledge Production
Einführung
Was kann eine Vergangenheitsforscherin, zudem noch eine Prähistorische
Archäologin, die meist Zeiten erforscht, in denen der Begriff Theorie so noch
gar nicht existierte, zur Zukunft von Theorie aussagen und beitragen?1 Zumal die deutschsprachige Archäologie ja oft gerade nicht zur Avantgarde der
Theorie gezählt wird (vgl. Hofmann – Stockhammer 2017), und zudem in
letzter Zeit selbst in der Archäologie immer wieder vom Tod der Theorie die
Rede ist (Bintliff 2011; Thomas 2015). Ich möchte diese defensiven Einschätzungen im Folgenden in einen offensiven Impetus verwandeln.
Hierfür setze ich mich zunächst mit einer Analyse der Ausgangssituation
auseinander, um dann den Fragen nachzugehen, was eigentlich Theorie ist
und wie und wo sie entsteht. Danach widme ich mich den Herausforderungen, Inhalten und Themen, die uns Archäolog*innen m. E. beschäftigen werden, um dann kurz anzusprechen, was es in der Praxis für eine produktive
Theoriearbeit braucht. Abschließend komme ich resümierend noch einmal
auf den Titel des Beitrages Die Zukunft der Theorien und die Rolle der Archäologien zurück. Wie sich zeigen wird, sind Theorien und Archäologien im
Zusammenspiel viel farbenprächtiger und kreativer, als es ihr Ruf vermuten
lässt.
1
Bei diesem Text handelt es sich um eine modifizierte und um Literatur ergänzte
Version eines Vortrages, der auf der Jubiläumstagung des Deutschen Archäologen-Verbands e. V. Sinn und Ziele der archäologischen Wissenschaften. Perspektiven
nach 50 Jahren DArV e. V. am 25. Juni 2021 gehalten wurde. Eine stark gekürzte
Version wurde in den Mitteilungen des Verbandes abgedruckt (Hofmann 2021).
Ich danke an dieser Stelle ganz herzlich dem DArV für die Einladung zu diesem
Vortrag und allen, die mit mir intensiv über das Thema diskutiert haben. Namentlich hervorgehoben seien hier Katja Rösler, Stefan Schreiber und Philipp W.
Stockhammer.
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 23
Theorie(n) und Archäologie(n): Ausgangslage
Theorieentwicklung und -diskussion galten lange Zeit als Aufgabe der Philosophie. Und auch heute werden Philosoph*innen bevorzugt gefragt, wenn
es um fächerübergreifende Fragestellungen, Theorien und Grundlagenreflexionen geht. Eine besonders kontrovers diskutierte Frage ist die nach
dem Zusammenhang zwischen Theorien und ihren Gegenständen. Spätestens seitdem Wilhelm Windelband und Wilhelm Dilthey um 1900 zwischen
ideografischen Geisteswissenschaften, die soziokulturelle Zusammenhänge
verstehen wollen, und den nomothetisch forschenden Naturwissenschaften,
die Erscheinungen nach dem Kausalitätsprinzip erklären würden, unterschieden (Dilthey 1990 [1883]; Windelband 1904 [1894], s. a. Hofmann 2004),
wird diskutiert, ob eine Wechselbeziehung zwischen der Beschaffenheit
von Theorien und ihren Gegenständen existieren sollte. Wobei weniger –
sieht man von einigen sogenannten Realist*innen ab – darüber Uneinigkeit
herrscht, dass Theorien Forschungsgegenstände konstruieren können, denn
ohne Physik gäbe es sicherlich kein magnetisches Feld, ohne Psychoanalyse
kein Unbewusstsein etc., sondern, ob Theoretiker*innen in ihren Entwürfen
die Besonderheiten ihrer Objektbereiche berücksichtigen sollten (vgl. Zima
2017).
Inzwischen hat jedenfalls jedes Fachgebiet seinen eigenen mehr oder
minder institutionell etablierten Bereich der Theorie. So kann man sich genauso in Theoretischer Soziologie oder Theoretischer Physik wie auch in
Theoretischer Archäologie spezialisieren, nur die Jobchancen variieren und
ebenfalls, wie einflussreich bzw. welche Reichweite die Theorien haben, ist
derzeit sehr unterschiedlich. Für die Archäologie wird sogar diskutiert, ob sie
überhaupt Theorien selbst entwickelt, aber dazu später mehr.
Beim Vergleich verschiedener Fächer und Disziplinen wird dann wiederum oft nach der ‚Reinheit‘ der Wissenschaft unterschieden (Abb. 1).
Mathematiker*innen können mit Axiomen durch bloßes Nachdenken
ohne Empirie unanfechtbare Theorien und Beweise entwickeln. Sie können – solange es sich nicht um angewandte Mathematik handelt – also
auf Logik rekurrieren und wären somit idealiter rein deduktiv arbeitend.
Physiker*innen und Chemiker*innen müssen bereits im Labor Experimente durchführen, Biolog*innen sich mit agierenden Lebewesen z. T. sogar
im Feld herumärgern, bleiben aber meist verschont, über sich selbst als
intentional agierende Menschen zu reflektieren. Während die Soziologie
wiederum vielleicht nichts anderes als angewandte Psychologie ist, müssen
wir Archäolog*innen uns auf die Erkenntnisse aller Wissenschaften stützen, um unsere Arbeit erledigen zu können. Dies ist eine ganze Menge an
Grundlagen, die das Fundament unserer Erkenntnis bilden; aber betrachten
24 — Kerstin P. Hofmann
Abb. 1: Wissenschafts-Cartoon zur Reinheit der Fächer (Grafik von: https://xkcd.
com/435/ mit Ergänzungen, Umzeichnung: Michael Ober, Leibniz-Zentrum für Archäologie [LEIZA]; s. a. Frezza u. a. 2018, 3 Abb. 1; http://www.felix-bittmann.de/index.
php/artikel/6-soziologie-eine-reine-wissenschaft?showall=1; https://warosu.org/sci/
thread/7962108?__cf_chl_managed_tk__=pmd_m2HgY8jY2UXX7cQXQKGL7xKu8PnjscK8
6ZbNrNW10qQ-1632323088-0-gqNtZGzNArujcnBszQ_9).
wir es positiv: wir haben auch eine große Auswahl und zahlreiche Möglichkeiten!2
Wobei die Frage, ob dabei in der Archäologie eher deduktiv oder induktiv gearbeitet werden sollte, immer wieder neu kontrovers diskutiert wird;3
hier aber nicht nur zwischen theorie- oder materialaffinen, sondern auch
zwischen den stärker durch die Mathematik / Naturwissenschaften oder
die Geisteswissenschaften geprägten Forschenden. Allerdings ist schon
für die Naturwissenschaften ein rein deduktives Vorgehen kaum belegt
(Hacking 1996, 38), in den Geisteswissenschaften spielt es jedoch oft eine
noch geringere Rolle. Dort wird die Wissensproduktion eher im Sinne eines
2
3
Siehe auch http://www.felix-bittmann.de/index.php/artikel/6-soziologie-eine-reinewissenschaft?showall=1 (23.09.2021).
In Deutschland u. a. am Beispiel des Kulturbegriffes (Eggert 1978; 2006, 283–296);
s. ferner Bernbeck 1997, 49–64.
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 25
hermeneutischen Zirkels, als Bricolage oder zirkulierende Referenzen betrachtet.4 Eine strikte Trennung zwischen deduktiv und induktiv ist daher
für alle angewandten Wissenschaften – zumindest in der Praxis – nicht sinnvoll.
Zur Entwicklung der Archäologie(n) und der Theoriediskussion
in der Prähistorischen Archäologie
‚Die‘ Archäologie gilt dabei heute nach Manfred Eggert (2006) als historische Kulturwissenschaft, die sich mit den materiellen Hinterlassenschaften
des Menschen auseinandersetzt (s. a. Veit 2006), wobei je nach Fachrichtung,
Spezialisierung und Quellenmaterial auch die diskutierten Theoriebestände
und fachlichen Bezüge variieren können. Um die grob vereinfachte Sicht des
Cartoons (Abb. 1) aufzugreifen, war Klassische Archäologie vielleicht einmal vor allem Kunstgeschichte der Antike, Provinzialrömische Archäologie
materielle Militärgeschichte und Paläolithforschung evolutionäre Menschheitsgeschichte. Doch nicht nur das Feld der Theorie(n), sondern auch das
der Archäologie(n) ist in den letzten Jahrzehnten immer vielfältiger und komplexer geworden. So interessieren sich Archäolog*innen nicht mehr nur für
ganz unterschiedliche alte Kulturen, sondern auch für Zeitgeschichte bzw.
die Gegenwart (z. B. Theune 2012; Bernbeck 2017a; Veling 2020). Durch neue
Techniken werden immer mehr Daten und Informationen gewonnen und prozessiert.5 Zusätzlich zu den alten traditionellen Fund- und Materialgattungen
werden verstärkt neue Quellen wie aDNA oder der Boden selbst als archäologisches Archiv berücksichtigt.6 Ferner entwickelten sich übergreifend neue
Forschungsrichtungen und -fragen, wie z. B. die der Landschaftsarchäologie,
memory studies und Resilienzforschung. Nach der Forderung, multi- und
interdisziplinär zu arbeiten, gilt es auch in der Archäologie immer häufiger,
transdisziplinär und gesellschaftlich relevant zu agieren.
So sehr ich dabei den Wunsch einer Globalarchäologie und einer Theorie
der Archäologie verstehen und nachvollziehen kann (Bernbeck 2017b), so
wichtig ist es m. E. jedoch auch, die unterschiedlichen Zugänge, z. B. Forschungstraditionen, Methoden und Quellenlage der verschiedenen Archäologien zu berücksichtigen und in den Dialog zu bringen.
4
5
6
Lévi-Strauss 1968 [1962], 29; Latour 2002; s. a. Schreiber 2015; Rösler 2019.
Zum Stichwort Big Data und seine Konsequenzen für die archäologische Praxis
siehe Huggett 2020.
Linderholm 2010; Samida – Feuchter 2016; Bösl 2017; Hohle – Podgorelec 2020.
26 — Kerstin P. Hofmann
Im weiten Feld der wissenschaftlichen Theoriediskussion kam es in den
letzten Jahrzehnten übrigens noch zu weiteren Ausdifferenzierungen. Die
aus der Philosophie hervorgegangene, inzwischen fächerübergreifend arbeitende Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit Ontologien, Epistemologien
und Methodologien, also damit, worüber welches Wissen wie produziert
werden kann (Veit 2014a; Kornmesser – Büttemeyer 2020). Wobei inzwischen
nicht mehr zwangsweise die Ansicht besteht, dass die Ontologie der Epistemologie und Methodologie immer vorausgehen muss (Pühretmayer – Puller
2011), sondern Ontologien, Epistemologien, Methodologien und Empirie in
ihren Interdependenzen vermehrt untersucht werden (z. B. Hilgert u. a. 2004;
Hirschauer 2008; Abb. 2).
Die Wissenschaftssoziologie untersucht die gegenseitige Beeinflussung
von Wissenschaft und Gesellschaft. Der Fokus der sich seit den 1960ern
etablierten neueren Wissenssoziologie liegt dagegen auf dem Wechselverhältnis von Sozialem und Wissen (s. Knoblauch 2010; Weingart 2015). Die
Wissenschaftsgeschichte thematisiert die Entstehung und Entwicklung
von Wissenschaften, ihren Ideen und Praktiken,7 während die mit ihr eng
verwandte Wissensgeschichte einen historischen Blick auf die Produktion
und Zirkulation von Wissen in der Gesellschaft wirft (Sarasin 2011). Die
ebenfalls relativ jungen science and technology studies analysieren aktuelle
Forschungspraktiken und -techniken (Beck u. a. 2012; Bauer u. a. 2017). Auch
all diese Spezialgebiete gilt es bei der Frage nach der Zukunft der Theorien
und der Rolle der Archäologien einzubeziehen.
Wenn über Wissensproduktion und Theorien in der Archäologie gesprochen wird, greift man vor allem im anglophonen Raum häufig auf die Idee
von Paradigmenwechseln zurück (vgl. Lucas 2017). Eine gängige vereinfachte Beschreibung wäre daher die folgende: Nach dem Wechsel von der
antiquarischen, der evolutionären und der kulturgeschichtlichen Archäologie begann eine Intensivierung der Theoriediskussion im Zuge der new
bzw. processual archaeology in den 1960er Jahren, wobei man sich vor allem
für kultur- bzw. gesellschaftsbezogene Prozesse sowie Systeme interessierte
und sich für ein explizites, logisch begründetes Vorgehen aussprach. In den
1980ern wandte man sich dann im Rahmen der postprocessual archaeology
der Bedeutung von Kulturen zu und problematisierte u. a. die Situiertheit und
Kontextabhängigkeit von Wissensproduktion und damit der Konstruktionen
sowie Interpretationen von Vergangenheiten (vgl. Trigger 2006; Johnson
2010; Harris – Cipolla 2017). Aufgrund des derzeitigen Fehlens eines klar
erkennbaren neuen Paradigmas sprechen einige Forscher bereits von einer
7
Lepenies 1978; Gramsch – Sommer 2011; Reichenbach – Rohrer 2011; Eberhardt –
Link 2015.
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 27
Methodologie(n)
Empirie
Epistemologie(n)
Abb. 2: Das Zusammenwirken
von Ontologie(n),
Epistemologie(n),
Methodologie(n)
und Empirie
(Grafik: Kerstin P.
Hofmann).
Ontologie(n)
Krise oder diagnostizieren gar „den Tod der Theorie“ (Bintliff 2011). Andere
sehen hingegen eine neue Ära heraufziehen. Der Ansatzpunkt für das neue
Paradigma wird dann entweder in der dritten wissenschaftlichen Revolution
(Kristiansen 2014) oder im Neuen Materialismus und der Archäologie selbst
als Quelle der Theorie (Olsen 2012) gesehen. Man könnte auch sagen, dass
zumindest die Prähistorische Archäologie mit ihren Erkenntnisinteressen
und Theorien immer wieder zwischen den Polen Erklären und Verstehen,
Natur- und Geisteswissenschaft sowie Realismus und Konstruktivismus hin
und her schwingt (Heinz u. a. 2003; Hofmann 2004; Abb. 3). Allerdings werden – trotz einer gewissen Tendenz, Theorien zu entdecken, einzuführen und
dann fallen zu lassen – Forschungsansätze oft nicht so schnell aufgegeben,
sondern immer wieder weiterentwickelt, und z. T. stehen wir sicherlich auch
immer wieder als Zwerge auf den Schultern von Riesen.8 Zudem wird neuerdings betont, dass es anstelle der zwei Wissenschaftskulturen, science and
8
Gleichnis, das versucht, das Verhältnis der jeweils aktuellen Wissenschaften und
Kultur zu Tradition und den Leistungen früherer Generationen zu bestimmen. Es
geht dabei eher davon aus, dass Wissensgenerierung progressiv und kumulativ
ist, während im anglophonen Raum häufiger von Paradigmenwechseln die Rede
ist und die Bedeutung des Neuen und nicht des Alten betont wird (s. a. Dürr 2016,
128, hier allerdings mit Verweis auf Popper).
28 — Kerstin P. Hofmann
Naturwissenschaften
(Erklären)
Objektivismus
Realismus
nomothetisch
generalisierend
„Archaeology as Anthropology“ (Binford 1962)
„the system behind both the Indian and the artifact“
(Flannery 1967)
Evolutionismus
New/Processual Archaeology
(Montelius, Virchow)
(u. a. Neoevolutionismus;)
(Binford, Clarke, Renfrew)
?
new materialism &
empirism
19. Jh.
1962 – 1981
19./20. Jh.
Subjektivismus
Konstruktivismus
ideographisch
singularisierend
Geisteswissenschaften
(Verstehen)
Historismus, Kulturhistorie,
Partikularismus, Diffusionismus
(Kossinna, Childe)
„Indian behind the artifact“
(Braidwood 1958, 734)
1982 – 2010
t
Postprocessual Archaeology
(Postmodern Archaeology)
(Hodder, Shanks & Tilley, Holtorf)
„symbols in action“ (Hodder 1982)
Abb. 3: Stark vereinfachende Sichtweise auf die Entwicklung der Archäologie(n) und der
Theoriediskussion zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (ergänzte und modifizierte Grafik von Stefan Schreiber und Peter Sturm).
humanities, inzwischen zahlreiche Wissenschaftstypen gibt (vgl. Kogge 2022,
171–202). Und die Archäologie wird ähnlich wie die Humangeographie und
Soziologie (Weichhart 2004; Kneer – Schroer 2009) als multiparadigmatische oder besser von zahlreichen Theorien geprägte Wissenschaft betrachtet
(Hegmon 2003; Lucas 2015; 2017).
Festzustellen ist jedenfalls, dass durch die Hinwendung zur expliziten
Selbstreflexion und Theoriediskussion die Prähistorische Archäologie seit
den 1960ern ihre Unschuld verloren hat (Clarke 1973). Ein bis dahin an
Theoriearbeit und -diskussion weitgehend nicht beteiligtes Fach öffnete sich
erst verstärkt den Einflüssen aus den Naturwissenschaften und dann denen
der Geisteswissenschaften, indem es von beiden Theorien entlehnte und auf
die eigenen Anliegen und Forschungsgegenstände zuschnitt (Thomas 2015,
21). Im Zuge dessen kam es Ende der 1980er unter den theorieaffinen Archäolog*innen zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, was die ‚richtigen‘ Forschungsansätze sind, während man Ende der 1990er dann eher die
Vielfalt und Diversität der Theorien faszinierend fand (vgl. Johnson 2010;
Plantzos 2012). Die Tendenz, weniger die eine Universaltheorie zu verfolgen,
sondern eher Theorien forschungsgegenstandsorientiert aufzugreifen, hat
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 29
Michelle Hegmon (2003, 213) bei ihrer Analyse der Situation Nordamerikas
2003 kurz als „processual-plus“ bezeichnet.
Nach Ignoranz, Entdeckung, Konfrontation und Diversität wird nun immer häufiger der Wunsch nach Kombination und Integration laut.9 Allerdings
warnt Ulrich Veit (2014b, 235–236) nicht ganz zu Unrecht vor einem Theorieeklektizismus, der eigentlich nicht kombinierbare Konzepte vereint. Gerade
wenn die Grundpositionen sich widersprechen, ist hier Vorsicht geboten. Um
derartiges zu vermeiden, helfen wissenschaftstheoretische, -soziologische
oder -geschichtliche Betrachtungen von Theorien und Konzepten. Es bedarf
also des Dialogs, des Vergleichs, der Kontrastierung und der Übersetzung,
wobei das Ziel nicht nur in der Verständigung liegt, sondern z. B. auch eine
komplementäre, konkurrierende Betrachtungsweise sein kann.10 Die letzten
Jahre sind daher zunehmend von Selbstreflexion und Fragen nach der Natur
sowie Zukunft der Theorie(n) gekennzeichnet.
Von Theoriefeindlichkeit, Theoriebegeisterung und dem Tod
der Theorie
Nicht nur die deutschsprachige Geschichtswissenschaft und Archäologie
kennt Theoriefeindlichkeit, sondern auch andere Fächer, die wir mitunter
sogar als federführend in der Theoriediskussion ansehen. So stammt der in
Einführungswerken zur archäologischen Theorie abgedruckte Cartoon (z. B.
Johnson 2010, xi), der drei Personen im Gespräch zeigt und eine sagt: „You’re
a terrorist? Thank God. I understood Meg to say you were a theorist.“, z. B.
aus den Literaturwissenschaften. Er verdeutlicht, dass ein Coming out als
Theoretiker*in nicht immer einfach war und ist.
Dies gilt auch, wenn wie heute in der deutschsprachigen Archäologie die
lange Zeit vorgebrachte Klage über die notorische Theoriefeindlichkeit nicht
mehr angebracht (Meier 2015, 39; Eggert 2020, 250) und Theorie nicht nur
Teil der Verbundforschung ist (vgl. Hofmann – Stockhammer 2017). Denn
Theoretiker*innen nerven und sind unbequem, da sie in Frage stellen, was
9 Bereits bei Siegmund – Zimmermann 2000, hier aber letztlich in Tradition von
David L. Clarke (1972).
10 Vgl. Jahraus 2011, 19; Zima 2017. Vor welchen Herausforderungen man bei der
Übersetzung von Begriffen, wie z. B. agency, nicht nur vom Englischen ins Deutsche,
sondern ebenso zwischen verschiedenen Fächern, hier Soziologie und Philosophie,
steht und wie sehr man hier auch auf die Wissens- und Fachgeschichte Rücksicht
nehmen muss, zeigt exemplarisch Gustav Roßler (2007) in seinem Nachwort der
Übersetzung von Arbeiten Andrew Pickerings hervorragend auf.
30 — Kerstin P. Hofmann
man zu wissen glaubt, und Erklärungen, Dokumentation sowie Reflexion
einfordern, wo andere einfach handeln und etwas fertigstellen wollen. Sie
gelten zudem nicht selten als Besserwisser*innen, deren Theorien praxisfern
oder deren Schlussfolgerungen common sense sind (vgl. Johnson 2010, x–11).
Doch produktiv irritierende Theorien sollten eben nicht durch Verweis
auf schwer verständliche Texte den einen richtigen Weg vorgeben, Verbote
aussprechen oder einfache Antworten liefern, sondern vielmehr „ein Seismograph für reflexive Pausen, uneingestandene Argumentationsimplikationen, zu gut laufende Forschungspraxen, aber auch für Theorieindifferenz
und -widerstand“ (Grizelj – Jahraus 2011b, 11) sein. Theoriearbeit sollte daher auch nicht abgehobener Master- und Metadiskurs und damit nicht radikal elitär, auf eine Avantgarde beschränkt sein, sondern vielmehr Mediator,
um auf Unterschiede, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu fokussieren;
nicht nur in und zwischen Hypothesen und Interpretationen, Methoden,
Praktiken sowie Forschungsobjekten, sondern auch in und zwischen Wissenschaften und darüber hinaus. Theorie bietet daher nicht – wie oft gewünscht – einen festen Bestand an Lösungen, sondern bringt letztlich nur
die Aussicht auf weiteres Nachdenken mit sich (vgl. Culler 2002, 28–30. 173).
So evoziert sie durch Autoreflexion unterschwellig den Widerstand gegen
sich selbst (de Man 1982; Jahraus 2011, 22–25).
Die Konjunkturschwankungen von Theoriebegeisterung und -müdigkeit
sind dabei für die Geisteswissenschaften geradezu konstitutiv und führen
letztlich zu deren Weiterentwicklung (Grizelj – Jahraus 2011b, 9). So folgt nach
der Theoriebegeisterung und dem Ausrufen des Todes der Theorie – sei es nun
durch Personen, die glauben, durch massenhaft verfügbare Daten oder neue
Methoden auf Theorie verzichten zu können (Anderson 2008), oder durch enttäuschte Theoretiker selbst (Eagleton 2003; Bintliff 2011) – nur neue Reflexion,
Theoriediskussion und Theorietheorie (Grizelj – Jahraus 2011a), die sich z. B.
mit dem Wechselspiel von Theorien, Methodik und Empirie, der Verzahnung
von Wissenschaften und Wissenschaftstypen, der Kombination von qualitativen und quantitativen Ansätzen und Frage der Skalierung von Forschung sowie der Bedeutung von Skalenwechseln auseinandersetzt (s. a. Kalthoff 2008).
Was ist Theorie und wie und wo entsteht sie?
Theorie(n) – was darunter so alles (nicht) verstanden wird ...
Theorien sind eng verknüpft mit unserem Wissenschaftsverständnis, das Reflexion und Nachvollziehbarkeit als hohen, positiv konnotierten Wert mit
sich bringt. In der Umgangssprache werden Wissenschaft und Theorie sogar
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 31
mitunter gleichgesetzt. Es gibt derzeit vor allem drei verschiedene Verwendungsweisen (vgl. Thiel 1996):
Erstens wird in der Alltagssprache das Wort Theorie vor allem für eine
vage Vermutung verwendet. Beispielhaft hierfür seien die Redewendungen
Ich habe da so eine Theorie; meine Theorie ist … genannt. Dabei wird Theorie
oft in Gegensatz zur wirklich funktionierenden Praxis gestellt, wie der Satz,
das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht in der Praxis, verdeutlichen mag.
Zweitens gibt es in der Philosophie eine Reihe von Bindestrich-Theorien,
die auch als Lehren bezeichnet werden könnten, wie z. B. Deszendenztheorie bzw. Abstammungslehre. Nach Carl Friedrich von Weizsäcker (1984, 96)
werden ferner alle „großen gedanklichen Zusammenhänge von unausweichlicher Stringenz“ als Theorien bezeichnet, wobei sich die Reichweiten erheblich unterscheiden können, neben hypothetischen theories of everything
(Barrow 2007) oder sogenannten grand theories (Skinner 1985) können dies
auch Theorien sein, die bestimmte Phänomene erklären oder Forschungsobjekte konstruieren. Ferner firmierte unter dem Dach der Philosophie die
bereits erwähnte Wissenschaftstheorie (Detel 2014, 90–150; Veit 2014a), die
in ihren Anfängen eher naturwissenschaftlich geprägt war und daher Theorien oft als sprachlich formulierte Menge an Gesetzen definierte.
Drittens werden in den Einzelwissenschaften Theorien oft als Hilfsmittel, Werkzeuge, Konzepte oder Ideen zum Erwerb oder als Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnisse angesehen, wobei es ganz unterschiedliche Arten
und Abstraktionsstufen von ‚Theorie‘ gibt. Als wichtiger Bestandteil der
Theorien der Einzelwissenschaften gilt ferner die Reflexion über die Grundlagen des Faches, seine Positionierung innerhalb des Feldes der Wissenschaften und seine Rolle innerhalb der Gesellschaft (vgl. Gramsch 2000a; Veit
2002; 2020b).
Abbildung 4 zeigt häufig mit dem Wort Theorie assoziierten Begriffe und
Eigenschaften; wobei Theorie und Wissenschaft mitunter kaum mehr zu
trennen sind. Eindeutiger Schwerpunkt liegt auf der für Kritik offenen, über
den Einzelfall hinausgehenden Erkenntnis. Dies haben sie mit Modellen gemein. Allerdings werden Theorien meist als konzeptuelle Rahmen verstanden, während Modelle eher konkrete physische, symbolische, nomenklatorische oder dynamische Repräsentationen sind (Black 1962). Diese spielen in
der Archäologie ganz unterschiedliche Rollen, im Zuge der Theoriediskussion ist hier vor allem die seit der processual archaeology beständig weiterentwickelte Modellbildung und -testung zu erwähnen (Clarke 1973; Wurzer
u. a. 2015).
Doch es gibt auch regelmäßig auftretende Abgrenzungsversuche (Zima
2017, ix). So wird Theorie und wissenschaftliches Denken von religiöser
32 — Kerstin P. Hofmann
Begriffe
Konzepte
Reflexivität
Wissenschaft
Theoreme
Intellektualität
Erkenntnis Interpretationen
distanziert
intellektuell
assoziierte Eigenschaften
widerspruchsfrei
explizit reflexiv
abstrakt
sachlich selbstkritisch
generalisierend
ernsthaft
Kritik
Denken
Ideen
Hypothesen
assoziierte Begriffe
Abb. 4: Mit Theorie(n) assoziierte Begriffe und Eigenschaften (Grafik: Kerstin P.
Hofmann).
Kontemplation und Glauben unterschieden oder von Kunst als kreativer
Tätigkeit, die statt auf Erkenntnis auf Erfahrung setzt, dadurch aber wiederum Ideengeberin für Theoriediskussion sein kann (vgl. Schülke 2014).
Insbesondere für geisteswissenschaftliche Theorien wird die ambivalente
Rolle der Ideologie immer wieder thematisiert, die Triebfeder der Theorie,
aber auch ihre größte Bedrohung sein kann. So zeichnen sich viele, wenn
nicht gar alle geisteswissenschaftlichen Theorien durch ein mehr oder minder explizit angesprochenes ideologisches Engagement aus, sei es für die
proletarische Revolution, die Gleichberechtigung der Frau oder die liberale
Gesellschaftsordnung (vgl. Zima 2017, 26. 56–64). Norbert Elias stellte daher
treffend fest:
„Das Problem, vor dem die Menschenwissenschaftler stehen, [… ist:] Sie
können nicht aufhören, an den sozialen und politischen Angelegenheiten ihrer Gruppe und ihrer Zeit teilzunehmen, […] ihr Engagement ist
überdies eine Voraussetzung für das Verständnis der Probleme, die sie
als Wissenschaftler zu lösen haben.“ (Elias 1983 [1965], 30)
Ein Verzicht auf das Explizieren von Standpunkten und Theorien ist jedoch eine Gefahr für die Wissenschaftlichkeit, denn diese würden dann
leicht zu nicht hinterfragbaren Ideologien. Nur Offenlegen, Reflexion, das
bewusste Zulassen von Kritik und Diskussion können dies verhindern (vgl.
Veit 2002; Zima 2017).
Hierzu gehört auch, konkrete Vorstellungen und einen explizierten Begriff von Theorie zu entwickeln, wobei dies wiederum von unserem Standpunkt und unseren Interessen abhängt und daher unterschiedlich ausfällt.
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 33
Hier lassen sich u. a. strukturelle und funktionale, objekt- und fachbezogene,
aber auch eher holistische Definitionsversuche unterscheiden, wobei sie mal
weiter mal enger abgrenzen, was Theorien sind oder sein sollten. So definiert
Karl Popper (2002 [1934], 31), es handele sich um „allgemeine Sätze“, während Pierre Bourdieu (2001, 109) darauf aufmerksam macht, dass sie eine wissenschaftliche und eine soziale Funktion erfüllen. Matthew Johnson (2010,
216) definierte in seiner Einführung hingegen archäologische Theorie provisorisch als „‘the order we put facts in’, and also made reference to why we
do archaeology, and to ‘issues of interpretation’“. Peter Zima (2017, 20) entwickelte dahingegen einen der wenigen holistischen Theoriebegriffe für die
Kultur- und Sozialwissenschaften, der Theorien als sprachliche Strukturen
und – im Anschluss an die Kritische Theorie und Hermeneutik – als unterschiedliche Positionen begreift. Sein Ziel ist dabei, im Rahmen einer Dialogischen Theorie eine Gegenüberstellung, kritische Prüfung und Verständigung
von Theorien zu erreichen. Laut ihm ist Theorie „ein interessensgeleiteter
Diskurs, dessen semantisch-narrative Struktur von einem Aussagesubjekt
im gesellschaftlichen Kontext selbstkritisch reflektiert und weiterentwickelt
wird“ (Zima 2017, 20).
Von archäologischer Theorie zu Theorien in bzw. und Archäologien
Wenn Archäolog*innen über Theorie(n) sprechen, dann fallen sehr unterschiedliche Formulierungen. Schon die Frage, ob und wann man Theorie im
Singular oder Plural verwendet, verrät viel darüber, ob durch den Gattungsbegriff das Gemeinsame oder durch den Plural eher die Vielfalt betont werden soll. Doch geht es m. E. weder darum, einem abstrakten Universalismus
noch einem beliebigen Partikularismus das Wort zu reden, vielmehr gilt es,
sich zwischen den beiden Polen dialektisch jeweils fallbezogen zu positionieren (s. a. Zima 2017, 25). Theorie ist nicht schwarz oder weiß, die Welt der
Theorie ist vielmehr bunt. Daher ist auch jeweils zu beachten, welche Farben
kombiniert werden und was mit welchen Farben deutlicher hervorgebracht
bzw. verdeckt wird.
Im anglophonen Raum wird oft von archaeological theory gesprochen
(Hodder 2001; Johnson 2010; Harris – Cipolla 2017). Dies suggeriert, dass
es neben einem theoretischen Diskurs und einer theoretischen Praxis in der
Archäologie, also einer theoretischen Archäologie, auch eine eigene, spezifische archäologische Theorie gibt oder geben sollte. Da, wie anfangs ausgeführt, archäologische Forschungsgegenstände vielfältig sind und auch von
anderen Wissenschaften behandelt werden, ist es m. E. daher jedoch fraglich,
ob diese Attributivkonstruktion wirklich sinnvoll und nützlich ist.
34 — Kerstin P. Hofmann
In Deutschland wird dahingegen meist von Theorie oder Theorien in der
Archäologie gesprochen (Bernbeck 1997; Eggert – Veit 1998; 2013; http://
www.agtida.de/). Dies ist ein Sammelbegriff, der nicht nur fachspezifische,
sondern auch alle in der Archäologie eine Rolle spielenden Theorien umfassen kann, inklusive der Theorie der Archäologie, die mitunter als Metaarchäologie bezeichnet wird (Embree 1992).
Bei all diesen Formulierungen wird jedoch in academic tribes and territories gedacht (Becher – Trowler 2001) und Theorie als Bestand einer Disziplin / eines Faches angesehen, nicht jedoch als interdisziplinär, wie dies
z. B. Jonathan Culler (2002, 28) betont. So kann auch die Bedeutung von
Mobilität, Ortswechseln und Grenzüberschreitung für Theorieentwicklung
nicht berücksichtigt werden (vgl. Lucas 2015). Ich plädiere daher dafür, von
‚Theorien und Archäologien‘ zu sprechen, da hier die wechselseitigen Einflüsse besser konzipiert und – meiner Meinung nach – mögliche Beiträge
der Archäologie(n) für die Zukunft der Theorie(n) überhaupt erst richtig
thematisiert werden können. Was wiederum aber zur Frage überleitet, wie
und wo Theorien eigentlich entstehen?
Zur Mobilität von Theorien: Theorien / Theoretisieren
als Prozess / Praxis statt Zustand
Bereits 1989 verglich James Clifford das Theoretisieren mit Reisen bzw. Wandern. Theorie entstünde durch Verlagerung, Vergleich und eine gewisse Distanz (Clifford 1989, 179).11 In den Kulturwissenschaften und der Verbundforschung setzte man sich in der Folgezeit weniger mit der Statik großer
Theoriegebäude, sondern vermehrt mit der Frage auseinander, wie Theorien
und Konzepte sich durch neue empirische Studien oder beim Transfer in ein
anderes Fachgebiet entwickeln und verändern (siehe z. B. Hüchtker – Kliems
2011). Es ist die Rede von verschiedenen turns, boundary objects und travelling concepts sowie concept-metaphors.12
Indem auf das Theoretisieren als fortlaufender Prozess bzw. als Praxis konzentriert wird, können die normativen Hierarchien hintergangen werden, die
11 Siehe auch „[…] theories are adrift. They are not natives of any particular territory, but nomads in a mixed world. While they are themselves of certain weight
and figure, it matters what things they bump into, become entangled with, and
moved by. Based on this, we argue that theories come unfinished and fragile“
(Pétursdóttir – Olsen 2017, 97 Abstract).
12 Vgl. Bal 2002; Moore 2004; Bachmann-Medick 2010; Star 2010; Neumann – Nünning
2012.
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 35
oft im disziplinären Denken und der Bevorzugung bestimmter Forschungsansätze oder auch Quellen impliziert sind (vgl. Lucas 2015). Die Archäologien
mit ihrem spezifischen Quellenbestand und der Größe sowie Vielfalt ihrer Forschungsgebiete werden sich nie durch ‚Reinheit‘ auszeichnen, sondern sich,
meiner Meinung nach, eher als ständig Übersetzende zwischen verschiedenen
Disziplinen und Wissenskulturen und -typen, aber auch im Zuge der Digitalisierung und Vernetzung von dynamischen Wissensbeständen verdient machen können. Die in der Archäologie immer lauter werdende Forderung nach
der Schaffung von etwas Eigenem, einer archäologischen Theorie im engeren
Sinne,13 widerspricht m. E. dem gleichzeitigen Wunsch nach besserer Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen, der Reintegration von Einzelergebnissen
und nach gesellschaftlich relevanter Forschung. Vielmehr sollte die innovative Kraft des Kombinierens und Übersetzens nicht unterschätzt werden.
Vor welchen Herausforderungen stehen wir jedoch dabei
und welche Inhalte und Themen werden uns beschäftigen?
In den letzten Jahrzehnten haben wir eine Pluralisierung und Ausdifferenzierung nicht nur im Feld der Wissenschaft erlebt. Nach der Unterscheidung
und Anerkennung verschiedener Wissenskulturen, Ontologien, Epistemologien und Methodologien gilt es, diese konstruktiv in den Dialog zu bringen
(Descola 2011; vgl. Hilgert u. a. 2018). (Un-)Sicheres Wissen und die Frage,
wie wir Evidenz und Wissen erzeugen, mit Wahrscheinlichkeiten, aber auch
mit (mangelnder) Genauigkeit und Verlässlichkeit von Wissen umgehen,
wird uns auch nach der Diskussion über Postfaktizität begleiten (Goertz
2001; Engel u. a. 2002; Rotermund u. a. 2019).
Nach Konstruktion, Dekonstruktion sowie Relativierungen von Theorien
und Wissensbeständen und der zunehmenden Fragmentierung von Wissen
ist die Verständigung zwischen, die Verknüpfung, aber auch Kontrastierung
von unterschiedlichen Theorien und Wissensbeständen eine der zentralen
Herausforderungen. Hierbei gilt es deren Historizität, Sozialität sowie deren
13 Hierbei handelt es sich vor allem um mündliche Aussagen im Rahmen von Workshops und Tagungen, wobei oft kritisch angemerkt und beklagt wird / wurde, dass
die Archäologie(n) nur Theorien anderer Fächer konsumiere(n), aber nicht selbst
welche entwickeln würde(n), die dann vielleicht auch für andere Fächer von Relevanz seien. Insbesondere im Zuge des material turns erhofften sich hier einige
eine Veränderung (vgl. Edgeworth 2012), die aber bisher oft nicht im gewünschten
Maße eingetreten ist. Zur Diskussion des Tods der Theorie in der Archäologie und
der Problematik des Konsumierens oder Leihens s. a. Lucas 2015; Thomas 2015.
36 — Kerstin P. Hofmann
verschiedene Wissenspraktiken und Akteurs-Netzwerke jeweils zu berücksichtigen. Die Kombination von qualitativer und quantitativer Forschung ist
m. E. ein weiteres wichtiges Anliegen, da hier zwei eigentlich nur im Zusammenspiel die Komplexität der Welt erfassende Ansätze immer weiter
auseinanderdriften. Dabei gilt es unter anderem, Fragen der Skalierung und
Repräsentativität zu diskutieren.
Gerade in interdisziplinären Forschungsverbünden haben sich für die gemeinsame Diskussion die Analyse von Forschungspraktiken und ihre jeweilige Bedeutung für die Wissensproduktion als sehr anregend erwiesen. Diese
spielen auch im Zuge des digital turns und der FAIR- und CARE-Prinzipien14
für Forschungsdaten eine zentrale Rolle (vgl. Huvila – Huggett 2018). Hier
sehe ich derzeit vor allem einen Bedarf, sich erneut über Vergleichen – Analogien, Homologien und Kontrastieren – und (Re-)Kontextualisieren auseinanderzusetzen (vgl. Gramsch 2000b; Kienlin – Kreuz 2015; Veit 2020a). Eng
damit verknüpft sind die Fragen wie, warum und was wir klassifizieren (z. B.
Bowker – Star 1999; Rösler 2019), als Muster erkennen, verknüpfen und repräsentieren (vgl. Lucas 2019): wann wir beschreiben, wann erzählen (z. B.
Rieckhoff u. a. 2010; Hofmann 2015), wie wir was kartieren (z. B. Krämer
2011; Grunwald u. a. 2018), bebildern oder auch modellieren (z. B. Nakoinz –
Knitter 2016).
Neben der Reflexion über archäologische Wissenspraktiken sind es m. E.
vier Grundthemen, die die Archäologie(n) auch in der Zukunft beschäftigen
werden: Sozialität, Materialität, Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Hier können
wir durch unsere archäologiespezifischen Perspektiven auch viel zum transdisziplinären Diskurs beitragen. Welche Beziehungen Menschen zu Menschen, zu Tieren, Pflanzen sowie Dingen haben und wie sie dabei in sich
immer wieder verändernden Verhältnissen zu ihrer Mit- und Umwelt stehen, ist eine der grundlegenden Fragen der Archäologie(n), auch wenn sie
immer wieder anders thematisiert wird (Webmoor – Witmore 2008; Olsen
2010; Schreiber 2018). Der new materialism hat sicherlich in den letzten
Jahren durch die Wiederentdeckung von Materialität selbst in Fächern, die
nicht quellenbedingt auf die Analyse von Materiellem angewiesen sind, zu
einer gewissen Aufmerksamkeitsverschiebung hin zur Archäologie geführt
(Hofmann 2016a; Stockhammer 2016); auch wenn wir uns hier noch aktiver
in den Diskurs einbringen könnten (Veit 2018).
14 FAIR = Findable, Accessible, Interoperable, Re-usable – FAIR Guiding Principles
for Scientific Data Management and Stewardship, s. https://www.go-fair.org/
fair-principles/ (31.01.2022); CARE = Collective Benefit, Authority to Control, Responsibility, Ethics – CARE Principles for Indigenous Data Governance, s. https://
www.gida-global.org/care (31.01.2022).
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 37
Da Materialität stets mit Räumlichkeit einhergeht und Archäologie gemeinhin eine sehr orts- und raumbezogene Forschung durchführen, wird
auch deren Theoretisierung uns in Zukunft begleiten (siehe z. B. Trebsche
u. a. 2010; Hofmann 2014/2015; Haug 2020). Nach dem Raum wird derzeit
wieder vermehrt das Zusammenspiel verschiedener Zeitlichkeiten untersucht (vgl. Lucas 2005; Hofmann – Reinhold 2014). Die Archäologie(n) haben als zentrale Aufgabe, das materielle kulturelle ‚Erbe‘ in die Gegenwart
und Zukunft zu vermitteln. Während der vielen Wissenschaften zugrundeliegende methodologische Nationalismus / Territorialismus (Hofmann 2016b)
inzwischen offengelegt wurde, gilt es, die Auswirkungen des methodologischen Epochismus15 noch zu hinterfragen. Dadurch könnte der Dialog der
Archäologien untereinander, aber ebenfalls der zwischen den sogenannten
Vergangenheits- und Gegenwartswissenschaften intensiviert werden.
Nach diesen eher allgemeinen Dimensionen und Konzeptionen archäologischer Forschung und Theoriediskussion möchte ich hier noch ein paar gesellschaftsrelevante Themen der Gegenwart und Zukunft nennen, zu denen
Archäologie(n) einen Beitrag auch im Bereich der Theoriediskussion liefern
könnten und sollten. Genannt seien hier:16
• das Anthropozän und die Auswirkungen des Menschen auf seine
Umwelt (Klimaforschung) (siehe z. B. Solli 2011),
• soziale, geistige und räumliche Mobilität im Wechselspiel (Migration
und Mobilität, Innovationen, Gesellschaft und Kultur) sowie Fragen
der Globalisierung und Lokalisierung,17
• Umgang mit Vergangenem in Gegenwart und Zukunft (und hier ganz
konkret Provenienzforschung, Kolonialismus-Debatte, transkulturelles
Gedächtnis und Kulturerbe),18
15 In Anlehnung an den methodologischen Territorialismus soll dieser Begriff die
oft erfolgte Beschränkung und Fokussierung auf eine Epoche als Zeitraum bezeichnen, die nicht selten verhindern, Epochenübergreifendes zu untersuchen
oder zu erkennen und auch die konstruktive Zusammenarbeit zwischen den sogenannten Vergangenheits- und Gegenwartswissenschaften erschweren.
16 Dies ist zwangsläufig eine subjektive Auswahl und zu den Themen wurde und
wird auch bereits in unterschiedlichem Umfang geforscht, es handelt sich hierbei
jedoch m. E. um auch längerfristig gesellschaftlich relevante Themen, zu denen
die Archäologie(n) auch in der Zukunft Beiträge liefern kann / können.
17 Siehe z. B. Barnard – Wendrich 2008; Beaudry – Parno 2013; Pitts – Versluys 2014;
Hodos 2017.
18 Siehe z. B. Gosden 2004; Holtorf 2010; Erll 2012; Hofmann u. a. 2017a; 2017b; Savoy
2018.
38 — Kerstin P. Hofmann
• Resilienz und Vulnerabilität19 und last but not least
• Formen der Subjekt- und Objektivierungen (vgl. Smith 2004; Bernbeck
2015; Schreiber 2019) sowie Identität, Differenz und Ähnlichkeit.20
Da man laut Antoine de Saint-Exupéry (2009 [1948], 228) jedoch die Zukunft
nicht voraussehen wolle, sondern möglich machen soll, gilt es, sich der Praxis
der Theorie zuzuwenden.
Was braucht es in der Praxis für
eine produktive Theoriearbeit?
Nach seiner Berufung 1968 soll Niklas Luhmann der Bielefelder Universitätsleitung unmissverständlich klar gemacht haben, dass er für seine Forschung,
die ihn ja nun bekanntlich zu einem der wichtigsten Vertreter der soziologischen Systemtheorie gemacht hat, nicht viel mehr als einen Schreibtisch benötige (nach Veit 2015b, 62). Diese asketische Haltung ist ein seit der Antike
gepflegter Topos. Doch ist dieser auch für die Zukunft der Theorie und für
die Rolle, die dabei die Archäologie spielen kann, sinnvoll?
Zunächst sei erstmal betont, dass auch Theoriearbeit Zeit und somit Geld
kostet, selbst wenn diese sehr unterschiedlich entgolten wird. Theoriearbeit
ist oft Grenzüberschreitung, inter- bzw. sogar transdisziplinär. Diese fand in
kleinem Umfang früher oft durch den Austausch mit Familienangehörigen
und befreundeten Kolleg*innen aus anderen Fachbereichen meist außerhalb
der eigentlichen Arbeitszeit statt. Auch heute ist es nicht einfach, diese finanziert zu bekommen. Eher selten gibt es Forschungskollegs mit archäologischer Beteiligung,21 andere Möglichkeiten stellen Graduiertenkollegs und
größere interdisziplinäre Forschungsverbünde wie SFBs oder Formate der
Exzellenzinitiativen dar. Hier werden immerhin befristet Stellen für interdisziplinäre Theoriearbeit finanziert. Und dies hat sich m. E. auch insgesamt
positiv auf den Theoriediskurs nicht nur in den Archäologien ausgewirkt
(Veit 2015a; Hofmann – Stockhammer 2017; Eggert 2020, 250), auch wenn
19 Hofmann 2020; Russo – Brainerd 2021; siehe ferner Hinz u. a. 2021.
20 Siehe u. a. Brather 2004; Burmeister – Müller-Scheeßel 2006; Pohl 2010; Gardner
2011; Bhatti u. a. 2011; Hofmann i. Dr.
21 Wie z. B. Chronoi (https://www.einsteinfoundation.de/personen-projekte/einsteinzentren/einstein-zentrum-chronoi/ [31.01.2022]), Morphomata (https://www.mor
phomata.uni-koeln.de/ [31.01.2022]) oder CAPAS (https://www.capas.uni-heidel
berg.de/ [31.01.2022]).
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 39
es andererseits wichtig ist, über einseitige Förderung und „Exzellenzstalinismus“ (Weichhart 2012) zu diskutieren.
Ich möchte nicht die Bedeutung der Klausur am eigenen Schreibtisch, des
Einzelkämpfer*innentums oder der sog. kleinen Wissenschaft22 herabwerten,
doch sehe ich eher im Dialog und in der Teamarbeit die Zukunft auch für die
Theorie. Wobei dies nicht immer auf Verständigung herauslaufen muss und
sollte, sondern gerne auch einfach münden kann im Aufmerksam machen
auf Widersprüche, Grenzen, unterschiedliche Sichtweisen oder Konflikte,
und dies selbst im Rahmen von gemeinsamen Mehrautor*innen-Aufsätzen.
Wenn wir die Empiriegeladenheit von Theorie und die Theoriegeladenheit
von Empirie nicht als Verunreinigung, sondern als wechselseitige Bereicherung und Notwendigkeit empfinden, und dann noch den Erfindungsreichtum
der jeweiligen Forschungspraktiken berücksichtigen, dürfte Wissenschaft
insgesamt innovativer werden (Hirschauer 2008). Dabei bedarf es dann eben
auch für manche Theoriearbeit der kostenintensiven Labore, Feldforschungen oder Rechenzentren. Ferner sollte Theoriearbeit immer auch Denkmalpflege und Museen berücksichtigen.
Was es für konstruktive Theoriearbeit auch braucht, ist ein kritisch interessierter Nachwuchs und eine systematische Ausbildung in Theoriebildung.
In der Lehre hängt die Bedeutung, die der Theoriediskussion zugemessen
wird, immer noch sehr von den Dozent*innen ab.23 Während in der Schule
vielleicht noch Antworten vermittelt werden, geht es an der Universität doch
um (Hinter-)Fragen.24 Obwohl im Zuge des Bologna-Prozesses durch die
neuen Studien- und Prüfungsordnungen sowie Modulhandbücher die Lehrinhalte expliziert wurden und hier auch in einigen das Wort Theorie(n) fällt,
22 Unterscheidung von Andrew Pickering (2007 [1993], 37–38. 41–42) für die Physik
zwischen kleinen und großen Wissenschaften, small bzw. big science, die sich in
ihrer Form der Arbeitsorganisation und -praxis unterscheiden; erstere kämen mit
relativ geringen finanziellen Mitteln aus und erfordern wenig Aufwand im Bereich der Koordination und Zusammenarbeit, letztere würden von hierarchisch
organisierten interdisziplinären Teams mit relativ umfangreichen finanziellen
Mitteln betrieben und bedürfen des bürokratischen Aufwands und seien durch
einen hohen Grad gegenseitiger Abhängigkeit gekennzeichnet.
23 Mein Dank geht an Doris Gutsmiedl-Schümann, die mit mir dieses Thema diskutiert hat und mir großzügig Einblick in ihre Masterarbeit und Forschungsunterlagen gewährt hat.
24 Frei nach Dr. Karin Beck, Leiterin des Colleges der Leuphana-Universität Lüneburg
in einem Interview auf Spiegel Online am 6.5.2013, < http://www.spiegel.de/leben
undlernen/uni/helikopter-eltern-hochschulen-entdecken-eltern-alszielgruppea-897649-4.html> (23.10.2021).
40 — Kerstin P. Hofmann
gibt es keine eigenständigen Theorie-Module.25 Meist wird nur sehr allgemein von Methoden und Theorien bzw. Grundlagen oder Interpretationen gesprochen und die Lehrinhalte sind daher frei. An den m. E. für Theoriearbeit
besonders wichtigen interdisziplinären Modulen (s. a. Veit 2020b) fehlt es im
Bachelorstudium oft ganz. Dies führt nicht selten dazu, dass Theorie affine
Studierende selbst private Lesezirkel organisieren oder bei der vom Dachverband Archäologischer Studierendenvertretung organisierten Veranstaltung
ARCHAEOskills Theoriekurse als Zusatzqualifikationen angeboten werden.
Diese Initiativen sind sehr zu befürworten, aber der empfundene Mangel
sollte hier dennoch als ein Warnsignal wahrgenommen werden und Theorie
auch nicht eine Zusatzqualifikation, sondern fester, integrierter Bestandteil
der Lehre – schon am Studienanfang – sein. Dies hilft dann vielleicht auch
mitunter bei der ein oder anderen Sinnkrise und Beantwortung der immer
wieder gestellten Legitimationsfrage.
Was es ebenfalls für gute Theoriearbeit braucht, ist Kommunikation! Die
neuen Medien und die Digitalität schaffen ganz neue Möglichkeiten des z. T.
ortsunabhängigen Austausches und die aufgrund von Covid-19 Präventionsmaßnahmen virtuell stattfindenden Lesezirkel erweisen sich als sehr erfolgreich.26 Lektüreempfehlungen auf Social-Media-Plattformen können nun
gleich diskutiert werden. Rainer Schreg hat mit Archaeologik einen ausgezeichneten Blog etabliert, der sich immer wieder mit Theoriefragen auseinandersetzt.27 Anarchäologie ist es mit der AG Theorien in der Archäologie
(AG TidA) gelungen, einst als unmöglich verfilmbar Angesehenes auf YouTube allgemein zugänglich zu machen.28 Mit dem Forum Kritische Archäologie ist eine open access-Zeitschrift gegründet worden, die bewusst aktuelle
Theoriedebatten aufgreift.29 Die AG TidA feierte kürzlich ihren 30. Geburtstag, ist aktiv, institutionalisiert und die Archäologien vielfältiger als je zuvor
im Vorstand und Beirat repräsentiert.30
25 Das kurzfristig an der Universität Tübingen existierende Modul Theorie (UFG-BA 15)
im Modulhandbuch WS 2014/15 bis WS 2021/22 ist inzwischen auch in Theorie und
Methode (UFGAM_BA_8) umbenannt worden; s. https://uni-tuebingen.de/fakul
taeten/philosophische-fakultaet/fachbereiche/altertums-und-kunstwissenschaf
ten/ur-und-fruehgeschichte-und-archaeologie-des-mittelalters/studium/bachelor/
(01.10.2021).
26 http://www.agtida.de/aktivitaeten-und-output/lesezirkel-und-diskussionskreise/
(31.01.2022).
27 https://archaeologik.blogspot.com/ (31.01.2022).
28 https://www.youtube.com/anarchaologie/ (31.01.2022).
29 https://www.kritischearchaeologie.de/ (31.01.2022).
30 http://www.agtida.de/ (31.01.2022).
Zur Zukunft der Theorie(n) und der Rolle der Archäologie(n) — 41
Dies sind positive Entwicklungen, doch es bedarf dennoch mehr, damit
die Archäologie für die Zukunft der Theorie eine Rolle spielen kann. Neben
mehr multidisziplinären freien Publikationsorganen auch für Geisteswissenschaften, ist es m. E. ebenfalls wichtig, dass wir uns stärker als Zeitgenoss*innen betrachten und nicht nur über Neufunde, sondern auch durch kritisch
reflektierte Beiträge auf Basis unserer Forschungen zu aktuellen, gesellschaftsrelevanten Fragen Stellung beziehen (Meier 2012; Tarlow – Stutz 2013;
Schreg 2021). Auch wenn keine*r von uns vermutlich je eine*r der 50 top
thinkers des Prospect-Magazin sein wird, gehört die Vermittlung nicht nur
spektakulärer Funde zu unseren Aufgaben, die wiederum die Theoriearbeit
durch Dialog und Übersetzung fördern kann. Wir brauchen mehr Zeitgenossentum oder neudeutsch public intellectuality.
Kommunikation ist immer auch eine Frage der Sprache. Die Sprache der
Theorie und Wissenschaft ist derzeit Englisch, selbst wenn wir die letzten
Jahrzehnte viel auf französische Autoren referenzieren, z. B. Pierre Bourdieu,
Michel Foucault und Bruno Latour; allerdings zumeist erst, wenn diese übersetzt vorliegen. Doch da Sprachvielfalt auch Lebensvielfalt widerspiegelt und
Übersetzungsprobleme aufzeigt, sollten wir nicht monolingual werden. Das
heißt, wir sollten aber auch nicht im Fachjargon oder einem Theoriesoziolekt
verhaftet bleiben, sondern uns immer wieder den Herausforderungen der
Übersetzung stellen, sei es in andere Fachterminologien oder verschiedene
Alltagssprachen (s. a. Martínez – Mammola 2021). Produktive Theoriearbeit
braucht also Mehrsprachigkeit und Übersetzung!
Resümee: Die Zukunft der Theorien und die Rolle
der Archäologien
Wie könnte nun die Zukunft der Theorien und die Rolle der Archäologien
aussehen? Fasst man meine vorherigen Überlegungen zusammen: bunt und
vielfältig, aber auch herausfordernd. Wobei die Archäologien, die sich im
Feld der Wissenschaften zunehmend als interessante Kooperationspartnerinnen zwischen verschiedenen Wissenschaftskulturen etabliert haben, ihre
Rolle als kreative Übersetzende finden könnten. Ich würde mir wünschen,
dass wir es durch die unseren Forschungsgebieten innewohnende Vielfalt
schaffen, anhand konkreter Fallbeispiele in der Praxis übergreifende Perspektiven auf eine Kooperation und Verzahnung der Wissenschaften zu entwickeln. Dabei können wir insbesondere auf die Relevanz von Materialität
und der Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft aufmerksam machen
und damit neben der Räumlichkeit auch die Zeitlichkeit sowie ihre verschiedenen Zusammenspiele thematisieren.
42 — Kerstin P. Hofmann
Theoriearbeit hat und wird an Bedeutung zunehmen, wollen die Wissenschaften ihrer gesellschaftlichen Rolle gerecht werden. Reflexion über und
damit Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Wissensproduktion ist hierbei essentiell. Gerade durch die Öffnung der Theoriearbeit zur Empirie und
Praxis, zur Bedeutung von Geschichte, Soziologie und Technologie besteht
m. E. eine begründete Hoffnung auf innovativen Austausch. Doch der Weg
dahin ist nicht einfach und fordert von uns die Bereitschaft, immer wieder
gewohnte und liebgewonnene Räume zu verlassen, Mut, sich auf Ungewisses
einzulassen, sowie Kommunikation und Zusammenarbeit, sonst bleibt unser
Universum klein und endlich.
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hofmann@dainst.de | https://orcid.org/0000-0003-4405-5751
Prähistorische Archäologie als
Historische Kulturwissenschaft:
Genealogie und Zukunft eines
unvollendeten Projekts
Ulrich Veit
Zusammenfassung In jüngerer Zeit hat es verschiedene Bemühungen gegeben, die Prähistorische Archäologie explizit als eine Historische Kulturwissenschaft zu bestimmen (u. a. durch Manfred K. H. Eggert). Dies geschah
nicht zuletzt aus dem Wunsch heraus, dem Fach eine Teilhabe an der jüngeren, durch den sog. material turn geprägten kulturwissenschaftlichen
Theoriedebatte zu sichern. Allerdings ist man dabei – ganz im Sinne der älteren deutschsprachigen Fachtradition – sehr darauf bedacht gewesen, den
spezifischen Charakter archäologisch gegründeter Erkenntnis gegenüber historischen und ethnologischen Erkenntnisweisen zu betonen und so die Einheit alles Archäologischen zu beschwören. Diese Haltung hat letztlich mit
dazu beigetragen, dass die Mauer zu den anderen Kulturwissenschaften, die
man ursprünglich ja einreißen wollte, wieder ein Stück weit erneuert wurde.
Gegen eine solche konservative Argumentationsweise soll in diesem Beitrag
auf die Potenziale einer offeneren Ausrichtung der Prähistorischen Archäologie auf die Kulturwissenschaft aufmerksam gemacht werden. Dies geschieht
durch eine kritische Evaluation einiger gängiger Vorstellungen zur historischen und kognitiven Identität des Faches. Zwei Punkte sind hier entscheidend: 1. Die Entwicklung der archäologischen Wissenschaften war lange Zeit
eng mit der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung verbunden. Die Mehrzahl der Methoden, die heute als fachspezifisch gelten, sind nichts anderes als
Adaptionen allgemeinerer methodischer Prinzipien des Studiums von Natur
und Kultur. 2. Einen gewissen Bruch mit dieser Tradition markiert das frühe
20. Jahrhundert. In dieser Zeit hat der prähistorisch-archäologische Diskurs
den Anschluss an die sich seinerzeit konstituierende kulturwissenschaftliche Avantgarde (von Walter Benjamin bis Max Weber) verpasst. Dies hat mit
dazu beigetragen, dass man sich im Fach in der Folge – mehr als nötig – mit
sich selbst und den vermeintlich eigenständigen Regeln des Faches als mit
Ulrich Veit, Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft: Genealogie und
Zukunft eines unvollendeten Projekts, in: Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling
(Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen
Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 53–82. DOI: https://doi.org/10.11588/
propylaeum.1092.c15023
53
54 — Ulrich Veit
Prozessen kulturellen Wandels insgesamt beschäftigte. Auf diese Weise ist
die Anschlussfähigkeit an innovative kulturwissenschaftliche Debatten verloren gegangen. Aktuelle Versuche, sie wiederzugewinnen (meist vermittelt
über anglophone Autoren und Autorinnen) scheitern häufig an entsprechenden Vorurteilen und einer mangelnden Kenntnis der weiteren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge. Erst eine wirkliche Öffnung des Faches einer Historischen Kulturwissenschaft gegenüber könnte hier Abhilfe schaffen.
Sie würde aber zugleich dazu führen, dass wir uns von vielem, was im Fach
lange für selbstverständlich galt, verabschieden müssten.
Schlüsselbegriffe Prähistorische Archäologie; Historische
Kulturwissenschaft; Genealogie; Epistemologie, deutschsprachige Tradition
archäologischen Denkens
Abstract Recently, different attempts have been made to model prehistoric
archaeology on the principles of a “historical science of culture” („Historische
Kulturwissenschaft“, e.g. by Manfred K. H. Eggert). Driving these modalities
has been the desire to participate in recent theoretical debates initiated by
the so-called material turn. However, German scholars, in line with the older
scholarly tradition, have continued to place special emphasis on the distinctive character of an archaeological epistemology, as compared to historical
or ethnological epistemologies, and in this way have invoked the unity of
the archaeological project. This attitude ultimately has contributed to a renovation of the wall that separates archaeology and cultural studies, rather
than pulling it down, which had been the original idea. Contrary to such
conservative reasoning, in this paper I will place emphasis on the potential
for a stronger orientation of prehistoric archaeology toward cultural studies. This will be achieved primarily through a critical re-evaluation of some
popular ideas concerning the historical and cognitive identity of (prehistoric)
archaeology. Two points are of special importance: 1. The development of
archaeology, for quite a long period, was part of the general development of
the sciences. The majority of the methods that today are regarded as specific
to archaeology are adaptations of more general methodological principles applied on a wider scale in the study of nature and culture. 2. A certain break is
visible in the early 20th century. In this period, the prehistoric-archaeological
discourse lost contact with the avant-garde of cultural studies (represented
by scholars like Walter Benjamin and Max Weber). As a consequence, prehistoric archaeology in the following decades was unduly concerned with itself
and with the presumed, peculiar rules of the discipline. To a large degree
it lost its connection with innovative debates in the wider field of cultural
studies. Recent attempts to re-establish this link (mostly mediated through
the work of anglophone archaeologists) regularly fail, due to similar prejudices, and due to a lack of knowledge of the larger connections within the
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 55
history of science. Only a real opening up of the discipline, with regard to
cultural studies, can offer an opportunity to close this gap. At the same time,
as a consequence of such a process, we would be forced to turn aside from
many of the convictions that have been taken for granted within prehistoric
archaeology for a long time.
Keywords Prehistoric Archaeology; Cultural Studies; Genealogy;
Epistemology; German Tradition of Archaeological Thinking
„Geschichtswissenschaft als eine ‚empirische Hypothesenwissenschaft‘ bedeutet […] nicht, ‚Faktizität‘ zu leugnen, sondern, sich
über den epistemologischen Status historischer ‚Fakten‘ klarzuwerden,
den konstitutiven Anteil der Fragestellung und Hypothesenbildung
daran zu erkennen und sich damit schließlich auch über die
Wirkung der Gegenwarts-Kultur, an der ein Historiker teilhat,
bei der Hervorbringung historischer ‚Fakten‘ bewusst zu werden.“
(Otto Gerhard Oexle 1998, 148)
Nahezu unbemerkt von ihren VertreterInnen ist die Archäologie1 mit dem
material turn zu einer Art von ‚Leitwissenschaft‘ unter den Kulturwissenschaften geworden. Entsprechend sind die Konsequenzen, die sich aus den
paradigmatischen Vorgaben des material turn für Theorie und Praxis der
Archäologie – bzw. genauer der unterschiedlichen Archäologiefächer – notwendigerweise ergeben, bis heute weitgehend ungeklärt. Dies trifft jedenfalls
für die Prähistorische Archäologie zu (Veit 2014a; 2018b). Und es gilt nicht
nur für ‚theoriefern‘ arbeitende PraktikerInnen, sondern selbst für jene AkteurInnen, die das Fach plakativ als „Kulturwissenschaft“ (Wodtke 2013) bzw.
spezieller als eine „Historische Kulturwissenschaft“ (Eggert 2013) zu präsentieren suchen. Dabei wird regelmäßig versucht, das Konzept ‚materielle
1
Und zwar gesamthaft und ohne Rücksicht auf ihre Aufspaltung in verschiedene
Einzelfächer, wie Klassische oder Prähistorische Archäologie. – Umgekehrt ist vereinzelt versucht worden, diese neue, sich plural und transdisziplinär verstehende
‚Kulturwissenschaft‘ zu einem Leitbild für die Archäologien zu machen, so etwa
durch Petra Wodtke (2013). Allerdings ist ihr dabei das spezifisch ‚Archäologische‘
dieser Art von Kulturforschung entgangen. Manfred Eggert und Stefanie Samida
(2013 [2009], 309–310) hingegen haben auf diesen Bezug hingewiesen, distanzieren sich zugleich aber sehr deutlich von einer solchen Form kulturwissenschaftlicher Archäologie („Para-Archäologie“).
56 — Ulrich Veit
Kultur‘ ins Zentrum der Debatte rücken.2 Allerdings unterscheidet sich das
in diesen Studien – wie überhaupt von einer Mehrheit der FachvertreterInnen – verfolgte Konzept des Materiellen mitunter doch deutlich von jenem
der enger kulturwissenschaftlichen Disziplinen (Veit 2014a). Während letztere sich beispielsweise mit Macht am linguistic turn und am vermeintlichen
Primat der Sprache abarbeiten, ist in Teilen der Prähistorischen Archäologie
ein semiotischer Ansatz erst entdeckt worden, dessen AnhängerInnen es v. a.
darum geht, ein nicht direkt erschließbares Ideelles aus archäologisch verfügbarem Materiellen zu destillieren. In grundsätzlichen Erörterungen werden entsprechend auch eher die Begrenzungen als die Möglichkeiten herausgestellt (s. Veit 2023).3
Aber auch auf Seiten dieser Historischen Kulturwissenschaft im engeren
Sinne hat man sich bisher nur wenig Mühe gegeben, die Realität moderner
archäologischer Forschung genauer in den Blick zu nehmen. Vielmehr orientiert man sich hier vorzugsweise an den Archäologie-Fantasien des späten
19. und frühen 20. Jahrhunderts, konkreter am Werk von Persönlichkeiten
wie Heinrich Schliemann, Sigmund Freud oder Walter Benjamin (Ebeling –
Altekamp 2004). Ohne die herausragende fachübergreifende Bedeutung der
genannten Wissenschaftler – ebenso wie jene ihrer anerkannten Nachfolger
bis hin zu Michel Foucault oder Bruno Latour – in Abrede stellen zu wollen,
wird man doch festhalten können, dass der Einfluss dieser Denker auf die
jüngere Entwicklung der archäologischen Wissenschaften bis heute eng begrenzt geblieben ist.
2
3
Die Formulierung „Archäologie als Historische Kulturwissenschaft“ zielt nicht
(allein?) auf das „historische Grundanliegen der Archäologien“ (Eggert 2006,
248), entscheidend sei vielmehr ein (neues) Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Archäologien sowie eine selbstreflexive Haltung im Sinne einer „theorieund methodenkritischen Besinnung“ (Eggert 2006, 249). Trotz der beschworenen
Öffnung der archäologischen Einzelwissenschaften füreinander bleibt für Eggert
allerdings letztlich die Einzelfachebene entscheidend.
Vor dem Hintergrund solcher Differenzen wirkt es verstörend, zu lesen, dass ein
„(Selbst-)Bekenntnis kulturwissenschaftlicher Orientierung [in den Archäologien, U. V.] immer unabhängig von inhaltlichen Ausrichtungen erfolgen“ könne, wichtig sei nur, „dass es bewusst erfolgt“ (Wodtke 2013, 10). Auch ist für
mich schwer nachvollziehbar, dass ein solches Bekenntnis ausreichen könnte,
um die Zukunft der betreffenden Fächer abzusichern (Wodtke 2013, 11). ‚Kulturwissenschaft‘ ist ein weites und heterogenes Feld. Deshalb kann es nicht nur um
die Frage gehen, ob Archäologie eine Kulturwissenschaft ist, sondern man muss
zugleich fragen, welche Art von Kulturwissenschaft sie sein möchte / sollte und
welche Auswirkungen dies hätte.
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 57
Entsprechend speist sich auch die Prähistorische Archäologie im mitteleuropäischen Raum epistemologisch und kulturtheoretisch größtenteils aus anderen Quellen.4 Anders als mitunter unterstellt,5 weist ihre Genealogie mit jener der Kulturwissenschaften nur vergleichsweise geringe Überschneidungen
auf. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist man getrennte Wege gegangen.
Dass dieser Sachverhalt bislang noch nicht ausreichend thematisiert worden ist, hängt m. E. nicht zuletzt auch mit der Unwilligkeit – teilweise auch
Unfähigkeit – vieler ArchäologInnen zusammen, sich von für die Fachausbildung bis heute zentralen Fragen der Quellenkritik und einer positivistischen
Kulturgeschichte zu lösen und sich kulturtheoretischen Fragestellungen gegenüber zu öffnen. Von KritikerInnen innerhalb des Faches ist die sich darin
offenbarende Theorieferne in der Vergangenheit immer wieder als ‚Theoriefeindlichkeit‘ gebrandmarkt worden. Allerdings ist es auch im – noch immer
sehr überschaubaren – Kreis bekennender TheoretikerInnen bislang nur ansatzweise gelungen, eine Alternative zur aktuellen Situation sichtbar werden zu
lassen – etwa in Form einer Archäologie, die sich dezidiert an den Prinzipien der
Kulturwissenschaft orientiert, wie sie im frühen 20. Jahrhundert entstanden ist.6
Die Einheit des Archäologischen und ihre Grenzen
Ein Grund dafür liegt sicherlich darin, dass man archäologische Theorie lange Zeit vornehmlich unabhängig von kulturwissenschaftlicher Theorie zu
formulieren suchte. Entsprechend ist der Fokus der einschlägigen Debatten
4
5
6
Grundlegend ist hier weiterhin der Positivismus des 19. Jahrhunderts in seinen
unterschiedlichen Ausprägungen, dazu kommen Einflüsse des Historismus, bisweilen auch solche des Kritischen Rationalismus respektive der System- bzw.
Informationstheorie.
Die von Dietmar Schmidt (2003; 2004; 2005) in mehreren Beiträgen rekonstruierte
Genealogie der Kulturwissenschaften, an deren Anfang die Entdeckung des Abfalls als Forschungsgegenstand steht, missversteht m. E. die Intentionen vieler der
frühen ArchäologInnen, denen ein Bezug auf die Prinzipien moderner Kulturwissenschaft weitestgehend fehlte. Eine gewisse Bedeutung für die frühe Fachentwicklung mag allenfalls das sog. Indizienparadigma (Carlo Ginzburg) gehabt
haben, speziell dort, wo diese Entwicklung von Medizinern wie Rudolf Virchow
vorangetrieben wurde.
In diesem Zusammenhang könnte man allenfalls Reinhard Bernbeck (2017) nennen,
als jemanden, der einen solchen Schritt unternommen hat. Er hat dies allerdings
um den Preis getan, sein eigentliches archäologisch-historisches Forschungsfeld,
in der Vorderasiatischen Archäologie, zugunsten einer Archäologie der Stätten des
Terrors des 20. Jahrunderts verlassen zu müssen.
58 — Ulrich Veit
eng auf Fragen archäologischer Methodik (Quellenkritik, Formationsprozesse und komparative Methoden) ausgerichtet gewesen.7 Dabei sind vornehmlich die praktischen Einschränkungen archäologischer gegenüber
historischer oder ethnographischer Erkenntnisweisen thematisiert worden.
Weiterreichende Fragen, etwa jene nach dem Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse, sind dagegen nur selten – und noch viel seltener in der
erforderlichen Differenziertheit – verhandelt worden.8 Man kann daher sagen, dass die archäologische Theoriedebatte im deutschsprachigen Raum in
diesem Sinne die isolationistische Perspektive der archäologischen Praxis
teilweise fortgeschrieben hat.9
Dies wird kaum anderswo so deutlich wie in den einschlägigen Ausführungen Manfred K. H. Eggerts, der in immer neuen Formulierungen die Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der prähistorischen Erkenntnissituation
herausstellt – und daraus die Notwendigkeit einer eigenständigen Methodologie seines Faches ableitet.10 Er hält es allenfalls für möglich und sinnvoll,
die Methodologie der Prähistorischen Archäologie mit jener der anderen
Archäologiefächer abzugleichen – und auf diese Weise eine gesamtarchäologische Epistemologie zu entwickeln.11
7 Grundlegend dafür ist die Arbeit von Jacob-Friesen 1928.
8 In Scholkmann u. a. 2016 werden entsprechende Fragen von Rainer Schreg an
verschiedenen Stellen andiskutiert (bes. 116–140). Letztlich bleibt das Verhältnis von historischer Aufklärung und Sinnstiftung in der vom Verf. imaginierten
neuen ‚Historischen Archäologie‘ unklar. – Auf die entsprechenden Debatten
im Bereich der anglophonen Postprozessualen Archäologie kann ich an dieser
Stelle aus Platzgründen nicht näher eingehen. In deren Sinne hat insbesondere
Cornelius Holtorf, der in verschiedenen Beiträgen (z. B. Holtorf 2004; 2007) die
Gegenwärtigkeit der Archäologie herausstellt, auf die deutschsprachige Debatte
einzuwirken versucht.
9 Davon auszunehmen ist lediglich die Tendenz zum verstärkten Einsatz naturwissenschaftlich-technischer Verfahren in der Archäologie. Allerdings haben wir es
hier zumeist nicht mit Interdisziplinarität im strengen Sinne zu tun, sondern mit
‚Dienstleistungen‘, die von ‚Hilfswissenschaften‘ angeboten werden. Dieser Begriff ist heute zwar verpönt und das Selbstbewusstsein der ‚zuarbeitenden‘ WissenschaftlerInnen gewachsen. An der Grundkonstellation hat dies jedoch wenig
geändert. Wenn NaturwissenschaftlerInnen bei der Projektkonzeption mitreden
wollen, müssen sie sich zu einem kulturhistorischen Paradigma bekennen.
10 In eine ähnliche Richtung geht die Argumentation von Gleser 2018.
11 Von seiner ursprünglichen Idee, Archäologie als integralen Teil einer weiteren
Kulturanthropologie zu verstehen (Eggert 1978) hingegen, ist in seinen jüngeren
Arbeiten wenig geblieben.
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 59
Eine entsprechende Einheit alles Archäologischen scheint Eggert bereits in der frühen Fachgeschichte angelegt, bemüht er diesbezüglich doch
die Baummetapher, um die innere Zusammengehörigkeit der verschiedenen
Archäologiefächer zu beschreiben. Die Archäologie gleiche „einem Baum
mit einer gewaltigen, auf vielen Ästen ruhenden Krone“, als Ausdruck der
fachlichen Ausdifferenzierung im 19. und 20. Jahrhundert (Eggert 2006, 5).
Einen unüberwindbaren Graben sieht Eggert hingegen zu jenen Kulturwissenschaften, die über Schriftquellen oder über das Mittel der teilnehmenden
Beobachtung verfügen (also Geschichtswissenschaft bzw. Ethnologie).12 Diese müssen wir uns seiner Meinung nach dementsprechend wohl als benachbarte, aber autonome Baumindividuen im ‚Wald der Wissenschaft‘ vorstellen. Selbst eine mögliche begrenzte ‚Kommunikation‘ etwa über Boden und
Wurzelwerk ist für Eggert offenbar keine Option.
Eine solche Position ist wissenschaftsgeschichtlich gesehen erkennbar
schief, denn der Ursprung des archäologischen Projektes (gerade auch in Relation zu Geschichte und Ethnologie) ist keineswegs so eindeutig in einer
Ur-Archäologie zu verorten, wie Eggerts Metaphorik dies unterstellt. Eher
sollte man hier – im Sinne der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix
Guattari – an rhizomartige Verflechtungen denken, die entsprechende, frühe
Ansätze in ganz unterschiedlichen Bereichen (quasi unterirdisch) miteinander verbinden.13
Vor diesem Hintergrund scheint es nützlich, hier kurz einen etwas ausführlicheren Blick auf die Genealogie der Prähistorischen Archäologie zu
werfen. Dies kann uns dabei helfen, taktische Engführungen des Fachdiskurses, wie wir sie nicht nur bei Eggert sehen, zu erkennen und damit zugleich Fächer übergreifende Zusammenhänge wieder stärker sichtbar werden zu lassen. Ähnlich wie Michel Foucault14 verbinde ich mit dem Begriff
‚Genealogie‘ allerdings keine ‚Ursprungssuche‘ bzw. ‚Stammbaumforschung‘
im klassischen Sinne – wie sie ja nicht zuletzt auch am Beginn der wissenschaftlichen Urgeschichtsforschung stand. Dies würde die Existenz eines
12 Dabei sieht er keinen Widerspruch in der gleichzeitigen Anwendung von Johann
Gustav Droysens Prinzipien der Historischen Methode auf die Prähistorische
Archäologie – ausführlich dargelegt in Eggert 2006. Dies bedeutet für Eggert allerdings nicht, dass ethnologische oder historische Wissensbestände im Rahmen
der prähistorisch-archäologischen Theoriebildung sinnvoll eingesetzt werden
könnten. Im Gegenteil, er sieht hier vielmehr für die Zukunft einen konkreten
Forschungsbedarf.
13 Schnapp 1993 – weiterer Rahmen etwa bei Momigliano 1995 oder Völkel 2006.
14 Zu Foucaults Bestimmung von Genealogie siehe Ruoff 2009 und Vogl 2014 mit
zahlreichen Belegstellen aus Foucaults umfangreichem Werk.
60 — Ulrich Veit
klar umrissenen, sich linear entwickelnden Gegenstands (‚die Urgeschichte‘)
voraussetzen. Stattdessen gehe ich von der Offenheit und historisch bedingten Veränderlichkeit entsprechender ‚Gegenstände‘ aus.
Zugleich frage ich nach den äußeren Bedingungen und den sozialen
Praktiken, die den – jeweils machtgetriebenen – Diskurs bestimmen.15 Ein
solcher
„Einbezug des Außenraumes im Sinne sozialer Praktiken unterläuft den
Anspruch von Wissenschaft auf Annäherung an die Wahrheit. [Die
genealogische Methode] richtet sich gegen den exklusiven Anspruch
der Theorie, eine Art Einheitsinstanz zu entwickeln, und bricht letztlich auch mit dem Ideal wahrer Erkenntnis.“ (Ruoff 2009, 127)
Entsprechend gleicht das Ergebnis auch keinem auf Dauer angelegten, fest
gefügten Monument, sondern eher einer Baustelle.16 Wir haben es hierbei
also mit einer Form von (Wissenschafts-)Geschichte zu tun, „die keine perfekten Bauten errichtet, sondern das Risiko des dauernden Umbaus bei fehlenden
Fundamenten in Kauf nimmt. Die Geschichte wird zu einem Ort der laufenden Veränderung und sie muß immer wieder neu geschrieben werden“ (Ruoff
2009, 128). Spätestens hier werden Bezüge Foucaults zum späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, zu Friedrich Nietzsche und Max Weber, deutlich.
Mein Ziel kann es an dieser Stelle allerdings nicht sein, eine faktengesättigte Fachgeschichte vorzulegen.17 Vielmehr geht es mir lediglich um eine
idealtypische Modellierung der Genese der Prähistorischen Archäologie,
die zukünftig möglicherweise als Element einer erst noch zu entwickelten
archäologischen Fachdidaktik dienen könnte.
Die Fachdidaktik der Prähistorischen Archäologie beschränkt sich aktuell
ja wesentlich auf die wenigen verfügbaren deutschsprachigen Facheinführungen.18 Diese wiederum sind recht einseitig auf die Vermittlung methodischer Prinzipien sowie eines bestimmten (geographisch spezifischen) Grundwissens über die wesentlichen ur- und frühgeschichtlichen Kulturräume
15 Ähnlich wie Foucault einst die psychiatrische Ordnung durch Praktiken im Bereich der ‚öffentlichen Hygiene‘ bestimmt sah, so sehe ich die ‚archäologische
Ordnung‘ durch Praktiken im Bereich des öffentlichen Umgangs mit materiellen
Spuren der Vergangenheit bestimmt.
16 Oder einer archäologischen Ausgrabung – was die kulturwissenschaftliche Faszination für das Archäologische erklärt.
17 S. dazu für einen Teilbereich etwa Veit 2006.
18 Z. B. Eggert 2012 [2001]; Trachsel 2008; Eggert – Samida 2013; sowie Scholkmann
u. a. 2016 für die verwandte Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit.
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 61
und Epochen fokussiert. Fachgeschichte wird in diesem Rahmen allenfalls
punktuell im Sinne einer themenbezogenen Forschungsgeschichte präsentiert.19 Eine Erläuterung und differenzierte Bewertung unterschiedlicher
erkenntnis- und theoretischer Positionen findet so gut wie nicht statt. Dabei gäbe es auch auf diesem Bereich inzwischen viel zu lehren und zu lernen (s. Veit 2020b).
Historisches Gedächtnis und historische Forschung
Wie alles historische Interesse hat auch jenes an der Prähistorie (bzw. Urund Frühgeschichte) einen lebensweltlichen Ursprung. Und die aus diesem
Interesse sehr viel später hervorgegangene Fachwissenschaft – die Prähistorische (bzw. Ur- und Frühgeschichtliche) Archäologie – ist auch heute noch
auf vielfältige Weise mit der gegenwärtigen Lebenswelt verbunden. Trotz
aller notwendigen Kleinteiligkeit der täglichen Forschung sucht sie letztlich
noch immer nach Antworten auf die alte Frage ‚Woher kommen wir?‘ – als
einem notwendig erachteten Korrelat zur Frage ‚Wohin gehen wir?‘. Dabei
fungieren abwechselnd die lokale und regionale Gemeinschaft, die Nation,
supranationale Einheiten (wie ‚Europa‘ oder ‚die Antike‘) oder die Menschheit insgesamt als Bezugsgrößen.20
Mit der Generierung eines auf die frühe, nicht schriftlich dokumentierte
Vergangenheit bezogenen Wissens ist also – wie mitunter unterstellt wird –
nicht nur eine ziellose historische Neugier befriedigt worden. Vielmehr ist die
Beschäftigung mit solchen Fragen letztlich immer als Reaktion bestimmter
Gemeinschaften auf konkrete Orientierungsbedürfnisse zu verstehen. Entsprechend dient auch die Ur- und Frühgeschichtsforschung letztlich immer
auch der historischen Selbstvergewisserung in der jeweiligen Gegenwart im
weitesten Sinne. Dabei sind die Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart allerdings ganz andere als etwa im Bereich der Zeitgeschichte, wo im
Idealfall noch ZeitzeugInnen greifbar sind.21 Dies ergibt sich allein schon aus
der die menschliche Vorstellungskraft transzendierenden zeitlichen Distanz
zu den zu behandelnden Ereignissen sowie dem weitgehenden Fehlen direkter historischer Bezüge.
19 Eine gewisse Ausnahme bildet Scholkmann u. a. 2016, das parallel zum systematischen einen ausführlichen wissenschaftsgeschichtlichen Abschnitt enthält.
20 Der material turn hat zudem bereits den Boden für zusätzliche Erweiterungen
dieses Rahmens bereitet.
21 Den Bereich der zeitgeschichtlichen Archäologie nehme ich hier bewusst aus. Er
folgt eigenen Regeln: z. B. Bernbeck 2015; 2017.
62 — Ulrich Veit
Voraussetzung für die Generierung eines solchen auf die ferne Vergangenheit bezogenen Wissens ist neben der Fähigkeit zu historischer Imagination in erster Linie eine antiquarisch-archäologische Methodik, wie sie
sich im beständigen Umgang mit archäologischen Materialien sukzessive
herausgebildet hat.22 Zentrale Aufgabe dieser Methoden und Techniken ist
es bis heute, die historische Imagination, die sich von Beginn an in Form von
an bestimmte Objekte bzw. Fundplätze gebundenen Erzählungen manifestiert, möglichst effektiv an empirische Beobachtungen rückzubinden. Dabei
bleibt notwendigerweise immer eine gewisse Kluft zwischen dem konkreten
archäologischen Befund und der sich daran knüpfenden historischen Erzählung bestehen. Archäologisches Wissen ist deshalb, ungeachtet aller Bemühungen um eine Begründung, immer auch ein Stück weit ein hypothetisches
Wissen. Und in dieser Hinsicht unterscheidet es sich nicht grundsätzlich,
sondern allenfalls graduell von (anderem) historischem Wissen.
Verbreitet wird ein derartiges vergangenheitsbezogenes Wissen gewöhnlich narrativ, wobei die betreffenden objektbezogenen Erzählungen, wie bereits angedeutet, auf unterschiedliche Weise identitätsstiftend wirken sollen
und können (Veit 2006a). Auf diese Weise tragen sie zugleich zur Bewahrung der materiellen Überreste bei, die ihrerseits dazu verwendet werden,
das entsprechende Identitätswissen zu beglaubigen und auf Dauer zu stellen.
Denn nur materiell greifbare Objekte können einem dauerhaften Gedenken
dienen.23 In diesem Sinne bilden Museen und Denkmalämter – neben den
Archiven und Bibliotheken – die zentralen Agenturen unseres „kulturellen
Gedächtnisses“ (Assmann 2007).24
Mit diesen Charakteristika steht die Prähistorische Archäologie – ebenso
wie alle anderen Archäologien – letzten Endes in der Tradition der humanistischen Gelehrten der Renaissance, die ihre vornehmste Aufgabe darin sahen,
eine bestimmte Gruppe von Denkmälern wieder aufzufinden, zu bewahren
22 Dazu gehören u. a. Prospektion / Ausgrabung, Befunddokumentation, Fundvergleich
sowie archäometrische Untersuchungen.
23 Dazu gehören selbstverständlich auch an materielle Trägermedien gebundene
Texte oder audiovisuelle Aufzeichnungen.
24 Vom ‚kulturellen Gedächtnis‘ in diesem Sinne klar abzuheben ist das ‚archäologische Gedächtnis‘. Stefan Altekamp (2004) bezeichnet mit diesem Begriff die wesentlich unterirdisch konservierten Überreste vergangener Zeiten. Diese unsichtbar gewordene Substanz stelle in ihrer Qualität des Nicht-Archivs einen Speicher
kulturell imprägnierten Gutes jenseits kultureller Tradierung dar, der – ungeachtet aller konkreten Probleme einer Dekodierung – die grundsätzliche Möglichkeit
zu einer kritischen Revision der historischen Traditionsbildung biete.
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 63
und richtig zu interpretieren.25 Ähnlich wie diese hat auch die Prähistorische
Archäologie nicht nur bereits früh spezifische Wissenspraktiken (Feldbegehung, Ausgrabung, Fundvergleich) ausgebildet, sondern sich zum breiteren
Austausch des von ihr generierten Wissens ein weites Kommunikationsnetzwerk geschaffen. Zusammengenommen haben diese Entwicklungen letztlich
zur Entstehung und permanenten Weiterentwicklung eines gegenstandsspezifischen Wissenskanons beigetragen.
Allerdings ist die Aufgabe der Prähistorischen Archäologie auch heute
noch nicht auf die Generierung neuen vergangenheitsbezogenen Wissens
beschränkt. Zu den Kernaufgaben des Faches gehört vielmehr immer auch
die Pflege und Tradierung bereits bestehender Wissensbestände. Allerdings
ist dabei zu berücksichtigen, dass uns erst die dauerhafte Bewahrung der
materiellen Überreste der Vergangenheit auch in die Lage versetzt, die auf
der Grundlage dieser Quellen etablierten Erzählungen zu kritisieren und bei
Bedarf auch zu revidieren. Sie ist also gleichermaßen Voraussetzung für historisches Gedenken wie für historische Forschung.26
Erkenntnis und Interesse
Dennoch präsentierte sich die Prähistorische Archäologie zunächst – und
noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – eher als ein spezifisches Feld historisch-antiquarischer Gelehrsamkeit denn als eine Wissenschaft im aristotelischen Sinne (z. B. Eggers 1959; Fischer 1987). Trotzdem ist mit der zunehmenden Methodisierung archäologischer – d. h. auf das Studium materieller
Überreste bezogener – Erkenntnis ein Prozess der Verwissenschaftlichung
einhergegangen, der im frühen 20. Jahrhundert zur Ausbildung einer entsprechenden universitär verankerten Fachwissenschaft geführt hat. Deren
VertreterInnen (es waren in der Tat ganz überwiegend Männer) haben es
nicht nur verstanden, ihrem Fach eine spezielle kognitive Identität zu geben,
sie haben auch zur Ausbildung einer eigenen sozialen und historischen Identität beigetragen (Veit 1995; 2001).
Fortdauernde Identitätskonflikte, wie sie zwischen unterschiedlichen
Fraktionen, wie etwa alten und neuen, prozessualen und postprozessualen,
naturwissenschaftlichen und postmodernen usw. ArchäologInnen ausgetragen wurden und werden, belegen allerdings auch, dass dieser Prozess nicht
25 S. dazu insbesondere Gombrich 1991; zum weiteren Kontext aufschlussreich ist
Greenblatt 2012.
26 Zum Verhältnis von Historisierung und Enthistorisierung generell s. Rehberg
2004, bes. 17–18.
64 — Ulrich Veit
nur nicht abgeschlossen, sondern grundsätzlich unabschließbar ist. Solche
Auseinandersetzungen sind die logische Konsequenz des existierenden disziplinären Systems der Wissenschaften, in dem wissenschaftliche Institutionen v. a. als ‚effektive Verknappungsagenturen‘ wirken, die bestimmte
Forschungsfelder mit besonderer Reputation ausstatten, während sie andere
marginalisieren (Groebner 2012, 42).
Zu den konstituierenden Merkmalen der Prähistorischen Archäologie
im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gehörte in erster Linie die Reklamierung eines eigenen Gegenstandsbereichs – der Mensch in der ur- und
frühgeschichtlichen Zeit als ein kulturbefähigtes Wesen – sowie der (letztlich nie vollständig einzulösende) Anspruch einer weitgehenden Entsagung
geschichtsphilosophischer Spekulation. Letztere äußerte sich vor allem in der
Selbstverpflichtung, das Wissen über die ur- und frühgeschichtlichen Perioden ausschließlich auf authentische Materialien zu gründen und diese vorab einer konsequenten Quellenkritik im Sinne der „Historischen Methode“
(Meier – Rüsen 1988) zu unterziehen. Dies impliziert zugleich die Verpflichtung zur Gewährleistung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der erzielten und in der Gemeinschaft der Forschenden kommunizierten Ergebnisse.
Dabei sind ArchäologInnen, anders als VertreterInnen anderer Fächer,
zusätzlich mit der besonderen Tatsache konfrontiert, dass sie nur dadurch
zu weiteren Erkenntnissen gelangen, dass sie – im Rahmen von Ausgrabungen – einen Teil ihrer Quellen, nämlich die Befundzusammenhänge, zerstören. In diesem Sinne wird – wie es Joachim Reichstein einmal treffend formuliert hat – der / die ArchäologIn auf ganz besondere Weise aus Schaden klug
(Reichstein 1991, 38). Ungeachtet dieser Einschränkung ist es dem Fach gelungen, Wege zu finden, mit dieser Begrenzung verantwortlich umzugehen.
Andererseits wohnt archäologisch gegründeten historischen Narrativen
weiterhin ein deutlich konstruktives Element inne. Dies widerspricht im Kern
jedoch nicht dem ‚wissenschaftlichen Anspruch‘ entsprechender Erkundungen.
Durch eine systematische Heuristik und Quellenkritik sowie eine konsequente
Analytik von Funden und Befunden erscheint vielmehr durchaus eine gewisse Objektivierung der Beobachtungen möglich, auch wenn diesbezüglich noch
nicht von ‚Theoriebildung‘ in einem engeren Sinne gesprochen werden kann.
Neben dem Streben nach Objektivierung ist auch schon früh immer wieder auf die vermeintlich große gesellschaftliche Relevanz der von der Prähistorischen Archäologie erzielten ‚wissenschaftlichen‘ Erkenntnisse für die
(nationale) Gegenwart hingewiesen worden (Kossinna 1914). Ausgehend von
einem im Kern positivistischen Wissenschaftsbegriff – und in der Hoffnung
auf Förderung durch die Politik – hat sich das Fach den jeweils Herrschenden
zeitweise gar aktiv als Lieferant von Begründungen, beispielsweise zur Legitimierung territorialer Ansprüche, angedient (s. Veit 2011a).
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 65
Dabei handelt es sich um Sachverhalte, die erst in den letzten Jahren, also
mit großer zeitlicher Verzögerung, wissenschaftsgeschichtlich angemessen
aufgearbeitet wurden (Härke 2000; Steuer 2001; Leube 2002). Unmittelbar
nach 1945 reagierte man auf die Indienststellung des Faches im Nationalsozialismus in Westdeutschland mit einem halbherzigen Rückzug ins Apolitische – und sah nicht das Fach als Ganzes in der Verantwortung (Narr
1990; siehe auch Veit 2011b). Dies macht insbesondere die bis heute geläufige
Rede vom ‚Missbrauch des Faches‘ deutlich, die dessen genuine ‚Unschuld‘
unterstellt – und damit zugleich die Verantwortlichkeit im Kern in den individuellen bzw. politischen Bereich verlagert. Dabei ist das Verhältnis von
Fachwissenschaft und Politik, wie wir inzwischen wissen, nur als zweiseitige
Ressourcenbeziehung angemessen zu charakterisieren (Ash 2001). Entsprechend liegt die Verantwortung jeweils auf beiden Seiten.
Dies gilt übrigens nicht nur für Wissenschaft in Zeiten der Diktatur, sondern ganz generell. Denn auch heute – und gerade in Zeiten eng begrenzter
finanzieller Spielräume – ist die Versuchung groß, Politik und Gesellschaft
gegenüber nicht seriös einlösbare Versprechungen abzugeben. Dies betrifft
sowohl Fragen der ‚Identitätspolitik‘ (Europa, regionale Identitätsbildung –
neuerdings auch Diversitätsmanagement) und der Außenpolitik ebenso
wie solche der gesellschaftlichen und ökologischen Expertise (langfristiger
Klimawandel).27 Selbst zur Politikberatung in pandemischen Zeiten sieht
man sich aktuell in der Lage.28
Erklären und Verstehen
So unbestritten die Position der Prähistorischen Archäologie als ‚(Fach-)Wissenschaft‘ heute auch erscheint, so unklar und umstritten ist weiterhin die
Frage, was sie konkret dazu macht und wie sie sich im Verhältnis zu anderen Wissenschaften und in der Gesellschaft positionieren sollte. Ausgehend
von den vorstehenden Hinweisen zur Fachgeschichte, lässt sich heute innerhalb der mitteleuropäischen Vorgeschichtsforschung stark vereinfachend
ein Neben- und Miteinander zweier epistemologischer Grundpositionen
27 Hänsel 1998; Kolb 2010 mit Jablonka 2011 (Europa); Veit 2018a – mit Bezug auf
Parzinger 2016 (Außenpolitik); Daim u. a. 2011 (Umwelt).
28 Käppel u. a. 2020. Dies erscheint mir – zumindest in der geschilderten Konstellation – als überzogen. Jedenfalls kann dies nicht in der direkten Weise gelingen,
wie Käppel u. a. das – unter Bezug auf alte Devise historia magistra vitae – unterstellen. Diese Devise negiert jedenfalls die Kerneinsichten dessen, was hier als
Historische Kulturwissenschaft präsentiert werden soll.
66 — Ulrich Veit
konstatieren, von denen eine stärker auf Generalisierung, die andere stärker
auf Individualisierung setzt:
• Prähistorische Archäologie als eine induktive Wissenschaft (Positivismus): VerfechterInnen dieser Position gehen davon aus, dass in den
archäologischen Quellen Fakten verborgen liegen, die nur darauf
warten, von ArchäologInnen entdeckt zu werden. Dafür erscheint
ihnen das Verfahren der Induktion (d. h. der Schluss vom Speziellen
auf ein dahinter stehendes Allgemeines) als ein probates Mittel, das
es erlaube, noch bestehende Wissenslücken zu schließen und die
prähistorische Welt sukzessive im Modus der Erklärung zu erschließen.29 Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, dass ideologische
Einseitigkeiten unseres Geschichtsbildes allein (oder zumindest
wesentlich) aus der Unvollständigkeit unseres Wissens resultieren
und sich entsprechend mit dem weiteren Fortschreiten der Sachforschung von selbst auflösen. ‚Theorien‘, die diese Lücken hilfsweise
füllen können, sind in einem solchen Denkrahmen allenfalls für eine
gewisse Übergangszeit nötig.
• Prähistorische Archäologie als eine ‚verstehende‘ Wissenschaft (Historismus): Ziel ist in diesem Fall nicht ‚Welterklärung‘; vielmehr
beschränkt sich die Aufgabe des Prähistorikers / der Prähistorikerin hier darauf, zu zeigen ‚wie es eigentlich gewesen‘ (Leopold v.
Ranke). Historisches Deuten und Verstehen werden als Grundlage
dafür angesehen, bestimmte historische Situationen und Ereignisse
verstehend – mitunter vielleicht sogar einfühlend 30 – nachzuvollziehen und darüber erzählend, individualisierend sowie unter Verzicht
auf eine Bewertung Bericht zu erstatten (Mommsen 1988). Dagegen
erscheinen kulturübergreifende Generalisierung und Modellbildung
(‚Theoriebildung‘) dem eigentlichen ‚historischen‘ Anliegen des Faches gegenüber als unangemessen und werden entsprechend zurückgewiesen.31
29 Deduktiv-nomologische Verfahren, wie sie im Rahmen der amerikanischen New
Archaeology eine wichtige Rolle spielten (s. Bernbeck 1997), haben in Mitteleuropa
nie eine wichtige Rolle gespielt. Wohl aber gibt es auch hier bisweilen den Traum
von der Archäologie als einer „angewandten (Umwelt-)Wissenschaft“ (z. B. Daim
2011).
30 Zur Problematik des Einfühlungskonzeptes im Rahmen der Kulturwissenschaften:
Kramer 1995.
31 Trotzdem gründet auch dieser Ansatz implizit letztlich auf der Annahme einer
gleichbleibenden menschlichen Natur, die die historisch bzw. archäologisch fassbare kulturelle Vielfalt hervorbringt.
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 67
Einer solchen für den Historismus charakteristischen Sichtweise folgend,
galt das Fach seinen VertreterInnen lange Zeit zwar als eine (antiquarisch
gestimmte) Wissenschaft, aber nicht als theoriefähig.32 Dem wird heute entgegengehalten, dass die Historie nicht zugleich theoriefrei und eine Wissenschaft sein könne. Deshalb beschwört man eine notwendige Einheit von
Theoriefähigkeit und Wissenschaftlichkeit der (Prä-)Historie im Sinne der
Aufklärung und entsprechend der Aristotelischen Prämisse, dass Wissenschaft durch Theorie konstituiert sei.33 Daraus ergibt sich die Erwartung,
sich nicht länger darauf zurückzuziehen, die Quellen lediglich möglichst unbeeinflusst von aktuellen Erwartungen ‚sprechen zu lassen‘. Vielmehr sieht
man sich heute mit der Herausforderung konfrontiert, forschend Fragen zu
stellen und durch systematische Untersuchung archäologischen Materials
dazu beizutragen, aktuelle Forschungsprobleme einer Lösung zuzuführen.
Eine Möglichkeit, dieser Forderung nachzukommen – und dabei zugleich
den Begrenzungen und Problemen eines Positivismus (im Sinne des ersten
Modells) zu entgehen – bietet das Konzept der ‚Historischen Kulturwissenschaft‘ im Sinne von Max Weber.34 Ziel dieses Ansatzes ist von vornherein
nicht objektives Weltwissen wie im naturwissenschaftlichen Positivismus.
Stattdessen zielt diese Denkrichtung auf ein relationales, auf die Erkenntnisinteressen der jeweiligen Gegenwart bezogenes, aber gleichwohl empirisch
gegründetes Geschichtswissen. Dazu werden zwangsweise von Problemen
der Gegenwart ausgehende Fragen in Form einer historischen Hypothesenbildung an das historische (bzw. archäologische) Material gerichtet.35 Vorgeschlagen wird also eine auf Objektivierung zielende Verfahrensweise, die
zugleich die Perspektivität und Subjektivität des historischen Urteils mitberücksichtigt.
Allerdings steht eine Umsetzung dieses epistemologischen Prinzips in
den archäologischen Fächern heute noch weitgehend aus. Aktuelle Stellungnahmen zur Erkenntnisweise schreiben, dort wo sie überhaupt abgegeben
werden, zumeist entweder einen undifferenzierten Positivismus oder einen
oberflächlichen Historismus fort. Mitunter wird beides auch auf eine merkwürdig unreflektierte Art miteinander verknüpft.
32 So z. B. noch bei Ulrich Fischer (1987).
33 S. Meran 1985; eine dezidierte Gegenposition dazu findet sich etwa bei Veyne
1990.
34 Weber 1968 [1904]. Ein anderes Konzept verfolgt ein Mainzer Forschungsverbund „Historische Kulturwissenschaften“: Rogge 2010 und weitere Beiträge in
Kusber u. a. 2010.
35 S. Böhme u. a. 2000 und insbes. Oexle 1996; 2001.
68 — Ulrich Veit
Wenn etwa die Initiatoren der großen nationalen Archäologie-Ausstellung
Bewegte Zeiten (Gropius-Bau, Berlin 2018/19) Matthias Wemhoff und Michael
M. Rind mit Blick auf die aktuelle archäologische Forschung konstatieren:
„Die alte Frage, ob es möglich ist, aus der Geschichte zu lernen, bleibt
stets aktuell. Niemals sind die Rahmenbedingungen die gleichen, jedes Mal ist ein Geschehen individuell und doch kann der Blick zurück
uns aufzeigen, wie Menschen sich über Jahrtausende verhalten haben“
(Wemhoff – Rind 2018, 17),
so beschwören sie nicht nur das Individualitätspostulat des Historismus,
sondern hebeln es durch Bezugnahme auf das ältere Prinzip historia magistra
vitae im gleichen Atemzug wieder aus (Koselleck 1989).
Konkret formulieren sie ein Gesetz menschlichen Handelns,36 aus dessen
Anwendung auf das archäologische Material sie dann die Einsicht ableiten,
die archäologischen Objekte enthielten „klare Botschaften gegen Nationalismus und Ausgrenzung“ (Wemhoff – Rind 2018, 17).37 Dabei wissen wir seit
langem, dass von archäologischen Funden selbst keine Botschaft ausgeht: sie
erzählen nichts. Es sind die HistorikerInnen und ArchäologInnen selbst, die
erzählen – und sich dabei mehr oder minder stark dem Zeitgeist verpflichtet
sehen.38
Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass vor 100 Jahren, die gleichen, teilweise vielleicht sogar dieselben archäologischen Funde,39 die jüngst in Berlin zu sehen waren, schon einmal für eine gegenteilige
36 „Bei allen Konflikten wird beim Blick in die Geschichte deutlich, dass ohne Bewegung von Menschen, Dingen und Ideen Gesellschaften statisch werden und sich
dann irgendwann Veränderungen geradezu eruptiv ereignen“ (Wemhoff – Rind
2018, 17).
37 Dies sei insbesondere daran abzulesen, dass sie sich einer nationalen Geschichte
entzögen. – Vor dem Hintergrund unseres Wissens darüber, welch verheerende
Rolle Nationalismus und Ausgrenzung nachweislich in jenen Epochen gespielt
haben, für die wir mehr als nur archäologische ‚Quellen‘ besitzen, muss man sich
angesichts solcher Äußerungen auch fragen, ob der Archäologie hier ein eigenes
Sensorium dafür fehlt. Die aktuelle Konjunktur der Gewaltstudien im Fach (z. B.
Link – Peter-Röcher 2014; Meller – Schefzik 2015; Hansen – Krause 2018) spricht
eher dagegen. Allerdings dominieren auch hier häufig einseitig anthropologisierende Ansätze, wie im diskutierten Beispiel: s. Veit 2014b.
38 Siehe z. B. Veit 2006a; 2012; 2014b. – In Band 51 der Ethnographisch-Archäologischen
Zeitschrift finden sich weitere Beiträge zu dieser Thematik.
39 Zum Teil am selben Ort – im Berliner Gropius-Bau – oder im damals benachbarten,
im Krieg zerstörten Ethnologischen Museum, ausgestellt.
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 69
Botschaft in Anschlag gebracht worden sind. Der „hervorragend nationale[n]
Vorgeschichtswissenschaft“ Gustaf Kossinnas und seiner Nachfolger ging
es im ganz wörtlichen Sinne um Nation und Rasse – und um die Ausgrenzung des Fremden (d. h. Nichtgermanischen bzw. Nichtarischen) (Kossinna
1914; s. Veit 2011a). Wenn heute also vor dem Eindruck aktueller Erfahrungen in recht plumper Weise archäologische Funde gegen Nationalismus
und Ausgrenzung in Anschlag gebracht werden, so ist dies in erster Linie
ein ethisches Urteil und als solches gewiss ehrenhaft, zugleich aber wissenschaftstheoretisch naiv. Die in dieser Aussage enthaltene Unterstellung, die
archäologischen Erkenntnisse offenbarten uns unanfechtbare, quasi zeitlose
Wahrheiten, ist nicht haltbar.
Archäologie als Historische Kulturwissenschaft?
Man könnte einwenden, dass es sich im vorstehenden Beispiel ja nur um
eine fachpolitische Stellungnahme handele, die nicht unbedingt typisch für
die im Fach etablierte erkenntnistheoretische Praxis sei. Dies ist jedoch nicht
der Fall. Denn es lässt sich leicht aufzeigen, dass die für eine Historische
Kulturwissenschaft nötigen erkenntnistheoretischen Anforderungen innerhalb des Faches oft selbst dort nicht erfüllt sind, wo man sich intensiv mit
erkenntnistheoretischen Problemen beschäftigt hat bzw. sich ganz explizit
auf den Begriff ‚Historische Kulturwissenschaft‘ bezieht. Statt uns allein auf
die vermeintliche (Rück-) Gewinnung historischer Wahrheiten zu konzentrieren, sollte es unser Ziel sein, einen Beitrag zu einem relationalen, auf die
Erkenntnisinteressen der Gegenwart bezogenen, aber gleichwohl empirisch
gegründeten Geschichtswissen zu leisten.
Wenn jedoch etwa Eggert (2006) im Rahmen der Darlegung seines Archäologiekonzepts den Begriff ‚Historische Kulturwissenschaft‘ verwendet, geschieht dies nicht in diesem Weber’schen Sinne. Vielmehr vertritt
Eggert hier, ebenso wie in seiner spezielleren Einführung in die Prähistorische Archäologie (Eggert 2012 [2001]), ein im Kern positivistisches Wissenschaftskonzept.40 Archäologie als Historische Kulturwissenschaft ist
für ihn, auch wenn sie wesentlich rekonstruktiv verfährt, tendenziell ‚generalisierend‘ – im Gegensatz zu ‚individualisierend‘ wie im Historismus.
40 Bisweilen finden sich konstruktivistische Elemente, etwa im Beitrag Die Vergangenheit im Spiegel der Gegenwart (Eggert 2010, 47), wo auf die einschlägigen
Ausführungen Reinhart Kosellecks Bezug genommen wird. Die Ausführungen
bleiben jedoch für die konkreten Handlungsanweisungen etwa in Eggerts Facheinführungen folgenlos.
70 — Ulrich Veit
Der Begriff ‚historisch‘ kennzeichnet für Eggert lediglich die Tatsache,
dass die untersuchten Geschehnisse der Vergangenheit angehören und für
den bzw. die ForscherIn entsprechend nicht mehr direkt beobachtbar sind.
Sie können aber im Idealfall unter Einhaltung bestimmter methodischer
Grundregeln und unter Rückgriff auf allgemeine Prinzipien rekonstruiert
werden.41
Dagegen steht Historische Kulturwissenschaft im Weber’schen Sinne – und in Abgrenzung zu einer besser als ‚positivistisch-vergleichend‘
zu qualifizierenden Kulturwissenschaft im Sinne Eggerts – für einen Ansatz, der von einer grundsätzlichen und methodisch nicht hintergehbaren
Historizität all dessen ausgeht, was an einem bestimmen Ort und zu einem
bestimmten Zeitpunkt ‚Kultur‘ ausmacht.42 Indem er sich von der Vorstellung des ‚ewigen Menschen‘ im Sinne eines (kultur-)anthropologischen
Universalismus (s. Veit 2023) entschieden distanziert, steht er dem älteren
Projekt einer ‚Historischen Anthropologie‘ nahe.43 In radikalisierter Form
41 „Heutzutage gehen Archäologen angesichts der Vielfalt der Kultur davon aus,
dass zwar die konkrete Ausformung der zugrunde liegenden, kulturell prägenden
gesellschaftlichen Wirkkräfte variabel ist, diese Wirkkräfte als solche aber über
die Zeit hinweg relativ unverändert bleiben“ (Eggert – Samida 2013 [2009], 123).
Dies erlaube es gerade der Prähistorischen Archäologie, das Prinzip des analogischen Deutens zu nutzen, um Einsichten in die historische Verfasstheit prähistorischer Gemeinschaften zu generieren (Eggert 2012 [2001], 344–381).
42 In wiederum anderer Weise, nämlich ganz konkret anwendungsorientiert, wird
der Begriff ‚Historische Archäologie‘ bei Barbara Scholkmann, Hauke Kenzler
und Rainer Schreg (Scholkmann u. a. 2016, 11) konzeptualisiert. Hier steht er für
ein „Orientierungswissen über den Menschen, die Gesellschaft und ihre Umwelt
in einer langfristigen Perspektive“. Schreg 2010 ist trotz des Titels in diesem
Punkt nicht weiterführend.
43 Siehe Tanner (2004, Kap. 6), der den Bezug zu einer ‚Symmetrischen Anthropologie‘ (Michel Callon und Bruno Latour) herausgearbeitet hat. Seine Programmatik ist auch vor dem Hintergrund der Situation der archäologischen Fächer verständlich und einleuchtend: „Da, wo ‚Kulturkreise‘ oder Religionen bisher in ihrer
Binnenkohärenz und ihrer symbolischen Autarkie analysiert wurden, zeigen sich
nun wichtige Elemente einer shared history, einer geteilten Geschichte, die durch
Kulturtransfers, durch interkulturellen Austausch und durch Transkulturation
geprägt wurde. Es lassen sich zudem vergleichbare Deutungsmuster und Reaktionsmechanismen auf soziale Problemlagen erkennen, die in ihrer Wahrnehmung
allerdings wiederum kulturell codiert sind, so dass sie aus der jeweiligen Binnensicht kaum aufeinander bezogen werden können. Der experimentelle Umgang
mit theoretischen Zugängen, die Veränderung von Beobachtungsmaßstäben und
-standpunkten sowie der Perspektivenwechsel nach außen und nach innen und
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 71
findet sich dieses Denken unter anderem bei Foucault und für die Altertumsforschung daran anknüpfend bei Paul Veyne (1990; 1992).44 Letzterer
besteht darauf:
„Der Mensch hat einen ‚Willen zur Macht‘, zur Aktualisierung, der unbestimmt ist: er sucht nicht das Glück; er hat keine Liste bestimmter
Bedürfnisse, die zu befriedigen wären, wonach er dann ruhig auf einem
Stuhl zu Hause sitzen bliebe. Er ist ein aktualisierendes Tier und realisiert alle möglichen Virtualitäten, die ihm unter die Hand kommen.“
(Veyne 1992, 42)
(Prähistorische) ArchäologInnen sind, wie die meisten HistorikerInnen, geneigt, die Erscheinungen, die sie beobachten, von bestimmten historischen
Allgemeinbegriffen her verstehen zu wollen. Dabei ignorieren sie gewöhnlich die Einsicht, dass „diese Dinge letztlich nur das Korrelat entsprechender
Praktiken sind“ (Veyne 1992, 42). Daher sind auch sie – mit Veyne – aufgefordert, „die Leute nach ihren Handlungen [zu] beurteilen und die ewigen Trugbilder, die die Sprache in uns erweckt, aus dem Weg [zu] räumen“
(Veyne 1992, 22). Dies stellt all jene Bemühungen in Frage, die die Aufgabe
der Theorie v. a. darin sehen, auf inner- wie auf überfachlicher Ebene ein
unanfechtbares, überzeitliches System an Fachbegriffen zu etablieren. Dazu
versuchen sie jene ‚historischen Begriffe‘, mit denen unser Fach zwangsweise zu arbeiten gezwungen ist, möglichst von all ihren umgangssprachlichen
Anhaftungen zu befreien, um auf diese Weise ihren überzeitlichen Gehalt
freizulegen. In diesem Sinne wird beispielsweise aus dem voraussetzungsreichen Begriff ‚Stadt‘ das farblose Wort ‚Zentralort‘ (s. Kolb 2007). Eine andere
wieder zurück bieten bisher wenig ausgeschöpfte Möglichkeiten für historischanthropologische Untersuchungen. Dasselbe gilt für die Analyse der medialen
und soziotechnischen Systeme, welche die Bedingungen für die menschliche Lebensführung verändern und die kommunikative Interaktion im globalen Maßstab beschleunigen. Aus der Sicht der symmetrischen Anthropologie geht es hier
weder um den Nachweis eines technischen Selbstlaufes noch um die Darstellung
menschlicher Werkzeugentwicklung. Vielmehr stellt sich die Aufgabe, die entstehenden und sich rhizomartig ausbreitenden Netzwerke zu analysieren. Diese
kommen durch die Verbindung und Vermischung natürlicher Eigenschaften und
kultureller Fähigkeiten zustanden, was diese Unterscheidung zugleich auflöst“
(Tanner 2004, 184–185).
44 Bernbeck (2018, 17–19), als einer der wenigen archäologischen Kommentatoren,
scheint Foucaults Thesen entradikalisieren zu wollen, indem er dessen Werk für
eine alte Form der Anthropologie zu vereinnahmen sucht – und sich zugleich auf
Gadamers Hermeneutik beruft.
72 — Ulrich Veit
verbreitete Option ist es, historische Begriffe dadurch zu entschärfen, dass
man sie nur noch in Anführungszeichen als bloße termini technici verwendet
(z. B. ‚Fürstensitz‘). Dies mag kurzfristig helfen, auf einseitige Lesungen und
sich dadurch ergebende implizite Bedeutungsübertragungen aufmerksam zu
machen. Es entbindet uns indes nicht von unserer Aufgabe, genau hinzusehen, in welcher Weise bestimmte historisch lokalisierbare Praktiken bestimmte Diskurse konstituiert haben.
Es wäre vermessen, an dieser Stelle die praktischen Konsequenzen, die
sich mit der angedeuteten Umorientierung für die konkrete Forschungspraxis ergeben, im Einzelnen ausloten zu wollen. Klar ist aber schon jetzt,
dass es eine solche Neupositionierung nicht umsonst geben wird. Vielmehr
brächte sie gravierende Konsequenzen für die Beurteilung dessen mit sich,
was im Fach als zulässige Methodik gelten kann. Durch sie würden v. a. all
jene Verfahrensweisen unter Verdacht gestellt, die – ebenso wie die amerikanische New Archaeology (s. Binford 1989 mit weiteren Belegen) – auf uniformitaristisches Denken bzw. das aktualistische Prinzip bauen. Dabei handelt
es sich um Elemente, die schon bei der Begründung des Faches im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielten und die bis heute tief in unseren methodologischen Grundüberzeugungen verankert sind.
Dazu gehört nicht zuletzt das heuristische Prinzip der ‚ethnographischen
Analogie‘ (s. Veit 2019; 2020a). Vor dem neuen epistemologischen Hintergrund verböten sich einfache Analogieschlüsse zwischen unterschiedlichen
kulturellen Kontexten im Sinne einer Anwendung uniformitaristischer Prinzipien. Das neue Paradigma schlösse dadurch den interkulturellen Vergleich
als methodologisches Prinzip zwar nicht grundsätzlich aus, es würde aber die
Anforderungen, die an solche Vergleiche zu stellen sind, deutlich erhöhen.
‚Analogieschlüsse‘ könnten nicht länger als selbsterklärend genommen werden, sie wären allenfalls als Teil einer voraussetzungsreichen und komplexen
kulturwissenschaftlichen Modellbildung noch statthaft.
Zugleich müsste der Fokus unserer Untersuchungen sehr viel stärker
auf die technischen, medialen und materiellen Voraussetzungen ausgerichtet werden, unter denen sich frühe menschliche Gemeinschaften jeweils
organisiert haben. Dadurch wiederum verlöre die alte Leitdifferenz schriftlich / nichtschriftlich (entsprechend der Unterscheidung von ‚historisch‘
und ‚prähistorisch‘) endgültig die zentrale Bedeutung, die sie in der Prähistorischen Archäologie bis heute merkwürdigerweise besitzt. Wir wären
gezwungen, unser Fach bis zu einem gewissen Grad neu zu erfinden. Das
ist eine Herausforderung, aber zugleich auch eine Chance, die wir ergreifen
sollten. Denn angesichts der Verflochtenheit des Faches mit dem weiteren
Wissenschaftssystem dürfte ein ‚weiter wie bisher‘ auf lange Sicht ohnehin
keine Option sein.
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 73
Ein kurzes Fazit
Ziel des vorstehenden Beitrags war es nicht, das Programm einer sich als
Kulturwissenschaft verstehenden (Prähistorischen) Archäologie auszuformulieren. Auch ging es mir nicht darum, die Prähistorische Archäologie im
Rahmen der Kulturwissenschaften genauer zu verorten und Regeln zur Form
der inter- bzw. transdisziplinären Zusammenarbeit zu definieren (Wodtke
2013). Letzteres wäre ohnehin nur unter Missachtung der wissenschaftsgeschichtlich gewachsenen Strukturen auf dem Verordnungsweg möglich.
Stattdessen habe ich versucht, die Genese des letztlich der europäischen Aufklärung verpflichteten, inzwischen in die Jahre gekommenen Projekts einer
‚Wissenschaft von der Ur- bzw. Vorgeschichte‘ aus einer breiteren kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus in den Blick zu nehmen. Dabei war
es mir wichtig, nicht dem Essentialismus einer affirmativen Fachgeschichte
zu erliegen, d. h. von der schrittweisen Verwirklichung einer von Beginn an
existierenden Leitidee auszugehen. Denn die betreffende Entwicklung ist –
anders als manche ArchäologInnen meinen – weder naturwüchsig noch allein aus sich selbst heraus zu verstehen. Vielmehr offenbart ein distanzierter
Blick auf die Genese des betreffenden Forschungsfeldes neben bestimmten
Eigenheiten auch zahlreiche Gemeinsamkeiten mit anderen Forschungsfeldern. Dies gilt insbesondere für die lange vorwissenschaftliche Periode. Aber
auch im 19. Jahrhundert entwickelte sich die junge Wissenschaft – trotz allen
Ringens um Eigenständigkeit – im Rahmen des seinerzeit verbreiteten positivistischen Denkens noch im Gleichschritt mit zahlreichen anderen Wissensfeldern, einschließlich demjenigen einer allgemeineren Kulturgeschichte
(dazu Veit 2006b).
Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich hier ein Bruch erkennen.
Während die ganz überwiegend männlichen Akteure auf diesem neuen Forschungsfeld – bei gleichzeitiger zunehmender Politisierung der Debatte – im
Kern am positivistischen Fundament des aufstrebenden Faches festhielten,
verpassten sie zugleich den Anschluss an die, ebenfalls überwiegend männliche, kulturwissenschaftliche Avantgarde der Epoche (von Walter Benjamin
bis Max Weber) – und verbauten sich retrospektiv betrachtet auf diese Weise
zugleich für lange Zeit den Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft
(Veit 2023).
Die (fach-)politischen Auswirkungen und Konsequenzen dieser Entwicklungen sind inzwischen gut erforscht (z. B. Leube 2002), ihre methodologischen und theoretischen Konsequenzen für das Fach dagegen sind – auch
nach mehreren Jahrzehnten explizitem Theoriediskurs – hingegen noch
kaum angemessen aufgearbeitet worden. Dabei verschleiert die in diesem Zusammenhang häufig bemühte Formel vom ‚Kossinna-Syndrom‘ der
74 — Ulrich Veit
deutschen Vorgeschichtsforschung den betreffenden Sachverhalt mehr, als
dass sie ihn erklärt. Denn diese griffige Formel hat, jenseits der Intentionen
ihres Schöpfers Günter Smolla (1979/1980),45 eine spezifische Auslegung erfahren, die der tatsächlichen Entwicklung nicht gerecht wird. Nach dieser
Auslegung hätte der Untergang des Dritten Reiches – und damit auch der
Ideen Kossinnas – den Positivismus der deutschsprachigen Prähistorie im
Sinne einer Art von Ideologieflucht begründet.46 Davon kann bei näherem
Hinsehen jedoch keine Rede sein. Vielmehr hat sich an den epistemologischen Prinzipien der deutschsprachigen Urgeschichtsforschung mit dem
Ende des Zweiten Weltkriegs nichts Entscheidendes verändert. Abgekoppelt
von modernen kulturwissenschaftlichen Strömungen folgte man vielmehr
weiterhin den eingefahrenen Bahnen – wenn auch unter tunlichster Vermeidung von Statements, die als ein Beitrag des Faches zur gesellschaftlichen
Debatte hätten verstanden werden können.47
Und diese Feststellung bezieht sich nicht nur auf die unmittelbare Nachkriegszeit, sondern lässt sich für weite Bereiche des Faches bis in die Gegenwart verlängern. Wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden wir im
fachlichen Diskurs auch gegenwärtig v. a. Positionen, die in unterschiedlicher Art und Weise altbekannte Elemente von Positivismus und Historismus miteinander zu verbinden suchen. Wieder lauter geworden sind indes
Stimmen, die auf diese Weise Fragen der Wissenschaftlichkeit wieder stärker
mit Fragen gesellschaftlicher Relevanz zu verbinden suchen (z. B. Wemhof –
Rind 2018). Dabei wird nicht zuletzt auch der überkommene Topos historia
magistra vitae wieder bemüht.48
45 Smolla ging es vornehmlich darum, Kossinna von seinem postum erworbenen
Image als ‚Heros‘ bzw. ‚böser Geist‘ des Faches zu befreien und ihn nachträglich
wieder als einen durchaus ‚normalen‘ Gelehrten seiner Zeit sichtbar werden zu
lassen. Den Begriff ‚Kossinna-Syndrom‘ bezog er auf die Unfähigkeit der Nachkriegsforschung, sich zu so einer entsprechenden Versachlichung der Debatte
durchzuringen (Smolla 1979/1980, 6, s. auch Smolla 1984/1985).
46 So zuletzt erneut Georg Koch (2016, 121), der zugleich einen Zusammenhang mit
einer vermeintlichen neuen Bilderfeindlichkeit des Faches herstellt.
47 Selbst in der Deutschen Demokratischen Republik, in der Geschichte in viel direkterer Weise als in der Bundesrepublik als gesellschaftlich relevant galt, beließ
man es mehrheitlich bei kurzen Referenzen auf die Klassiker des Historischen
Materialismus – und folgte ansonsten der traditionellen Forschungspraxis. Dies
ist aus Gründen der weitgehenden personellen Kontinuität auch nicht anders zu
erwarten gewesen. Trotzdem befeuerte man auch schon mit solchen begrenzten
ideologischen Bekenntnissen die westliche Systemkritik (Narr 1966; 1990).
48 Dies ist aber eher eine Reaktion auf die Folgen des Neoliberalismus und der Gefährdungen, die daraus für die Geisteswissenschaften erwachsen sind, als ein Hinweis
Prähistorische Archäologie als Historische Kulturwissenschaft — 75
Die generelle Situation im Fach spiegelt sich auch in der Theoriedebatte, in der man sich seit einiger Zeit ebenfalls wieder politischer gibt (z. B.
Burmeister 2005). Zugleich scheut man aber vielfach ‚postmoderne‘ Zugänge und orientiert sich stattdessen weiterhin v. a. am traditionellen Bild
der Prähistorischen Archäologie als Geisteswissenschaft (z. B. Eggert 2006;
Gleser 2018). Wo entsprechende Gedanken dennoch Eingang in den Fachdiskurs fanden, blieben die Erörterungen entweder sehr abstrakt (z. B. Holtorf
2007; Veling 2019) – oder die AutorInnen haben sich vom ursprünglichen
Forschungsfeld des Faches verabschiedet. Erinnert sei in diesem Zusammenhang beispielsweise an die expandierenden Bereiche der ‚zeitgeschichtlichen
Archäologie‘ (z. B. Bernbeck 2017) bzw. der ‚ethnographischen Archäologie‘
(Hamilakis – Anagostopoulos 2009). Insofern wäre es überzogen, mit Bezug
auf die Prähistorische Archäologie (speziell des deutschsprachigen Raumes)
heute schon von einer Historischen Kulturwissenschaft im strengen Sinne
sprechen zu wollen. Mit meinen knappen Andeutungen zu einem solchen
Konzept möchte ich eine weiterführende Diskussion über die epistemologischen Grundlagen der Prähistorischen Archäologie anregen, die dieses
traditionsreiche Projekt wieder stärker in Kontakt zu aktuellen philosophisch-kulturwissenschaftlichen Debatten bringen könnte. Wohin uns das
diskursiv – aber auch in der Praxis – führt, wird die Zukunft zeigen. Sicher
ist allenfalls, dass das archäologische Projekt offen und unabgeschlossen
bleiben wird.
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76 — Ulrich Veit
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Kontakt
Ulrich Veit | Universität Leipzig | Historisches Seminar | Professur für Urund Frühgeschichte | Ritterstr. 14 | 04109 Leipzig | ulrich.veit@uni-leipzig.de |
https://orcid.org/0000-0002-4060-1199
Über die Entnazifizierung der deutschen
Prähistorischen Archäologie
Susanne Grunwald
Zusammenfassung Ausgehend von Untersuchungen zur Reorganisation
der Prähistorischen Archäologie in Deutschland nach 1945 wird im Beitrag
beschrieben, wie nach dem Kriegsende 1945 auf die deutsche Prähistorische
Archäologie als wissenschaftliche Disziplin, vor allem aber auf die einzelne
Archäologin oder den einzelnen Archäologen als Teil einer scientific community geblickt wurde und welche juristischen, moralischen und wissenschaftlichen Gebote und Gesetze dabei formuliert, befolgt und umgangen wurden. Mit
dieser Beschreibung soll eine Erklärung dafür geliefert werden, warum sich in
den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland ein
Fachverständnis von Prähistorischer Archäologie etablierte, das dann ab den
1980er Jahren als theorieabstinent bezeichnet wurde.
Schlüsselbegriffe Prähistorische Archäologie; Nachkriegsdeutschland;
Entnazifizierung
Abstract Based on studies of the reorganisation of prehistoric archaeolo-
gy in Germany after 1945, this article examines how German prehistoric archaeology was viewed as a scientific discipline following the end of the war
in 1945. Above all, it is concerned with how individual archaeologists were
considered to be part of a scientific community, and which legal, moral, and
scientific rules and laws were formulated, followed, and circumvented in that
valuation. This examination seeks to explain why a specialised understanding
of prehistoric archaeology was established in Germany in the decades after
the end of the Second World War, which has been described as theory abstinent from the 1980s onward.
Keywords Prehistoric Archaeology; Post-war Germany; Denazification
Susanne Grunwald, Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie, in:
Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1.
Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1
(Heidelberg 2023) 83–128. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15024
83
84 — Susanne Grunwald
Einleitung
Ursprünglich wollte ich unter dem Titel Warum es keinen Zusammenhang
zwischen Entnazifizierung und Theorieabstinenz der deutschen Prähistorischen
Archäologie gibt aus Sicht der deutschsprachigen kritischen Wissenschaftsgeschichte der Prähistorischen Archäologie genau diese, meine Meinung begründen. Im Austausch mit kritischen Erstleserinnen und Erstlesern dieses
Beitrages wurde mir jedoch dreierlei klar: Erstens waren die Beiträge von
Günter Smolla, Heinrich Härke und Sabine Wolfram,1 auf die sich bis heute
für die meist nur diffus behauptete Verflechtung zwischen deutscher Theoriefeindlichkeit und mangelhafter Entnazifizierung des Faches nach 1945 bezogen wird (zuletzt Meier 2019, 1–2), seinerzeit weniger als wissenschaftsgeschichtliche Analysen, sondern vielmehr als Gegenwartsdiagnosen vor dem
Hintergrund von Erfahrungen mit der angloamerikanischen Prähistorischen
Archäologie gemeint und sind bis heute so zu verstehen.
Zweitens fehlt es mir hinsichtlich der deutschen Theorieabstinenz oder
der angloamerikanischen Theorieaffinität vorläufig noch an einer handhabbaren definitiven Unterscheidung in ‚Theoriediskussion‘ und ‚Methodenund Quellenkritik‘. Während sich in allen europäischen Archäologien und
auch in der deutschsprachigen besonders seit den späten 1920er Grundlegungen zur archäologischen Methoden- und Quellenkritik nachweisen
lassen, setzten Theoriediskussionen, wie sie zum Beispiel in der AG Theorien in der Archäologie e. V. gepflegt werden, in Großbritannien erst in
den frühen 1970er Jahren ein und wurden wiederum erst mit zeitlichem
Verzug in Deutschland rezipiert (Eggert – Veit 1998). Ungeachtet dieser
Unschärfe kann aber nach gegenwärtigem wissenschaftsgeschichtlichem
Forschungsstand konstatiert werden, dass sich bis 1945 weder ein theoretischer Debattenbedarf aufgestaut hatte, noch dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus die theoretische Verfasstheit
der deutschen Prähistorischen Archäologie zur Debatte stand oder ihr Vorgaben für die zukünftige Arbeit auferlegt wurden.
Schließlich ist mir drittens klar geworden, dass es uns und mir an Routinen dafür fehlt, das stets komplexe Verhältnis von Archäologie und wissenschaftlicher Moral zu beobachten und zu beschreiben, und – darin sehe
ich eine Aufgabe der kritischen Wissenschaftsgeschichte – daraus Positionen und Perspektiven für gegenwärtiges und zukünftiges Forschungshandeln abzuleiten. In keinem mir bekannten biografischen Fall und bei keinem mir bekannten Forschungsprojekt sind die Dualismen Opfer / Täter,
1
Smolla 1979/1980; 1984/1985; Härke 1990a; 1990b; 1991; 1994; 2000a; 2000b; Halle –
Schmidt 1999; Wolfram 2000; Wolfram – Sommer 2003.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 85
Nazi / Demokrat, wissenschaftlich / unseriös ausreichend, um Forschungshandeln, Publizistik oder institutionelles Engagement zu beschreiben und
historisch einzuordnen. Vielmehr vernebeln diese Dualismen, so mein Eindruck, die Sicht auf die Fachgeschichte und haben langfristig dazu geführt,
dass individuelle Moral geringer geschätzt und verteidigt wird als z. B. Engagement für den institutionellen Erhalt des Faches über politische Zäsuren
oder Krisen hinweg, was per se als Hingabe an eben dieses Fach gewürdigt
wird, ungeachtet der moralischen oder politischen Grenzen, die dafür überschritten wurden oder werden.
Als Maßnahmen gegen solchen Routinen- und Definitionsmangel und
gegen stereotype Kolportage von Dualismen bieten sich meiner Meinung
nach wissenschaftsgeschichtliche Aufklärung und Debatte über Vereinsgrenzen hinweg an. Deshalb habe ich einem meiner geschätzten Erstleser
widersprochen und diesen wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag für den vorliegenden Theorie-Band eingereicht, eben weil Wissenschaftsgeschichte kein
Selbstzweck ist oder theoretische Fragen nur theorieaffine Kolleginnen und
Kollegen betreffen, sondern weil sie im Austausch mit allen Bereichen einer
Disziplin zu deren verantwortungsbewusster Weiterentwicklung beitragen
können.2
Zur Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Entnazifizierung und der weiteren Fachentwicklung kann heute mehr beigetragen
werden als vor dreißig Jahren. Inzwischen sind viele der ‚Hausaufgaben‘ angegangen worden, welche die genannten Archäologinnen und Archäologen
seinerzeit zu recht formuliert hatten (Haßmann 2000, 65).
Der inzwischen erarbeitete Forschungsstand legt erstens nahe, dass die
fachlichen Positionen und Entscheidungen in den Jahren zwischen 1933 und
1945 nicht ohne die in den 1920er Jahren erfolgten fachpolitischen, inhaltlichen und methodischen Weichenstellungen mit ihren gesellschaftlichen,
sozialen, politischen und ökonomischen Implikationen sinnvoll beschrieben
und erklärt werden können (so auch Gramsch 2006; Mante 2007). Zweitens
wurde inzwischen deutlich, dass Wissenschaft nur sinnvoll beschreibbar ist,
wenn man Forschung und Forschende in Raum, Zeit und Themen verortet
und wenn man dafür von den Strukturen spricht, innerhalb derer geforscht
wird.3
2
3
Für Kommentare und Anregungen danke ich Matthias Heuer, Katja Rösler, Gunter
Schöbel und Ulrich Veit herzlich!
Stellvertretend zum zeitweilig vorherrschenden biografischen Zugriff auf die Fachgeschichte: Steuer 2001; Leube 2002; Mahsarski 2011; dagegen diskursgeschichtlich: Rieckhoff u. a. 2009; Link 2014; Grunwald 2019.
86 — Susanne Grunwald
Es sind inzwischen verschiedene regional formatierte Forschungen und
Forschungstraditionen erkennbar und auch die Begründungen dafür erarbeitet worden, warum einzelne Forschungstraditionen oder Archäologieformate einflussreicher sind als andere, warum sie zeitweilig prägend sind
oder keine Anwendung finden (Haspel – Menghin 2006; Kunow u. a. 2013).
Diese Rahmenbedingungen, die also archäologische, politische und forschungsinstitutionelle Strukturen einschließen, entscheiden mit darüber,
welches Set aus Fragestellungen, Methoden, Konzepten und Fachsprache
mit welcher Reichweite und Dauer gebräuchlich wird und gebräuchlich
bleibt oder eben abgelöst wird durch ein neues. Erst damit ist erklärbar,
warum in einer Forschungsregion z. B. im Nationalsozialismus eine archäologische Konjunktur nachweisbar ist, während es in anderen Regionen vergleichsweise ‚ruhig‘ blieb.4
Zur Entwicklung solcher Forschungsregionen tragen personelle Netzwerke und die Karrierewege Einzelner, Zitierkartelle und Publikationen, Projekte sowie Forschungsprogramme bei und diese Zusammenhänge zwischen
dem individuellen Handeln und den konkreten Bedingungen zu konkreten
Zeitpunkten in konkreten Räumen zu rekonstruieren, scheint mir der beste
Weg, um fachgeschichtliche Entwicklungen zu beschreiben. Zu diesen konkreten Bedingungen zähle ich auch das zeitgenössische politische System
in Gestalt der politischen Ordnung,5 aber auch der Regulierung der Bodendenkmalpflege, und die Beziehung der oder des Einzelnen6 dazu z. B. durch
Parteimitgliedschaften und politische Ämter oder ihre bzw. seine Position zu
militärischer Befehlsgewalt. Es waren weitgehend diese Bedingungen, die in
den Entnazifizierungsverfahren evaluiert wurden (s. u.). Zu diesen konkreten
Beziehungen zähle ich aber auch die weltanschaulichen Normen und Werte,
die der oder die Einzelne als Teil seiner oder ihrer scientific community mit
anderen teilte. Nach gegenwärtigem Forschungsstand zählen – für die uns
hier interessierenden Akteure im frühen 20. Jahrhundert – dazu das evolutionistische Konzept, eine eurozentristische Perspektive, Antirepublikanismus, das ‚Führerprinzip‘, Antisemitismus, Rassismus und der deutschnationale Konsens zu ‚nationalem Aufbau‘ sowie der Revision der Ergebnisse des
4
5
6
Halle 2002; 2006; 2007; Grunwald 2017b.
Bezogen auf die Archäologie im Nationalsozialismus nannte Bruce Trigger das
Verständnis der ökonomischen und politischen Faktoren die „ultimate academic
challenge“ (Trigger 2001, 12).
Die Autorin gebraucht im Folgenden mit weiblichen Bezeichnungen historisch
belegte Frauen und mit männlichen Bezeichnungen historisch belegte Männer.
Sofern z. B. nur männliche Vertreter einer Gruppe bekannt sind, gebraucht sie
folgerichtig nur die männliche Form.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 87
Ersten Weltkrieges bis hin zu einer ‚Neuordnung‘ Europas (Wagner 2010;
Hachtmann 2010; Frei 2018). Aber genau diese weltanschaulichen und wissenschaftlichen Positionen wurden in den Nachkriegsjahren weder in den
Entnazifizierungsverfahren thematisiert, noch, soweit wir heute wissen,
fachintern diskutiert (Smolnik 2012).
Die Auswertung dieser Positionen könnte, so möchte ich behaupten, noch
weitere Anhaltspunkte bzw. Gründe dafür liefern, warum die Prähistorische
Archäologie in Deutschland nach 1945 sich so und nicht anders entwickelt
hat. Da dafür aber aussagekräftige Quellen in hinreichender Menge bislang
fehlen, beziehe ich mich in diesem Beitrag auf meine Untersuchungen zur
Reorganisation der Prähistorischen Archäologie in Deutschland nach 1945.
Ich beschreibe im vorliegenden Artikel, wie nach dem Kriegsende 1945 auf
die deutsche Prähistorische Archäologie als wissenschaftliche Disziplin, vor
allem aber auf die einzelne Archäologin oder den einzelnen Archäologen
als Teil einer scientific community geblickt wurde und welche juristischen,
moralischen und wissenschaftlichen Gebote und Gesetze dabei formuliert,
befolgt und umgangen wurden (Grunwald 2017a; 2020; i. Dr.). Mit dieser
Beschreibung möchte ich eine Erklärung dafür liefern, warum sich in den
Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland ein
Fachverständnis von Prähistorischer Archäologie etablierte, das dann ab den
1980er Jahren als theorieabstinent bezeichnet wurde.
Deutsche Archäologie im Nationalsozialismus
Was wissen wir darüber, wie die Prähistorische Archäologie am Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges verfasst war und was davon
wussten diejenigen, die damals auf diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Kolleginnen und Kollegen blickten? Nach 1945 äußerten sich nur
sehr wenige deutsche Prähistoriker über die zurückliegenden 13 Jahre und
verbanden ihre Betrachtungen mit dem Appell, zukünftige Instrumentalisierungen der Forschung zu verhindern (Jacob-Friesen 1950). Damit wurde der
Eindruck vermittelt, fachfremde Politiker und einige sehr wenige politisch
verblendete Fachvertreter hätten durch ihre Macht Forschungen benutzt und
dadurch missbraucht, während die Mehrheit der weitgehend unpolitischen
Archäologen „ihren Aufgaben“ zugewandt blieben, also weiter forschten
(Werner 1945/1946, 81). Dieses passive Fachverständnis wurde lange kolportiert und mündete u. a. in die Beschreibungen, die Prähistorische Archäologie sei zusammen mit anderen historischen Kulturwissenschaften zu den
Legitimationswissenschaften während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus zu rechnen (Schöttler 1997). Die Forschungen der letzten
88 — Susanne Grunwald
dreißig Jahre haben aber vor allem deutlich gemacht, dass sich ein breites
Spektrum von regional spezifischen Angeboten aus der Archäologie heraus
an örtliche und regionale politische Entscheidungsträger nachweisen lässt,
die stets für beide Seiten als vorteilhaft erachtet wurden (Ash 2002). Meist
wurden Forschungen zur Erhellung bereits bestehender völkischer Narrative
angeboten (Grunwald 2009; 2012; Fehr 2010) und Einrichtungen zu deren
öffentlicher Vermittlung konzipiert.7 Auf archäologischer Seite erhoffte man
sich dadurch institutionellen Ausbau und persönliche forschungspolitische
Vernetzung sowie Anerkennung und auf lokal- oder regionalpolitischer Seite versprach man sich z. B. durch innovative Museen die Wahrnehmung als
politisch konforme, moderne Verwaltungseinheit.
Deutsche Vertreterinnen und Vertreter der Prähistorischen Archäologie waren zwischen 1933 und 1945 als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
öffentlichen Dienst an Universitäten, Museen oder Denkmalämtern sowie
bei der Römisch Germanischen Kommission (RGK) des Deutschen Archäologischen Institutes (DAI) tätig (Steuer 2001; Leube 2002). Darüber hinaus
vermittelten Archäologen als Dozenten eine politisch konforme Archäologie in der nationalsozialistischen Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern
(Haßmann 2002) oder waren in den besetzten Gebieten als Sammlungs- und
Museumsleiter oder Sonderbeauftragte für NS-konforme Forschungen oder
die Plünderung oder Zerstörung von kulturgeschichtlichen Beständen verantwortlich.8 Über ihre jeweiligen Dienstverhältnisse hinaus waren deutsche
Archäologinnen und Archäologen meist zusätzlich in weitgehend gleichgeschalteten Vereinen und Verbänden organisiert, wobei nur wenige Archäologinnen und Archäologen international vernetzt und in internationalen
wissenschaftlichen Vereinigungen Mitglied waren (Halle 2009; Grunwald –
Dworschak i. Dr.).
Sehr wahrscheinlich war die Mehrheit der in Deutschland tätigen Archäologinnen und Archäologen Mitglied der NSDAP; genaue Zahlen liegen noch
nicht vor.9 Nur wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entzogen
sich aktiv der Kooperation mit dem Nationalsozialismus oder waren durch
Exil oder Frühpensionierung offiziell ausgeschlossen, wobei letzteres aber
7
8
9
Als frühes Beispiel der musealen Vermittlung eines archäologischen Fundplatzes:
Grunwald 2017b.
Schöbel 2008; zahlreiche Beispiele in: Focke-Museum 2013.
Es ist aber eine Art personelle und institutionelle Kartei überliefert, die Auskunft
gibt über die politische Organisation zahlreicher Archäologen während des Nationalsozialismus: Denkschrift über Vorgeschichte, ca. 1939 (Bundesarchiv, ZB 1-1223,
6 Bl. 242–310; <https://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/DSVorgesch.pdf>
[10.12.2019]).
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 89
z. B. Forschungskooperationen mit der Forschungsgemeinschaft Deutsches
Ahnenerbe nicht automatisch ausschließen musste.10 Anders als heute bestand für verbeamtete Archäologen im Nationalsozialismus kein Remonstrations- oder Widerstandsrecht wie im Reichsbeamtengesetz von 1873 oder
gar eine Remonstrationspflicht.11 Vielmehr waren sie durch das Beamtengesetz von 1937 ausschließlich dem ‚Führer und Reichskanzler‘ Adolf Hitler
verpflichtet (Rux 1992). Ab 1939 waren Archäologen oft im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht für alle 18–45-jährigen Männer als Angehörige der
Wehrmacht, der SS oder von Polizeieinheiten an Kriegseinsätzen im Ausland
beteiligt oder in besetzten Gebieten tätig.
Bis Mitte der 1930er Jahre wurde fachintern aggressiv und zum Teil bedingungslos darüber gestritten, wie die Prähistorische Archäologie unter totalitären Bedingungen zentral zu organisieren sei.12 Konzipiert, aber nicht
umgesetzt, wurden dafür u. a. Erweiterungen des DAI, die das Reichserziehungsministerium unterstützte. Zudem wurden ein reichsweites Denkmalschutzgesetz, die Berufung eines Reichsantiquars und ein Reichsinstitut
für deutsche Vorgeschichte geplant und diskutiert. Tatsächlich gegründet
wurden dagegen die Abteilung Vor- und Frühgeschichte, ab Ende 1937 als
Amt für Vorgeschichte, beim Amt Rosenberg, die Abteilung Vorgeschichte
im Rasse- und Siedlungshauptamt SS sowie die Abteilung Ausgrabungen
im Persönlichen Stab des Reichsführers SS. Anfang 1938 wurden die beiden letztgenannten Abteilungen in der Forschungsgemeinschaft Deutsches
Ahnenerbe zusammengefasst. Für diese unterschiedlichen Formate, die sich
in ihren Zielsetzungen sehr ähnelten, gingen Archäologen Bündnisse mit
verschiedenen partei-, kulturpolitischen sowie militärischen Organisationen
ein, wie dem Amt Rosenberg, oder der Forschungsgemeinschaft Deutsches
Ahnenerbe unter der Leitung von Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler
(Halle 2002). Diese Bündnisse wurden bereits während des Nationalsozialismus, aber dann vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fachintern dauerhaft als schändlich, kriminell und fachlich dilettantisch (der Kreis
um Hans Reinerth) oder als ehrenhaft, legitim und fachlich hochqualifiziert
(die traditionsreichen, älteren Forschungseinrichtungen, Forschungsgemeinschaft Ahnenerbe) bewertet (Halle 2002, 21–22).
10 So erteilte die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe 1940 Gero von
Merhart einen Forschungsauftrag (Pape 2001, 69).
11 Remonstration beschreibt im Beamtenrecht die Einwände einer Beamtin oder
eines Beamten gegen rechtswidrige Dienstanordnungen oder solche, welche die
Menschenwürde verletzen.
12 Grundlegend und ausführlich: Halle 2002; zur Frage der Zentralisierung von Archäologie vor und nach 1945: Grunwald 2020.
90 — Susanne Grunwald
Ein Detail in diesen Auseinandersetzungen erscheint mir besonders
wichtig: Bei den Bemühungen, den Ehrgeiz und die institutionellen Pläne
Reinerths zu zügeln oder zu bekämpfen, wurde ihm sowohl 1931 als auch
1934 eine universitäre Position, in beiden Fällen ein Lehrstuhl für Prähistorische Archäologie („für Deutsche Vorgeschichte“) als das kleinere Übel
im Vergleich zu anderen Positionen im Fach zugebilligt (Halle 2002, 131.
243). Zugleich lässt sich für die Protagonisten, die den Zweiten Weltkrieg
überlebten, in den Auseinandersetzungen gegen Reinerth nachweisen, dass
sie in den Jahrzehnten ihres Wirkens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges
bis in die 1960er Jahre hinein ihr Engagement auf Feldforschungen und die
Arbeit in den traditionsreichen Forschungseinrichtungen DAI, RGK und den
Akademien konzentrierten und den Ausbau von universitären Strukturen
lediglich als unausweichliches Ausbildungsformat beförderten. Seit dem institutionellen Ausbau der Prähistorischen Archäologie in den 1920er Jahren
wurde das fachliche Selbstverständnis auf Feldforschungen und in der Denkmalpflege sowie deren Koordination durch machtvolle Institutionen ausgerichtet. Die Universitäten wurden vorrangig als Orte der Berufsausbildung
von Fachkräften verstanden und waren, wie mir scheint, in ihrer habituellen
Bedeutung den großen Museen, vor allem aber der RGK und dem DAI nachgeordnet; Untersuchungen zu diesen möglicherweise entscheidenden Wertigkeiten stehen noch aus.
Zwischen dem Beginn des Nationalsozialismus mit seinem auch für die
Prähistorische Archäologie nachweisbaren Ämter- und Kompetenzchaos
sowie der Ausrichtung der Forschungsförderung auf kriegsrelevante Forschungen ab 1937 (Wagner 2010, 189) und schließlich dem Kriegsbeginn am
1. September 1939 fanden nur wenige Ausgrabungen und Forschungsprojekte statt.13 Für die Museumsneuaufstellungen und -gründungen sowie zahlreiche Ausstellungen ist in hohem Maße eine ideologische Ausrichtung am
Nationalsozialismus nachzuweisen.14 Dagegen sind die wenigen Ausgrabungen und Forschungsprojekte mehrheitlich auf ältere, in die Weimarer Republik zurückreichende Konzeptionen und erste Kampagnen zurückzuführen,
die durch völkische oder nationalsozialistische Bezugnahmen ideologische
Konformität und dadurch Förderwürdigkeit signalisierten. Darin liegt ein
wesentliches Argument gegen die Behauptung, eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus allein könne Erklärungen für die methodische Verfasstheit
und die Ziele der Prähistorischen Archäologie nach 1945 liefern, denn diese
13 Vgl. für die Forschungen durch die Notgemeinschaft / Deutsche Forschungsgemeinschaft: <https://gepris-historisch.dfg.de/>.
14 Zum Freilichtmuseum Unteruhldingen: Schöbel 2008; zum Freilichtmuseum
Oehlinghausen: Banghard 2015b; 2018.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 91
wurde vor allem Ende der 1920er Jahre in den meisten Forschungsregionen
spezifisch ausformuliert. Aber angesichts der Weltwirtschaftskrise fehlte es
vielerorts an entsprechenden Mitteln für ihre Umsetzung und so setzte mit
dem Beginn des Nationalsozialismus ein vielfach skrupelloses Anbiedern mit
Hilfe von älteren Projektideen und Forschungsperspektiven gegenüber den
dafür geeignetsten Förderern und Strukturen ein.
Aus heutiger Sicht lassen sich diejenigen umfangreichen Ausgrabungsund Forschungsprojekte, die im Nationalsozialismus Aufmerksamkeit generierten und nach 1945 als wissenschaftliche Glanzleistungen kommuniziert
wurden, einteilen in 1) „Grenzland“15-bezogene Projekte, mit denen in umstrittenen Grenzgebieten alter germanischer oder deutscher kulturpolitischer
Einfluss nachgewiesen werden sollte,16 2) überregionale Inventarisationsprojekte, die zum Teil auf militärisch besetzte Gebiete erweitert wurden,17 und
3) Projekte zur frühen deutschen Stadtentwicklung und frühen deutschen
Kaiserzeit, besonders zur Dynastie der Ottonen, welche von einflussreichen
Vertretern der SS verehrt wurde (Halle 2005; 2007). Dass die Mehrheit dieser
Projekte durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe gefördert wurde, geriet nach
1945 dank dreier Narrative rückwirkend zum wissenschaftlichen Gütesiegel
für die Projektmitarbeiter, die geförderten Forschungsthemen und die angewendete Methodik. Indem man bei der DFG auch während des Nationalsozialismus an einer Art Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft festhielt und
dafür behauptete, streng in seriöse Wissenschaft und politische Agitation zu
unterscheiden, blieben DFG-Förderungen ein Garant für akademische Reputation. Zweitens wurde die ab 1937 vom Reichsforschungsrat, der von der
DFG die Förderung von naturwissenschaftlichen, medizinischen und ingenieurswissenschaftlichen Projekten übernahm, vertretene Hierarchisierung
von Grundlagenforschung, Zweckforschung und technische Entwicklung
(Wagner 2010, 187–188) nach 1945 auch zu einem Maßstab für die Prähistorische Archäologie. Er half dabei, ausgewählte Projekte aus der Zeit des
Nationalsozialismus als unpolitische Grundlagenforschung beschreiben zu
15 Zum Grenzland-Begriff in der Kulturgeographie der Weimarer Republik und des
Nationalsozialismus: Grün 2017; in der sog. Ostforschung: Krzoska 2017; in der
sog. Westforschung: Müller – Freund 2017.
16 Ausgrabungen von Haithabu (Mahsarski 2011; Maluck 2017); Ausgrabungen in
Zantoch (Grunwald 2009; 2012; 2017b); Forschungen in Ostpreußen (Goßler –
Jahn 2019).
17 Forschungen zur Megalithik im besetzten Frankreich (Perschke 2014); Projekte
im besetzten Norwegen (Schülke 2012; Mahsarski 2011); südwestdeutsche Ringwallforschung (Grunwald 2016).
92 — Susanne Grunwald
können. Dieses Verständnis von unpolitischer, anerkannter und geförderter
Wissenschaft wurde schließlich drittens auch in den 1930er Jahren zur Abgrenzung gegenüber der völkischen archäologischen Laienforschung eingesetzt oder um die Qualität der Forschungsprojekte und die wissenschaftliche
Integrität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Amtes Rosenberg und
der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe zu vergleichen (Halle
2002). Nach 1945 galten diese Unterscheidungen weiterhin.18
Die Außenwahrnehmung deutscher Archäologinnen
und Archäologen im Nationalsozialismus
Dieses Spektrum an Strategien, Projekten und Positionen im Nationalsozialismus und im wissenschaftlichen Feld beobachteten zwischen 1933 und dem
Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945 sehr unterschiedliche Akteursgruppen. Die eigenen Kollegen und Kolleginnen in Deutschland und im Exil,
die Fachvertreterinnen und Fachvertreter im Ausland, Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler benachbarter Fächer im Ausland sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Forschungsförderung. Mit dem Kriegsende entstand eine zusätzliche Beobachtergruppe aus deutschen und alliierten Verwaltungsbeamten und Juristen. Nur sie entwickelten konkrete Kriterien und
Maßnahmen, um das Verhalten von Archäologinnen und Archäologen während des Nationalsozialismus zu beurteilen und gegebenenfalls zu ahnden.
Sie setzten den Beschluss der Alliierten um, der auf der Konferenz von Jalta
im Februar 1945 für eine Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung gefasst
worden war. In Prüfverfahren sollte zwischen Mitläufer und NS-Verbrecher
unterschieden werden, um damit die Grundlage für den gesellschaftlichen
Wiederaufbau in Deutschland zu legen. In Hinblick auf die Archäologinnen
und Archäologen wurde in diesen Verfahren mehrheitlich deren Verhalten
während des Nationalsozialismus in Deutschland begutachtet, während Mitgliedschaften in militärischen Strukturen und die Teilnahme an militärischen
Einsätzen überwiegend unberücksichtigt blieben und fachinterne Debatten
überhaupt keine Rolle spielten (s. u.). Seitens der begutachteten Archäologinnen und Archäologen reichten die Reaktionen auf die Verfahren von Einsicht
in ein notwendiges Übel bis zu Ablehnung und Empörung; eine Gelegenheit
zur Auseinandersetzung miteinander oder über fachinternen Entwicklungen
sah darin niemand (Grunwald 2020).
18 Noch Reinhard Bollmus und Michael Kater folgten in den 1970er Jahren diesem
Narrativ (Kater 1997; Bollmus 2002; Halle 2002, 21–22).
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 93
Was von den Alliierten einvernehmlich beschlossen worden war, wurde
in den verschiedenen Besatzungszonen unterschiedlich umgesetzt. Die ursprüngliche moralische Maximalforderung – die Bestrafung nicht nur hochrangiger Regierungs- und Militärangehöriger, sondern auch Mitverantwortlicher in der Bürokratie oder in der NSDAP – wurde nirgendwo erfüllt,19
da solch radikales Vorgehen dem Aufbauplan eines funktionsfähigen Staates
entgegenzustehen schien.20 Auf die regional diverse Prähistorische Archäologie im Nationalsozialismus traf also ein regional diverses Entnazifizierungssystem. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) hatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst ein ‚anfänglicher Rigorismus‘ geherrscht,
der zum irreversiblen Ausschluss von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern
in den Bereichen Bildung, Justiz und Innere Verwaltung führte (Nawroth
2004/2005; Leube 2007, 273). Im Zuge dessen wurde z. B. Wilhelm Unverzagt
(1892–1971), dem Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte in
Berlin, zwingend empfohlen, sich auf reine Forschungsarbeit zu beschränken, „bei der keine Berührungspunkte mit der Öffentlichkeit“ (Leube 2007,
278) gegeben wären. In der sowjetischen Besatzungszone waren die Entnazifizierungsverfahren aber „keineswegs nur gegen Nazis und Kriegsverbrecher [gerichtet], sondern zunehmend gegen alle Kräfte, die die sowjetische
Hegemonie und Transformation in Frage zu stellen drohten.“ (Gieseke 2010,
82). Da man aber im Gegensatz zu den Amerikanern nicht über die zu 90 %
erhaltene Mitgliederkartei der NSDAP verfügte, war eine Überprüfung der
Selbstaussagen oder Denunziationen nur schwer möglich, so dass es im Osten Deutschlands leichter war, die eigene Mitgliedschaft und politische Verstrickungen zu verschweigen. Der allerorten spürbare Fachkräftemangel erzwang bald Kurskorrekturen. Ende 1947 wurde in der SBZ die Einbeziehung
ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft beschlossen und die sowjetische Militäradministration beendete die
Entnazifizierungsverfahren vollständig. Fortan wurden die „volkseigenen
Nationalsozialisten“ in der DDR hartnäckig verschwiegen, gehörte doch der
Antifaschismus „zum innersten Legitimationskern der DDR“ (Gieseke 2010,
80). Was scheinbar dem sozialen Frieden diente, führte aber dazu, dass verheimlichte Mitgliedschaften – weniger in der NSDAP als vielmehr in der
Gestapo, in SS-Einsatzgruppen, Polizeibataillonen oder KZ-Wachmannschaften – Bürger erpressbar machten, was langfristig zu einer „geheimen
Vergangenheitspolitik“ (Gieseke 2010, 81; Leide 2007) des Ministerium für
19 So im sog. Morgenthau-Plan, in dem neben der Denazifizierung auch die Demilitarisierung, Dekartellisierung und Demokratisierung Deutschlands gefordert
wurde (Greiner 1995).
20 Wolfgang Benz in Podiumsdiskussion in Apelt – Hufenreuter 2016, 79–98.
94 — Susanne Grunwald
Staatssicherheit führte und auch Spuren innerhalb der deutsch-deutschen
Archäologie hinterließ. Dafür sprechen die zahlreich überlieferten Gerüchte
über Kollegen, ohne dass es dazu aber bislang Untersuchungen gibt (Strobel
2005).
Die westlichen Besatzungsmächte führten die Entnazifizierungsverfahren
mit Fragebögen bis Anfang der 1950er Jahre durch. Die überlieferte NSDAPMitgliederkartei diente dabei als Prüfinstrument und Betrugsversuche wurden mit dessen Hilfe schwer geahndet. Aber auch in den westlichen Besatzungszonen folgte auf die anfängliche Entschlossenheit bald Mäßigung, wie
die Aufhebungen zahlreicher Einstufungen durch Berufungsverfahren belegen (Frei 2012, 54–69). Man bemühte sich um eine „zügige Re-Integration der
NS-belasteten Eliten […] insbesondere was Bereiche wie Polizei, Justiz und
Verwaltung betraf“ (Gieseke 2010, 82). Die westdeutsche Politik des „integrativen Beschweigens“ von Nazitäterschaft ist mit ihren Konsequenzen der ostdeutschen Inszenierung eines offiziellen Antifaschismus vergleichbar, womit
in beiden deutschen Staaten die bewusste Integration von Tätern verheimlicht wurde.21 Bei den Entnazifizierungsverfahren in den westlichen Besatzungszonen wurden die Begutachteten in die Kategorien „Hauptschuldiger“,
„Belasteter“, „Minderbelasteter“, „Mitläufer“ oder „Entlasteter“ eingestuft.22
Ab März 1946 wurde in diesen drei Besatzungszonen das sog. Spruchkammerverfahren eingeführt, bei dem die Beweislast der Unschuld bei der Angeklagten oder dem Angeklagten lag und denen deshalb das Recht eingeräumt
wurde, entlastende Gutachten einzureichen; die Hauptschuldigen wurden
dann in Strafprozessen verurteilt (Vollnhals 1991). Ab 1948 beendeten die
ersten Spruchkammern ihre Arbeit, die in den verschiedenen westlichen Besatzungszonen unterschiedlich streng durchgeführt wurden. Bereits im Jahr
davor waren z. B. in der französischen Besatzungszone erste Amnestieregelungen erlassen worden, wodurch alle nach dem 1. Januar 1919 Geborenen,
die Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Organisationen gewesen waren,
von Säuberungsmaßnahmen ausgenommen wurden. Zudem wurden pauschal alle NSDAP-Mitglieder ohne Ämter amnestiert. Diese Amnestie wurde
21 Gieseke 2010, 82. In allen Besatzungszonen fanden parallel dazu seit Kriegsende
NS-Strafverfahren statt, angefangen mit den sog. Nürnberger Prozessen (Priemel –
Stiller 2013). In der sowjetischen Besatzungszone endete die strafrechtliche Verfolgung Anfang der 1950er (Leide 2007). Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse, die
in den 1960er Jahren stattfanden, erwiesen sich dabei als die Prüfung deutschdeutschen Rechtsverständnisses: Die DDR unterband die Mithilfe und Aussagen
von in der DDR lebenden Prozesszeugen, um dem Gerücht keinen Vorschub zu
leisten, man beherberge NS-Verbrecher (Wojak 2004; Leide 2019).
22 Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom 12. Oktober 1946; Vollnhals 1991.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 95
1948 auch auf NSDAP-Mitglieder mit Parteiämtern erweitert.23 Die beiden
Straffreiheitsgesetze von 1949 und 1954 amnestierten eine Vielzahl von zum
Teil vor das Kriegsende zurückreichende Straftaten. Sie kamen im ersten
Fall mehr als 800.000 und im zweiten Fall einer unbestimmt hohen Zahl von
Täterinnen und Tätern sog. Endphasen-Verbrechen zugute. Mitte der 1950er
Jahre musste so fast niemand mehr in der Bundesrepublik befürchten, „ob
seiner NS-Vergangenheit von Staat und Justiz behelligt zu werden“.24
Was heute über die dramatischen Folgen des Beschweigens von Verbrechen und moralischen Fehlern auf individualpsychologischer und sozialer
Ebene für den sozialen Zusammenhalt von Gruppen bekannt ist (Baingana
u. a. 2005; Lopez-Ibor u. a. 2005) – nach dem Zweiten Weltkrieg existierte
eine solche Perspektive nicht (Reddemann 2018). Vielmehr erschien das Beschweigen als das Mittel der Wahl innerhalb der bundesdeutschen „Vergangenheitspolitik“ (Frei 2012) ebenso wie beim Aufbau des Sozialismus, um den
Krieg und den Nationalsozialismus zu überwinden, neu anzufangen, und sich
mit sich selbst und den Nachbarn wieder zu versöhnen (Kämper 2005; Frei
2012). Dazu gehörte auch das aktive Beschweigen der Verbrechen militärischer Vereinigungen wie der Wehrmacht und Organisationen wie der SS mit
ihren verschiedenen Einheiten, die 1946 während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zu einer verbrecherischen Organisation erklärt worden war
(Schulte u. a. 2014; Schulte – Wildt 2018), oder von Polizeieinheiten. Diesen
Vereinigungen und Organisationen hatten vor allem während des Krieges
zwischen 1939 und 1945 auch Archäologen angehört. Über 18 Millionen deutsche Wehrmachtssoldaten waren seit 1939 einberufen worden (Overmanns
2004), für die Waffen-SS waren bis Kriegsende fast 600.000 Männer angetreten (Wegner 1997, 210; Hein 2012). Über 130.000 Mann hatten in der sog.
Ordnungspolizei im In- und besetzten Ausland Dienst getan (Curilla 2006;
Klemp 2011; Deppisch 2017). Diese Zahlen lassen nur unzureichend erahnen, wie viele Männer als Militärangehörige tätig gewesen waren und in
wie viele Familien und Arbeitsteams die Erlebnisse und das Schweigen der
überlebenden Kriegsheimkehrer, von denen mehr als 11 Millionen aus der
Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, nach 1945 rückwirkten.
Das Schweigen über die Verbrechen der deutschen Militärangehörigen hatte System, wobei sich ebenfalls regionale Unterschiede abzeichnen:
23 Zu den regionalen Maßnahmen der Entnazifizierung z. B. in Württemberg und
den zeitnahen Reaktionen der dortigen französischen Militäradministration:
Hennig 2017.
24 Frei 2012, 20. S. allgemein Frei 2012 ausführlich zur bundesdeutschen ‚Vergangenheitspolitik‘, die nicht den Opfern, sondern den Mitläufern des NS galt und zu
denen viele deutsche Prähistoriker zu zählen sind.
96 — Susanne Grunwald
Während zahlreiche im Osten Europas und der UdSSR begangene Kriegsverbrechen jenseits der deutschen Öffentlichkeit in Tribunalen und Gefangenenlagern in diesen Ländern geahndet wurden, wurde der Feldzug
in Nordafrika im westeuropäischen Ausland und in Deutschland als Beispiel dafür kolportiert, dass zeitlose Ritterlichkeit auch im ‚totalen Krieg‘
bewahrt werden konnte (Bernhard 2019). Diese Legende diente nach 1945
vor allem dazu, besonders Briten und Westdeutsche wieder miteinander zu
versöhnen und gemeinsam mit Frankreich und den USA zu politischen und
militärischen Verbündeten im Kalten Krieg zusammenzuschweißen (Mass
2006, 305), wofür britische und westdeutsche Publizisten zusammenarbeiteten (Mearsheimer 1988, 196; Wegner 1995, 298). In diesem Sinne war ebenso
auf der Moskauer Außenministerkonferenz 1947 die Entlassung aller Gefangenen der Alliierten bis Ende 1948 beschlossen worden, woran sich die
westlichen Alliierten auch hielten. In der Sowjetunion fanden noch bis 1949
zahlreiche Prozesse vor allem gegen SS-Angehörige, Wachmannschaften
und Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes statt (Hilger 2006); die
letzten deutschen Kriegsgefangenen kehrten 1955 aus der Sowjetunion zurück (Riesenberger 1994).
In Westdeutschland half die Verklärung der deutschen Wehrmacht dabei (Wolfrum 2002, 136; Hecht – Häussler 2008, 135), von den Wehrmachtsverbrechen in Osteuropa abzulenken und die Millionen Kriegsheimkehrer
wieder zu integrieren (Scholten 2003; Frei 2012). Mit einer systematischen
„Politik der Ehre“ gelang es den alten militärischen Eliten, ihr gesellschaftliches Ansehen zu erhalten und sich am Aufbau der neuen Streitkräfte der
Bundesrepublik Deutschland zu beteiligen (Scholten 2003; Manig 2004; Rass
2016), während im Gegenzug die offizielle Politik der Regierung Adenauer
nicht daran rührte, was tatsächlich in Polen und der UdSSR unter deutscher
Befehlsgewalt und Besatzung geschehen war.25 In der DDR waren ehemalige,
teilweise hochrangige Wehrmachtsangehörige unter Aufsicht und Anleitung
sowjetischer Militärs wesentlich am Aufbau der Nationalen Volksarmee beteiligt. Als Ende der 1950er Jahre die Entlassung dieser ehemaligen Wehrmachtsangehörigen aus der Armee beschlossen wurde, machten sie etwa ein
Viertel der Truppe aus (Lapp 2003).
Folgerichtig begegnete man den Kriegseinsätzen der Fachkollegen mit
Wohlwollen oder Ehrfurcht, aber wohl nicht mit Skepsis oder Abscheu. Die
Opferzahlen unter deutschen Archäologen wurden betrauert, steigerten aber
gleichzeitig die Wertschätzung heimkehrender, arbeitsfähiger Kollegen, wie
25 Manig 2004, 8–9. Zu den Aktivitäten der Veteranenverbände siehe auch Echternkamp 2014.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 97
sich in den Korrespondenzen der Nachkriegsjahre vielerorts lesen lässt.26
Deren Entnazifizierungsverfahren erschienen deshalb als unnötige Belastung, wie die folgenden Beispiele zeigen werden. So verdeutlicht vor allem
das, was nach dem Kriegsende nicht aufgearbeitet wurde, den moralischen
und juristischen Referenzrahmen, in dem deutsche Archäologinnen und Archäologen nach dem Ende des Nationalsozialismus lebten und arbeiteten.
Angesichts der Verbrechen, die in Nürnberg und in anderen Prozessen verhandelt wurden und derjenigen, über die nicht gesprochen wurde, mussten
die Grabenkämpfe zwischen deutschen Archäologen, ihre Anbiederungen
an den Nationalsozialismus, ihre politischen Gesten und Positionierungen
harmlos und unwichtig erscheinen. Zur eigenen Entnazifizierung und der
der anderen trug man widerwillig bei, um dadurch so zügig wie möglich
wieder zu beruflicher und persönlicher Routine zurückkehren zu können,27
wie es auch die Mehrheit der Deutschen tat. Gleichzeitig boten die Entnazifizierungsverfahren aber auch manchmal eine willkommene Gelegenheit
dafür, gegnerische Fachkollegen zu isolieren oder am weiteren fachinternen
Wirken zu hindern.
Archäologische Gutachten
In den drei westlichen Besatzungszonen wurde in Entnazifizierungsverfahren für die Beurteilung von Personen auf Gutachten zurückgegriffen, die der
oder die zu Begutachtende meist aus seinem oder ihrem beruflichen Umfeld
selbst besorgte und vorlegte, um seine oder ihre Unschuld oder Minderbelastung zu belegen. Diesen Gutachten kam eine außerordentliche Bedeutung
in den Verfahren zu. Sie verteidigten nicht nur oftmals den oder die zu Begutachtenden. Sie ordneten auch ihr oder sein Verhalten in ein Berufsfeld
ein, für das viele der deutschen und alliierten Verwaltungsbeamtinnen und
Verwaltungsbeamten sowie Juristinnen und Juristen, welche die Entnazifizierungsverfahren durchführten, nur über eine sehr beschränkte, da fachlich, sprachlich und national externe Expertise verfügten. Niemand von
ihnen war mit den archäologischen Forschungen und Projekten deutscher
Prähistorikerinnen und Prähistoriker vertraut oder mit ihren Netzwerken
26 Z. B. die Korrespondenz Wilhelm Unverzagts mit verschiedenen Kollegen (Archiv
Museum für Vor- und Frühgeschichte / SPK: IX f 4 – Nachlass Unverzagt 1945 –
Ende 1948, unpag.; Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bestand Schnellerstrasse A 3400, unpag.).
27 Z. B. Walter Wagner von der RGK (Grunwald 2020, 258–265).
98 — Susanne Grunwald
und Grabenkämpfen sowie ihren Angeboten an die politischen Eliten des
Nationalsozialismus.
Die Außenwahrnehmung deutscher Prähistorikerinnen und Prähistoriker und der Kenntnisstand über ihre Forschungen oder Kriegseinsätze variierten stark. Ab 1939 beschränkte der Kriegsverlauf zunehmend die Kommunikation nach Deutschland und nach dem Kriegsende setzte der Austausch
erst zögerlich wieder ein. Fachvertreterinnen und Fachvertreter im Exil waren von solcher eingeschränkten Kommunikation ebenso betroffen wie diejenigen, die in Deutschland lebten (Grunwald 2020, 242–243). Im Ausland
waren drei Gruppen von deutschen Prähistorikerinnen und Prähistorikern
gut bekannt: diejenigen mit internationaler Netzwerkerfahrung oder im Exil
lebenden wie Gerhard Bersu (1889–1964) (Krämer 2001; Grunwald 2019),
diejenigen mit überregionalen fachpolitischen Ambitionen in Deutschland
wie Hans Reinerth (1900–1990) (Schöbel 2008; 2015) und diejenigen, die sich
während des Krieges im besetzten Ausland aufhielten wie Herbert Jankuhn
(1905–1990) (Mahsarski 2011). Über die Kriegseinsätze von Archäologen
war man in Deutschland allein dadurch informiert, dass Kollegen zur Front
einberufen worden und dadurch nicht mehr wissenschaftlich tätig gewesen
waren, aber nicht systematisch hinsichtlich ihrer möglichen Beteiligung an
geheimen oder verbrecherischen Einsätzen.28 Über den Einsatz von deutschen Archäologen im europäischen Ausland zirkulierten dagegen zwar in
den jeweiligen Ländern Berichte, aber sie wurden nach dem Kriegsende nur
langsam mit deutschen Kollegen ausgetauscht (Schülke 2012). Anders als
kriegsrelevante Wissenschaften wie etwa die Physik hatten die Vertreter der
Prähistorischen Archäologie aber nie unter internationaler Beobachtung gestanden und waren auch nicht im Rahmen von Reparationsmaßnahmen ins
Ausland verbracht worden (Heidemann-Grüder u. a. 1992).
Die Fachvertreterinnen und -vertreter in Deutschland waren natürlich
am besten informiert über die Ämter und Verantwortlichkeiten ihrer Kolleginnen und Kollegen während des Nationalsozialismus.29 Diejenigen unter
ihnen, welche den Alliierten als politisch und fachpolitisch integer galten,
28 Ausnahmen bildeten Briefe mit eindeutigen Berichten oder sogar deren Veröffentlichung wie zwei Briefe von Gotthard Neumann (1902–1972): Vorgeschichtliche Beobachtungen in der Ukraine. Ein Feldpostbrief. Der Spatenforscher 6, 1941,
35–39; ders., Vorgeschichtliche Studien in ukrainischen Museen. Zweiter Feldpostbrief mit 14 Aufnahmen und 14 Zeichnungen, Der Spatenforscher 7, 1942,
17–32; Grabolle u. a. 2003.
29 S. dazu z. B. das sog. Vorgeschichtler-Dossier zur Denkschrift der SS zur deutschen Vorgeschichte von 1939, <https://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/
VorgeschDossiers.pdf> (18.10.2021).
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 99
bestimmten mit ihren Gutachten zu Entnazifizierungsverfahren, in denen
sich vielfach indirekt ihre eigenen Positionen in den fachinternen Kämpfen
vom Beginn des Nationalsozialismus ausdrückten, wesentlich die weitere
Entwicklung der Prähistorischen Archäologie in Deutschland. Weitgehend
frei von moralischen Bedenken oder einer ideologischen Auseinandersetzung wurden solche Fachkollegen mit positiven Gutachten gefördert, die
man als Leistungsträger betrachtete und an die man Erwartungen hinsichtlich einer Reorganisation und Neuausrichtung der Archäologie knüpfte, wie
das Beispiel Jankuhn zeigt. Daraus ergaben sich Widersprüchlichkeiten, die
man damals offensichtlich aushielt, während sie heute ein diskussionswürdiger wissenschaftsgeschichtlicher Befund sind, wie die Gutachtertätigkeit
Gero von Merharts (1886–1959). Von Merhart war als erster Lehrstuhlinhaber für Prähistorische Archäologie nach einem Konflikt mit Reinerth 1938
beurlaubt und 1942 schließlich zwangspensioniert worden, was jedoch nicht
verhinderte, dass er nach dem Kriegsende Kollegen mit einem „paar Dutzend
Gutachten“ förderte (Schlegelmilch 2012, 17), die zum Teil bekanntermaßen
fachintern zu den Gewinnern des Nationalsozialismus gerechnet wurden
(Schlegelmilch 2012).
Das Beispiel Jankuhn, der in den Nachkriegsjahren maßgeblich von Unverzagt, Bersu und von Merhart gefördert wurde, zeigt diese Ambivalenz
von bekannter politischer Position und fachspezifischen Erwartungen an
einen Leistungsträger besonders deutlich (Mahsarski 2011). Jankuhn hatte
ab 1931 vom Museum vaterländischer Altertümer in Kiel aus die Ausgrabungen am wikingerzeitlichen Handelsplatz Haithabu geleitet.30 Ihm gelang für
die Förderung seiner Arbeiten kontinuierlich die nahezu bedingungslose Erschließung unterschiedlicher politischer und fachpolitischer Ressourcen wie
denen der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe, was es ihm u. a.
erlaubte, während der deutschen Besetzung Norwegens im Süden des Landes
Ausgrabungen vorzunehmen (Schülke 2012). Jankuhn war bei Kriegsende
als SS-Sturmbannführer der Waffen-SS in amerikanische Gefangenschaft geraten und wurde bis Mitte Februar 1948 interniert. Im selben Jahr wurde er
einem Entnazifizierungsverfahren unterzogen und in die Kategorie 4 (Mitläufer) ohne Tätigkeitsbeschränkung eingestuft, wobei seine Kriegseinsätze in Norwegen, Frankreich und der Ukraine für die Urteilsfindung keine
Rolle spielten, über die man aber in Deutschland wohl durchaus informiert
war (Mahsarski 2011, 307; Grunwald [einger. 2019]). Ab Frühjahr 1949 war
der Weg frei für die Fortsetzung seiner Karriere und Unverzagt förderte in
engem Austausch mit Bersu die Einrichtung einer neuen Professur an der
30 Jankuhn 1937a; 1937b; 1943; 1956.
100 — Susanne Grunwald
Universität Kiel für Jankuhn, und das in direkter Opposition zum Kieler
Lehrstuhlinhaber Sprockhoff.31 Aus Schleswig-Holstein, wo Jankuhn seit
den Ausgrabungen in Haithabu hohes wissenschaftliches wie regionalpolitisches Ansehen genoss,32 hieß es, „Jankuhn muss bei uns bleiben […] Es sind
sehr starke Kräfte ausserhalb der Universität und der Landesregierung am
Werk, ihn zu halten.“33 Jahrelang bemühten sich Unverzagt und Bersu um
die Vermittlung des politisch schwer belasteten Jankuhn34 und versuchten,
Sprockhoff zu beruhigen.35 Man kooperierte mit Jankuhn bei zahlreichen
Veranstaltungen und Projekten intensiv, auch über Jankuhns Berufung nach
Göttingen 1956 hinaus36 und trug so wesentlich dazu bei, dass Jankuhn sich
als einer der einflussreichsten deutschen Prähistoriker in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts etablieren konnte.
Entnazifizierungsverfahren als fachpolitisches Instrument
Die Widersprüchlichkeit zwischen der ursprünglichen politischen Zielsetzung der Entnazifizierungsverfahren und ihrer Umsetzung nahmen zeitgenössische deutsche Archäologen durchaus wahr: Bersu, der bis zu seiner Rückkehr auf den Posten des RGK-Direktors auswärtiger Beobachter blieb, zeigte
sich im November 1947 gegenüber dem Präsidenten des DAI Carl Weickert
(1885–1975) erstaunt über die Nachricht, dass Alfred Tode (1900–1996) als zukünftiger Leiter für die geplante neue Abteilung für Vor- und Frühgeschichte
in der britischen Zone im Gespräch sei.37 Offensichtlich lief gerade Todes Entnazifizierungsverfahren und Bersu steuerte wohl Details aus Todes früherer
Laufbahn bei, worauf Weickert antwortete:
31 Bersu an Unverzagt, 17.08.1951: SMB-PK/MVF Archiv IX f 3, b-2/Bl. 58.
32 Unverzagt an Bersu, 03.10.1951: SMB-PK/MVF Archiv IX f 3, b-2/Bl. 64.
33 Schwantes an Unverzagt, undat., zit. in Unverzagt an Bersu, 27.08.1951: SMB-PK/
MVF Archiv IX f 3, b-2/Bl. 59.
34 Unverzagt an Bersu, 27.08.1951: SMB-PK/MVF Archiv IX f 3, b-2/Bl. 59.
35 Bersu an Unverzagt, 29.08.1951; Unverzagt an Bersu, 03.10.1951; Bersu an Unverzagt,
10.10.1951: SMB-PK/MVF Archiv IX f 3, b-2/Bl. 60; 64; 65.
36 Bersu an Unverzagt, 8.01.1956: SMB-PK/MVF Archiv IX f 3, b-2/Bl. 219.
37 Weickert an Bersu, 28.11.1947, 2 Bl., S. 2: Archiv RGK Nachlass Bersu, Korrespondenz Bersu 1946–1957. Alfred Tode (1900–1997) war seit 1937 Landesarchäologe von Braunschweig gewesen und zwischen 1945 bis 1965 Leiter des
Braunschweigischen Landesmuseums (<https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_
Tode> [03.12.2019]).
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 101
„Sie rühren damit an eine ungemein schwierige Frage, die durch das
Verfahren in dieser Angelegenheit, das ausserdem noch in allen vier
Zonen verschieden gehandhabt wird, so verwickelt geworden ist, dass
man an ihrer für einen gesunde Entwicklung in der Zukunft notwendige Lösung verzweifeln möchte. […] Was mir wünschenswert und
erstrebenswert erscheint ist, dass man unter Ausschaltung solcher
Elemente,38 gegen die sich das Gefühl einer gesunden Ethik sträubt,
auf ein ernstes und bescheiden geführtes Arbeiten hinstrebt und diese
Arbeit in engem Kontakt mit seinen Berufs- und sonstigen Nachbarn
führt zum Besten einer Verständigung unter uns selbst und unter den
Völkern“.39
Im Rückblick erscheinen Bersus Bedenken so berechtigt wie Weickerts
Schweigestrategie zeitgenössisch typisch. Wahrscheinlich meinte Weickert, und mit ihm wohl die Mehrheit der der Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Archäologien in Deutschland, mit „Elemente,
gegen die sich das Gefühl einer gesunden Ethik sträubt“ 40 vor allem diejenigen NS-Vertreter, die Regierungsverantwortung getragen, sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht und in Nürnberg 1945–1946 verurteilt
worden waren (Huhle u. a. 2015). Alle anderen, die Mitläufer, ohne die
aber das System nicht hätte funktionieren können und die u. a. auch für
Bersus Amtsenthebung gesorgt hatten, sollten wohlwollend in fleißige
Arbeit integriert werden. Darin waren sich alle überlebenden deutschen
Prähistorikerinnen und Prähistoriker wohl einig – in dem Bestreben, ihre
Wissenschaft weiterzuführen und zu verteidigen gegen Maßnahmen wie
im sowjetisch besetzten Teil Berlins. Dort gab im Oktober 1945 die Abteilung Volksbildung beim Berliner Magistrat bekannt, „auf das ganze Gebiet
38 Zu den Langzeitwirkungen des Nationalsozialismus müssen die Effekte der NSSprachpolitik und Propaganda gerechnet werden, wie sie dieser ‚Element‘-Gebrauch
als Mittel der entmenschlichten Personenbezeichnung als ein Beispiel von vielen
in den von mir ausgewerteten Archivalien zeigt. Trotz einer umfangreichen und
zeitnahen Analyse der Lingua Tertii Imperii (Klemperer 1947) blieben Sprachbilder
und die damit verbundenen Vorstellungen und Wertungen lange und nachhaltig
in Gebrauch (Eitz – Stötzel 2007). Entsprechende Analysen für die archäologische
Fachsprache in Deutschland stehen aus.
39 Weickert an Bersu, 28.11.1947, 2 Bl., S. 2–3; Weickert an Bersu, 23.07.1948, 2. Bl.:
Archiv RGK Nachlass Bersu, Korrespondenz Bersu 1946–1957.
40 Weickert an Bersu, 28.11.1947, 2 Bl., S. 2–3: Archiv RGK, Nachlass Bersu, Korrespondenz Bersu 1946–1957, unpag.
102 — Susanne Grunwald
vorübergehend zu verzichten“ und den Lehrstuhl für Vorgeschichte nicht
neu zu besetzen.41
Zu den „Elementen, gegen die sich das Gefühl einer gesunden Ethik
sträubt“,42 wurde unter deutschen Prähistorikern auch und vor allem Reinerth gezählt, der im Fach als der politisch einflussreichste Prähistoriker
der NS-Zeit galt und sich aggressiv um eine Neuausrichtung und Zentralisierung der ‚heimischen Vorgeschichte‘ bemüht hatte (Halle 2002; Schöbel
2002; 2008). Reinerth war Ende 1945 von Fachvertretern bei den französischen Besatzungsbehörden angezeigt worden. Er wurde im März 1946
verhaftet und anschließend interniert. Unter Bezug auf zahlreiche, für ihn
negative Gutachten von Fachvertretern wurde er im August 1949 als „Schuldiger“ eingestuft und wegen seiner Funktion als Reichsamtleiter, seiner Beiträge zur Politisierung der Wissenschaft und seinem Verhalten als Hochschullehrer verurteilt, wogegen er 1952 und 1953 zweimal Einspruch erhob.
Dabei erklärte er es für ungerecht, dass einzelne „Wissenschaftler für die
Politisierung der Wissenschaft“ verantwortlich gemacht würden (Schöbel
2002, 358–359, Anm. 165). Im August 1953 wurde sein Verfahren wieder aufgenommen und einen Monat später mit der Begründung eingestellt, dass
Reinerth u. a. unerschrocken „gegen die phantastische Germanenlehre der
Forscher im Stabe des Reichsführers SS Himmler“ gekämpft habe (Schöbel
2002, 359). Seine Einstufung wurde aufgehoben und Reinerth konnte bis
zu seinem Tod das Pfahlbaufreilichtmuseum in Unteruhldingen leiten. Die
kontinuierlich hohe Anzahl von Besucherinnen und Besuchern sicherte
dem Museum zwar ein eigenständiges Auskommen, aber das Museum und
damit auch Reinerth blieben wegen fortgesetzt ablehnender Gutachten bis
1979 von Fördermitteln für Erweiterungsbauten oder Publikationen ausgeschlossen (Schöbel 2002, 360–361).
Zu dieser Isolation hatten die Gutachten für Reinerths Entnazifizierungsverfahren wesentlich beigetragen, in denen die Gutachter ihre eigenen Positionen in den fachinternen Auseinandersetzungen ab den frühen 1930er Jahren rekapituliert und Reinerths Position und Strategien vollständig abgelehnt
hatten.43 Mit diesen zum Teil unter Kollegen weitergeleiteten Gutachten
41 Aber Anfang 1946 wurde doch ein kleiner Lehrauftrag u. a. für Grabungstechnik
an Walter Andrae (1875–1956) vergeben (Leube 2007, 276. 278).
42 Weickert an Bersu, 28.11.1947, 2 Bl., S. 2–3: Archiv RGK, Nachlass Bersu, Korrespondenz Bersu 1946–1957, unpag.
43 Schöbel, 2008, 168. Gutachten liegen vor von Paul Reinecke, Weickert, Bersu,
Unverzagt, Peter Goessler, Oslar Paret, Lothar Zotz, Jacob-Friesen, von Merhart,
Joachim Werner, Sprockhoff, Schwantes, Georg Kossack, Wolfgang Kimmig und
Werner Krämer.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 103
wurde ein fachgeschichtliches Narrativ für die Zeit des Nationalsozialismus
etabliert. Darin wurde einem kleinen aggressiven nationalsozialistischen
Netzwerk mit Reinerth in der Mitte eine widerständige, um Forschung und
Facherhalt bemühte Mehrheit deutscher Archäologen gegenübergestellt, die
sich z. B. durch Kooperationen mit der Forschungsgemeinschaft Deutsches
Ahnenerbe vermeintlich freie Forschung oder politische Sicherheit erarbeitet hatten. Damit wurde direkt Reinerths Darstellungen und Bewertungen
widersprochen und auch der Begründung für die Urteilsaufhebung 1953.
Langfristig war dieses Narrativ, innerhalb dessen methodische oder theoretische Fragen keinerlei Rolle spielten, das wirkmächtigere, denn damit konnte
aus der Gegnerschaft zu Reinerth Distanz zum Nationalsozialismus konstruiert werden, was in zahlreichen Fällen lange Zeit gegenüber berechtigten
Zweifeln und gründlicheren Nachfragen immunisierte.
Für Bolko von Richthofen (1899–1983) war die Einschätzung nebulöser.
Von Richthofen hatte nach dem Ersten Weltkrieg wesentlich zur antipolnischen Propaganda in Ostdeutschland beigetragen und stand Reinerth politisch sehr nahe, aber nach anfänglichen Sympathien inszenierte er sich als
dessen Gegenspieler, auch von seinen Lehrstühlen in Königsberg und Leipzig
aus (Weger 2009; 2017). Von Richthofen hatte sich direkt nach Kriegsende um
die Übernahme der Hamburger Professur beworben und dafür ein nicht abgeschlossenes Entnazifizierungsverfahren durchlaufen (Weger 2009; 2017).
Die positiven Gutachten, die ihm Fachkollegen wie von Merhart und Gustav
Schwantes (1861–1960) ausstellten, konnten aber die britischen Verantwortlichen nicht überzeugen.44 Möglicherweise waren ihnen von Richthofens
Arbeit als Zensor bei der Prüfungsstelle des NS-Schrifttums, eine Zusammenarbeit mit dem Institut zum Studium der Judenfrage oder sein Einsatz
als „Sonderbeauftragter für Kalmücken“ während der deutschen Okkupation
von Teilen der Sowjetunion bekannt.45 Ob die Gutachter darüber informiert
waren, ist vorläufig unklar. Von Richthofen fand weder in Hamburg noch an
44 Stellungnahme Schwantes, 17.09.1945; Stellungnahme von Merhart, 15.10.1945:
Staatsarchiv HH IV 2258 PA Richthofen Uni HH K Gr., zit. nach <https://home
pages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrBvR.pdf> (25.10.2018).
45 Weger 2009, 133–134. Als Kalmücken wird eine ursprünglich mongolische Bevölkerung buddhistischen Glaubens an der Nordwestküste des Kaspischen Meeres bezeichnet. 1942 wurde das Siedlungsgebiet von der deutschen Wehrmacht
erobert und es kam zu einem Bündnis. Nach der sowjetischen Rückeroberung
dieser Teilrepublik Ende 1942 wurde die kalmückische Kollaboration mit der Deportation der Bevölkerung und der Auflösung der Republik bestraft (Schwartz
2013, 529).
104 — Susanne Grunwald
einer anderen deutschen Universität wieder Anstellung als Archäologe,46 er
beantragte allerdings 1950 erfolgreich ein einjähriges Forschungsstipendium
bei der DFG, das ihm ebenso bewilligt wurde wie seinem Amtsvorgänger in
Leipzig, Leonard Franz (1895–1974).47 Bei der RGK reagierte Bersu auf diese
Bewilligungen mit Entsetzen:
„Ich kann hierzu nur sagen, dass, wenn im Auslande bekannt wird, dass
Leute wie von Richthofen aus Mitteln desselben Bundes geldliche Zuweisungen erhalten, der auch Mittel für Wiedereröffnung der Institute
zur Verfügung stellt,48 man sich nicht wundern darf, wenn Widerstände gegen Wiedereröffnung der Institute laut werden. So etwas bleibt
nie geheim.“49
Auch die Förderung eines Projektes von Franz an der Innsbrucker Universität
empörte Bersu, da Franz, „den traurigen Ruhm hat, der einzige heute wieder
in offizieller Stellung beschäftigte Prähistoriker zu sein, der im Stürmer einen
Artikel veröffentlicht hat“.50 Franz lehrte bis zu seiner Pensionierung 1967
in Innsbruck. Von Richthofen erhielt indes auch nach 1951 noch mehrfach
46 Beratender Ausschuß Phil. Fak. Universität Hamburg an das Büro der gewerblichen Fachausschüsse; betr. Entnazifizierungsverfahren, 14.10.1947: Staatsarchiv
HH Z 6775 E Gr; zit. nach <https://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/
ChrBvR.pdf> (25.10.2018).
47 Die DFG-Förderung seines Projektes „Arbeiten über den Ursprung der europäischen
Völker und ostdeutsche Geschichte und schlesienkundliche Fragen“, das er später
abwandelte in „Weitere Bearbeitung eines kritischen Berichtes über den Stand der
Ur- und Frühgeschichtsforschung in Osteuropa und Ostmitteleuropa“ erfolgte durch
ein Stipendium der DFG über 4200.- DM (Von Richthofen an DFG, 05.02.1950; Bewilligung DFG, 08.08.1950: zit. nach <https://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/
ChrBvR.pdf> [25.10.2018]); Bersu an Weickert, 30.12.1950: Archiv ZD des DAI 10–10
RGK Allgemeines 1.4.1950–31.3.1951, unpag.
48 Um 1950 war die Finanzierung des DAI und seiner Auslandsinstitute sowie der
RGK noch ungeklärt, aber Vertreter wie Bersu favorisierten das althergebrachte
Modell einer Anbindung und damit einer Finanzierung an das in Gründung befindliche Auswärtige Amt und damit die Bundesregierung, hier als „der Bund“
bezeichnet (Grunwald 2020).
49 Bersu an Weickert, 11.10.1950, Anschreiben mit Gesprächsnotizen: Archiv ZD des
DAI 10–10 RGK Allgemeines 1.4.1950–31.3.1951, unpag.
50 Bersu an Matz, 18.12.1950; Abschrift am 23.12.1950 an Weickert: Archiv ZD des
DAI 10–10 RGK Allgemeines 1.4.1950–31.3.1951, unpag. – Der Stürmer war eine
private antisemitische und später nationalsozialistisch orientierte Wochenzeitung,
die zwischen 1923 und 1945 in Deutschland erschien.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 105
von der DFG, dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen oder dem
Auswärtigen Amt Finanzierungen, bevor er im Rahmen seines „vertriebenenpolitischen Engagements“ spätestens ab den 1960er Jahren zu einer „zentralen Figur im rechtsextremen Organisationswesen“ in der Bundesrepublik
aufstieg.51
Die Idee der intellectual neutrality
Zu den genannten Beobachtergruppen der deutschen Prähistoriker nach dem
Zweiten Weltkrieg gehörten auch die Fachvertreterinnen und Fachvertreter
in Europa und Nordamerika, wozu allerdings noch keine Untersuchungen
vorliegen. Ich beschränke mich daher auf die bislang ausgewertete und mir
zugängliche Planungskommunikation innerhalb des für die europäische Prähistorische Archäologie einflussreichen Congrés International des Sciences
Préhistoriques et Protohistoriques (CISPP) vor und nach 1945. Die darin überlieferten Perspektiven auf die deutsche Prähistorische Archäologie werfen
ein bezeichnendes Licht auf das wissenschaftliche Selbstverständnis dieses
Faches in den 1940er und 1950er Jahren und darauf, wie man nicht über den
‚Elefanten im Raum‘ spricht.
Anders als nach dem Ersten Weltkrieg wurden die deutschen Wissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mit einem Boykott belegt (Brocke
1985; Ungern-Sternberg – Ungern-Sternberg 2013). Einzig Geldmangel oder
fehlende Ausreise- oder Einreisevisa behinderten in den Nachkriegsjahren
die Teilnahme an internationalen Tagungen oder Ausgrabungen. Innerhalb
des CISPP herrschte schnell Einigkeit darüber, dass deutsche Forscherinnen
und Forscher weiterhin und erneut zu integrieren seien. Unmittelbar nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Archäologinnen und Archäologen
vor allem aus den ehemals deutsch besetzten skandinavischen Staaten signalisiert, dass sie sich zum damaligen Zeitpunkt die Kooperation mit deutschen
51 Wegner 2009, 135–137. Die community der deutschen Prähistoriker reagierte
auf diese Entwicklung nicht und nur ein kleiner Teil der jüngeren Archäologen
wehrte sich mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (DGUF) am 25.10.1969 (Eckert 2002) gegen die spätestens seit Ende 1968
bekannten Versuche zur Reorganisation der Deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte durch Archäologen wie von Richthofen und Journalisten, die der Extremen Rechten in den frühen 1970er Jahre zuzurechnen sind. Diese gründeten am
gleichen Tag die Deutsche Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte, die sich am
01.01.1970 in Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichte umbenannte (Banghard
2015a).
106 — Susanne Grunwald
Fachvertretern im CISPP nicht vorstellen könnten (Díaz-Andreu 2009, 103.
105–106). Vere Gordon Childe (1892–1957), der sich intensiv im CISPP engagierte, warnte unter Verweis auf die einstige deutschfeindliche Politik nach
dem Ersten Weltkrieg davor, dass Sanktionen auf den Congress zurückfallen
würden.52 Dennoch galt Deutschland noch 1950 vielen ausländischen Beobachtern und auch Archäologen als „enemy power“, wie Bersu, der Anfang
des Jahres noch in Irland lebte, nach Berlin berichtete.53 Bersu, dessen hohes
internationales Ansehen während seines Exils noch gestiegen war, wurde im
selben Jahr in Abwesenheit bei der Sitzung in der dänischen Hauptstadt 1950
wieder zum persönlichen Mitglied des Conseils des CISPP gewählt und vertrat vorläufig die deutsche Prähistorische Archäologie in diesem Gremium.54
Für Bersu unterschätzte man in Deutschland, dass es im Ausland noch jede
Menge Leute gebe, die nichts mit Deutschland zu tun haben wollten, da man
im Land selbst eben nur diejenigen träfe, die Deutschland gegenüber freundlich seien; die französischen Conseilmitglieder hätten sich wegen solcher
Abneigung für einen Veranstaltungsort in Frankreich für den Kongress des
CISPP 1950 ausgesprochen.55
Der Verlauf des Zweiten Weltkrieges und die deutsche Besetzung
Frankreichs, der Beneluxländer und Skandinaviens hatten das Klima im
CISPP verändert. Dort hatte man sich Mitte der 1930er Jahre darauf geeinigt,
auf den Nationalsozialismus in Deutschland, den Faschismus in Italien oder
den Bolschewismus in Russland mit „intellectual neutrality“ (Díaz-Andreu
2007, 40–41) zu reagieren – mit dem Willen, keine Unterschiede zwischen
Nazis, Faschisten, Kommunisten und Demokraten zu machen, wenn es um
Archäologie gehe (Díaz-Andreu 2012, 28) und die Unabhängigkeit von Forschung zu verteidigen, wie es die alte Idee der res publica literaria verfochten
hatte. Was ehrenhaft zu sein und die Einzelne und den Einzelnen und ihre
und seine Netzwerkeinbindung zu verteidigen schien, ignorierte aber die
generelle Staatsnähe des Faches nicht nur in Diktaturen und die Entwicklungen in der internationalen Diplomatie, durch die immer öfter Wissenschaftler zu informellen Botschaftern wurden. Anfangs erschien mir diese
Idee der Neutralität wie eine moralische Kapitulation, aber der Blick auf die
Entscheidungsträger im CISPP in den 1930er und 1940er Jahren zeigt, dass
man solche Neutralität wahren musste, wollte man nicht das europäische
52 Díaz-Andreu 2009, 106; Bersu an Unverzagt, 16.02.1950: Archiv MVF IX f 3, b-2/
Bl. 13. Zu Childe: Harris 1994, zu Childes Engagement für den CISPP: Díaz-Andreu
2009, 106.
53 Bersu an Unverzagt, 16.02.1950: Archiv MVF IX f 3, b-2/Bl. 13.
54 Bersu an Unverzagt, 16.02.1950: Archiv MVF IX f 3, b-2/Bl. 13.
55 Unverzagt an Bersu, 21.05.1950: Archiv MVF IX f 3, b-2/Bl. 21.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 107
Netzwerk zerreißen. Tatsächlich setzten zahlreiche der einflussreichen Archäologen im CISPP ihre administrativen Arbeiten und Forschungen über
grundlegende Systemwechsel in ihren Ländern hinweg fort und beschrieben
ihr eigenes Verhalten als widerständige Verteidigung der archäologischen
Forschung. Das Gebot der intellektuellen Neutralität war die Voraussetzung
dafür, die Netzwerkeinbindung solcher Kolleginnen und Kollegen über die
Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland, das Bürgerkriegsende in Spanien oder den Kriegseintritt der meisten europäischen Staaten
hinweg zu gewährleisten.
Folgerichtig wurde auch die deutsche Prähistorische Archäologie nach
dem Weltkriegsende wieder stärker in die Arbeit des CISPP integriert, ab 1949
dann unter den Bedingungen der deutschen Teilung. In einem ersten Schritt
erfolgte die Zuwahl von Bersu, Unverzagt, Gustav Behrens (1884–1955), dem
Direktor des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz (RGZM)
und Kurt Bittel (1907–1991) (Bräuning 2007), der sozusagen auf dem Weg zu
seinem neuen Amt als Direktor der Abteilung Istanbul des DAI war, in das
Conseil des CISPP.56 Diesem Conseil, für vier Jahre gewählt, gehörten außerdem der Brite Christopher Hawkes (1905–1992), der Spanier Louis Pericot
(1899–1978) und fünf weitere Wissenschaftler an (Díaz-Andreu 2012, 282
Abb. 6.11. 284, Abb. 51–86) und anlässlich dieser Wahl wurde der Congress in
Union internationale des Sciences préhistoriques et protohistoriques (UISPP) umbenannt. Gleichzeitig entschied man, dass der Congress 1954 in Madrid tagen
sollte (Díaz-Andreu 2012, 284).
Dass man plante, in einer faschistischen Diktatur zu tagen, womit man
diese auch würdigte und anerkannte, wurde unter den beteiligten Archäologinnen und Archäologen nach Ausweis der von mir eingesehenen Quellen nicht in Frage gestellt, vielleicht weil man sich 1950 mit der im CISPP
gepflegten „intellectual neutrality“ unverhofft in Übereinstimmung mit der
Spanienpolitik der Westmächte befand. Das faschistische Franco-Regime
war zwar als ehemaliger Bündnispartner der Achsenmächte nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges auf Initiative der Sowjetunion und Polens nahezu
vollständig diplomatisch geächtet und außenpolitisch isoliert worden, aber
die USA und Großbritannien betrachteten diese Isolierung als Einmischung
in innere Angelegenheiten kritisch (Lehmann 2010, 11). Mit dem Beginn des
Kalten Krieges gewann Spanien dann wegen seiner strategischen Lage für
die späteren NATO-Partner an Bedeutung, so dass die UNO 1950 die Sanktionen gegen das faschistische Land praktisch ohne Auflagen zurücknahm
(Lehmann 2010, 12). Mit dem Abschluss eines Stützpunktabkommens mit
56 Krumme – Vigener 2016; Bersu an Weickert, 15.08.1950: Weickert an Gelzer,
12.04.1950: Archiv ZD des DAI 10-10 RGK Allgemeines 1.4.1950–31.3.1951, unpag.
108 — Susanne Grunwald
den USA und eines Konkordats mit dem Vatikan (beide 1953) begann die
internationale Reintegration Spaniens (Lehmann 2010, 13), die europaweit
nur von linken Parteien und dem sozialistischen Lager kritisiert wurde. Mit
der Aufnahme Spaniens in die UNO 1955 erfolgte endgültig die Anerkennung des faschistischen Landes als ungeliebten, aber notwendigen Partner
der westlichen Staatengemeinschaft.
Inwieweit die Vergabe des Kongresses des UISPP 1954 nach Madrid Teil
dieser Reintegration Spaniens war, ob dies als Beispiel für den Einsatz von
Fachwissenschaftlern als Teil einer soft power-Politik bezeichnet werden
kann und ob die Vergabe von den britischen Mitgliedern des CISPP stärker
forciert wurde als beispielsweise von den deutschen oder osteuropäischen
Mitgliedern,57 müssen weitere Untersuchungen erst noch zeigen. Es liegen
aber Indizien dafür vor, dass sich die scientific community bewusst gegen eine
isolationistische Kongresspolitik entschied. Im Jahr 1954 kamen schließlich
etwa 250 Besucherinnen und Besucher aus dreißig Staaten nach Madrid und
trugen mit diesem Kongress mehr zur Festigung der internationalen Beziehungen in der Archäologie bei als die anderen Treffen seit dem Kriegsende.58
Und angesichts der offiziellen Anerkennung Franco-Spaniens durch den Westen kam es dabei auch zu keinerlei Unmutsäußerungen über diese Diktatur.59
Die Fachvertrerinnen und Fachvertreter dankten vielmehr anschließend dem
Organisator des Kongresses Pericot und sprachen von einem großen Erfolg.60
57 Hawkes z. B. hatte seit 1947 enge Beziehungen nach Spanien und dort mit Pericot
die International Summer Courses of Ampurias etabliert, die wesentlich dazu beitrugen, südwesteuropäische Fundplätze für die britische Forschung zu erschließen und das bestehende westeuropäische Netzwerk weiter auszubauen (DíazAndreu 2012, 262–277).
58 Díaz-Andreu 2012, 292. – In seinem internen Bericht über den Madrider Kongress
sprach Bersu von 560 eingeschriebenen Teilnehmern aus 36 Ländern (Bericht,
4 S: Archiv RGK Nachlass Bersu, Hamburger Kongress, unpag.).
59 Díaz-Andreu 2012, 292. Bersu berichtet, dass auch die Botschafter Deutschlands,
Italiens und Frankreichs an dem Kongress teilnahmen (Bericht, 4 S.: Archiv RGK
Nachlass Bersu, Hamburger Kongress, unpag.).
60 Díaz-Andreu 2012, 293. So auch Bersu in seinem Bericht (Bericht, 4 S: Archiv
RGK Nachlass Bersu, Hamburger Kongress, unpag.). Nach dem unerwarteten Tod
von Blas Taracena Aguirre (1895–1951), dem Direktor des Museu Arqueològic
Nacional d’Espanya, stieg Pericot zum einflussreichsten Archäologen Spaniens
auf. Während des Bürgerkrieges hatte er sich politisch neutral verhalten und galt
deshalb dem Franco-Regime als opportuner Fachvertreter („a Francoist backed up
by his friends in the Opus Dei section of the Francoist regime“, Díaz-Andreu 2007,
31; 2012, 284–285. 406).
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 109
Aus der Bundesrepublik war ohnehin keine Kritik zu erwarten – im Dezember 1954 schloss man ein Kulturabkommen mit Spanien (Düwell 2015, 77).
Vorläufig möchte ich die Tagungsvergabe nach Madrid als Beispiel dafür werten, dass viele der europäischen Prähistorikerinnen und Prähistoriker in Konsequenz des Zweiten Weltkrieges und des anschließenden Kalten
Krieges ein fachliches Selbstverständnis etablierten, das die Einzelne und
den Einzelnen als unpolitisch und die ganze community als extern zur nationalen und internationalen Politik sehen wollte. Obwohl meiner Meinung
nach in jeder Hinsicht das Gegenteil der Fall ist, muss diese fachpolitische
Entscheidung mit ihren Konsequenzen zu Kenntnis genommen werden. Zu
diesen Konsequenzen zähle ich die bis in die 1990er Jahre unzureichende
methoden- und institutionengeschichtliche Aufarbeitung der Entwicklung
der Prähistorischen Archäologie und die fortgesetzte Ignoranz gegenüber
der regionalen Vielfalt und der nationalen Uneinheitlichkeit der europäischen Prähistorischen Archäologien.
Deutsche Prähistorische Archäologie nach 1945
In den späten 1940ern und 1950ern wurde unter dem Eindruck des zurückliegenden Krieges nicht nur die Prähistorische Archäologie in Deutschland
reorganisiert, sondern ihre Fachvertreterinnen und Fachvertreter bemühten
sich auch um die Verbesserung ihres Selbstbildes, ihrer Außendarstellung
und ihrer Außenwahrnehmung. Bevor dazu ausführliche Untersuchungen
vorliegen, begründe ich mein Argument, dass bei der internationalen Wahrnehmung der deutschen Nachkriegsarchäologie die unzureichende Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung und des Faches keinerlei Rolle spielte,
wieder mit Blick auf die Arbeit des UISPP.
Wie in vielen internationalen Organisationen war auch der UISPP von
Beginn an durch Ländervertretungen organisiert, so dass die Mitgliedsstaaten des UISPP durch in den Ländern berufene Vertreter repräsentiert wurden. Die internationale Zusammenarbeit in den solchermaßen organisierten
einzelnen Wissenschaften hatte seit dem Ende des Ersten Weltkrieges eine
enorme Aufwertung erfahren und wurde zunehmend zu Zwecken der auswärtigen Kulturarbeit, aber auch als Gestus für Modernität und Leistungsfähigkeit genutzt, womit sich auch die europäischen Diktaturen zu legitimieren suchten. Kongressteilnahmen konnten so zum politischen Statement
geraten, wenn etwa nur politisch konforme Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Delegationen zusammengefasst wurden, die jeweils einem
weisungsberechtigten und berichtspflichtigen Delegationsleiter unterstellt
waren, der über Diskussionen und Verhalten wachte (Kühl 2014, 175). Solche
110 — Susanne Grunwald
Delegationen fungierten als Repräsentanten der offiziellen Version einer
nationalen Wissenschaft, ohne dass sie deren tatsächliches methodisches,
inhaltliches, organisatorisches und personelles Spektrum überhaupt vermitteln konnten und wollten.
Anfang der 1950er Jahre vertraten Bersu, Unverzagt, Behrens und Bittel
im Concil des UISPP Deutschland und sie sollten die erste Leistungsschau der
Prähistorischen Archäologie in beiden deutschen Staaten organisieren. Dafür
übergab Bersu auf dem Kongress 1954 in Madrid eine offizielle Einladung der
Bundesregierung an den UISPP, den nächsten Kongress in Deutschland zu
veranstalten und dem wurde zugestimmt (Bersu 1961a). Deutschland war zu
diesem Zeitpunkt nicht mehr das geächtete, alliiert besetzte Land von 1945,
sondern bestand aus zwei Teilen mit eigenständigen Regierungen (Bundesrepublik Deutschland: 23. Mai 1949; DDR: 7. Oktober 1949), die aber völkerrechtlich nicht souverän waren. Die Konflikte und Bedrohungen des Kalten
Krieges führten aber zur quasi souveränen Einbindung beider deutscher Staaten in zahlreiche internationale politische, wirtschaftliche und vor allem militärische Vertragswerke und Bündnisse ab Anfang der 1950er Jahre (Küsters
2005). Diese internationale Anerkennung durch Einbindung ermöglichte es,
dass die Bundesrepublik 1954 als vollwertiges Gastgeberland für den nächsten Kongress des UISPP gelten konnte. Allerdings waren die Bedingungen in
den 1950er Jahren für eine solche Veranstaltung nicht weniger kompliziert
und von politischen Einflüssen begleitet als in den Jahrzehnten davor.
Der Kalte Krieg beeinträchtigte den internationalen Austausch zum Teil
schwerwiegender als der Nationalsozialismus oder der Zweite Weltkrieg,
denn ganze Staatengruppen oder solche große Wissenschaftsnationen wie
die UdSSR oder die USA schotteten sich nun für mehrere Jahre komplett ab
und beeinflussten damit auch die Handlungsspielräume der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihren Bündnisstaaten. Die Sowjetunion
hatte bereits Mitte der 1930er Jahre ihre internationalen Wissenschaftsbeziehungen eingestellt, was Besuche ausländischer Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler sowie die Ausreise sowjetischer Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler nahezu vollständig verhinderte. Ende der 1940er verschärfte
der Kalte Krieg diese Isolation, zumal nun auch die USA damit begannen,
die Einreise von internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
sowie vor allem die Ausreise von Amerikanerinnen und Amerikanern stark
zu reglementieren (Niederhut 2007, 151–154). Betroffene Akademikerinnen
und Akademiker wurden oft pauschal als politisch links oder kommunistisch
diffamiert. Der Widerstand innerhalb der amerikanischen Wissenschaften
wuchs und Formulierungen wie America’s Paper Curtain in Anlehnung an
den Begriff des Eisernen Vorhangs kursierten, aber die Isolation nahm weiter
zu (Niederhut 2007, 154–155).
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 111
Bis zum Hamburger UISPP-Kongress 1958 entspannte sich die internationale Lage wieder soweit, dass mehr als 700 Vertreterinnen und Vertreter der
Prähistorischen Archäologie und benachbarter Fächer aus mehr als 40 Staaten nach Hamburg kamen, darunter vier Wissenschaftler aus der UdSSR und
26 aus den USA, was einer kleinen Sensation gleichkam.61 Während des Kongresses, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer außerordentlich viele
Vorträge in zehn Sektionen hören konnten und auf mehreren Exkursionen
Denkmäler und Forschungsprojekten in beiden Teilen Deutschlands kennenlernten und auch die Gedenkstätte Buchenwald besuchten,62 erfuhren die
deutschen Gastgeberinnen und Gastgeber in jeder Hinsicht Anerkennung:
für die präsentierten Forschungsergebnisse, für die wieder aufgebauten
Forschungseinrichtungen und Denkmalämter und für die Kongressorganisation. In der DDR war sogar seit Mai 1954 eine landesweit einheitliche
Denkmalpflegeverordnung in Kraft, das alte Ziel der fachinternen Kämpfe
der 1930er Jahre.63 Die Protagonisten der Nachkriegsjahre griffen mehrheitlich für ihre jeweilige Arbeitsregion auf Ideen für zentral koordinierte, aber
stets regional spezifische Forschung und auf ein Set von Forschungsfragen
zurück, die Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre entwickelt worden
waren. Diese Versionen archäologischer Forschung zielten vor allem auf das
Inventarisieren, das Überblicken und Gesamtdarstellen ab und erfuhren auf
dem Hamburger Kongress national und international die größte Wertschätzung. Diese Konzeptionen hatten bereits vor 1933 zum Renommee der nunmehrigen Protagonisten der Nachkriegsarchäologie beigetragen. Sie galten
durch ihr Zurückreichen in die Weimarer Republik per se als nicht nationalsozialistisch und dadurch als legitim, ohne dass – für viele Jahrzehnte –
die Implikationen zeitgenössischer völkischer Wissenschaften oder anderer
61 Ausführlich zur Organisationsgeschichte dieses Kongresses und seinen Ablauf:
Grunwald – Dworschak (einger. 2019).
62 Sektion Ia „Allgemeines und Methoden“, Sektionsleiter: Paul Grimm; Ib „Naturwissenschaftliche Nachbargebiete“, Wolfgang (?) Tischler; Sektion II „Paläolithikum und Mesolithikum“, Hermann Schwabedissen; Sektion III „Neolithikum“,
Otto Kunkel; Sektion IV „Bronzezeit“, Ernst Sprockhoff; Sektion V „Eisenzeit“,
Gotthard Neumann; Sektion VI „Römer- und Völkerwanderungszeit“, Joachim
Werner; Sektion VII „Wikinger- und Slawenzeit“, Herbert Jankuhn; Sektion VIII
„Archäologe und Ethnologie außerhalb der Alten Welt“, Franz Termer; Sektion IX
„Prähistorische Anthropologie“, Hans Grimm (UISPP 1958, 106).
63 Verordnung vom 28. Mai 1954 bzw. der Dienstanweisung an die Forschungsstellen
in Dresden, Halle, Weimar, Potsdam und Schwerin zur Regelung von Ausgrabungen vom 13. Februar 1956 (Grunwald 2019, 169).
112 — Susanne Grunwald
ideologischer Grundlegungen als diskussionswürdig erkannt wurden.64 Diese Versionen einer eng mit der Denkmalpflege verbundenen archäologischen
Forschung kamen, verbunden mit einem fachspezifischen Habitus, ohne
explizite theoretische Debatten aus. Ihr methodisches Set zur historischen
Interpretation und zur Datierung genügte sowohl für die Anschlussfähigkeit zu benachbarten Kulturwissenschaften auf regionaler Ebene als auch
für die neuen Formate der Forschungsförderung. Auch für die öffentliche
Vermittlung der Forschung, vor allem aber für die effizient aufgestellte Bodendenkmalpflege, die ebenfalls regional organisiert war, reichte es aus. Im
Rahmen dieser Versionen archäologischer Forschung wurde in beiden Teilen
Deutschlands die universitäre Anbindung des Faches vorrangig zum Zweck
der qualifizierten Ausbildung von Bodendenkmalpflegerinnen und Bodendenkmalpflegern, nicht von akademischen Beiträgerinnen und Beiträgern,
forciert und realisiert. Das zeigte man in Hamburg.
Von den wenigen internationalen Tagungsberichten65 zum Hamburger
Kongress sei derjenige des britischen Archäologen Thomas George Eyre
Powell (1916–1975) erwähnt. Dieser zeigt meiner Meinung nach deutlich,
wie nationale Fachklischees entstehen und Verbreitung finden. Powell lobte die Tagungsorganisation, ärgerte sich aber über die Unfähigkeit vieler
Kolleginnen und Kollegen, sich an die vorgegebene Redezeit zu halten und
kritisierte die Moderatoren der einzelnen Sektionen und die Auswahl der
Vortragsthemen:
„It was clear, too, that many speakers had failed to give sufficient
thought to the preparation of their communications. The worth-while
essentials were often buried beneath a mountain of detail that was
only appropriate to an appendix in some eventual publication.“ (Powell
1958, 248)
Powell lobte die Präsentationen seiner Kolleginnen und Kollegen aus England
und Irland und beklagte die schlechte Auswahl und Qualität der in den anderen Vorträgen gezeigten Abbildungen (Powell 1958, 248). Neben den Vortragsbeiträgen selbst nahm er auch Anstoß an den Inhalten der Diskussionsrunden, denen er regionales Denken und somit einen zu engen geografischen
Horizont sowie Pedanterie vorwarf.66
64 Z. B. für Sachsen und die frühe DDR: Grunwald 2019.
65 Zum Hamburger Kongress aus Sicht der Organisatoren: Bersu 1961a; Bersu
1961b.
66 „When time for discussion was available, there was all too great a tendency in
some sections to avoid the wider issues of pan-European relationships, and to
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 113
Was Powell kritisierte und was heute wie die Vorlage für die seit den
1980er Jahren wiederholt geäußerte Kritik an der Prähistorischen Archäologie in Deutschland klingt, wird für die meisten der deutschen und mitteleuropäischen Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer wahrscheinlich
als Bereicherung empfunden worden sein. Nachdem politische Zensur, der
Krieg und die Nachkriegszeit inhaltlich und materiell die Kommunikation
über die archäologische Forschung für lange Zeit entschieden beeinträchtigt
hatten und z. B. Fachperiodika erst allmählich wieder regelmäßig erschienen,
war der Hamburger Kongress die erste überregionale Zusammenkunft der
deutschen community in Deutschland nicht nur nach dem Krieg, sondern
eigentlich seit dem Auslaufen der Kongresse der Deutschen Gesellschaft für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, die im ausgehenden 19. und
frühen 20. Jahrhundert regelmäßig die Vertreterinnen und Vertreter der Prähistorischen Archäologie zusammengeführt hatten. Ich gehe davon aus, dass
man in Hamburg genau das wollte: endlich wieder auf den neuesten Stand
bei den Forschungen und Denkmalschutzbemühungen in den einzelnen Forschungslandschaften gebracht werden und – vor allem – sich persönlich zu
vernetzen, wie die zahlreichen Dankesschreiben der Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer an das Organisationsteam des Kongresses belegen.67
Man gewinnt bei der Durchsicht der überlieferten Materialien den Eindruck, dass die Organisatoren, die Gäste dieses Kongresses und auch die Kritiker wie Powell gleichermaßen die europäischen Diktaturen sowie Kriege,
heiße und kalte, hinter sich lassen wollten und den Kongress als ein rein
wissenschaftliches Ereignis sahen und feierten. Nicht nur unterblieb dadurch
ein Hinterfragen der eigenen Beziehung zu Politik und Gesellschaft, sondern
auch der jüngeren Fachgeschichte in Deutschland. Vielmehr erschienen dadurch die meisten deutschen Forschungen aus der Zeit vor 1933 als dauerhaft
gültig sowie relevant und das entsprechende Forschungsnetzwerk als unerschütterlich und wichtig. Wer aus diesem Netzwerk überlebt hatte, setzte
nun fort, was die Fortsetzung wert war.
Schlussfolgerungen
Es ist im vorliegenden Beitrag hoffentlich deutlich geworden, dass eine regional differenzierende fachgeschichtliche Perspektive auf die Akteure,
Strukturen und Entscheidungsprozesse in der Prähistorischen Archäologie
fasten instead on points of pedantry to do with almost local matters of terminology and chronology“ (Powell 1958, 248).
67 Archiv RGK Nachlass Bersu, Nachlass, Diverses, unpag.
114 — Susanne Grunwald
der Nachkriegszeit in den deutschen Besatzungszonen bzw. den beiden deutschen Staaten aufwändig, aber auch aufschlussreich ist. Damit ist nicht nur
die Historisierung von thematischen Orientierungen oder Personalentscheidungen möglich, sondern auch das fachliche Selbstverständnis einer Generation von Prähistorikerinnen und Prähistorikern fassbar, die weit in die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein Inhalte, Strukturen und Netzwerke
des Faches in beiden deutschen Staaten gestaltete. Dieses fachliche Selbstverständnis bot zusammen mit der Politik des Beschweigens der fachpolitischen
Ereignisse im Nationalsozialismus die Grundlage für das, was seit den 1980er
Jahren als Theorieabstinenz beklagt wurde.
Dabei zeigt der vorliegende Beitrag hoffentlich auch, dass weniger die Entnazifizierung selbst als vielmehr die Narrative, die während dieser Verfahren
entwickelt wurden, das Selbstverständnis der Prähistorischen Archäologie
in Deutschland so nachhaltig prägten, dass die Auseinandersetzung mit den
Entnazifizierungsverfahren und der Nachkriegszeit dringend geboten ist.
Die Schlaglichter auf einzelne Entnazifizierungsverfahren belegen den unbedingten Willen einflussreicher Fachvertreter, an die fachlichen Entwicklungen und Strukturen anzuknüpfen, die bis zu den internen Auseinandersetzungen um die sog. deutsche Vorgeschichte in den 1930er Jahren erreicht
worden waren. Dabei ging es einerseits um das Attest guter, da scheinbar
unpolitischer Forschung für solche Projekte oder Forschungsfelder, die aber
wie die Wikingerforschungen in Haithabu oder die Pfalzenforschungen eindeutig nicht unpolitisch und eindeutig mit politischer Förderung durchgeführt worden waren. Andererseits ging es um die Rehabilitierung solcher
Fachvertreter, die im Nationalsozialismus Karriere gemacht hatten. Für die
gutachtenden, strategisch operierenden Fachvertreter hätten dabei eigentlich militärische Verantwortungen und Beteiligungen an „Kunstschutz“ (Kott
2007; Born – Störtkuhl 2017), Maßnahmen oder politische Ämter in besetzten
Gebieten problematisch sein müssen. Aber vor allem Fronteinsätze wurden
nach Ausweis der von mir eingesehenen Quellen als unausweichlich und absolut trennbar von moralischen Fragen betrachtet. Diese Einschätzung teilte
die Mehrheit aller Deutschen, bis die beiden Wehrmachtsausstellungen des
Hamburger Instituts für Sozialforschung von 1995–1999 Vernichtungskrieg.
Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 und von 2001–2004 Verbrechen der
Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944 mit mehr als
1.300.000 Besuchern auch diesen Mythos angriffen.68 Erst seitdem werden
allmählich auch Fragen nach dem Kriegseinsatz von deutschen Archäologen
gestellt und beantwortet (Mahsarski 2011). Die Fachöffentlichkeit der späten
68 HIS 1996; 2002; Thamer 2012; Heer 2019.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 115
1940er und 1950er Jahre aber sah keine Notwendigkeit dafür, über die Entnazifizierungsverfahren der Alliierten hinaus die jüngste Fachvergangenheit
zu untersuchen. Diese Einschätzung wurde fachintern ebenso an die nachrückenden Generationen weitergegeben, womit man ganz der Meinung der
überwiegenden Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit und auch anderen
deutschen scientific communities entsprach (Frei 2003; 2012).
Das fachgeschichtliche Narrativ, das in den Gutachten für die Entnazifizierungsverfahren entwickelt wurde, suggerierte eine klar abgrenzbare kleine
Gruppe von Akteuren mit einer klar abgrenzbaren, verwerflichen Ideologie
und entsprechenden Strategien und bot eine fachpolitische Lagerbildung anstelle einer weitreichenden Analyse von Methoden und Forschungsthemen,
von Netzwerken, Traditionen und Entwicklungen an. Solches Lagerdenken
verhindert nachhaltig, Wissenschaft als ein soziales Feld zu betrachten. Und
das ist eigentlich der Grund, warum die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie gescheitert ist – es wurde nicht thematisiert, dass
Kossinna nicht als voraussetzungsfreier Fremder damit begann, archäologische Quellen auszuwerten, dass Reinerth nicht urplötzlich als radikalisierter
Museumsgründer aufwachte, dass weder Jankuhn noch irgendein anderer
deutscher Archäologe willenlos indoktriniert worden war. Vielmehr agierten
sie alle in einem regional spezifischen historischen, sozialen und politischen
Rahmen konform zu den darin geltenden Normen hinsichtlich dessen, was
forschungsrelevant war, was als Forschungsergebnis anerkannt war und was
als Einsatz für die Wissenschaft gelten durfte.
Wenn also die fachinterne Methoden- und Quellenkritik gering ausgeprägt ist und ein Wissenschaftsverständnis gepflegt wird, das jedes methodische und publizistische Mittel erlaubt, um Förderung zu erlangen, um die
Konkurrenz auszustechen oder das Fach zu fördern – dann wird nicht nach
der Qualität von Forschung gefragt, sondern nach fachpolitischem und förderpolitischem Erfolg. Es kann dann nicht erkannt werden, dass methodisch
fragwürdiges oder politisch opportunes Forschungsdesign entwickelt oder
in neuem Gewand, sprich z. B. mit neuer Terminologie, fortgesetzt wird.69
Dann wird auch nicht hinterfragt, was bereits nach dem Ersten Weltkrieg
und dann sowohl nach 1933 als auch nach 1945 aus jeder Perspektive legitim
erschien – aus derjenigen bundesdeutscher Archäologinnen und Archäologen auf ostdeutsche Fachvertreterinnen und -vertreter oder aus dem Ausland
auf die deutsche community: jede Art von politisch opportunem Verhalten
einzusetzen, um die Arbeitsfähigkeit archäologischer Institutionen und der
eigenen Person herbeizuführen und zu gewährleisten. Deshalb verdächtigte
69 So z. B. die Stadtkernforschungen nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Fragen der
Deutschen Ostforschung weitergeführt wurden: Grunwald 2019, 179–186.
116 — Susanne Grunwald
niemand Unverzagt, der ab 1947 an der Ostberliner Akademie ein Institut für
Prähistorische Archäologie auf- und zu einem Zentralinstitut für die gesamte
DDR ausbaute, Kommunist zu sein: Man unterstützte ihn vielmehr von der
Bundesrepublik aus bei seinen Projekten, sah sein Institut als Brückenkopf
der deutschen Prähistorischen Archäologie in der DDR, veranstaltete mit
ihm einen großen internationalen Kongress und bedauerte ihn angesichts
der ideologischen Schikane und alltäglichen Mängel, denen er in Ostberlin
ausgesetzt war. Archäologie als unpolitische Praxis und die Archäologin
oder der Archäologe als robuste/r, widerständige/r Verfechterin oder Verfechter dieser Wissenschaft – so mag man sich und die Kolleginnen und Kollegen nach dem Zweiten Weltkrieg gesehen haben. Dieses Selbstbild wirkte
lange wie eine Immunisierung gegen fundierte wissenschaftsgeschichtliche
und ideologiekritische Dekonstruktionen.
Diese Mechanik ist nicht als deutsche Eigenart zu beschreiben. Vielmehr
herrschte wahrscheinlich über dieses fachliche Selbstverständnis auch international Konsens. Innerhalb der Führung des UISPP hatte man sich in den
1930er Jahren darauf geeinigt, auf den Nationalsozialismus in Deutschland,
den Faschismus in Italien oder den Bolschewismus in Rußland mit intellectual
neutrality zu reagieren und entschied, keine Unterschiede zwischen Nazis,
Faschisten, Kommunisten und Demokraten zu machen, wenn es um Archäologie gehe (Diaz-Andreu 2012, 28). Man meinte, damit die Unabhängigkeit
von Forschung zu verteidigen. Was derart die Einzelne oder den Einzelnen
schützte und ihre oder seine internationale Netzwerkeinbindung verteidigte, ignorierte systematisch die strukturelle Staatsnähe des Faches in allen
modernen Staaten allein durch die Denkmalschutzgesetzgebung und die
Entwicklungen in der internationalen Diplomatie, durch die immer öfter
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Botschafterinnen und Botschaftern wurden.
Diese postulierte Ideologielosigkeit ist durch die moderne Wissenschaftsgeschichte und die Wissenssoziologie als Mythos beschrieben worden, aber
eben nicht als Verschwörung, nicht als geplante Tarnmaßnahme einer einflussreichen Gruppe innerhalb der Fächer, sondern als traditionsreicher
Mythos, der bei seiner Ausformulierung z. B. durch die beiden Humboldts
inspirierend war. Inzwischen ist vielfach und eindrücklich belegt, dass keine Forschung, kein Experiment und keine Ausgrabung vorbedingungslos
erfolgt, dass keine Wissenschaftlerin und kein Wissenschaftler neutral von
einem kognitiven Nullpunkt aus startet mit der Forschung70 – niemand ist
eine Insel und es gibt kein unbeschriebenes Blatt.
70 Standardwerke dazu z. B. Latour 2005.
Über die Entnazifizierung der deutschen Prähistorischen Archäologie — 117
Dass die Versionen einer eng mit der Denkmalpflege verbundenen archäologischen Forschung in Deutschland erst dann als eine von mehreren
möglichen Versionen von Archäologie wahrgenommen und diskutiert wurden, als ab den 1980er Jahren hinreichend viele Studierende und Absolventinnen und Absolventen von deutschen Archäologielehrstühlen in das westeuropäische und nordamerikanische Ausland wechselten und dort andere
Versionen von Archäologie kennenlernten, ist selbst ein interessanter wissenschaftsgeschichtlicher und wissenssoziologischer Befund. Daraus ergab
sich erstmals aus deutscher Perspektive eine Art Weitwinkelaufnahme, ein
grobes, engagiertes Blicken auf eine Idee von nationaler Archäologie. Dreißig Jahre später kann damit begonnen werden, das seinerzeit entwickelte
Bild selbst zu differenzieren.
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Kontakt
Susanne Grunwald | Römisch-Germanische Kommission | Deutsches Archäologisches
Institut | Palmengartenstr. 10–12 | 60325 Frankfurt a. M. | Susanne.Grunwald@dainst.de
& Johannes Gutenberg-Universität Mainz | FB07 | IAW | Klassische Archäologie |
Philosophicum I | Jakob-Welder-Weg 18 | 55128 Mainz | sugrunwa@uni-mainz.de |
https://orcid.org/0000-0003-2990-839X
Zu den erkenntnistheoretischen
Grundlagen der Prähistorischen
Archäologie
Ralf Gleser
Zusammenfassung Wissenschaftstheorie der Archäologie ist sowohl innerhalb der Philosophie wie auch innerhalb der Archäologien nur rudimentär
entwickelt. In der Wissenschaftstheorie steht die Analyse von Wissensprozessen im Fokus, und dabei insbesondere das Verhältnis von Daten, Methoden, Theorien und Erklärungen. Im Beitrag werden erstens Eigenschaften
der prähistorischen Quellen behandelt. Es folgt zweitens eine Evaluation der
Systematik der Erklärungsstrategien in der Prähistorischen Archäologie. In
dieser Wissenschaft sind keine Erklärungen möglich, welche sich auf den
motivationellen Hintergrund von Akteur*innen beziehen (intentionale Erklärung). Es wird aber dafür plädiert, dass dort nomologische und narrative
Erklärungen möglich sind. Realistisch verstandene narrative Erklärung wird
drittens gegen das in Teilen der historischen und prähistorischen Forschung
in den letzten Jahrzehnten übliche Konzept des narrativen Konstruktivismus
verteidigt. Eine Perspektive für die Theorie des Faches sollte nicht nur sein,
die methodologischen Voraussetzungen archäologischen Deutens deutlicher
herauszuarbeiten. Solche Erkenntnisse sind außerdem anderen Fächern im
Rahmen der Kultur- und Sozialwissenschaften in einer Weise zu vermitteln,
dass die Stellung der Prähistorischen Archäologie innerhalb dieser Wissenschaften deutlicher hervortritt. Gelänge dieses Unterfangen, würde auch die
Wissenschaftstheorie bereichert, da diese bezüglich der Archäologien, noch
viel mehr als in Bezug auf die Historie, einen blinden Fleck aufweist.
Schlüsselbegriffe Wissenschaftstheorie; Wissenschaftstheoretischer
Realismus; Intentionale Erklärung; Nomologische Erklärung; Narrative
Erklärung; Narrativer Konstruktivismus
Abstract The philosophy of science of archaeology is only rudimentarily de-
veloped, within both philosophy and archaeology. The philosophy of science
Ralf Gleser, Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Prähistorischen Archäologie, in:
Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1.
Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1
(Heidelberg 2023) 129–166. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15025
129
130 — Ralf Gleser
focuses on the analysis of knowledge processes, especially the relationship
between data, methods, theories, and explanations. First, this article deals
with the properties of prehistoric sources. Second, it evaluates the classification of explanatory strategies in prehistoric archaeology. In this discipline,
it is not possible to provide explanations for the motivational background of
actors (intentional explanation). However, it is argued that nomological and
narrative explanations are possible. Third, realistically understood narrative
explanation is defended against the concept of narrative constructivism that
is common in parts of historical and prehistoric research in recent decades.
This theory should not only be employed to clarify the methodological prerequisites of archaeological interpretation; such insights might also be shown
to be relevant to other subjects within the framework of cultural and social
sciences, in such a way that the position of prehistoric archaeology within
these sciences becomes more pronounced. The result of this endeavour would
also enrich the philosophy of science, as it has a blind spot in archaeology,
much more so than in history.
Keywords Philosophy of Science; Scientific Realism; Intentional
Explanation; Nomological Explanation; Narrative Explanation; Narrative
Constructivism
Daten und Theorien stellen das Fundament aller empirischen Wissenschaften dar. Forscher*innen, welche Daten systematisch gewinnen und Theorien bilden bzw. sie als Deutungsschemata auf Daten anwenden, gehören
dem Gesamtsystem ‚Wissenschaft‘ an, einem Teilgebiet der Gesellschaft,
das mit dieser auf unterschiedliche Weise verknüpft ist (vgl. Balzer 2009,
11–12). Wissenschaft ist allgemein als Pool transsubjektiver, systematischer
Methoden der Wissensproduktion zu definieren, die je nach Fachgebiet
und Gegenstand variieren.1 Die Hauptaufgabe der Wissenschaften besteht
darin, Forschungsfragen zu formulieren und möglichst wahre, gehaltvolle2
1
2
Ich danke an dieser Stelle den Herausgebern des vorliegenden Buches für wertvolle Hinweise und Kommentare. Auch hat sich das anonyme Peer Review entscheidend für die inhaltliche Akzentsetzung erwiesen. Ich bedanke mich dafür
ebenfalls.
Zu diesem Begriff vgl. Schurz 2014a, 23. Gehaltvoll sind Aussagen, wenn sie nicht
trivial sind, d. h. einen Erkenntniswert besitzen, sich als kohärent zu bereits bestehendem Wissen erweisen und möglichst viele weiterführende Schlussfolgerungen erlauben. – „Die eigentliche Kunst des Wissenschafters (sic!) besteht darin, Hypothesen zu formulieren, die sich sowohl empirisch bewahrheiten als auch
als gehaltvoll und konsequenzenreich erweisen“ (Schurz 2014a, 23).
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 131
Antworten darauf zu finden. Da diese allerdings oft nicht eindeutig ausfallen und Wissensproduktion zudem von sozialen Faktoren abhängig ist, besteht der wissenschaftliche Fortschritt oft darin, jeweils bessere Lösungen
für bestehende Forschungsprobleme auszuarbeiten. Üblicherweise werden
die dafür notwendigen Daten in den Grenzen jener Einzeldisziplinen hervorgebracht und interpretiert, für die die darin handelnden Akteur*innen
akademisch formal ausgebildet sind. Die akademisch etablierten Fächer in
ihrer Gesamtheit erschließen und operationalisieren dabei je spezifische Dimensionen der Wirklichkeit auf systematische Weise. Wenn auch vor dem
Hintergrund eines zuweilen vorherrschenden Zeitgeists – gerade für die sog.
Kleinen Fächer – immer wieder aufs Neue noch andere Daseinsberechtigungen eingefordert werden mögen, besteht ihre unbestreitbare Relevanz für die
Grundlagenforschung alleine schon darin.
Wissenschaftstheorie und Archäologien
Erkenntnistheorie der Prähistorischen Archäologie setzt voraus, die Archäologien im Allgemeinen und die Prähistorische Archäologie im Besonderen im
Gesamtzusammenhang der empirischen Wissenschaften (vgl. dazu Schurz
2014a, 26–39) zu verorten. Dabei ist notwendigerweise Kontakt zu solchen
Disziplinen zu halten, die nicht die Lösung jeweils spezifischer empirischer
Probleme zum Gegenstand haben, sondern die Analyse des Wissenschaftsprozesses an sich anstreben. Das trifft im Wesentlichen auf die Wissenschaftstheorie oder Wissenschaftsphilosophie zu.3 Vor fast 40 Jahren hat Klaus Frerichs
von der „Notwendigkeit einer Wissenschaftstheorie der Archäologie“ gesprochen (Frerichs 1981, 9) und diese Forderung scheint mehr denn je berechtigt
zu sein (vgl. u. a. bereits Girtler 1976; Eggert 1978, 29–69; Mante 2000, 3–8).
Wissenschaftsphilosophie bzw. Wissenschaftstheorie – an manchen Universitäten des deutschsprachigen Raumes als eigenes kleines Fach etabliert, sonst
unter dem größeren Dach der Philosophie beheimatet (vgl. Moulines 2008) –
nimmt traditionell Bezug auf die strukturelle Analyseebene der formalen Produktion von Wissen. Dabei geht es insbesondere um die Struktur von Daten,
die Entwicklung von Theorien und die Methoden zur Erzeugung von Hypothesen bzw. Interpretationen (Balzer 2009, 46–58. 153–263). Die im Rahmen
der Wissenschaftstheorie kumulierten Wissensbestände erscheinen somit vielversprechend, die Natur der Prähistorischen Archäologie sowohl in Bezug auf
andere Archäologien als auch im Kontext der Sozial- und Kulturwissenschaften
3
U. a. Balzer 2009; Poser 2012; Schurz 2014a; 2014b.
132 — Ralf Gleser
näher zu bestimmen und zwar von einer Außenperspektive, welche in vergleichbarer Weise für alle empirischen Wissenschaften eingenommen werden
kann. Wissenschaftstheorie nimmt dabei nicht primär, darauf sei an dieser Stelle hingewiesen, auf die soziale Ebene des Wissenschaftsprozesses Bezug, also
auf Handlungen, Ziele, Werte der Akteur*innen und Institutionen (vgl. Balzer
2009, 12). Dies geschieht vielmehr im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte
(Poser 2012, 143–216) bzw. der Wissenschaftssoziologie, die insbesondere soziale Faktoren und kulturelle Kontexte der Wissensproduktion thematisiert.4
Im vorliegenden Text bin ich vor dem Hintergrund dieser Trennung in Wissenschaftstheorie als Logik der Erkenntnis und Wissenschaftssoziologie als Praxis
der Erkenntnis vornehmlich an ersterer interessiert.
In der Wissenschaftstheorie stehen vor allem die Naturwissenschaften
(s. Moulines 2008; Poser 2012, 165–216; Stelling 2018, 157–168) und nur gelegentlich die Sozialwissenschaften bzw. die Historie5 im Zentrum des Interesses. Die Archäologien blieben im deutschen Sprachraum bislang – im
Gegensatz zur angelsächsischen Forschungstradition6 – außerhalb der Wahrnehmung der Wissenschaftstheorie (vgl. jüngst Stelling 2018), obwohl die Erkenntnisstruktur gerade auch der Prähistorischen Archäologie manche Besonderheit aufzuweisen scheint (Mante 2000; Hofmann 2004; Gleser 2018).
Wissenschaftstheorie der Archäologie ist, wie Ulrich Veit festgestellt hat, bis
auf den heutigen Tag sowohl innerhalb der Philosophie als auch innerhalb
der Archäologie nur rudimentär entwickelt (Veit 2014c, 322). Seitens der Archäologien ist die Theoriediskussion tatsächlich selten im Kontext der Wissenschaftstheorie geführt worden; hauptsächlich ist sie auf Modalitäten des
Imports theoretischen Wissens aus Nachbardisziplinen beschränkt geblieben. Die Rede von „der Archäologie“ im Allgemeinen riskiert allerdings, über
Fallstricke zu stolpern. Der Gehalt der Daten aller akademisch etablierten Archäologien lässt die Wirklichkeitsbereiche nicht einheitlich erschließen und
dementsprechend wurden die Methodologien nicht kongruent entwickelt
(für einen Überblick vgl. Eggert 2006, 189–196). Auch aus diesem Grunde
spreche ich im Folgenden über die Erkenntnistheorie ausschließlich der
Prähistorischen Archäologie, was ich gleich im Anschluss begründen möchte.
4
5
6
Vgl. u. a. Fleck 1935; Bloor 1991, 3–45; Maasen 2009, bes. 58–63; vgl. Veit 2014c,
321.
Für letztere vgl. u. a. Hempel 1965a; Dray 1957; Danto 1974; Stegmüller 1983;
Gerber 2012. Weiterführende Literatur findet sich im Sammelband Naujoks u. a.
2018 und dort insbesondere bei Naujoks –Stelling 2018; Scholz 2018; Plenge 2018;
Gleser 2018.
Vgl. Salmon 1982; Renfrew u. a. 1982; Gibbon 1989, 173–178; Wylie 2002.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 133
Archäologiebegriff und Prähistorische Archäologie
Der heutige Begriff Archäologie ist in viele Fachtermini gegliedert, die sich
durch spezifischen Raum- oder Zeitbezug auszeichnen (Bernbeck 1997, 15–34;
Eggert 2006, 3–10 mit Abb. 1.1; Veit 2014a). Archäologische Einzelfächer mit
terminologisch klarem Raumbezug sind beispielsweise die Vorderasiatische
Archäologie, die Biblische Archäologie und auch die Ägyptologie bzw. die Archäologie Nordost-Afrikas. Rein zeitlich gesehen unterscheiden wir in Europa
z. B. die Prähistorische Archäologie – an deutschsprachigen Universitäten
meist als Urgeschichte oder Vorgeschichte (zu diesen Begriffen s. Hoika 1998;
Veit 2014b) bezeichnet –, die Provinzialrömische Archäologie, die Christliche
Archäologie, die Mittelalterarchäologie usf. Gemeinsamkeiten können alle diese Disziplinen insbesondere bei den Methoden der Quellenerschließung aufweisen. An den Universitäten sind zudem diverse historische Fächer mit engem
Bezug zur Archäologie, wie beispielsweise die Alte Geschichte, etabliert. Trotz
aller Notwendigkeit der Inter- und Transdisziplinarität existieren allerdings,
was die Quelleninterpretation und den fächerinternen Diskurs betrifft, erhebliche Differenzen. Das beruht nicht so sehr darauf, dass Akteur*innen innerhalb
der verschiedenen Disziplinen ihre Interpretationen mehr oder minder explizit
theoriegeleitet anstellen. Ein in erkenntnistheoretischem Sinne wesentlicher
Unterschied scheint vielmehr darin zu liegen, dass alle gerade genannten archäologischen Einzelwissenschaften außer der Prähistorischen Archäologie
materielle Funde und Befunde, die Homo sapiens hinterlassen hat, zum Forschungsgegenstand haben und darüber hinaus solche, die im Kontext schriftführender Gesellschaften, oft sogar verbunden mit historischem Bewusstsein,
entstanden sind. Ein Wesensmerkmal der Prähistorischen Archäologie ist ja gerade, dass sie sich um die Erforschung schriftloser Kulturen bemüht und dabei
auch Abschnitte der frühmenschlichen Kulturentwicklung in den Blick nimmt,
die dem Erscheinen des Homo sapiens vorausgehen (vgl. Eggert 2006, 50–55).
Damit sind grundsätzliche Unterschiede in der Natur der Daten verbunden,
was in der Konsequenz zu einem anders gearteten Potenzial für die Entschlüsselung der erforschten Realitäten führt: Erkenntnisse, die Schriftquellen und
Dinge mit Traditionscharakter vermitteln, sind keineswegs deckungsgleich zu
solchen, die aus der Analyse schriftloser Überreste resultieren.
Natur der Daten: Zu den Quellen der Prähistorischen
Archäologie
Wissenschaftstheorie und Wissenschaftssoziologie waren in der Vergangenheit
vornehmlich auf Logik und Praxis der Erkenntnis in den Naturwissenschaften
134 — Ralf Gleser
fokussiert (vgl. Poser 2012, 165–216; Stelling 2018, 157–168). Die Gewinnung
von Daten durch Experimente zur Lösung von Forschungsproblemen gehört
dort zu den methodischen Grundlagen. Seit Langem ist allerdings klar, dass
auch die Produktion naturwissenschaftlicher Daten sozialen Bedingungen
unterliegt, die Artefakte, Vorurteile und Blindpunkte hervorbringen können.
Allerdings sind Experimente in den Naturwissenschaften, wie auch in den
empirischen Humanwissenschaften (Ökonomie, Soziologie etc.), unter neuen
Bedingungen grundsätzlich wiederholbar, was den Ausschluss von Fehlern,
die Annäherung an Tatsachen und die Herstellung von Zusammenhängen
prinzipiell ermöglicht (Stelling 2018, 168). In den Archäologien, wie in den
historischen Wissenschaften im Allgemeinen, lassen sich jedoch Experimente
nur in sehr beschränktem Maße durchführen. Bekanntlich bedeutet jede Ausgrabung zugleich die Zerstörung ihres Untersuchungsobjektes, von dem es in
dieser Form kein zweites geben kann.
„Ein konkreter Befund stellt praxisarchäologisch7 nicht einen Vertreter
eines räumlich oder zeitlich spezifisch häufigen Typs dar, einer Kultur
oder Gesellschaft, sondern einen single-context, einen situativen und in
dieser Form einzigartigen Vollzug verschiedenster aufeinander bezogener, räumlich oder zeitlich verknüpfter Praktiken.“ (Veling 2019, 145)
Bei Ausgrabungen werden Rohdaten, bzw. nach archäologischem Jargon,
‚Felddaten‘ gewonnen. Bislang hatte die Wissenschaftstheorie zur Datengewinnung in den Archäologien wenig zu sagen. Jendrik Stelling hat jüngst
vermutet, dass es einen internen Grund dafür gibt, warum Wissenschaftstheorie sich diesen Gebieten nicht nähert (Stelling 2018, 157). Er hat dabei auf
einen charakteristischen Zusammenhang zwischen ‚Felddaten‘ und Daten,
die als ‚Fakten‘ die Grundlage des darauffolgenden Diskurses bilden, hingewiesen. Über die Natur der Quellen der Prähistorischen Archäologie ist
bis vor Kurzem in dieser Disziplin selten nachgedacht worden (vgl. jetzt u. a.
Hofmann 2016; 2018). Jenseits der allgemein üblichen Klassifizierung in mobile Funde und stationäre Befunde, wie sie feldarchäologischer Beobachtung
entflossen ist, hat insbesondere Manfred K. H. Eggert versucht, die in der
historischen Forschung seit Langem übliche und gerade angesprochene Unterscheidung von Quellen mit Traditionscharakter und solche, die als Überreste anzusprechen sind, auf das prähistorische Quellenmaterial zu übertragen (Eggert 2001, 46–54). Damit ist eine für die Historie charakteristische
7
Dazu sei an dieser Stelle ergänzt: auch vom Standpunkt des methodologischen
Individualismus aus betrachtet sind Funde und Befunde zunächst stets als singlecontexts zu bewerten.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 135
Differenzierung der Daten der Vergangenheit bezeichnet, nämlich, ob die
Quellen der Subjektivität bzw. der Intention der Zeitgenossen*innen oder
ihrer Nachfahr*innen entspringen oder ob diese bloß Relikte einer bestimmten Zeit sind, deren die historische Forschung nachträglich zusätzlich habhaft werden kann (vgl. Rüsen 1986, 178).
In einem neueren Beitrag hat Eggert versucht, die Eigenschaften präbzw. paläohistorischer und historischer Quellen vergleichend näher aufzuzeigen und sieben Thesen dazu formuliert (Tab. 1) (Eggert 2011, 25). Eggert
hebt insbesondere die primäre Erkenntnisebene prähistorischer Quellen im
Bereich des Stofflichen hervor (These 3); er weist ferner darauf hin, dass
diese Quellen per se kein Symbolsystem repräsentierten (These 4); dass diese Quellen häufig Medium symbolischer Information gewesen sein dürften
(These 5); dass diese Quellen semiotisch nur schwer zugänglich seien und
diese daher strukturell nicht entzifferten Sprachen ähnelten (These 6); sowie hebt er zuletzt darauf ab, dass sich diesen „stummen“ Überresten nur
selten eine „Botschaft“ entnehmen lasse (These 7). Da Eggert in diesem Zusammenhang die Termini Semiotik und Symbol verwendet, die an Charles
Sanders Peirce’ Zeichentheorie angelehnt sind, möchte ich in Ergänzung
bzw. Erweiterung dazu von Indexikalität der prähistorischen Quellen sprechen – eine Aussage, die meines Erachtens implizit in Eggerts Merkmalskatalog enthalten ist. In dem bekannten Peirce’schen Begriffsschema Index – Ikon – Symbol steht Index für ein Zeichen, das mit dem Bezeichneten
durch einen kausalen Zusammenhang im Sinne eines ‚Anzeichens‘ verbunden ist, während ein Symbol ein Zeichen ist, das zu dem Bezeichneten in
einer willkürlichen, z. B. durch Konvention geschaffenen Beziehung steht.
Symbole sind demnach kulturell determinierte Artefakte. Worauf Eggert
hinaus will, liegt meines Erachtens auf der Hand: Die prähistorischen
Überreste deutet man zwar meist als Symbole, d. h. ein spezifischer kultureller Zusammenhang wird vermutet, sie liegen jedoch tatsächlich bloß als
Index möglicherweise symbolischer Handlungen vor. „Die Vermutung, es
handele sich um Symbole“, so hat Andreas Frings im Zusammenhang mit
historischen Quellen geschrieben, „ist zunächst einmal eine Zuschreibung,
die richtig oder falsch sein kann“ (Frings 2012, 116). Folgen wir Eggert, so hat
den prähistorischen Quellen ein Potenzial innegewohnt, das aber verloren
ging und mithin nicht mehr ohne Weiteres abzurufen ist. Da Wissenschaft
mit einem solchen Zustand allerdings nicht zufrieden sein kann, werden die
‚Felddaten‘ fortwährend zu Daten uminterpretiert, welche die Grundlage
für Schlussfolgerungen, notwendigerweise schwachen Gehalts, bilden. Im
Unterschied zu den Naturwissenschaften, wo deskriptiv erfasste Daten die
Grundlage des Wissensprozesses bilden, sind die Daten der Prähistorischen
Archäologie zumeist aus interpretativer ‚Zuschreibung‘ entstanden. Stelling
136 — Ralf Gleser
Tab. 1: Sieben Thesen zu den Eigenschaften paläohistorischer und historischer Quellen
im Vergleich nach Manfred K. H. Eggert 2011, 25.
Paläohistorische Quellen
Nichtschriftlichkeit
Historische Quellen
Schriftlichkeit
These 1
Paläohistorische Quellen sind der
nichtschriftliche Niederschlag kulturellen Verhaltens.
Historische Quellen sind der schriftliche Niederschlag kulturellen Verhaltens.
These 2
Paläohistorische Quellen sind „materialisierte Momentaufnahmen“ der
Vergangenheit und damit statisch.
Quelle und Bezugsebene sind in der
Regel zeitgleich.
Historische Quellen spiegeln qua
Schrift eine Dynamik. Quelle und
Bezugsebene sind häufig nicht zeitgleich.
These 3
Paläohistorische Quellen sind ein
konkreter, sicht- und greifbarer Teil
der Vergangenheit. Ihre primäre
Erkenntnisebene liegt im Bereich des
Stofflichen.
Historische Quellen sind rein äußerlich ein konkreter, inhaltlich aber
ein abstrahierter und kodifizierter
Teil der Vergangenheit. Ihre primäre
Erkenntnisebene liegt im Bereich des
Nichtstofflichen.
These 4
Paläohistorische Quellen sind nicht
regelhaft verschlüsselt. Sie repräsentieren damit per se kein Symbolsystem.
Historische Quellen sind über die
Schrift regelhaft verschlüsselt. Sie
repräsentieren ein Symbolsystem.
These 5
Paläohistorische Quellen dürften
häufig Medium symbolischer Information gewesen sein.
Historische Quellen sind der Inbegriff
symbolischer Information.
These 6
Paläohistorische Quellen sind semiotisch nur schwer zugänglich, da sie
dafür relevanten kulturspezifischen
Bedeutungssphären nicht mehr bestehen. Strukturell ähneln sie damit
nichtentzifferten Sprachen.
Historische Quellen sind über die
Lesbarkeit der in ihnen verwendeten
Sprache semiotisch zugänglich.
These 7
Paläohistorische Quellen sind wesentlich „stumme“ Überreste. Ihnen
lässt sich nur selten eine „Botschaft“
entnehmen.
Historische Quellen sind häufig
Tradition. Tradition ist intentional,
d. h. „Botschaften“ sind ihr Wesensmerkmal.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 137
hat diesen Vorgang, von ihm als Askription bezeichnet (Stelling 2018, 178),
anhand der bekannten Wandmalerei im Schrein 14 von Çatal Höyük exemplifiziert, die seit ihrer Entdeckung zwei Interpretationen erfahren hat,
nämlich als eine Karte dieser neolithischen Siedlung und als Leopardenfell
(Stelling 2018, 168–172). Niemand kann allerdings tatsächlich wissen, was
die Wandmalerei dargestellt und für Betrachter*innen bedeutet hat. Problematisch an dieser Feststellung ist für die Prähistorische Archäologie als
Wissenschaft, dass alle weiteren, auf Zuschreibungen basierenden Interpretationen spekulativ sind. An dieser Stelle tritt eine Kluft zwischen den empirischen Befunden an Quellen einerseits und dem zu rekonstruierenden kulturellen Zusammenhang andererseits zutage, die in einer Wissenschaft, die
immerhin als Historische Kulturwissenschaft begriffen werden kann (vgl.
Eggert 2006), weder durch gut begründbare noch durch gut zu rechtfertigende Aussagen zu überwinden ist.
Eggerts Überlegungen zum Gehalt prähistorischer Quellen sind anhand
des angeführten Beispiels von Çatal Höyük prinzipiell zu bestätigen. Sie befinden sich in einem besonderen Zustand: Ihre charakteristische Eigenschaft
liegt darin, Bedeutungen und Botschaften einst vermittelt zu haben, welche
mit der Zeit allerdings verloren gegangen sind. Wir arbeiten aber dennoch
(natürlich) mit Interpretationen darüber, die konsensual als ‚Tatsachen‘ festgelegt sind. Es beruht somit auf Übereinkunft, was die Quellen bedeuten
bzw. was sie anzeigen. Kritisch wird diese Prozedur, wenn sich bloß eine
einzige Interpretation für bestimmte Quellen durchgesetzt hat, die fortan in
Form einer Behauptung den wissenschaftlichen Diskurs bestimmt. Diese assertorische Praxis prägt das Alltagsgeschäft beispielsweise in den Denkmalämtern genauso wie den Umgang mit den Felddaten bekannter Forschungsprojekte. Als Beispiel dafür sei der Göbekli Tepe in der Türkei angeführt, für
dessen Strukturen sich die Interpretation als Heiligtum im nationalen wie
internationalen Schrifttum weitgehend durchgesetzt hat (vgl. u. a. Schmidt
2006, 190–257). Diese Aussage wird als Tatsache kommuniziert. Tatsächlich
lässt die architektonische Ausgestaltung dieser Anlage aber keine gehaltvollen Rückschlüsse auf die Religion zu, die jene hervorgebracht haben könnte, und die religiöse Interpretation ist keineswegs bewiesen, so dass diese
gelegentlich überhaupt in Zweifel steht (Yeşilyurt 2014, insbes. 125–138).
Genauso verhält es sich zum Beispiel mit der Heuneburg an der oberen
Donau. Diese befestigte Ansiedlung wird allgemein zwar meist als ‚Fürstensitz‘ bezeichnet, es wäre aber falsch zu denken, dieser Begriff referiere
auf eine Tatsache. Die konkrete Funktion der recht langlebigen Siedlung ist
unbekannt, und der Begriff hat bloß als Interpretation Eingang in den fachwissenschaftlichen Diskurs gefunden. ‚Fürstensitz‘ ist eine Feststellung, die
oft für wahr gehalten wird. Bei beiden genannten Beispielen handelt es sich,
138 — Ralf Gleser
was in der Prähistorischen Archäologie oft genug vorkommt, um Artefakte,
deren Zweckbestimmung selbst auf allgemeiner Ebene nur wenig gehaltvoll
festzulegen ist. Jüngst habe ich mit Hilfe der Begriffe ‚Ötzi-Pfeilspitze‘ und
‚Marathon-Pfeilspitze‘ aufzuzeigen versucht, dass diese charakteristische
Eigenschaft prähistorischer materieller Quellen weitere Konsequenzen nach
sich zieht (Gleser 2018, 207–210). Es ist meines Erachtens im Erkenntnisprozess zwischen prähistorischen Überresten (Überbleibsel) und historischen
Überresten zu unterscheiden. Für Artefakte der Klasse Ötzi-Pfeilspitze als
Überbleibsel ist (wenn überhaupt!) nur ganz allgemein eine funktionale Bestimmung (als Pfeilspitze im Allgemeinen und als Mordwaffe im Besonderen) möglich, während für Artefakte der Klasse Marathon-Pfeilspitze über
die reine Zweckbestimmung hinaus der untergegangene Kulturzusammenhang mit seinen Sinnbezügen und ihre Historizität zu bestimmen ist. Dieser
Unterschied in der Natur der materiellen Quellen in Bezug auf die menschliche Vergangenheit ist es, der den Gehalt von Interpretationshypothesen
in der Prähistorischen Archäologie auf charakteristische Weise unterbestimmt lässt, und der im direkten Vergleich der Erkenntnisstruktur historischer und prähistorischer Forschung daher letztere auch einzuschränken
vermag (vgl. dazu Gleser 2009, 25–26). Es besteht allerdings auch ein deutlicher Unterschied zu den anderen, eingangs beschriebenen archäologischen
Einzeldisziplinen. Das dort bearbeitete Quellenmaterial ist aufgrund seiner
Verankerung in schriftführenden Gemeinschaften für die Rekonstruktion
historisch-kultureller Zusammenhänge überwiegend direkt zugänglich.
Der Unterschied in den Erkenntnismöglichkeiten zwischen Prähistorischer
Archäologie und anderen, nämlich ‚historischen‘ Archäologien ist somit ein
grundsätzlicher.
Die Einheit der Erkenntnisprinzipien
der empirischen Wissenschaften
Was tun Prähistorische Archäolog*innen üblicherweise? Stichworthaft sei
zunächst der ‚klassische‘ Methodenkanon prähistorischer Forschung angeführt, der das Quellenmaterial semantisch und analytisch erschließen
hilft und üblicherweise den Inhalt ganzer Monografien bildet: u. a. werden
Funde und Befunde klassifiziert, sie werden hinsichtlich ihrer Funktion
angesprochen, man wendet die vertikal- und die horizontalstratigrafische
Methode an, das Alter des Quellenmaterials wird bestimmt – sei es durch
vergleichende Einordnung oder durch naturwissenschaftliche Methodik –,
mittels chorologischer Verfahren sind synchrone und diachrone Muster
der Verbreitung von Funden und Befunden aufzuzeigen (vgl. u. a. Eggert
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 139
2001, Kap. VI–XIII). Darauf aufbauend formuliert man Fragen, u. a. nach
der sozialen Organisation prähistorischer Gemeinschaften, ihrer Umwelt, ihrer Siedlungsorganisation, ihrer Wirtschaftsweise und dem Stand
der Technik, ihren Totenritualen, ihren Ernährungsgewohnheiten, ihren
Tausch- und Handelskontakten, ihren Symbolen, ihrer Kunst, ihren Ideen
etc. Oft (in der älteren Forschungsgeschichte fast immer) geht es sogar
darum, zu wissen, ‚wer‘ diese Menschen waren, d. h. in welche Kollektive
sie zerfielen, auf welche Weise sie sich selbst zugeordnet und voneinander abgegrenzt haben könnten (vgl. Renfrew – Bahn 2009; Siegmund –
Zimmermann 2000, 183 Abb. 1). In Nachbardisziplinen werden darüber
hinaus naturwissenschaftliche Daten an den materiellen Quellen erhoben
und interpretiert. Als Resultat stellen Archäolog*innen Ereignisse fest, sie
zeigen Prozesse auf, beschreiben Sachverhalte, schlagen Hypothesen vor
bzw. bieten Erklärungen an. Dies geschieht entweder in Einzelprotokollen
der Forschungen (Fachartikel, Monografien) oder viele Forschungsberichte werden zu großräumigen diachronen Darstellungen zusammengefasst.
Die Aufgabe der Prähistorischen Archäologie besteht, allgemein formuliert, darin, schlüssige Interpretationen zu materiellen Artefakten in ihren
jeweiligen Fundsituationen zu entwickeln und Erkenntnisse zur frühen
Menschheit vor Erfindung von Schrift zu schaffen. Auf der Makroebene
kultureller Zusammenhänge wird dabei oft auf abstrakte, voraussetzungsreiche, forschungspraktisch schwierig operationalisierbare Entitäten,
Konzepte und Relationen Bezug genommen (z. B. Volk, Kultur, Kulturkreis,
in jüngerer Zeit z. B. Agency, Habitus, Mentalität …). Generell manifestiert
sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften zudem eine Neigung zum
Relativismus und Anti-Realismus,8 erkenntnistheoretische Grundpositionen, die inzwischen auch in der deutschsprachigen Archäologie vertreten sind (Hofmann 2018, 188–190 mit Abb. 2). In diesem Kontext werden
auch innerhalb der Prähistorischen Archäologie Adaptionen solcher Forschungsstrategien verfolgt, wobei Trends, Moden und kontingente Wertungen der Forscher*innen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.
In der Konsequenz hat das Fach stets auf je spezifisch neuartige Weise
Gestalt angenommen (Stichworte: kulturhistorische, prozessuale, postprozessuale, strukturelle, funktionale, interpretative, symbolische Archäologie[n] etc.). Aus der Perspektive einer Wissenschaftstheorie, die sich
dem Realismus verpflichtet fühlt,9 können Ausführungen, Fortführungen,
8
9
Für die Geschichtswissenschaft vgl. etwa die Analyse bei Plenge 2018, 121–135.
Zum Begriff vgl. Moulines 2008, 188–196. In der historischen Forschung sind im
Laufe der Jahrzehnte sehr unterschiedliche Zugriffe auf die Quellen entwickelt
worden, die oft einander ausschließen. Das weite Feld ist durch Termini wie
140 — Ralf Gleser
Interpretationen usw. zu solchen und über solche Praktiken zunächst nur
wenig gehaltvoll erscheinen.
Es ist vor diesem Hintergrund gewiss kein Zufall, dass gerade im deutschen Sprachraum, wo das Selbstverständnis vorherrscht, Prähistorische
Archäologie als eine vergleichende Wissenschaft zu betreiben (vgl. u. a.
Ickerodt 2010; Gleser 2018, 212–213), die wissenschaftstheoretische Diskussion zu den Grundlagen von Erklärungen in den historischen Wissenschaften chronisch vernachlässigt wird. Zudem scheint auch das Erkenntnisprinzip der sogenannten Geisteswissenschaften im Sinne des
Droysen-Dilthey-Windelbandschen Methodendualismus (Erklären versus
Verstehen) fortzuleben. Jüngere Beiträge in der geschichtstheoretischen
Debatte werden kaum zur Kenntnis genommen. Eine wichtige Publikation
neueren Datums zum Thema trägt bekanntlich den Titel Zwischen Erklären
und Verstehen? (Heinz u. a. 2003), als gäbe es zwei fundamental verschiedene Erkenntnisweisen und es sei offen, wie die Prähistorische Archäologie
daran Anteil haben könnte. Zum Thema Erklärungen in der Prähistorischen
Archäologie möchte ich erneut die Bedeutung des Zeichen- bzw. IndizienParadigmas hervorheben (vgl. Veit 2003, 105–106). Das ist deshalb wichtig,
weil eine Erkenntnistheorie der prähistorischen Wissenschaft nicht nur
diejenigen Aktivitäten, die in Forschungsprojekten betrieben werden, zum
Gegenstand haben kann, sondern auch, und vor allem, diejenigen, die im
Alltagsgeschäft der Denkmalpflege ihren Niederschlag finden. Des Öfteren
kommt es dort zum Beispiel vor, dass eine Kollektion von Artefakten zu
begutachten ist, die ein*e Spaziergänger*in aufgelesen und überreicht hat.
Neben der Datierung der Artefakte ist dabei vor allem wichtig, Erklärungen
dafür anzubieten, unter welchen Umständen sie dort hingelangt sind, wo sie
aufgefunden wurden. Solche Oberflächenfunde zeigen fraglos etwas an, das
durch sorgsame Analyse auch erhoben werden kann (vgl. z. B. Hinz 2014,
75–83).
Begriffe wie (An)Zeichen oder Spur referieren auf die Indexikalität prähistorischer Quellen. Diese Eigenschaft ist es, welche die Quellen der Prähistorischen Archäologie mit jenen der anderen empirischen Wissenschaften
gehaltvoll vergleichen lassen. Ich gebe dazu ein Beispiel aus der Medizin,
Realismus, Narrativismus, Relativismus, Konstruktivismus und Anti-Realismus
zu kennzeichnen, vgl. u. a. Naujoks – Stelling 2018, 15–19; Plenge 2018, 112–115.
Realismus bedeutet, dass davon ausgegangen wird, dass eine objektive historische Realität unabhängig von uns existiert und dass es grundsätzlich möglich ist,
Wissen in historischen Fragen zu erlangen, vgl. u. a. Scholz 2018, 69 mit Anm. 28.
Für einen Überblick in archäologischen Zusammenhängen vgl. u. a. Johnson
2010, 35–49 mit Abb. 3.2; Hofmann 2018, 188–190.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 141
welches ich von Frings entlehne: Die praktische Aufgabe der Medizin besteht
ja u. a. darin, eine Krankheit zu diagnostizieren, die in Gestalt ihrer Symptome zu beobachten ist.
„[…] Blutproben oder die Produkte bildgebender Verfahren sind aus
medizinsemiotischer Sicht nichts anderes als indexikalische Zeichen,
die zur Bildung einer Hypothese auffordern, die wiederum das Vorliegen der Symptome und die charakteristische Zusammensetzung des
Blutes oder das im Röntgen oder in der Magnetresonanztomographie
gewonnene Bild zu erklären vermögen.“ (Frings 2012, 139 Anm. 51)
Ein (fiktives) Beispiel aus dem Bereich der Archäologie hat Gabriele Mante
formuliert:
„Eine Ausgrabung erbrachte u. a. wikingische Gräber […]. Daraus läßt
sich ableiten, daß sich an diesem Ort Wikinger aufgehalten haben […].
Es ist jedoch bekannt, daß der Ort zu wikingischen Zeiten slawisch
besiedelt war […]. Demnach müssen hier Slawen und Wikinger aufeinandergetroffen sein […] Bei den wikingischen Bestattungen fanden
sich auch solche von Frauen mit eindeutig wikingischer Tracht […]. Es
ist davon auszugehen, daß die Präsenz von Frauen gegen die Annahme
eines kriegerisch gesinnten Wikingerüberfalls steht […]. Die Wikinger
haben demnach mit den Slawen auf irgendeine Weise friedlich koexistiert […].“ (Mante 2000, 7)10
Anhand dieser Beispiele sei auf die kausale Beziehung zwischen Beobachtungen und Zusammenhängen verwiesen, die diese Beobachtungen hervorgebracht haben. Üblicherweise unterscheidet man in der Wissenschaftstheorie zunächst zwischen deduktiven und induktiven Schlüssen (vgl. Schurz
2014a, 47–52). Seit Charles Sanders Peirce wird freilich noch auf eine dritte Art von Schlüssen hingewiesen: die Abduktionen bzw. Retrodiktionen
(Moulines 2008, 38; Schurz 2014a, 52–55). Bei der Abduktion handelt es sich
um die Bildung der einfachsten allgemeinen Hypothese bzw. den Schluss auf
10 Ich gebe dieses Beispiel im Sinne einer progressiven Abduktion. Bei aller Sympathie für die Arbeiten von Mante vermag ich nicht einzusehen, wie es als Beispiel
für eine historisch-genetische Erklärung im Sinne Wolfgang Stegmüllers zu verstehen sein soll, wofür sie eingetreten ist (Mante 2000, 7 mit Abb. 2). Historischgenetisch wäre etwa zu erklären, warum Wikinger und Slawen an diesem (Beispiel-)Ort friedvoll aufeinandertrafen. Die Indexikalität der Quellen hat es mittels
Abduktion erst ermöglicht, dies als Tatsache zu erheben.
142 — Ralf Gleser
die bestmögliche Erklärung eines zu erklärenden und bereits beobachteten
Sachverhaltes. Für die Historie schreibt Frings:
„Die Abduktion ist […] nichts anderes als die Aufforderung, kreativ
nach deduktiven Erklärungen für historisch-kulturelle Sachverhalte
zu suchen. Sie ist zudem natürlich eine ausgezeichnete Handlungsanweisung für den Umgang mit indexikalischen Zeichen (Spuren), da
diese als kausal verursachte Zeichen von ihren ,Verursachern‘ Zeugnis
ablegen.“ (Frings 2012, 139–140)
Insbesondere Matthias Jung und Mante haben auf Abduktionen für das
Bilden von Hypothesen Bezug genommen und diese als theoretische Kernoperationen der Archäologien ausgelotet (Jung 2003, 98–102; Mante 2003,
163–168). Jung verdanken wir zudem die Formulierung einer fundamentalen Einsicht der jüngeren Wissenschaftstheorie in der prähistorischen Fachliteratur:
„Von einer systematischen methodologischen Begründung der Abduktion aus wäre die forschungsgeschichtlich unselige Trennung der
Erfahrungswissenschaften in Naturwissenschaften einerseits und Kultur- und Geisteswissenschaften andererseits zu kritisieren sowie die
Trennung der diesen jeweilig zugeordneten Erkenntnisarten in nomologisch-erklärende und hermeneutisch-verstehende. […] Eine grundlegende Gemeinsamkeit der Geisteswissenschaften, deren Gegenstände
sinnstrukturiert sind, und der Naturwissenschaften, die es mit kausal
oder systemisch regulierten Objekten zu tun haben, besteht trotz dieser sehr unterschiedlichen Verfasstheit ihrer Gegenstandsbereiche im
abduktiven Schließen.“ (Jung 2003, 99–100)
Wenn auch diesen Feststellungen prinzipiell zuzustimmen ist, seien dennoch einige Präzisierungen angebracht: Erstens sei darauf verwiesen, dass
es auch in den sog. Kultur- und Geisteswissenschaften, zu denen ja die Archäologien meist gezählt werden, durchaus nicht nur um die Erforschung
„sinnstrukturierter Gegenstände“ gehen kann. Gerade die Quellen der Prähistorischen Archäologie lehren, dass Sinnstrukturiertheit oft vermutet
wird, aber nicht mehr zu erweisen ist (vgl. oben). Zweitens lassen sich natürlich auch in den Kultur- und Geisteswissenschaften nicht-intentionale
Daten erheben, deren Erklärung einem deduktiv-nomologischen Muster zu
folgen hat. Dazu gehören beispielsweise Daten, die diachrones Verhalten so
umfangreicher Kollektive betreffen, dass Absprache der Akteur*innen nicht
erfolgt haben kann. Großräumige Kartierungen von Artefakten etwa legen
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 143
Verbreitungsmuster offen, die nicht ohne Weiteres intentional zu erklären sind. Statistische Untersuchungen weisen bei menschlichem Verhalten
oft Muster nach, die auf gleichartige Handlungsweisen Vieler hindeuten,
ohne dass dies bewusst oder sogar in Absprache miteinander geschehen
sein kann, sofern nicht Quellen vorliegen, die das ausdrücklich belegen.
Im Besonderen betrifft dies Daten, die unmittelbar die praktischen Lebensumstände abbilden, wie beispielsweise Geburts- und Sterbestatistiken. Die
Suche nach Mustern und Regeln, die Veränderungen darin bewirkt haben
könnten, wird normalerweise auf nomologische Annahmen hinauslaufen.
In Zeiten von Digitalisierung, Digital Humanities, Big Data und Data Mining ist es ohnehin nicht schwierig zu prophezeien, dass die Grenzen der
empirischen Wissenschaften verschwimmen. Drittens möchte ich darauf
hinweisen, dass es in der theoretischen Literatur seit Langem üblich ist,
Erklären und Verstehen entweder als einander ergänzende Operationen im
Erkenntnisprozess zu begreifen – Georg Henrik von Wright hat dies paradigmatisch aufgezeigt (vgl. u. a. von Wright 1974, 122–124) – oder aber den
Gehalt dieser Begriffe in Bezug auf Erkenntnisprozesse auf solche Weise
näher bestimmt zu haben, dass in diesem Belang kein Unterschied mehr
zwischen den sog. Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften bestehen kann (vgl. u. a. Mante 2000). Grundlage dafür bildet die nähere Bestimmung des Begriffs der Kausalerklärung und die Spezifizierung u. a. der
Natur von Gesetzesannahmen. Schon Wolfgang Stegmüller hat beispielsweise die Auffassung vertreten, wonach historische Erklärungen sich nicht
prinzipiell von naturwissenschaftlichen unterscheiden lassen (Stegmüller
1983, 389–396). In jüngerer Zeit wird deshalb konsequent dafür plädiert,
dass es sich bei Verstehen-Erklären um ein korreliertes Begriffspaar handelt, und dass diese Begriffe inhaltlich deckungsgleich sind (Schurz 2004,
168–170; Daniel 2003, 400–409; Scholz 2008, 119–121).
Reduzieren wir die komplexen Forschungsfelder der Prähistorie und
der Historie für analytische Zwecke auf ihre Hauptfragen: Was ist in der
Vergangenheit, wann, geschehen (Zustände, Ereignisse)? Warum ist es geschehen?, so wird im Kontext der Wissenschaftstheorie als Antwort auf die
zweite Frage deutlich, dass es um erklärbare Wirkungszusammenhänge geht,
unabhängig davon, ob die zu erklärenden Daten intentionalen oder nicht-intentionalen Charakters sind. Theorien – im Rahmen der prähistorischen Forschung werden diese, je nachdem wie sich im Forschungsprozess selbst positioniert wird, entweder explizit oder implizit angewandt – haben in diesem
Zusammenhang zwei Aufgaben: a) die Erschließung und Strukturierung des
Quellenmaterials zu begründen und b) die Voraussetzungen für Erklärungen
zu liefern (Naujoks – Stelling 2018, 19).
144 — Ralf Gleser
Bemerkungen zur analogisierend-vergleichenden
Vorgehensweise
Die Grundstruktur prähistorischer Forschung lässt sich zweifellos primär
durch Prozeduren des Vergleichens charakterisieren, wobei insbesondere
der Analogiebildung eine besondere Bedeutung beigemessen wird (vgl. u. a.
Ickerodt 2010). Ein Gutteil der deutschsprachigen Theoriediskussion in den
vergangenen Jahrzehnten kreist um die Frage, ob für prähistorische Kulturerscheinungen in Europa dabei bloß vorindustrielle Kulturen Europas,
die schriftliche Quellen hinterlassen haben, zu berücksichtigen sind oder
ob rezente außereuropäische Kulturen, die sich in einem vorindustriellen
Zustand befinden und ethnologisch dokumentiert sind, gehaltvoll einzubeziehen wären.11
Die Funktion von Analogien in der prähistorischen Forschung ist darin
zu sehen, generalisierende Aussagen treffen zu können, Hypothesen zu formulieren und Gegenbeispiele zu allgemein akzeptierten Generalisierungen
aufzuzeigen.12 Ihrem Gehalt nach handelt es sich demnach um Abduktionen,
indem das Analogiesubjekt als spezieller Fall von Regelhaftigkeiten wahrscheinlich gemacht wird, deren Nachweis als Tatsache andernorts gelingt.
Insbesondere Eggert hat dieses Verfahren des Erklärens durch Vergleich,
nicht nur für den Bereich der Funktionszuschreibung von Artefakten, sondern für die kulturimmanente Ebene im Allgemeinen, als ausschließliche
Methode des Erkenntnisgewinns aller archäologischen Einzelfächer (Eggert
2006, 190 Abb. 11.1) darzustellen versucht und dabei Termini wie analogisches
Deuten bzw. kulturanthropologische Erklärung geprägt (Eggert 2001, 322–352;
2006, 57–68). Meines Erachtens ist es aber verfehlt, Analogieschlüsse als
Grundlage solch einer ‚spezifischen‘ Erkenntnistheorie der Prähistorischen
Archäologie darlegen zu wollen.
Die Analyse eines wissenschaftstheoretisch gut informierten Beispiels
für die Suche nach kulturanthropologischer Erklärung prähistorischer
Kulturphänomene legt dies offen. Christoph Kümmel geht es im Rahmen
seiner Dissertation darum, den soziokulturellen Hintergrund prähistorischer Grabmanipulationen zu entschlüsseln, wobei er in einem komplexen
Verfahren durch Analogiebildung und mit Hilfe des aus der Kriminalistik
bekannten Verfahrens des Indizienbeweises intentionale Erklärungen für
diese Verhaltensdaten zu erarbeiten versucht (Kümmel 2009, 181–267). Er
führt zunächst einen formalen Vergleich an ethnologisch und historisch
11 Für einen Überblick siehe Mante 2007, 170–176; Gleser 2018, 212–213 und 227–230.
12 Vgl. Salmon 1982, 57–83; zur Bewertung von Analogiebildungen aus Sicht der
Wissenschaftstheorie vgl. Poser 2012, 276–277.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 145
Abb. 1: Schema zur relationalen Analogiebildung am Beispiel von
Grabmanipulationen. Verändert nach Christoph Kümmel 2009,
183 Abb. 5.2.
überlieferten Beispielen von Grabmanipulationen durch, wobei dieses Verfahren zum Ziel hat, im archäologischen Befund materielle Korrelate von
immateriellen Entitäten wie Normen oder Motivationen zu ermitteln. Die Erkenntnisse daraus hat Kümmel sodann mittels der Methode der relationalen
Analogiebildung (Bernbeck 1997, 98–101) zur Interpretation von Manipulationen an Gräbern in ausgewählten historischen und prähistorischen Nekropolen eingesetzt (Abb. 1). Ein interessantes Ergebnis dieser Studie ist, dass
die von Kümmel erschlossenen Motive für Grabmanipulationen weitgehend
im Einklang stehen mit den Interpretationen bisheriger Bearbeiter*innen der
Nekropolen, die diese (unvollständig) deduktiv erschlossen hatten (Kümmel
2009, 269–271). Totenfurcht und Ahnenverehrung sind demnach im Normalfall die wichtigsten Ursachen für Grabmanipulationen. Man gewinnt den
Eindruck, als seien solche Handlungen auf der Basis nicht-strikter Generalisierungen zu erklären. Das angeführte Beispiel wirft die Frage auf, ob die
kulturanthropologische Erklärung logisch als ein spezifischer Typ wissenschaftlicher Erklärung gelten kann. Auch bei Grabmanipulationen scheint
sie jedenfalls eine Variante nomologischer Erklärungen zu sein, wobei auf
universal-menschliche Bedürfnisse rekurriert wird. Nur auf diese Weise ist
es ja auch möglich, Kausalbeziehungen zwischen Materiellem und Immateriellem aufzeigen zu können.
146 — Ralf Gleser
Theorien als Kausalitätsannahmen – Skizze zu
Erklärungsstrategien in der Prähistorischen Archäologie
Das Selbstverständnis prähistorischer Forschung im deutschen Sprachraum
in Bezug auf Komparation als primärer Methode zum Auffinden von Erklärungen steht in Konflikt sowohl zu den Prinzipien der allgemeinen, wie auch
immer positionierten Wissenschaftstheorie,13 als auch zu den Paradigmen
der Historie, da komparative Methoden, wenn nicht in Widerspruch, so
doch in ein Spannungsverhältnis zur Theorie dieser Wissensgebiete geraten
(Haupt – Kocka 1996, 22–23; vgl. Wagner 1955, 705–706). Der gegenwärtige Stand der Theoriediskussion in der deutschsprachigen Prähistorischen
Archäologie lässt nicht erkennen, dass eine Auflösung dieser Differenz angestrebt wird, zumal die grundlegende Frage nach Interpretationsstrategien notorisch keine Beachtung findet (vgl. z. B. jüngst Eggert – Veit 2013;
Hofmann – Stockhammer 2017). Kürzlich ist dieses Thema allerdings erstmals auf neuartige Weise aufgegriffen worden: Artur Ribeiro hat damit einen
wichtigen Beitrag zur Erkenntnistheorie der Prähistorischen Archäologie geleistet (Ribeiro 2018, 106 Abb. 3. 109–116). Worum es geht, lässt sich anhand
eines Schemas von Jörn Rüsen vor Augen führen (Tab. 2), anhand dessen dieser Autor drei Typen von Antworten auf Warum-Fragen in der historischen
Forschung herauszustellen versucht hat (Rüsen 1986, 22–47; 2013, 161–166).
Diese Typen weisen auf bestimmte methodische Operationen hin, Ursachen
oder Gründe für Geschehen in der Vergangenheit des Menschen anzugeben
bzw., allgemeiner ausgedrückt, Zusammenhänge aufzuzeigen.
Tab. 2: Drei Typen des Erklärens in der Historie nach Jörn Rüsen 2013, 166.
Erklärungstyp
Erklärung durch
Nomologisch
Gesetzmäßigkeiten
Intentional
Absichten
Narrativ
Erzählbare Zeitverläufe
Rüsen führt die Ergebnisse des zu dieser Zeit erreichten Standes der Wissenschaftstheorie und der analytischen Geschichtsphilosophie insbesondere Arthur
Dantos bahnbrechende Studie Analytische Philosophie der Geschichte (Danto
1974, 321–406) paradigmatisch vor Augen. Er spricht drei Typen historischen
13 Vgl. u. a. Stegmüller 1983; Bocheński 1986, 100–137; Balzer 2009, 333–340; Poser
2012, 46–67, 217–311; Schurz 2014a, 223–244.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 147
Erklärens an. Neben a) intentionalen Erklärungen, die sich auf menschlichen
Handlungen zugrunde liegenden Absichten bezögen und als typisch für die historische Forschung gelten könnten, seien b) nomologische Erklärungen, die es
in historischen Darstellungen zwar auch gebe, dem dieser Autor insgesamt aber
eher ablehnend gegenübersteht, sowie c) das Nacherzählen von Veränderungsvorgängen in Form narrativer Erklärungen für die historische Forschung charakteristisch. Im Folgenden möchte ich die Frage zu beantworten versuchen,
ob auch die Prähistorische Archäologie solchen Forschungsstrategien gerecht
werden kann. Vorsorglich sei vorab bemerkt, dass diese Disziplin längst nicht
für alle ausgegrabenen Quellen befriedigende Erklärungen gefunden hat und
dass vieles, wie sich gleich zeigen wird, auch gar nicht mehr zu erklären ist.
Intentionale Erklärung
Dem lateinischen Verb intendere kommen differierende Bedeutungsinhalte zu,14
und es sind dementsprechend verschiedene Begriffe davon abgeleitet. Während (1) Intentionalität in der Philosophie des Geistes die Grundstruktur des
Bewusstseins bezeichnet, auf Gegenstände und Sachverhalte bezogen zu sein,
ist der Begriff (2) Intention primär auf Handlungszusammenhänge gerichtet
und meist mit bewusster Absicht oder Vorhaben gleichbedeutend (Teichert 2006,
102–104). Im Sinne von (2) ist mit dem Begriff Intention in der Wissenschaftstheorie eine Spielart des Erklärungsbegriffs verbunden, die danach strebt, auf
Warum-Fragen Gründe angeben zu können. Intentionale Erklärungen beziehen
sich auf Handlungen und Handlungskontexte von Individuen und Kollektiven.
Es wird das Verstehen von Motiven und Absichten, die Handlungen zugrunde
liegen und deren Begründung angestrebt (vgl. u. a. Gerber 2012, 62–66). In der
Prähistorischen Archäologie vorhandene Theorieströmungen, wonach Artefakte als Träger kulturspezifischer Bedeutungen nicht nur aufzufassen, sondern
zu interpretieren und sogar zu ‚lesen‘ sind (vgl. dazu u. a. Veit 2003, 100–105),
gehen direkt oder indirekt davon aus, dass es intentionale Erklärungen für
Überbleibsel geben kann. In der Geschichtstheorie hat sich schon in den 1950er
Jahren seit William Dray ein Bewusstsein nachhaltig etabliert, dass Handlungen im Lichte der Absichten und Glaubenseinstellungen ihrer Akteur*innen zu
erklären sind (vgl. Gerber 2012, 48–54). Georg Henrik von Wright hat später
die sogenannte intentionale Erklärung logisch nach dem Sprachschema „jenes
geschah, damit das eintrete“ als teleologisch bzw. finalistisch charakterisiert.15
14 Intendere kann etwa „zielen“, „wenden“, „erstreben“, „beabsichtigen“ bedeuten.
15 Von Wright 1974, 83; Poser 2012, 60–63; zum Begriff vgl. u. a. schon Hempel
1965b, 251.
148 — Ralf Gleser
Historische Erklärung bestehe im Kern oft darin, darzulegen, warum Handlungen begangen bzw. unter welchen situativen Voraussetzungen welche Motive
und Absichten entwickelt und umgesetzt wurden (von Wright 1974, 124–133).
Solche Erklärung basiert nach Dray auf der Annahme, dass Akteur*innen aus
ihrer Perspektive vernünftig bzw. zweckrational handelten, weshalb intentionale Erklärung als rationale Erklärung bezeichnet wird.16 Stegmüller hat die
teleologische Erklärung als speziellen Fall kausaler Erklärung bezeichnet: einer
kausalen Erklärung aus Motiven (Stegmüller 1983, 392).
Ob die Erklärung durch Intention in der Prähistorischen Archäologie tatsächlich je gehaltvoll gelungen ist oder je wird gelingen können, möchte
ich an dieser Stelle anzweifeln. Gewiss ist sie reich an Beispielen dafür, dass
im Zuge der Quelleninterpretation konkrete Motive für intentionale Handlungen benannt werden, die z. B. in Gestalt geschlossener Fundensembles
ja durchaus aufscheinen. Manche Interpretation mag sogar als mehr oder
weniger plausibel erscheinen. Was die konkrete inhaltliche und situative Bestimmung von Gründen für Handlungen anbelangt, bleibt sie allerdings stets
an der Oberfläche. Betrachten wir beispielsweise das Ergebnis des interpretativen Aktes, die Bedeutung einer bronzezeitlichen Deponierung erfasst zu
haben, näher. Es wird ja oft vermutet, eine solche sei kultisch motiviert gewesen und habe als Hinterlassenschaft eines Rituals ehedem dazu gedient,
Numinoses zu beeinflussen (vgl. Hänsel 1997). Derart weitreichende Interpretation, die ja nichts anderes als eine Zuschreibung im oben erörterten
Sinne darstellt, dringt allerdings, auch wenn sie vor dem Hintergrund der
auf Metaphysisches ausgerichteten Grundorientierung des Menschen ihrem
Gehalt nach zutreffend sein mag, weder auf die konkrete situative Verankerung der kultischen Handlung vor, noch vermag sie, die religiöse bzw. im
weiteren Sinne kulturelle Semantik der Kulthandlung zu bestimmen helfen.
In der Konsequenz sind auch an Objekte angelagerte Sinnformationen bzw.
„subjektive Ideen über ein Ding“ (Hofmann 2016, 291) nicht zu entschlüsseln.
Das Fehlen von Grundlagen für intentionale Erklärungen stellt zweifellos einen gravierenden Unterschied zwischen historischer und prähistorischer Erkenntnisweise dar. In der prähistorischen Forschung ist die schwierige Aufgabenstellung nicht zu lösen, intentionale Erklärungen zu finden, die in dem
Maße gehaltvoll sind, dass sie je konkrete Situationen einbeziehen könnten
(vgl. Angeli 1999, 18–19). Es besteht dadurch auch ein deutlicher Unterschied
zu allen anderen, eingangs beschriebenen archäologischen Einzeldisziplinen,
deren Quellenmaterial auf Basis dessen Verankerung in schriftführenden Gemeinschaften rationalen Erklärungen durchaus zugänglich ist.
16 Dray 1957, Kap. V; vgl. dazu Stegmüller 1983, 433–436; Schurz 2004, 162; Gerber
2012, 49.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 149
Für historische materielle Objekte, seien es solche mit Traditionsqualität
wie Denkmäler oder solche, die nur als Überreste überliefert sind, wie Artefakte der Klasse Marathon-Pfeilspitze (Gleser 2018, 207–210), sind dagegen gehaltvolle intentionale Erklärungen durchaus oft anzugeben. Werden etwa bei
Ausgrabungen im Bereich eines Tempels, der, inschriftlich bezeugt, der Gottheit Artemis geweiht war, Artefakte mit charakteristischen Merkmalen wiederholt gefunden, so liegt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich um Opferungen und Weihegeschenke für genau diese Gottheit gehandelt hat. Da Wesen
und Wirkungsbereich der Gottheit durch antike Tradition zu erschließen sind,
ist für die Artefakte der Ausgrabung nicht nur deren unmittelbarer Zweck am
Ort der Auffindung anzugeben, sondern ihnen haften zugleich die Schichten
antiker Sinnformationen an. Es ist zwar in der Prähistorischen Archäologie
wiederholt versucht worden, das Potenzial semiotischer, hermeneutischer und
kommunikationstheoretischer Herangehensweisen für rationale Erklärungen
von Überresten auszuloten (vgl. u. a. Furholt – Stockhammer 2008; Eggert
2010). Solche Versuche scheitern allerdings daran – das wird man als Ergebnis
dieser Bemühungen festhalten können – dass prähistorische Artefakte den
Sinn ihrer kulturellen Rahmung nicht mehr vermitteln können. Die inhärenten Botschaften oder Bedeutungsinhalte sind verloren (vgl. Angeli 1999, 18;
Kienlin – Widura 2014, 34–35; Miera 2019, 2–3).
Nomologische Erklärung
Die Diskussion um das Erklären durch Gesetze hat die Theorie der Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt.
Ausgangspunkt war der von Carl G. Hempel 1942, in der klassischen Phase
der Wissenschaftstheorie (Moulines 2008, 60–98), unternommene Versuch, den
Droysen-Dilthey-Windelbandschen Methodendualismus, worin die Erklärung
in den Geisteswissenschaften zur ‚Wesensschau‘ deklariert worden war, zu
überwinden. Hempel versuchte u. a. zu zeigen, dass die Erklärung historischer
Tatsachen als deren logische Folgerung aus anderen Fakten und übergeordneten Gesetzeshypothesen zu charakterisieren sei (Hempel 1965a, 231–235; vgl.
Scholz 2018, 74–75). Das von Hempel in Anlehnung an die Naturwissenschaften
konzipierte deduktiv-nomologische Erklärungsmodell (vgl. u. v. a. Schurz 2004,
157–161; 2014a, 223–225; 2014b, 348–351) wurde allerdings bald intensiver Kritik unterzogen. Man hat u. a. die Auffassung vertreten, dass in der Historie keine strikten Gesetzmäßigkeiten existieren, die als Allsätze deduktiven Schlüssen
für die Erklärung beobachteter Phänomene zugrunde liegen könnten.
Der Gehalt des Begriffs Gesetz ist im Laufe der Jahrzehnte allerdings
deutlich variabler bestimmt worden. Seit Michael Scriven und William Dray
150 — Ralf Gleser
werden nicht-deterministische Varianten der Gesetzeserklärung beschrieben,
die auf nicht-strikten Generalisierungen beruhen, die aber den Grundforderungen des deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells nach wie vor entsprechen (Dray 1957, 31–33; Scholz 2008, 114–115 u. 127–128; Schurz 2004,
170–172). Die Omnipräsenz ‚weicher‘ bzw. sogenannter normischer Gesetze
wird postuliert. Normische Gesetze17 begründen sich auf Normalfallhypothesen, lassen aber bei der Kenntnis spezifischerer Bedingungen Ausnahmen zu.
Diese Charakterisierung ist evolutionstheoretisch fundiert: Strikte Voraussagen sind unmöglich, da solche Gesetze auf alle selbstregulativen Systeme
anzuwenden sind, die das Resultat biologischer oder kultureller Evolution
darstellen (Schurz 2004, 170). Bei Zugrundlegung normischer Gesetzeshypothesen, zusammen mit der für die allgemeine Hermeneutik generell geltenden
Rationalitätspräsumption (Schurz 2004, 163; Scholz 2008, 127–128) bzw. der
Theorie des rationalen Handelns (vgl. dazu Siegmund – Zimmermann 2000,
181 mit Literatur), nach der Menschen normalerweise (zweck-)rational ihre
Handlungsziele verfolgen (Schurz 2014a, 236), ist die Grundforderung der Gesetzesbedingung des nomologischen Erklärungsschemas, wonach das Explanans mindestens einen allgemeinen Satz enthalten muss, nach wie vor erfüllt.
Solche Erklärung ist als Kausalerklärung durch das Aussageschema zu charakterisieren: „das geschah, weil sich jenes ereignet hat“ (von Wright 1974, 83).
Deduktives Erklären bzw. der – unglückliche, weil erfolglose – Versuch,
Gesetze induktiv durch Testen sogar auffinden zu wollen (vgl. Johnson 2010,
41–42), ist für prominente Theorieströmungen der Archäologie, welche die
Analyse allgemeiner Verhaltensweisen bzw. die Erforschung evolutionärer oder anderer allgemeiner Gesetzmäßigkeiten (New bzw. Prozessuale,
Marxistische, Evolutionäre…) in den Vordergrund stellen, als charakteristisch
zu betrachten.18 Der Begriff des Erklärens als Etikettierung nomologischer
Prozeduren spielt dort eine wichtige Rolle.19 In der Prähistorischen Archäologie des deutschen Sprachraums wird das nomologische Erklärungsmodell
dagegen nicht häufig explizit thematisiert. Zwar wird unter anderem auf das
‚ursprüngliche‘ deduktiv-nomologische Schema bzw. dessen induktiv-statistische Variante nach Hempel gelegentlich Bezug genommen (vgl. z. B. Eggert
1978, 29–39; Fischer 1987, 192–193; Bernbeck 1997, 51–59) und insbesondere
17 Vgl. v. a. Schurz 2004, 170; 2014a, 235–236; 2014b, 365–367; Scholz 2008, 127; 2018,
76–80; Gerber 2012, 149–158.
18 Vgl. u. a. Eggert 1978, 30–69; Salmon 1982, 20–30; Barrett 1994, 157–164; Renfrew –
Bahn 1996, 254–259.
19 Vgl. Rathje – Schiffer 1982, Kap. 10; Salmon 1982, 113–139; Wylie 2002, 78–96.
211–225; Renfrew – Bahn 2009, 256–257; siehe ferner die Beiträge für Renfrew
u. a. 1982.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 151
Mante hat auf die Aktualität deduktiv-nomologischer Erklärungen in der prähistorischen Forschung hingewiesen (Mante 2000, 3–6 mit Abb. 1). Neuere
Ansätze, die nomologisches Erklären unter den gerade skizzierten veränderten Voraussetzungen zu rekonstruieren versuchen, sind dagegen bislang nie
rezipiert worden. Meine These lautet, dass sich die Erkenntnisweise prähistorischer Forschung in vielen Fällen, insbesondere sogar dann, wenn es um Prozesse und Wirkungen im Feld des Sozio-Kulturellen geht, als vom nomologischen Typ erweisen dürfte. Um das zu illustrieren sei darauf verwiesen, dass
beispielsweise der von Gustaf Kossinna seinerzeit formulierte Satz: „Scharf
umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit
ganz bestimmten Völkern und Völkerstämmen“ (vgl. Eggers 1986, 211), eine
Gesetzeshypothese darstellt, die sich in strikter Form allerdings als unhaltbar
erwiesen hat. In der Forschungsliteratur finden sich viele Gesetzesaussagen,
die in strikter Form zu verwerfen sind, als normische Hypothesen aber durchaus erkenntnisleitenden Charakter haben können. Neuere archäogenetische
Forschungen etwa machen sich ja genau solche normische Generalisierungen
zunutze. Für die Prähistorische Archäologie wird es auf lange Sicht schwierig,
wenn sie solche Forschungsstrategien nicht anerkennt. Im Rahmen empirischer Studien wäre es deshalb geboten, in der prähistorischen Fachliteratur
nach implizit oder explizit vorgetragene Gesetzeshypothesen und darauf basierenden Erklärungen zu suchen und ihrem Gehalt nach zu klassifizieren.
Die Praxis prähistorischer Forschung mündet durch Hypothesenbildung
unter impliziter Zugrundelegung nomologischen Wissens charakteristischerweise in das Ergebnis, transindividuelle, dem Bewusstsein einzelner Akteur*innen wohl meist enthobene Prozesse aufzuzeigen und zu erklären, wobei sie oft
auch auf statistisch erhobene Daten zurückgreifen kann. Als Generalisierungen, die Interpretationshypothesen anleiten, wird man beispielsweise – neben
vielen anderen – Zusammenhänge der folgenden Art formulieren können20:
Guter Boden wird in Friedenszeiten normalerweise intensiv als Ackerland
genutzt, bei wiederholten Überfällen wird aber auch fruchtbares Ackerland
verlassen.
Durch Handel zu Reichtum gekommene Personen werden normalerweise
in prachtvoll ausgestatteten Gräbern niedergelegt, doch können Gesetze oder
bestimmte religiöse Vorschriften funeralen Pomp auch für diese verbieten.
Menschen können in großen Siedlungen beieinander leben, um auf diese
Weise Schutz und Auskommen zu finden, beim Überschreiten demografischer Grenzwerte werden städtische Systeme aber kollabieren.
20 Gleser 2009, 26; 2018, 221–222. Vgl. für die Philosophie der Geschichte jüngst z. B.
Gerber 2012, 154; Scholz 2018, 77–80. Normische Gesetzeshypothesen hat bereits
Carl Hempel 1942 postuliert und Beispiele dafür formuliert (Hempel 1965a, 236).
152 — Ralf Gleser
Abb. 2: Schema der menschlichen Grundbedürfnisse und daraus
erwachsende Kulturreaktionen nach Bronislaw Malinowski. Verändert nach Metin Yeşilyurt 2014, 114 Abb. 19.
Ob solche Allaussagen bereits allesamt in Form normischer Gesetze tatsächlich expliziert sind, sei dahingestellt. Andere sind dagegen bereits empirisch
gehaltvoller erwiesen. Viele Interpretationshypothesen über Zustände und
Prozesse in prähistorischer Zeit dürften sich zum Beispiel vor dem Hintergrund kultureller Universalien (vgl. dazu Antweiler 2009, Kap. 6; Wilson
2013, 232–234) und jenen Grundbedürfnissen (Abb. 2), die allen Menschen
gemeinsam sind, als aus normischen Gesetzen abgeleitet erweisen lassen.
Dadurch wird notwendigerweise das Verhalten menschlicher Kollektive erfasst, was konkretes intentionales Verstehen der Motive für Handlungen
entbehren lässt. Kennzeichnend für die Prähistorische Archäologie ist zweifellos, dass nomologisches Wissen bzw. gesetzesartige Aussagen aus Humanwissenschaften wie z. B. Ethnologie, Ethologie, Geografie, Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Semiotik, Kunst- und Bildwissenschaften usw. importiert
werden (vgl. dazu z. B. Girtler 1976, 37; Salmon 1982, 19–20). Diese Disziplinen begründen sich, wenn Generalisierungen angestrebt sind, auf Qualitäten
der ‚Natur‘ des Menschen als biologische Art.21 Sie stellen eine große Zahl
21 Zur evolutionsbiologischen Fundierung des Kulturbegriffs und soziobiologischen
Charakterisierung des Menschen vgl. u. a. Wilson 2013, 231–268; Antweiler 2009,
139–171.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 153
Abb. 3: Strukturell-individualistische bzw. Makro-Mikro-Makro-Erklärung der atlantischen Megalithik. Verändert nach Knut Petzold 2012, 112 Abb. 7.
nicht-strikter Generalisierungen bereit, welche Handlungen von Menschen
auch jenseits von Historizität zu erklären vermögen.
Typischerweise kann prähistorische Forschung auf solcher Grundlage Erklärungen anbieten. Diese sind oft – implizit und unvollständig – anhand
von Normalfallhypothesen erschlossen und auf die Rationalitätspräsumption gestützt. Allerdings wäre es, um Stegmüller, der in diesem Zusammenhang über die Historie gesprochen hat, zu paraphrasieren (Stegmüller 1983,
401–402), nicht sehr sinnvoll, an eine prähistorische Erklärung dieser Art
sehr hohe Anforderungen zu stellen, um sie als korrekte Erklärung akzeptieren zu können. Es handelt sich um Erklärungsskizzen, die „stets zugleich ein
potentieller Anreiz für die weitere Forschung“ sind (Stegmüller 1983, 402;
zum Begriff explanation sketch vgl. bereits Hempel 1965a, 238).
Ein Beispiel aus der jüngeren Forschung mag eine Variante der nomologischen Erklärungen in der Prähistorischen Archäologie illustrieren. Knut
Petzold hat kürzlich für die Errichtung megalithischer Grabanlagen entlang
des ‚atlantischen Bogens‘ eine sozialwissenschaftlich fundierte Erklärung
angeboten. In ihr werden kollektive Effekte auf individuelle rationale Handlungen zurückgeführt (Petzold 2012, 73–85. 104–113). Solche Erklärung wird
als strukturell-individualistisch bzw. als Makro-Mikro-Makro-Erklärung
(Abb. 3) bezeichnet. Im ersten Schritt geht es um eine plausible Bestimmung
der sozialen und kulturellen Makroebene der Akteur*innen, welche konkrete
Handlungsmöglichkeiten bietet und Handlungsrestriktionen auferlegt (Logik der Situation). Der eigentliche nomologische Kern der Erklärung liegt im
zweiten Schritt: der Logik der Selektion. Es wird dabei der allgemeine und
154 — Ralf Gleser
kausale Zusammenhang zwischen Akteur*in und dem Handeln erarbeitet.
Hier spielt die Rationalitätsannahme die wichtigste Rolle. Da die konkreten Motive prähistorischer Akteur*innen nicht bekannt sein können, werden an dieser Stelle menschliche Grundbedürfnisse (Streben nach sozialer
Wertschätzung, physisches Wohlbefinden) in das Explanans eingesetzt. Der
erklärende Kern des gesamten Modells besteht darin, darzulegen, warum die
individuellen Handlungen vollzogen wurden, die den zu erklärenden Sachverhalt verursacht haben. Genau dies wird im dritten Schritt, in der Logik der
Aggregation, thematisiert. Megalithen waren demnach Gemeinschaftsprojekte, die als gemeinwohlproduzierende Handlungen für die Akteur*innen
soziale Wertschätzung hervorgebracht und ihren Status angehoben haben
(Petzold 2012, 112). In Petzolds Erklärung sind Generalisierungen und normische Gesetze zusammengeführt, welche auch für das prähistorische Quellenmaterial die Erklärung ableiten lassen. In diesen und allen ähnlichen Fällen
ähnelt die Erklärungsstrategie dem Passungs-Modell der wissenschaftlichen
Erklärung (Balzer 2009, 337–338). Die allgemeine Form einer wissenschaftlichen Erklärung in diesem Sinne besteht in der (approximativen) Einbettung
des zu erklärenden Phänomens in ein umfassendes System, welches in der
Wissenschaft bereits durch eine Theorie bzw. ein Modell der Theorie gegeben
ist (Balzer 2009, 336). Eine wissenschaftliche Erklärung hat diesem Verständnis zufolge auf Theorien zurückzugreifen, die schon von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptiert sind (Balzer 2009, 336).
Allgemein gesprochen geht es bei der Interpretation in den Archäologien
somit darum, mögliche umfassende Systeme aufzuzeigen, in denen den materiellen Funden und Befunden Sinn und Bedeutung verliehen werden können.
Narrative Erklärung
Das Fehlen von schriftlichen Quellen bzw. von Geschichtsschreibung im engeren Sinne in jenem Abschnitt menschlicher Entwicklung, die als Vorgeschichte bezeichnet wird, stellt vor Probleme eigener Art, wenn es um Rüsens
dritten historischen Erklärungstyp geht. In den letzten Jahrzehnten sind in
der historischen und im Anschluss daran der archäologischen Forschung viele Beiträge geleistet worden, die sich mit der Funktion narrativer Formen im
Erkenntnisprozess und, im engeren Sinne, des Erzählens im Vermittlungsprozess der Prähistorischen Archäologie beschäftigt haben. Wichtige Einsichten
zum Narrativismus in der Archäologie haben u. a. Mark Pluciennik und Veit
vermittelt (Pluciennik 1999; 2010; Veit 2010). Bekanntlich haben sich mehrere Spielarten des Narrativismus ausgebildet. Zwei wichtige Zweige sind der
realistische und der konstruktivistische Narrativismus. Vertreter*innen der
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 155
realistischen Variante gehen davon aus, dass die Struktur der historischen
Erklärung darin besteht, die kausale Relevanz von Tatsachen für spätere Tatsachen zu postulieren (vgl. unten). Für Konstruktivist*innen wird die Vergangenheit nur durch die Erzählung Geschichte. Konstruktivist*innen, wie zum
Beispiel Hayden White als prominenter, auch in der Prähistorischen Archäologie gelegentlich rezipierter Vertreter (vgl. White 1973; vgl. u. a. Eggert 2006,
211–214; Miera 2019, 8–9), gehen davon aus, dass vergangene Ereignisse im
historischen Bericht nicht im wissenschaftlichen Sinne zu erklären sind, sondern dass ihre Erklärung durch grundlegende narrative Strategien – bekannte literarische Muster – zur Darstellung von Ereignissen erfolgt. Nach White
verwenden Historiker*innen diese, um den Anschein einer Erklärung zu erwecken. Im Allgemeinen können Whites Konstruktivismus oder auch die
Typologie historischen Erzählens nach Rüsen (vgl. Eggert 2006, 215–217 mit
Abb. 12.3) für das Aufzeigen fiktionaler Strukturen in archäologischen sogenannten Meta-Erzählungen durchaus plausible Ansätze bieten. Gewiss gibt
es Beispiele dafür, dass ideologische Voreingenommenheit oder kommerzielle Interessen die Vermittlung von Ergebnissen prähistorischen Forschens
durch bestimmte Erzählmuster beeinflusst haben, und es leuchtet auch ein,
dass sich solche Muster zudem Moden und dem jeweiligen Zeitgeist verdanken (vgl. zuletzt Miera 2019). Die konsequente Reduktion der Bedeutung historischer und archäologischer Erzählungen im radikal-konstruktivistischen
Ansatz auf die von den jeweiligen Autor*innen auferlegten Erzähltypen und
literarischen Formen ist jedoch als wissenschaftliche Methode von begrenztem Wert. Meine These lautet: Prähistorische Archäolog*innen schreiben in
der Regel keine Meta-Narrative in Form von Darstellungen, Einführungstexten zu Ausstellungskatalogen, Synthesen in Buchform usw., sondern sie
stellen sich Forschungsfragen bzw. werden mit solchen konfrontiert und
protokollieren die Antworten in Forschungsberichten. In solchen Berichten
werden implizit oder explizit Erklärungen für die Quellen gegeben und es ist
nicht plausibel, von vornherein Fiktionalität zu unterstellen, zumal dadurch
der Charakter der Prähistorischen Archäologie als Wissenschaft prinzipiell
noch mehr zur Debatte steht.
Realistisch verstandener Narrativismus in der Geschichtsforschung bedeutet, dass die Erklärung spezifischer historischer Phänomene und Ereignisse nur durch narrative Elemente gelingen kann. Narrative Erklärungen
beschreiben demnach die Verknüpfungen zwischen Ereignissen als einen
Prozess, der zu dem zu erklärenden Ergebnis führt (Roth 1988, 1). Welche
Struktur könnte eine narrative Erklärung, die dem wissenschaftstheoretischen Realismus verpflichtet ist, aufweisen? Einige Autor*innen haben Varianten beschrieben, die auch Optionen für prähistorische Forschungen eröffnen. Ich möchte zwei erwähnen: Danto und Stegmüller. Dantos Beitrag
156 — Ralf Gleser
(1) x ist F in t-1.
Explanandum: (1) und (3)
(2) H ereignet sich mit x in t-2.
Explanans: (2)
(3) x ist G in t-3.
Abb. 4: Struktur der narrativen Erklärungen nach Arthur C. Danto 1974, 376.
stellt eine Weiterentwicklung des deduktiv-nomologischen Schemas dar.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen war, dass das historische Explanandum
zwei diachrone Zustände repräsentiert, die über Änderungsvorgänge miteinander verbunden sind. Während im klassischen Erklärungsschema das
Explanandum kausal und zeitlich dem Explanans folgt, zeigte Danto (Abb. 4),
dass in einer historischen Erklärung das Explanandum durch die Veränderung von etwas im Laufe der Zeit gebildet wird. Das Explanandum besteht
aus einem Anfangs- und einem Endzustand; das Explanans resultiert aus den
Wirkungen eines Prozesses (Danto 1974, 371–376. 389–406; vgl. Frings 2008,
139). Danto behauptete zudem, dass eine relativ große Anzahl historischer
Aussagen nicht aus allgemeinen Sätzen abgeleitet werden könne. Genau das
beschreibt Stegmüller im Modell der historisch-genetischen Erklärungen. In
einer historischen genetischen Erklärung (Abb. 5) ist der historische Prozess nicht allein aus seinem Ausgangszustand und der Kenntnis der wichtigsten Gesetze deduktiv abzuleiten. Stattdessen beeinflussen neue Faktoren
und Elemente, die zu Beginn eines Prozesses noch nicht existieren, den Prozess immer zu einem bestimmten Zeitpunkt (Stegmüller 1983, 406–414; vgl.
Mante 2000, 7 mit Abb. 2). Nach Frings sind narrative Erklärungen
„[…] zu verstehen als spezifische Typen kausalen Erklärens, die den
zeitlichen Wandel von etwas erklären, indem sie zeigen, was den Wandel verursacht hat. Narrative Erklärungen haben demnach einen Anfang, eine Mitte und ein Ende und in diesem Sinne die Grundstruktur einer Erzählung. Zugleich beruhen narrative Erklärungen jedoch
konstitutiv auf Handlungen von Menschen. Eine Analyse, die die Ebene individuellen Handelns unberücksichtigt lässt, wäre keine narrative Erklärung. Mehr noch, eine historische Erklärung, die die Ebene
individuellen Handelns unberücksichtigt lässt […], wird generell unvollständig sein.“ (Frings 2008, 149)
Eine der ersten Aufgaben prähistorischer Forschung besteht darin, das Quellenmaterial an der Zeitachse zu ordnen, wodurch die Grundlage für das Aufzeigen
von Transformationsprozessen gegeben ist. Ulrich Fischer hat es so formuliert:
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 157
Abb. 5: Schema der historisch-genetischen Erklärungen nach Wolfgang Stegmüller
1983, 411. Erläuterung: S = Sätze, die Tatsachen beschreiben, welche aus den vorangehenden Zuständen als Antecedensdaten erklärbar sind. D = Zusatzinformationen,
die ohne Erklärung eingeschoben werden müssen, um eine hinreichend umfassende
Klasse von Antecedensdaten für die Ableitung des nächsten Zustandes zu erhalten.
„Die Ratio der prähistorischen Archäologie liegt in ihrem Vermögen,
entlang der Achse der Zeit und jenseits der schriftlichen Überlieferung
menschliche Zeichen aufzufinden, zu ordnen und zu geregelten Bildern und Abläufen zu verdichten.“ (Fischer 1987, 194–195)
Da die Forschungspraxis davon geprägt wird, vertrete ich die Auffassung,
dass es in der Prähistorischen Archäologie trotz der genannten Einschränkungen – unvollständige – Erklärungen, die denjenigen des narrativen Typs
in der historischen Forschung ähneln, durchaus gibt, obgleich die Ebene individueller Motivation des Handelns unter keinen Umständen zu erreichen
ist. Prähistoriker*innen versuchen in ihren Erklärungen oft, regionale oder
lokale Entwicklungen während bestimmten Zeitspannen als einzigartig darzustellen, weil sie zum Teil von Zufälligkeiten und vom Handeln anonymer
Subjekte geprägt sind, gleichzeitig aber auch Merkmale von Prozessen aufweisen, die auf der Basis von Generalisierungen bzw. Allsätzen erklärbar
sind. Genau das wäre im vorliegenden Zusammenhang als narrative Erklärungen zu bezeichnen.
In dem dafür von mir gegebenen Beispiel ist es wichtig zu beachten, dass
das erklärte Phänomen eine empirische Tatsache ist und nicht etwa das Ergebnis einer Interpretation im Zuge der Assertion oder Askription (vgl. oben)
darstellt, das konsensual für wahr gehalten wird. Das Beispiel (Abb. 6) ist
dazu geeignet, aufzuzeigen, auf welche Weise prähistorische Quellen komplexe Kausalzusammenhänge langfristig diachron rekonstruieren lassen und
wie zugleich Neuartiges sowie nicht auf der Grundlage einer Ausgangssituation Erklärbares in das Geschehen verwoben sein kann. Das Grundmuster narrativer Erklärung scheint somit auf. Es geht dabei um die Ursachen
für das Aufkommen von Tell-Siedlungen im 19. Jahrhundert, deren Wandel
und schließlich deren Untergang im 16. Jahrhundert cal BC. Carola MetznerNebelsick hat den Versuch unternommen, die aus dem facettenreichen
Quellenmaterial ableitbaren Einzelinterpretationen in die Darstellung eines
158 — Ralf Gleser
Abb. 6: Schema eines kulturellen Beziehungsgeflechts, welches das bronzezeitliche
Tell-Phänomen in Ungarn erklären soll. Verändert nach Carola Metzner-Nebelsick 2013,
344 Abb. 9.
prozesshaften Geschehens überzuführen, die abschließend in eine echte
Kausalerklärung für den Ausklang des Tellphänomens mündet (MetznerNebelsick 2013, 332–345). Es können nicht alle dort angeführten Einzelinterpretationen in ihrer Wirkung inhaltlich bereits vollkommen plausibel
rekonstruiert erscheinen. Metzner-Nebelsicks Erklärung trägt aber zweifellos besonderen heuristischen Wert in sich; dadurch liegt ein Feld für weitergehende Forschungen offen.
Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen — 159
Einige Bemerkungen zum Schluss
Wissenschaftstheorie hat das Potenzial, der Prähistorischen Archäologie
wichtige Impulse zu vermitteln. Um das zu illustrieren, möchte ich abschließend erneut auf die Arbeiten u. a. von Mante (2000; 2003), Jung (2003) und
Ribeiro (2018) hinweisen, die mit diesem Wissensgebiet eng verbunden sind
bzw. waren. Diesbezügliche Abstinenz hat in den letzten Jahrzehnten dazu
geführt, dass die Theoriediskussion im Fach Richtungen eingeschlagen hat,
die sich hinsichtlich ihres Gehalts für andere Disziplinen nicht ohne Weiteres erschließen. Praktiken wie beispielsweise Analogieschlüsse zur wissenschaftlichen Erklärung oder Konzepte wie konstruktivistischer Narrativismus oder das implizite Festhalten an der Dichotomie Geisteswissenschaften
vs. Naturwissenschaften bzw. Verstehen vs. Erklären oder das gelegentliche
lebhafte Interesse an Positionen eines wissenschaftstheoretischen Relativismus dürften für Vertreter*innen einer wissenschaftstheoretisch informierten Philosophie und Historie – insbesondere, wenn die Position des wissenschaftstheoretischen Realismus eingenommen wird – kaum nachvollziehbar
sein. Zudem werden in der Prähistorischen Archäologie geläufige Theorien
dort auf den Prüfstand gehoben. Ein Beispiel: Während Anthony Giddens’
Theorie der Strukturation (Giddens 1997, 51–90) innerhalb der Prähistorischen Archäologie in Gestalt eines vage gehandhabten Agency-Konzepts
Aufmerksamkeit findet,22 wird der Gehalt der darin versuchten Vermittlung
von Individuum und Gesellschaft von wissenschaftstheoretischer Seite
durchaus kritisch beurteilt (vgl. Frings 2008, 130 mit Anm. 6; Gerber 2012,
270–285). Generell zeigen sich daran m. E. grundsätzliche, allerdings nicht
ohne weiteres auflösbare Probleme der Selbstwahrnehmung der Prähistorischen Archäologie im Kanon der akademisch etablierten Wissenschaften.
Ein Gewinn wäre es, wenn die Prähistorische Archäologie intensiver ins
Blickfeld der Wissenschaftstheorie hineinrücken könnte. Dazu sind Beiträge
zur Wissenschaftstheorie dieser Disziplin zu leisten, die allerdings nicht bloß
im eigenen Fachkreis kursieren, sondern darüber hinaus mindestens zwei
22 Giddens (1997, 57–62) differenziert zwischen intentionalem und unbewusst gesteuertem Handeln. Darauf fußt die Dichotomie von „action“, bewusste Handlung, die der Sphäre des diskursiven Bewusstseins entspringt, und „agency“, das
unbewusst motivierte Tun („doing“), das in der Sphäre des praktischen Bewusstseins verankert ist und sich in Handlungsroutinen manifestiert. In der archäologischen Literatur wird „agency“ dagegen sehr unterschiedlich aufgefasst, einmal,
im Sinne Giddens’ gewiss korrekt, als alltägliches Handeln (Veling 2019, 133),
dann aber auch als Etikett für intentionales Handeln, Handlungsfähigkeit, sogar
„Handlungsmacht“ (Stockhammer 2016, 335).
160 — Ralf Gleser
Kriterien erfüllen müssten: Erstens wäre im Zuge der Wissensproduktion innerhalb der Prähistorischen Archäologie nicht bloß auf konkrete Daten und
konkrete Interpretationen bei gerade – meist im Kontext des Zeitgeschehens
bzw. in Anverwandlung akademischer Trends – als relevant erscheinenden
Forschungsproblemen abzuheben. In den Forschungsprotokollen wäre verstärkt auf Relationen Bezug zu nehmen, die die Wissenschaftstheorie generell
zur Analyse von Wissenschaft im Fokus stehen hat, nämlich das Verhältnis
von Daten, Methoden, Theorien und Erklärungen. Zweitens wäre empirische
Forschung zu leisten, die Beschreibungs- und Erklärungsstrategien auch in
solchen Arbeiten zu evaluieren versucht, die nicht auf explizit formulierte
Theorien gestützt sind. Es wäre aufzuzeigen, wie je konkrete Forschungsprozesse innerhalb der Prähistorie methodologisch im Kontext der Wissenschaften zu rechtfertigen und zu verorten sind.
Eine Perspektive für die Zukunft der Theorie bzw. Philosophie unseres
Faches könnte deshalb nicht nur sein, die methodologischen Voraussetzungen archäologischen Deutens im Kontext des oben Erörterten, oder besser
noch: in Abwandlung dessen, klarer herauszuarbeiten. Darüber hinaus sind
die dabei gewonnenen Erkenntnisse anderen Fächern in solcher Weise zu
vermitteln, dass die Stellung der Prähistorischen Archäologie innerhalb der
Wissenschaften deutlicher hervortritt. Gelänge dieses Unterfangen, würde
auch die Wissenschaftstheorie bereichert, da diese in Bezug auf die Archäologien im Allgemeinen einen blinden Fleck aufweist.
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Kontakt
Prof. Dr. Ralf Gleser | Universität Münster | Historisches Seminar | Abteilung
für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie | Domplatz 20–22 | 48143 Münster |
r.gleser@t-online.de | https://orcid.org/0000-0003-4990-7714
Wider die Krise? Archäologie
nach der Postmoderne
Caroline Heitz
„Krise ist ein produktiver Zustand.
Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
(Max Frisch 1911–1991)
Zusammenfassung Unlängst wurde die Frage aufgeworfen, ob die Archäologie in eine epistemologische Krise geraten sei. Ein neuer Realismus würde die
idealistische Haltung der postprozessualen Archäologie herausfordern. Versteht
man eine Krise als schwierige Lage oder Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt
einer bedrohlich erscheinenden Entwicklung darstellt, so wird deutlich, dass deren Diagnostizierung standpunktabhängig und daher stets strittig bleiben muss.
Konsensfähiger ist die Beobachtung, dass sich die Archäologie in einer Phase
tiefgreifender Transformationen befindet. In diesem Essay gehe ich der Frage
nach, ob diese zu einem epistemologischen Paradigmenwechsel führen könnten, der die Archäologie über den Postprozessualismus der Postmoderne hinausführt. Die Archäologie – verstanden als ein dynamisches, über unterschiedliche
Sprach-, Erkenntnis- und Wissensformen hinausreichendes materiell-diskursives
Geflecht sozialer Praktiken – kann meiner Meinung nach nicht losgelöst von
gesellschaftlichen Prozessen betrachtet werden. Eine breitere Perspektive einnehmend, scheint die postmoderne Strömung insgesamt an Zugkraft zu verlieren. Wiederkehrende bewaffnete Konflikte, Finanz- und Flüchtlingskrisen,
die SARS-CoV-2 Pandemie, Ressourcenknappheit, Umweltverschmutzung und
Klimaerwärmung, die Entwicklung von künstlicher Intelligenz (AI) oder das
Internet der Dinge mit seinen Technologien zur Verbindung von physischen
und virtuellen Erfahrungsbereichen führen zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Realen. Diese gesamtgesellschaftlichen Prozesse könnten als
epochaler Umbruch verstanden werden: Von der Post- zur Metamoderne. Letztere kennzeichnet das Oszillieren zwischen Idealismus und Materialismus, Realismus und Konstruktivismus und damit Modernismus und Postmodernismus.
Caroline Heitz, Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne, in: Martin Renger, Stefan
Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze
im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 167–218.
DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c16196
167
168 — Caroline Heitz
Vergleichbare Tendenzen sind auch in der Archäologie erkennbar: der Science Turn, Digital Turn und Big Data beschreiben die zunehmende Relevanz
naturwissenschaftlicher Methoden, der Digitalisierung und Quantifizierung.
Außerdem führen neue philosophische, geistes- und sozialwissenschaftliche
Perspektiven wie der Material Turn (Neuer Materialismus) und der Ontological Turn (Neuer Realismus) die Archäologie von anthropozentrischen, idealistischen Haltungen weg. Gleichzeitig bleiben postmoderne Erkenntnisse
zur Subjektivität, Situativität, Kontextualität und Historizität in der Wissenskonstruktion bedeutsam. Wie könnte eine metamoderne Archäologie mit diesen unterschiedlichen Haltungen umgehen, ohne sich in Widersprüchen zu
verfangen? Wie ich aufzeigen möchte, müssten keine völlig neuen Denkgebäude ausgearbeitet werden, da Archäolog*innen auf bisher wenig beachtete
Dritt-Weg-Epistemologien zurückgreifen könnten.
Schlüsselbegriffe Epistemologie; Ontologie; Moderne; Postmoderne;
Metamoderne; Digital Turn; Science Turn; Material Turn; Ontological Turn
Abstract Recently, the question of whether archaeology has fallen into an
epistemological crisis has been posed. It is argued that a new shift towards
realism would challenge the current idealistic attitude of post-process archaeology. If one understands a crisis as a difficult situation, or climax and
turning point of a process of development to be judged as dangerous, it becomes clear that this diagnosis always remains subjective and therefore controversial. More generally accepted might be the observation that archaeology is currently undergoing profound transformations. In this essay, I would
like to inquire as to whether this might lead to an epistemological paradigm
shift, taking archaeology beyond the post-processual stance of postmodernity. Archaeology – a dynamic entanglement of material-discursive social
practices that reaches beyond different languages and forms of knowledge
production – cannot be understood in isolation from contemporary societal
processes. Taking a broader perspective, postmodernism as a whole seems to
be losing traction. Recurring armed conflicts, financial and refugee crises, the
SARS-CoV-2 pandemic, resource scarcity, environmental pollution and global warming, the development of artificial intelligence (AI) or the Internet of
Things with its technologies to connect physical and virtual experiences are
leading to an increased engagement with the ‘real’. These processes could be
understood as an epochal change: from post- to metamodernity. These processes are characterised by the oscillation between idealism and materialism,
realism and constructivism and thus modernism and postmodernism.
Comparable tendencies can also be seen in archaeology: the Science Turn,
Digital Turn and Big Data describe the increasing relevance of scientific
methods, digitisation and quantification. Furthermore, new philosophies such
as the Material Turn (New Materialism) or Ontological Turn (New Realism)
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 169
are leading archaeology beyond anthropocentrism and idealism. Simultaneously, postmodern insights into the subjectivity, situatedness, contextuality
and the historicity of knowledge production are still considered significant.
How could a metamodern archaeology deal with these different stances without getting caught up in contradictions? In my view, completely new ways of
thinking are in fact unnecessary, as archaeologists could draw on ‘third-way’
epistemologies that have so far received little attention.
Keywords Epistemology; Ontology; Modernism; Postmodernism; Meta-
modernism; Digital Turn; Science Turn; Material Turn; Ontological Turn
Steckt die Archäologie in einer epistemologischen Krise?
Guy Gibbon hat in seinem Beitrag zur epistemologischen Wende von der
prozessualen zur postprozessualen Archäologie im Standardwerk Archaeology – The Key Concepts bereits die Frage aufgeworfen (Gibbon 2005, 70): „Is
there an epistemological crisis in archaeology?“, also, ob die Archäologie in
eine Krise geraten sei – und diese unbeantwortet gelassen. Mehr als fünfzehn
Jahre später scheint die Frage nichts an Brisanz verloren zu haben: Befindet
sich die Archäologie aktuell (wieder) in einer epistemologischen Krise? Und
wenn ja, wie sind wir in diesen Zustand hineingeraten oder anders gefragt:
Was hat die Krise ausgelöst? Wie äußert sich diese? Und wie könnte diese
Krise überwunden werden? Bei der Suche um Beantwortung dieser Fragen
stellt sich zunächst eine andere, die nach der begrifflichen Bestimmung von
Epistemologie und Krise. Zuerst zu Letzterer.
Was Krisen sind, lässt sich unmittelbar aus der eigenen Lebenserfahrung
und dem alltäglichen Sprachgebrauch nachvollziehen, scheinen wir doch individuell oder gesellschaftlich immer wieder mit solchen konfrontiert: Von
persönlichen Krisen, wie Identitäts-, Lebens- oder Schaffenskrisen bis hin
zu globalen Krisen wie etwa der Finanzkrise 20081, der Klimakrise2 oder der
Corona-Krise3. Nicht nur staatliche und privatwirtschaftliche Institutionen
befassen sich mit Krisen und Krisenmanagement, sondern auch verschiedene wissenschaftliche Forschungsprogramme (Bösch u. a. 2020a).4 Welche
Situation als Krise bezeichnet wird, ist dabei standpunktabhängig. Etwas als
1
2
3
4
https://www.iwh-halle.de/fileadmin/user_upload/publications/wirtschaft_im_
wandel/1TH-09.pdf (22.2.2022).
https://subscriber.politicopro.com/article/eenews/1060718493 (22.02.2022).
https://www.leibniz-gemeinschaft.de/forschung/corona-forschung/corona-for
schung-auswirkungen-auf-gesellschaft-und-wirtschaft (22.02.2022).
https://www.leibniz-krisen.de/ (22.02.2022).
170 — Caroline Heitz
Krise zu bezeichnen, bedeutet damit, eine Beurteilung vorzunehmen: Die Situation bedroht die aktuell bestehende Ordnung und die sie aufrechterhaltenden Relationen, die grundsätzlich positiv bewertet wurden. Was für eine
Gruppe als Krise wahrgenommen wird, kann für eine andere als Chance oder
willkommener Wandel aufgefasst werden. Krisen sind nicht nur perzipierte
und sozial konstruierte Ereignisse, sie haben für die Betroffenen erfahrbare
Auswirkungen. So plädieren die Krisenforscher Frank Bösch und seine Koautor*innen für ein
„reflexives Krisenverständnis […] in dem die konstruktivistische Dimension deutlich bleibt, die Verfestigung der Krise im und durch den
gesellschaftlichen Diskurs erforscht wird, ohne dass die realen Ursachen und Auswirkungen von politischen, wirtschaftlichen oder humanitären Krisen relativiert werden müssten.“ (Bösch u. a. 2020b, 5)
Krisen werden damit zum Erfahrungs- und Diskursfeld zugleich, sowohl
zum „Beobachtungsgegenstand“ als auch zum „Beobachtungsinstrument“
(ebd.) – und damit zum epistemologischen Mittel.
Der deutsche Begriff Krise ist ein aus dem medizinalen Kontext des
16. Jahrhunderts stammender Terminus und hat seine Herkunft im lateinischen crisis, was einen „kritischen Höhe- und Wendepunkt im Verlauf einer
akuten Krankheit“ bezeichnete (Apitz 1987, 1).5 Der Terminus kann weiter
auf das griechische Substantiv krísis (Scheidung, Entscheidung, entscheidende Wendung) beziehungsweise das Verb – krínein (entscheiden) zurückgeführt werden.6 Über den französischen Sprachgebrauch – crise – wurde
der Begriff ab dem 18. Jahrhundert für die Beschreibung von militärischen
und politischen Situationen verwendet, in welchen eine Entscheidung gefällt und konkrete Maßnahmen getroffen werden mussten. Im Revolutionszeitalter wurde der Begriff Krise schließlich zum Anzeichen eines epochalen
Umbruchs (Ernst 2008).
Heute kann unter einer Krise eine „schwierige Lage, Situation“ oder „Zeit,
die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt“ 7,
verstanden werden, in welcher wichtige, mitunter schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen, um den kritischen Zustand zu überwinden.
Krisen sind also Problemsituationen unterschiedlicher Art, welche mit gängigen materiell-diskursiven sozialen Praktiken der Problemlösungen nicht
überwunden werden können und somit neue Handlungsentwürfe erfordern.
5
6
7
https://www.duden.de/rechtschreibung/Krisis (10.12.2019).
https://www.etymonline.com/word/crisis (10.12.2019).
https://www.duden.de/rechtschreibung/Krise#Bedeutung1 (01.04.2019).
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 171
Sie sind transformative Wendepunkte hin zu neuen Phasen sozialer Konfigurationen und Praktiken.
Bei epistemologischen Krisen bezieht sich dieses Moment der kritischen
Lage und damit verbundenen notwendigen Transformation auf die Frage
nach den Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns über die Welt. In der theoretischen Philosophie beschäftigt sich die Ontologie – griechisch ὀντολογία /
ontología (die Lehre vom Seienden) – mit den Grundstrukturen der Welt,
also mit Begriffen wie Existenz, Sein, Werden, Wirklichkeit und Realität, und
fragt, welche Kategorien von Objekten existieren und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.8 Die Epistemologie – von ἐπιστήμη / epistími (Wissen, Kenntnis, Wissenschaft) und logos (Lehre) – oder auch Erkenntnis- oder
Wissenschaftslehre untersucht das menschliche Wissen und unterschiedliche
Formen der Wissenskonstruktion. Ihre grundlegendsten Fragen sind folgende
(vgl. Gettier 1963; Ernst 2016)9: Was ist Erkenntnis? Was können wir wissen?
Welche Quellen des Wissens gibt es? Wie kommt Wissen zustande? Wie sind
unsere Erkenntnissysteme aufgebaut?
Bezogen auf die Archäologie stellen sich epistemologische Grundfragen
wie etwa (vgl. Gibbon 2005, 67–71): Was ist archäologisches Wissen? Welche
Quellen des Wissens stehen uns zur Verfügung? Wie kann archäologisches
Wissen produziert werden? Was können wir über die Vergangenheit wissen – wenn überhaupt? Und welche sind die richtigen, also die wissenschaftlich anerkannten bewährten Wege der Wissensproduktion?
Meiner Meinung nach befinden wir uns aktuell wieder in einer Phase
unserer Wissenschaftsgeschichte, in welcher eine größere Verunsicherung
und Uneinigkeit darüber besteht, wie diese Fragen zu beantworten sind und
in welcher konträre Haltungen dazu wieder vermehrt debattiert werden
(beispielsweise Kristiansen 2014; 2017; Sørensen 2017). Worüber besteht
Uneinigkeit? Es gibt aktuell zwei grundsätzliche Haltungen, die auf den ersten Blick scheinbar zueinander in Widerspruch stehen, also konträr sind, so
dass deren Grundaussagen sich folglich logisch gegenseitig ausschließen:
eine idealistisch-konstruktivistische und eine realistische Haltung bezüglich
den Erkenntnismöglichkeiten in der (archäologischen) Wissenschaft. Für
ein tieferes Verständnis hiervon lohnt sich ein kurzer Rückblick auf die Wissenschaftsgeschichte mit ihren epistemologischen Wenden, die besonders
im englischsprachigen Raum reflektiert und diskutiert wurden, ebenfalls die
deutschsprachige archäologische Theoriediskussion beeinflusst haben (beispielsweise Eggert 1978; Bernbeck 1997; Eggert – Veit 1998).
8
9
https://www.philosophie.uni-muenchen.de/fakultaet/schwerpunkte/ontologie/
index.html 05.03.2022).
https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/epistemologie/585 (10.12.2019).
172 — Caroline Heitz
Der Realismus der Moderne und die Prozessuale Archäologie
Die epistemologischen sowie wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Moderne und der Prozessualen Archäologie werde ich im
Folgenden exemplarisch anhand zweier einschlägiger Texte zu dieser Denkrichtung, von Lewis Binford (1968) und David Clarke 1973), skizzieren. Die
New Archaeology, die als Forschungsperspektive in den USA entstand und
auf welche sich die späteren britischen Vertreter der Prozessualen Archäologie (Processual Archaeology) bezogen, ist seit den frühen 1960er Jahren eine
sehr einflussreiche Forschungsrichtung, deren epistemologische Grundhaltung im wissenschaftlichen Realismus der Moderne verortet werden kann.
Die durchaus unterschiedlichen Positionen des wissenschaftlichen Realismus eint ihre positive erkenntnistheoretische Haltung bezüglich des Wahrheitsanspruchs wissenschaftlicher Theorien oder deren Teilaspekte und ihrem Referenzcharakter für die Welt. Realistische Ansätze vertreten die Idee,
dass unsere besten Theorien einen bestimmten epistemischen Status haben:
Sie liefern Wissen über Aspekte der Welt. Vertreter*innen des Realismus sind
folglich der Auffassung, dass die Wissenschaft wahre oder annähernd wahre Beschreibungen der Dinge in der Welt hervorbringen kann. Dabei geht
man von der verstandesunabhängigen Existenz, der von den Wissenschaften
untersuchten Welt aus (weiterführend Chakravartty 2017).
Ursprünglich wurde die New Archaeology als eine den damals dominierenden kulturhistorischen Ansatz und dessen typochronologisch-evolutionistisch-diffusionstischem Anliegen überwindende und sich davon
abgrenzende Alternative formuliert. In seinem programmatischen Artikel
Archaeological Perspectives formulierte Binford (1968) für die New Archaeology deren Ziele. Er schlug eine neue Vorgehensweise vor, welche Beobachtungen, die Formulierung von Annahmen und Hypothesen sowie das Treffen von Voraussagen beinhalten sollte und deren Erkenntnisse deduktiv mit
Hilfe quantitativer Methoden erzielt werden sollten (Binford 1968, 15–23).
Nicht die Lückenhaftigkeit der archäologischen Quellen oder die stets zeitgebundene Perspektive, sondern die der angewandten Methoden seien der
limitierende Faktor, um Wissen über die Vergangenheit zu generieren, wie
folgende Zitate zum Ausdruck bringen:
„[…] so long as we insist that our knowledge of the past is limited by
our knowledge of the present, we are painting ourselves into a methodological corner. The archaeologist must make use of his data as
document of past conditions, proceed to formulate propositions about
the past, and devise means for testing them against archaeological remains.“ (Binford 1968, 14)
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 173
„The practical limitations on our knowledge of the past are not inherent in the nature of the archaeological record; the limitations like in
our methodological naivité, in our lack of development for principles
determining the relevance of archaeological remains to propositions
regarding processes and events of the past.“ (Binford 1968, 23)
Interessant ist, dass mit diesem zunächst primär methodologischen Anliegen der New Archaeology auch ein neues, kritisch reflexives Selbstbewusstsein und damit eine Art epistemologisches Erwachen der Disziplin
einherging. Clarke (1973) hat diesen Zusammenhang in einer präzisen
Analyse in seinem Aufsatz Archaeology. The Loss of Innocence der New bzw.
Processual Archaeology in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext
und deren Verbindung zu politisch-historischen, technischen und globalgesellschaftlichen Entwicklungen in einzigartig reflektierter Art und Weise aufgezeigt. Besonders die Zeit des Zweiten Weltkrieges habe zu zahlreichen gesellschaftlichen Transformationen und technischen Revolutionen
geführt, die wiederum methodische und theoretische Revolutionen in den
Wissenschaften zur Folge gehabt hätten (Clarke 1973, 7–8. 12. 14). Besonders wichtig für unsere Disziplin war die Entwicklung der Radiokarbondatierung sowie die sogenannte Quantitative Revolution (Clarke 1973, 12),
die Einführung der Computer in die Wissenschaften in den 1960er Jahren.
Neben diesen weniger politisch aufgeladenen, eher als Transformationen
denn Revolutionen zu bezeichnenden Veränderungen hatte die Erkenntnis
und Ernüchterung der Nachkriegszeit, dass die Archäologie ideologisch
instrumentalisiert worden war, und das Verständnis von Vergangenheit
stets durch die Gegenwart beeinflusst ist, ebenfalls eine entscheidende
Wirkung. Dies alles führte zu einer bevorzugten und breiten Anwendung
von mathematischen und naturwissenschaftlichen Methoden und quantitativen Ansätzen in der Archäologie (Clarke 1973, 9–10). Die Prozessuale
Archäologie, wie sie Clarke in den 1970er Jahren skizzierte, hatte zum Ziel,
sich in einem Schnittpunkt zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu
bewegen:
„Certainly new ancillary methods do not alter the intrinsic nature of
the discipline and we must not suppose that because we can display
an archaeological relationship mathematically and analyse archaeological data scientifically that the discipline itself necessarily assumes
a mathematical or scientific status. But equally neither may we assume that, because we describe archaeological observations in a literary form and interpret our data imaginatively, the discipline is a free
creative art.“ (Clarke 1973, 11)
174 — Caroline Heitz
Dabei wurde die Archäologie zunächst eindeutig als erklärende Wissenschaft verstanden, welche ermöglicht, Erkenntnisse zumindest zu einem
Teil der Vergangenheit zu erzielen. Mit ihrer epistemologischen Grundhaltung waren die Vertreter*innen der Prozessualen Archäologie der objektiven Beschreibbarkeit des Realen gegenüber eher optimistisch eingestellt.
Man war der Meinung, dass durch ein rigoroses methodisches naturwissenschaftliches und quantitatives Instrumentarium Forschungsergebnisse
verifizier- oder falsifizierbar, und die Vergangenheit damit zumindest in
Teilen rekonstruierbar sei – wenigstens in Form einer gewissen Annäherung an dieselbe. Die Explanation vergangener Prozesse, nicht die bloße
Beschreibung war das erklärte Ziel, wie das folgende Zitat von Binford
verdeutlicht:
„We assume that the past is knowable. That with enough methodological
ingenuity, propositions about the past are testable; and that there are
valid scientific criteria for judging the probability of a statement about
the past […].“ (Binford 1968, 26)
Zumindest Clarke hatte aber bereits eine sehr viel differenzierte Ansicht zum
Wahrheitsgehalt archäologischer Forschungsinhalte, als man das den Vertreter*innen prozessual-archäologischer Ansätze bisweilen unterstellen mag.
So formulierte er seine Unsicherheit bezüglich der objektiven Wahrheit oder
dem absoluten Realitätsbezug archäologischer Entitäten, was deren heuristischer Nützlichkeit seiner Meinung nach keinen Abbruch tat:
„Now archaeology has been much vexed by the problem of whether
its hypothetical entities are ‘real’; it bad been intuitively assumed that
they were so but the technical revolution which has allowed us to test
for their existence reveals that they are structurally very complex and
their ‘reality’ is still a matter of debate. However, even should the reality of our hypothetical entities turn out to be of the latter merely
referential form, their utility need not diminish.“ (Clarke 1973, 14)
Der Unterschied zu den diesbezüglichen Haltungen der Vertreter*innen der
darauffolgenden Postprozessualen Archäologie mag darin liegen, dass jene
der Prozessualen Archäologie eine zumindest fallweise Überprüfbarkeit archäologischer Forschungsergebnisse bezüglich vergangener Realitäten für
möglich hielten, eine Position, die bereits eine ontologische Überzeugung
beinhaltet, dass es eben eine solche Realität gibt.
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 175
Der Idealismus der Postmoderne und die Postprozessuale
Archäologie
Die postprozessuale epistemologische Haltung kann als Gegenposition
zu jener der prozessualen Ansätze verstanden werden. Die Bezeichnung
postprocessual wurde von Ian Hodder (1984, 30) vorgeschlagen, womit ihm
gleichsam eine Abgrenzung zur Prozessualen Archäologie und eine Hinwendung zu den epistemologischen Anliegen der Postmoderne gelang (vgl.
unten). Wie bei der Postmoderne handelt es sich auch bei der Postprozessualen Archäologie weniger um eine programmatisch vorangetriebene Richtung als ein Zusammenfluss unterschiedlicher Strömungen des 20. Jahrhunderts. Dazu können etwa poststrukturalistische, semiotische, feministische
oder marxistische Ansätze gezählt werden (Bernbeck 1997, 270; MüllerScheeßel 2014, 215). Die Anliegen der postmodernen Erkenntnistheorie, die
als Gegenentwurf zu jener der Moderne zu verstehen ist, können wie folgt
grob zusammengefasst werden (vgl. Hillmann 2007, 694–695): Der Mensch
wird als endlich angesehen, und da sich jeder vom anderen unterscheidet,
müssen folglich die menschlichen Perspektiven endlich sein und können
daher jeweils nur subjektiv sein und subjektive Gültigkeit haben. Damit
sind ebenfalls die gemeinsamen objektiven Grundlagen der nur subjektiv
erkennbaren Realität fraglich. Die Pluralität der Perspektiven wird auf jene
der Methoden ausgeweitet, mit welchen sich jeweils voneinander unterscheidende Resultate erzielt würden. Objektive Erkenntnisse ließen sich somit nicht erzielen, so dass die Wahrheitsansprüche derselben nur kontextspezifisch gelten können.
Gerade letzteres kann auch in der Wissenschaftsgeschichte der archäologischen Erkenntnistheorie beobachtet werden: Neben neuen methodologischen Ansätzen brachte die Postprozessuale Archäologie eine radikale epistemologische Wende mit sich: von unterschiedlichen Positionen des Realismus
hin zu solchen des Anti-Realismus, wozu eine spezifische Form des konstruktivistischen Idealismus – der Konstruktivismus – gehört und zumindest
teilweise mit relativistischen Positionierungen einher ging (weiterführend
Heisterhagen 2017; Gabriel 2018, 47–48). Konstruktivismus meint dabei eine
Form des Anti-Realismus, die behauptet, dass Entitäten nur dadurch existieren, dass sie im stets subjektiven Erkenntnisprozess konstruiert wurden, aber
keine Existenz an sich jenseits eben dieses Prozesses angenommen werden
kann (vgl. Gabriel 2018, 48). Es besteht also ein epistemologisches Realismusproblem. Vertreter*innen relativistischer Positionen sind außerdem der Meinung, dass jede dieser Konstruktionen relativ zu ihrem Entstehungszusammenhang betrachtet werden sollte und damit eine Vergleichbarkeit außerhalb
desselben nicht sinnvoll ist (Paleček – Risjord 2012, 10).
176 — Caroline Heitz
Idealismus – hier und im Folgenden als Konstruktivismus verstanden – und
Relativismus gehören zu den grundlegenden philosophischen Haltungen der
postmodernen Strömung der 1980er Jahre, welche – wie die Postprozessuale
Archäologie selbst – als Gegenbewegung zum Realismus der Moderne verstanden werden kann. In Anlehnung an den Poststrukturalismus, die Semiotik
und Hermeneutik war man auch in anderen Geistes- und Sozialwissenschaften zur Haltung gekommen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse stets subjektiv bleiben und dass sich deren Überprüfung bestenfalls nur im Rahmen von
durch Machtkonstellationen beeinflussten, gesellschaftlichen Diskursen und
innerhalb von ebenfalls historisch gebundenen sozialen Praktiken der Wissenskonstruktion bewegen könne (Bernbeck 1997, 272–273). Diese Haltung
ist aus epistemologischer Sicht eine der wichtigsten der Postprozessualen Archäologie und wird von Christopher Tilley (1993) in seinem einführenden Text
zum Sammelband Interpretative Archaeology wie folgt auf den Punkt gebracht:
„Disciplines, and the theoretical paradigms in favour at any one time,
always attempt to stabilize the manner in which we view the world […]
The ‘truth’ of an interpretation in archaeology, in effect, boils down to
its acceptability to others, because all the statements made are radically underdetermined by the evidence in one way or another. What that
evidence actually is depends on various technologies and methodological procedures and theoretical constructs.“ (Tilley 1993, 6–7)
Die sprachlich-strukturierte menschliche Wahrnehmung der Welt erlaubt
somit, keinen Fixpunkt der Wahrheit außerhalb unserer subjektiven Perspektiven im Raum des absolut Realen zu bestimmen. Die Forschungsergebnisse, die wir zu vergangenen Gesellschaften und ihren Lebenswelten erarbeiten, sind zwangsläufig immer gegenwartsgbezogen (Hofmann 2016;
Meier 2016). Unsere wissenschaftliche Praxis ist demnach nicht primär als
eine Art Aufdeckung vergangener Wahrheiten zu verstehen, sondern als ein
gegenwärtiger, vergangenheitsbezogener Sinngebungsprozess:
„The emphasis on polysemy, material culture, as multivocal code breaks
down the very possibility of the archaeologist legislating once and for
all on the meaning of the past and opens up the possibility for new
forms of understanding. The failure of the ‘post-processual’ archaeology to disclose the (sic!) meaning of the past is perhaps its strength for
there is no meaning to be disclosed.“ (Tilley 1993, 4–5)
Die Subjektivität und Gegenwartsgebundenheit der archäologischen Interpretation ist der konstruktivistisch post-prozessualen Haltung folgend nicht
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 177
zu überwinden, da nicht nur Erkenntnisgewinne, sondern auch Forschungspraktiken schlussendlich sprachgebundene Prozesse sind (vgl. Heitz –
Schüep 2011, 13–22). Damit wird gleichsam die Möglichkeit, die vergangene
Realität im Sinne einer absoluten Wahrheit durch die archäologische Forschung zu rekonstruieren, in Frage gestellt (Meier 2016, 260). Die Haltungen fächern sich dabei auf zwischen solchen, die lediglich dem Wahrheitsgehalt archäologischer Forschungsergebnisse bezüglich einer vergangenen
Realität kritisch gegenüber eingestellt sind (epistemologischer Konstruktivismus), und radikaleren postmodernen idealistischen Positionen, dass es
auch in der Gegenwart keine einzige reale Welt gibt, dass Realität durch
sprachliche Konvention und Formulierungen konstruiert ist (ontologischer
Konstruktivismus). Gemäß dieses Interpretivismus ist die Archäologie ein
wissenschaftliches Spiel mit Worten und Bedeutungen, ganz im Sinne von
Paul Feyerabends anything goes und seinem relativistischen Angriff auf das
poppersche rationalistische Wissenschaftsparadigma (Feyerabend 1975, vii).
Beiden postmodernen Richtungen der Postprozessualen Archäologie ist
gemein, dass sie insgesamt zentrale Grundfragen der Epistemologie nach
Überzeugung, Rechtfertigung und Wahrheit in Wissenskonstruktionen
grundsätzlich als sinnfrei erklären. Stattdessen werden erkenntnistheoretische Standpunkte, die Macht, Ungleichheit, Erzählung und andere nichttraditionelle Perspektiven beinhalten, eingenommen und in ihrer Pluralität
akzeptiert (Gibbon 2005, 69–70). Damit einher geht in diesem Forschungsmilieu eine Abwendung von umfassenden Vergangenheitsrekonstruktionen,
den Großen Erzählungen, dem Desiderat der Explanation und damit gleichsam der Veri- und Falsifizierbarkeit der Forschungsresultate und damit auch
der quantitativen Archäologie.
Aktuelle Perspektiven: Der Science, Digital und Material Turn
Das epistemologische Pendel scheint sich meiner Meinung nach derzeit einmal
mehr zu bewegen. Nachdem es vom objektivistischen Realismus der Prozessualen Archäologie zum subjektivistischen, konstruktivistischen Idealismus
der Postprozessualen Archäologie geschwungen war, ist heute eine erneute
Hinwendung zu Realismus-nahen Standpunkten zu beobachten (Alberti 2016,
163–169; Heitz 2017a). Ontologische und epistemologische Fragen danach,
was Realität ist, welche Möglichkeiten der Erkenntnis die Archäologie zur
Vergangenheit und / oder Gegenwart hat und welche Formen der Wissenskonstruktion uns zur Verfügung stehen und wie sich wissenschaftliche von
nicht-wissenschaftlichen abgrenzen ließen – wenn überhaupt – werden wieder intensiver diskutiert. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht sind meiner
178 — Caroline Heitz
Meinung nach drei epistemologische Veränderungen ausschlaggebend, die
als sogenannte Turns in den Geistes- und Sozialwissenschaften bezeichnet
werden: der Science Turn, der Digital Turn und der Material Turn. Die Bezeichnung solcher Perspektivenwechsel oder Wenden als Turns geht auf
den amerikanischen Philosophen Richard Rorty zurück, der 1967 einen programmatischen Sammelband unter dem Titel The Linguistic Turn herausgab,
in dem vertreten wird, dass Erkenntnis stets sprachlich vermittelt ist, womit
Sprache zum Hauptgegenstand philosophischer Untersuchung wurde (Rorty
1992 [1967]). Seither sind weitere epistemologische Wenden in den Geistesund Sozialwissenschaften als Turns bezeichnet worden, wie etwa der Cultural
Turn (Bachmann-Medick 2006). Hilfreich ist die Bezeichnung solcher Perspektivenwechsel als Turns deshalb, weil sie es erlauben, einzelne transformative Momente aus dem ständigen Fluss wissenschaftsgeschichtlicher Veränderungen zu akzentuieren, deutlich zu machen und damit zu reflektieren.
Turns gehen dabei über neue Forschungsfoki oder neue Untersuchungsfelder
und Erkenntnisobjekte hinaus, indem gleichsam neue Analysekategorien und
Konzepte als Erkenntnismittel und -medien relevant werden (BachmannMedick 2006, 26). Doris Bachmann-Medick konzeptualisiert Turns wie folgt:
„Eine derart tiefgreifende erkenntniskritische Funktion der turns wird
aber erst erkennbar, wenn man sie nicht nur auf ihr Vermögen reduziert, bisher unbeachtete Untersuchungsfelder aufzudecken – wenngleich dadurch immer wieder neue (auch gesellschaftlich und politisch
wichtige) Forschungsthemen ausgelotet werden. Doch von einem turn
sollte man erst dann sprechen, wenn diese neuen Forschungsthemen
auf die Ebene von Konzepten ‚umschlagen‘, wenn Beschreibungsbegriffe zu disziplinenübergreifenden konzeptuell-methodischen Analysekategorien werden, wenn sie also nicht mehr nur Objekt von Erkenntnis bleiben, sondern selbst zum Erkenntnismittel und -medium
werden.“ (Bachmann-Medick 2019, 5–6)
Was meiner Meinung nach bei dieser Konzeptualisierung zu wenig betont
wird, ist die Zeitlichkeit solcher wissenschaftlichen Prozesse, die nicht immer programmatisch gesteuert werden, sondern als Strömungen über die
Zeit an Fließkraft gewinnen, bis sie irgendwann in die Aufmerksamkeit der
Forschungsgemeinschaft rücken und als Turns verstanden und bezeichnet
werden. Der Zeitpunkt des ‚Umschlagens‘ ist meiner Meinung nach bestenfalls retrospektiv wissenschaftsgeschichtlich zu bestimmen. Vielleicht wäre
es hilfreicher, von einer Transformationsphase zu sprechen, die je nach Turn
einmal ihren Ursprung eher in technologischen und methodischen Neuerungen (Digital Turn, Science Turn) oder auch epistemologischen Überlegungen
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 179
und kulturellen sowie sozialen Konstellationen (Material Turn) haben
mag, ohne dass sich diese Felder immer klar voneinander trennen ließen.
So kann man davon ausgehen, dass sich bei einem Turn kaum schlagartig
sämtliche Bereiche der Wissensproduktion ändern, sondern beispielsweise
disziplinenübergreifende konzeptuell-methodische Analysekategorien erst
allmählich entstehen.
Die wissenschaftlichen Strömungen, die in Turns münden, können parallel zueinander entstehen, in „eklektischen Konstellationen“, wobei sich die
beteiligten Wissenschaftler*innen gegenseitig beeinflussen (vgl. BachmannMedick 2019, 4). Für die Beobachtungen meines hier vorliegenden Beitrages,
ist eine weitere Aussage von Bachmann-Medick interessant, die sich mit dem
Ursprung der Turns befasst:
„Pierre Bourdieus Feldtheorie […] verweist auf konkretere Entstehungsbedingungen: auf ein ‚Feld objektiver Beziehungen zwischen
Individuen oder Institutionen, die miteinander um ein und dieselbe
Sache konkurrieren‘. In der Tat ist das Überdeterminieren und eifrige Besetzen von turns und ihrer Leitbegriffe ein deutliches Anzeichen
für den anhaltenden Wettlauf um symbolisches Forschungs-Kapital.
Die größte Erklärungskraft für die Herausbildung von turns bietet
jedoch deren Rückbindung an gesellschaftlich-politische Prozesse.“
(Bachmann-Medick 2019, 4)
Das Ausrufen von Turns an sich hat demzufolge unter anderem etwas mit
wissenschaftlicher Themenbesetzung und dem Drang oder Zwang, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu liefern, zu tun. Interessant ist, besonders auch
im Hinblick auf den Science und den Digital Turn, dass Bachmann-Medick die
inhaltlichen Ursprünge von Turns ebenfalls in gesellschaftlich-politischen
Prozessen vermutet, eine Sichtweise, die ich in Bezug auf die umfassendere,
hier beschriebene Krise oder Wende teilen würde.
Der Science Turn
Mit Hilfe des Begriffs Science Turn wird von Kristian Kristiansen die Beobachtung der seit einigen Dekaden zunehmenden Relevanz von naturwissenschaftlichen – besonders biowissenschaftlichen – Ansätzen in der Archäologie sowie anderen Geistes- und Sozialwissenschaften bezeichnet (Kristiansen
2017, 122). Diese Entwicklung führt Letztere in eine Krise, wie beispielsweise
Mike Laufenberg feststellte:
„Die Spatzen pfeifen es von den Dächern der philosophischen Fakultäten: Die Sozial- und Geisteswissenschaften stecken in einer Krise.
180 — Caroline Heitz
Schuld, so hört man, hat der neuerliche Bedeutungs- und Terraingewinn der Biowissenschaften, der sich zwar von langer Hand
ankündigte, der in seinen Auswirkungen aber die Soziologie genauso
überrumpelte wie die Kulturwissenschaften. Die neuen Wissenschaften vom Leben präsentieren sich am Übergang zum 21. Jahrhundert
erfolgreich als neue Leitwissenschaften, auch und gerade in der Ausdeutung und Erklärung von Phänomenen, die, so dachte man, in der
Vergangenheit eher in den Kompetenzbereich sozial-, geistes- und
kulturwissenschaftlicher Intelligenz fielen.“ (Laufenberg 2011, 46)
Eine ähnliche Beobachtung lässt sich für die Archäologie machen. Kristiansen
hat mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der Archäologie in seinem einschlägigen Artikel Towards a New Paradigm? The Third Science Revolution and
its Possible Consequences in Archaeology (Kristiansen 2014) argumentiert, dass
wir uns nach der Etablierung der Archäologie als Wissenschaft in den 1850er
bis 1860er Jahren und dem methodischen Durchbruch der 14C-Datierung in
der Nachkriegszeit (1945–1955) derzeit in einer dritten Phase befinden, in
welcher naturwissenschaftliche Ansätze die Archäologie erneut zu revolutionieren versprechen (Kristiansen 2014, 14–17). Interessant ist seine Beobachtung deshalb, weil sie zeigt, dass aktuell wissenschaftsgeschichtlich bedingte
epistemologische Fragen dadurch wieder neu aufgeworfen werden. Bereits
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich in Europa die Natur- und
Geisteswissenschaften mit ihren Disziplinen herauszubilden begannen, zeigten sich epistemologische Differenzen (Bräunlein 2012, 31). Auf der einen
Seite standen die Naturwissenschaften mit ihrem Realismus, die sich dem
objektiven Verständnis der Gesetze der Natur widmeten und durch ihre methodischen Errungenschaften zu einem großen Wissenszuwachs beitrugen.
Dabei führten systematische Beobachtungen und Beschreibungen, Messungen und Experimente zu einem wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch, der
den geisteswissenschaftlichen Methoden des Erkenntnisgewinns gegenüberstand (ebd.). Aus den unterschiedlichen Erkenntnisweisen und Ansprüchen
der natur- und der geisteswissenschaftlichen „Kulturen“, wie Charles P. Snow
es nannte, entstand ein epistemologisches Problemfeld, das sich durch die
gesamte Wissenschaftsgeschichte hindurchzieht und immer wieder zu Spannungen führt.10
Kristiansen legt in Bezug auf die Archäologie dar, dass in der aktuellen Forschung insbesondere mikrobiologische Verfahren wie aDNA- und
Isotopen-Analysen einen großen Einfluss hätten und zu epistemologischen
10 Snow 2001 [1959]; vgl. Laufenberg 2011, 52–54; Sørensen 2017, 101–115; Arponen
u. a. 2019, 1672–1673.
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 181
Herausforderungen führen würden (Kristiansen 2014, 13. 20). Beide Methodenfelder machen eine Neuorientierung in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Disziplinen notwendig, die zu neuen
Forschungsrichtungen zusammenwachsen müssen. Besonders die aDNAForschung ist dabei bereits in die Kritik geraten, wobei theoretische Mängel
bei der Interpretation der Ergebnisse und ethische Verpflichtungen Kondensationspunkte der Diskussion sind (z. B. Furholt 2017b). Während die methodischen Komplexitäten der aDNA-Forschung für Archäolog*innen nicht
immer leicht verständlich sein mögen, mangelt es den Genetiker*innen am
nötigen archäologischen Wissen über (prä)historische Kontexte und Aussagemöglichkeiten zu sozialen Gruppen der Vergangenheit. Besonders die
simplifizierte, auf dem überholten kulturgeschichtlichen Ansatz beruhende
Interpretation paläogenetischer Ergebnisse zu Mobilität und Migration sowie
damit verbundene politische Instrumentalisierungen bieten aus archäologischer Sicht epistemologische Herausforderungen (Furholt 2017b; Sedig 2019).
Die Forschung ist bezüglich der wünschenswerten neuen disziplinenübergreifenden konzeptuell-methodischen Analysekategorien, die zwischen
Natur- und Geisteswissenschaften vermitteln oder diese in den jeweiligen
Forschungsprojekten synthetisieren, meiner Meinung nach erst am Anfang.
Anna Källén und Koautor*innen haben in ihrem einführenden Artikel zur
Spezialausgabe aDNA des Journal of Social Archaeology Introduction. Transcending the aDNA Revolution ebenfalls darauf hingewiesen (Källén u. a. 2021,
151–152; vgl. dort zitierte Literatur). Einer der Beiträge darin, der sich mit
epistemologischen Fragen befasst und sich um eine theoretische Fundierung der aDNA-Forschung in der Archäologie bemüht, ist jener von Venla Oikkonen (2021) Conceptualizing Histories of Multispecies Entanglements.
Ancient Pathogen Genomics and the Case of Borrelia Recurrentis. Sie untersucht die konzeptionellen und kulturellen Implikationen der Verwendung
von pathogener aDNA. Bezüglich aDNA-Forschung und Demographischen
Arbeiten – hier wird auch der Digital Turn wichtig (vgl. unten) – könnte exemplarisch der von Stephan Shennan und Rebecca Sear 2021 veröffentlichte
Aufsatz Archaeology, Demography and Life History Theory Together Can Help
us Explain Past and Present Population Patterns (Shennan – Sear 2021) dienen
oder Jennifer Frenchs und Andrew Chamberlains Aufsatz Demographic Uniformitarianism. The Theoretical Basis of Prehistoric Demographic Research and
its Cross-Disciplinary Challenges (French – Chamberlain 2021). Schließlich
befasste sich Artur Ribeiro (2019) in Science, Data, and Case-Studies under
the Third Science Revolution. Some Theoretical Considerations mit dem Science
Turn und dessen möglichen theoretischen Konsequenzen.
Die grundsätzlich verschiedenen Formen der natur- und geisteswissenschaftlichen Wissensproduktionen mit ihren Wissensansprüchen führen
182 — Caroline Heitz
dann zu Spannungen, wenn durch das zunehmende Interesse an naturwissenschaftlichen wie den damit einhergehenden quantitativen Ansätzen (vgl.
unten) die postmodernen idealistisch-konstruktivistischen Denkgebäude in
ihrer Tragfähigkeit herausgefordert werden. In solchen, polarisierenden Debatten werden die Wissensansprüche von Sozial- und Geisteswissenschaften
als „realitätszersetzend“ und jene der Naturwissenschaften als „realitätsschaffend“ überzeichnet (Laufenberg 2011, 52). In der Archäologie haben
diese Debatten im Rahmen des Science Turn zu einer erneuten vertieften
erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen
Realismus geführt (Sintonen 2020). Dass Letzteres nicht nur die Archäologie
betrifft, zeigt beispielsweise folgende Feststellung von Mike Laufenberg bezüglich der Soziologie:
„Die Rückkehr des Realismus in das soziologische Denken findet heute
nicht zufällig zu einem Zeitpunkt statt, an dem die konvergierenden
Bio- und Technowissenschaften ihren Deutungs-und Gestaltungswillen gesellschaftlich in einer Weise geltend machen können, dass sich
Teile der Sozialwissenschaften- und zwar gerade diejenigen, die sich
den Methoden der Geisteswissenschaften näher fühlen als denen der
Naturwissenschaften – in ihrer Existenz bedroht sehen.“ (Laufenberg
2011, 53)
Der wissenschaftliche Realismus steht nicht nur in der Archäologie und
Soziologie, sondern ebenso in aktuellen philosophischen Debatten über die
Wissenschaft im Mittelpunkt, wobei neue Ansätze diskutiert und das philosophisch-methodologische Feld dadurch um neue Themen und Disziplinen
erweitert wird (beispielsweise Gabriel 2018; Gonzales 2020).
Der Digital Turn
Digitale Technologien und die damit einhergehende Digitalisierung von Informationen sind während der letzten Jahre immer zentraler geworden, so
dass sie den Alltag vieler Menschen durchdringen – wenn auch in unterschiedlicher Stärke (Kaden 2016, 17). Hierzu ein Erfahrungsbeispiel: Durch die
eingeschränkte Mobilität während der ersten Welle der Corona-Infektionen
im Frühjahr und Sommer 2020 erfuhren die digitalen Technologien in Wissenschaft und Gesellschaft einen erneuten Schub, indem soziale Medien neu
genutzt wurden, die Zugänglichkeit zu digitalen Informationen wie etwa Publikationen erleichtert sowie Lehrveranstaltungen und Sitzungen jeglicher
Art vollumfänglich in den virtuellen Raum verlagert wurden. So schien diese
Krise einerseits Transformationen in der virtuellen und digitalen Welt zu fördern, wobei wir zu deren Bewältigung wiederum auf digitale Technologien
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 183
und Infrastruktur angewiesen waren. In Europa war eine Durchdringung digitaler Technologien und Informationen in vielen Bereichen des sozialen Zusammenlebens schon vor der Pandemie feststellbar, wie etwa der Wirtschaft,
Politik, Kultur und Wissenschaft (Katerbow u. a. 2020, 4). Dieses weite Feld an
Veränderungen und Auswirkungen, die durch den Einsatz, die Anwendung
und die dynamische Entwicklung der digitalen Technologien hervorgerufen
werden, können als „Digital Turn“ oder „digitaler Wandel“ bezeichnet werden (Kossek 2012; Katerbow u. a. 2020).
Auch in der Archäologie nimmt neben den naturwissenschaftlichen
Methoden des Erkenntnisgewinns gleichzeitig die Bedeutung digitaler
Technologien sowie quantitativer Methoden in der Forschungspraxis zu
(Kristiansen 2014, 17–18; Huvila 2018, 1–10). Die Zentralität digitaler Technologien geht soweit, dass kaum mehr Arbeitsabläufe ohne digitale Lösungen durchführbar wären oder durchgeführt werden – sind doch annähernd
alle Formen der Dokumentation, Untersuchung, Publikation, Vermittlung
und Lehre mittlerweile digital gestützt. Die immer größer werdende Menge
an digitalen Informationen beziehungsweise Daten (Big Data, vgl. Huvila
2018, 3) und die Zunahme an international zugänglichen Repositorien
führen dazu, dass Datenmanagement und Datenanalysen an Relevanz gewinnen. Außerdem eröffnen sich neue Möglichkeiten der Transparenz des
Forschungsprozesses, wie beispielsweise die Bestrebungen von projektfinanzierenden Instanzen11 zeigen. Diese fördern nicht nur Open-Access-12,
sondern zunehmend auch Open-Data-Publikationsformen. Dadurch wird
die nachträgliche Reproduzierbarkeit der Forschungsergebnisse ermöglicht
oder zumindest das Zustandekommen derselben transparenter gemacht
(Costa u. a. 2013; Effinger – Büttner 2015; Marwick 2017). Die Zugänglichkeit
der Daten fördert wiederum die datenanalyse-geleitete Forschung und damit
das weite Feld der quantitativen Archäologie, von deskriptiven statistischen
Verfahren bis hin zu Simulation und Modellierungen (Kristiansen 2014, 17–18;
Nakoinz – Hinz 2015).
Die Frage stellt sich, wie diese zunächst technologischen und methodischen Transformationen die Wissenschaftspraxis verändern und ob damit
gleichsam Veränderungen auf epistemologischer und ontologischer Ebene
einhergehen. In einem 2020 veröffentlichten ImpuIspapier der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) zum „digitalen Wandel“ in der Wissenschaft
wurde die Meinung vertreten, dass in nahezu allen Disziplinen „digitale
Forschungspraktiken und Informationsinfrastrukturen“ zentral sind oder
11 https://oa100.snf.ch/de/home-de/ (30.03.2020).
12 https://open-access.net/startseite (30.03.2020).
184 — Caroline Heitz
zukünftig sein werden (Katerbow u. a. 2020). Dieser Wandel, der sich in drei
Typen klassifizieren lasse, fasse
„alle relevanten Veränderungen und Auswirkungen in epistemischer,
ethischer, rechtlicher, technischer, infrastruktureller, organisatorischer, finanzieller und auch sozialer Hinsicht zusammen, die sich
durch die Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien in den
Wissenschaften ergeben.“ (Katerbow u. a. 2020, 4)
Der „transformative Wandel“ betreffe die Überführung analoger Informationen und Praktiken (Digitalisierung), wobei sich durch die damit einhergehende neue Nutzung digitaler Daten mittels datenintensiver Technologien
zur Bearbeitung von Forschungsfragen auch ein „ermöglichender Wandel“
abzeichne (Katerbow u. a. 2020, 6). Zu einem „substituierenden Wandel“ würden digitale Technologien wie Modellierungen, Simulationen und die Anwendung Neuronaler Netze13 führen, welche herkömmliche Experimente
und vorausgehende Hypothesenbildung teilweise ersetzen und so in einer
„vollständigen Neuorientierung“ von Forschungsansätzen resultieren würden (ebd.). Die Autor*innen betonen, dass der digitale Wandel mit Transformationen in der Forschungspraxis einhergeht, die epistemische, disziplinäre,
ethische, soziale, wirtschaftliche und forschungspolitische Auswirkungen
haben (ausführlich Katerbow u. a. 2020, 7–10). Beispielsweise werden datengetriebene wissenschaftliche Praktiken wichtiger, was nicht nur zu neuen
Informationsquellen und Methoden für die empirische Forschung und deren Vermittlung führt, sondern auch zu neuen Standards der sogenannten
guten wissenschaftlichen Praxis. Die Relevanz von Informatik, Mathematik
und Statistik in anderen Disziplinen nimmt zu, was zu einer stärkeren disziplinären Verflechtung sowie der Entstehung neuer Disziplinen oder dem
Relevanzgewinn interdisziplinärer Felder führt. Beispiele hierfür sind etwa
die Bioinformatik, die Computerlinguistik (Katerbow u. a. 2020, 7) – oder
die „Digital Humanities“ (Schreibman u. a. 2015). In diesem Zusammenhang
kann die aktuell zunehmende Relevanz der quantitativen Archäologie und
der Archäoinformatik gesehen werden, deren Anfänge auf die 1970er Jahre
und die Prozessuale Archäologie zurückgehen, wie beispielsweise die Geschichte der Mitgliederorganisation CAA (Computer Application and Quantitative Methods in Archaeology) zeigt.14
Trotz diesen vielen Neuerungen und Möglichkeiten mangelt es der Diskussion über den Digital Turn in der Archäologie nach wie vor an kritischen
13 https://www.bigdata-insider.de/was-ist-ein-neuronales-netz-a-686185/ (24.03.2022).
14 https://caa-international.org/about/history/ (29.01.2022).
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 185
Überlegungen und systematischen Analysen der Konsequenzen, die sich daraus ergeben – beispielsweise in Bezug auf Nachhaltigkeit, Gleichheit, Reichtum und Armut oder Ethik (Perry – Taylor 2018, 16). Darüber hinaus hatte
der Digital Turn noch wenig Einfluss auf die Theoriebildung in der Archäologie und die damit möglicherweise einhergehenden epistemologischen Veränderungen, die einer vertieften Reflexivität bedürften. Nach wie vor mangelt es an einer systematischen Einbindung von theoretischen Überlegungen
in digitale Forschungsprozesse, was sich aber in Zukunft ändern dürfte. Sara
Perry und James S. Taylor schlugen 2018 vor, diese Desiderate zukünftig in
digiTAG15 -Konferenzen anzugehen (Perry – Taylor 2018, 18). Die Central
Europe Theoretical Archaeology Group (CE TAG) hat dann auch ihre Tagung
2021 zum Thema Theoretical Approaches to Computational Archaeology abgehalten.16
Insgesamt scheinen diese technischen Neuerungen idealistisch-konstruktivistische und subjektivistische Standpunkte herauszufordern: beispielsweise durch die künstliche Intelligenz digitaler Technologien oder die kommunikative Verbindung der Menschen über virtuelle Netzwerke mit digitalen
Medien bei gleichzeitiger Verflechtung von sozialen Praktiken mit den entsprechenden digitalen Geräten. So wird das Reale besonders durch die Kontrastierung des Physischen mit dem Virtuellen, aber auch gerade durch deren
Ineinandergehen offensichtlich. Die epistemologischen Aspekte davon sind
im Allgemeinen bis heute kaum untersucht. Ben Kaden hat in seinem Text
Zur Epistemologie digitaler Methoden in den Geisteswissenschaften diesbezüglich fünf Polaritäten aufgeführt, die meiner Meinung nach zukünftig ebenso
für die Archäologie diskutiert werden könnten (Kaden 2016, 9–20): Qualitative versus quantitative Verfahren, intellektuelle versus werkzeuggestützte
Analysen, individuelles versus kollaboratives Arbeiten, materiale versus digitale Medialität sowie ergebnisorientierte versus prozessorientierte Publikationsformen. Insgesamt scheint der Digital Turn die Geisteswissenschaften
beziehungsweise humanities in post-humanities zu transformieren, in welchen die Frage nach dem Menschsein wieder aufgeworfen wird (Kaden 2016,
18) – womit sich eine Verbindung zum Posthumanismus herstellen lässt,
in dem die besondere ontologische Stellung des Menschen in Frage gestellt
wird (Ferrando 2013). Die mit dem Digital Turn verbundenen epistemologischen und ontologischen Verschiebungen und Konsequenzen erfolgten somit nicht primär in unmittelbaren wissenschaftstheoretischen Reflexionen
über digitale Technologien und Daten an sich, wie die dazu nach wie vor
15 Digital Theoretical Archaeology Group.
16 https://www.prehistoire.org/offres/file_inline_src/515/515_pj_270521_090855.pdf
(29.01.2022).
186 — Caroline Heitz
spärliche Literatur zeigt. Vielmehr vollzogen sie sich in philosophischen,
soziologischen, anthropologischen, geschlechtergeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Debatten zum Posthumanismus, die wiederum mit der
Erfahrbarkeit der digitalen Wende im sozialen Zusammenleben, der relationalen Verflechtung von Menschen und Nicht-Menschen in sozialen Praktiken sowie neuen Diskussionen um Virtuelles und vor allem Materielles einhergingen, wie im Folgenden aufgezeigt wird.
Der Material Turn
Neben den Veränderungen, die mit neuen naturwissenschaftlichen Methoden
und digitalen Technologien in Zusammenhang stehen, kam es in den letzten
Dekaden in verschiedenen Sozial- und Geisteswissenschaften zu einer neuen
Hinwendung zu den Dingen, zu Mensch-Ding-Beziehungen und zu epistemologischen und ontologischen Untersuchungsfeldern bezüglich Materialität.
Der Richtungswechsel dieser unterschiedlichen philosophischen und theoretischen Ansätze von den Material Culture Studies bis hin zum Neuen Materialismus (New Materialism) kann als Material Turn bezeichnet werden, obschon
es sich dabei nicht um ein einheitliches Theoriegebäude handelt (Hicks 2010;
Bräunlein 2012; Folkers 2013; Hofmann u. a. 2016; Hoppe – Lemke 2021). Die
Beschäftigung mit Dingen war in der Archäologie – wie auch der Ethnologie – von Anfang an zentral, so dass in diesen Disziplinen eher von einer erneuten theoretischen Hinwendung zu den Dingen gesprochen werden kann,
als von einer Hinwendung an sich. Bjørnar Olsen stellte fest, dass der Material Turn ein gewisses Momentum für die Archäologie darstelle, eine intellektuelle Strömung zu ihren Gunsten, da sich nun auch andere Sozial- und
Geisteswissenschaften wieder vermehrt für Dinge interessieren (Olsen 2012,
20). Für den Material Turn sind mehrere epistemologische beziehungsweise
ontologische Verschiebungen kennzeichnend, die wissenschaftsgeschichtlich
unterschiedliche Hintergründe und Zusammenhänge hatten.
1) Am Beginn dieser Verschiebungen steht der sogenannte Material-Cultural
Turn (Hicks 2010, 45–46), der eng mit den Material Culture Studies verbunden ist. Letztere wurden in den späten 1980er Jahren von britischen Wissenschaftlern am Department of Archaeology an der University of Cambridge und
dem Department of Anthropology am University College London (UCL) ins Leben gerufen (Hicks – Beaudry 2010; Hicks 2010, 50–53). Dan Hicks (2010) hat
in seinem einschlägigen Aufsatz The Material-Cultural Turn. Event and Effect
die Theoriegeschichte zum Material-Cultural Turn ausführlich aufgearbeitet.
Im Folgenden möchte ich nur auf einige wenige zentrale Punkte eingehen.
Die Material Culture Studies bauten darauf auf, dass sich die Archäologie und
Anthropologie die materielle Kultur als Untersuchungsfeld teilten. Einerseits
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 187
ging es in der Ethnologie um eine Rückbesinnung auf die Dinge, die im Zuge
sozialanthropologischer Ansätze vernachlässigt worden waren (vgl. Heitz –
Stapfer 2017). Andererseits wurde das Zusammenbringen von strukturalistischen und interpretativ-semiotischen Ansätzen der 1970er und 1980er angestrebt (Hicks 2010, 45; Hicks – Beaudry 2010, 4–5). Beiträge zu den Material
Culture Studies kamen dabei vor allem aus der Ethnologie, Ethnoarchäologie,
der postprozessualen Archäologie und der Konsumforschung (Hicks 2010,
44–64). Sie boten eine epistemologische Antwort auf die Frage, wie das Soziale und Kulturelle mit dem Materiellen in Beziehung gesetzt werden kann.
Humanistische Themen wie Konsum, Identität, Erfahrung und kulturelles
Erbe wurden neu unter Einbezug des Materiellen untersucht (Hicks 2010,
26). Entscheidend war, dass Dinge nicht länger als passive, durch den Menschen geformte Objekte, sondern als Partizipierende in sozialen Handlungen
und Konfigurationen verstanden und damit in ihrer Relevanz für kulturelle
und soziale Praktiken ernst genommen wurden. Der Material-Cultural Turn
war damit in erster Linie bezüglich der Erkenntnismöglichkeiten über soziale und kulturelle Formen eine epistemologische Verschiebung hin zu den
Dingen.
2) Die posthumanistischen Ansätze der zweiten epistemologischen Verschiebung, die auf den Material-Cultural Turn folgen sollte, und die ich ebenfalls
zum Material Turn zähle, werden unter den Begriffen Neuer Materialismus beziehungsweise New Materialism diskutiert (Folkers 2013; Alberti 2016). Standen
zunächst in den zum Material-Cultural Turn zählenden Werken in den 1980er
und zu Beginn der 1990er Jahren noch die symbolischen Bedeutungen und die
konstitutive Rolle von Dingen in sozialen Praktiken und Beziehungen im Vordergrund, so verschob sich das Erkenntnisfeld im Zuge des Neuen Materialismus ab der Mitte der 1990er Jahre hin zu Mensch-Ding-Beziehungen und
Materialität an sich (Hicks 2010, 64–78). In semiotischen und handlungstheoretischen Ansätzen, von welchen die meisten konzeptuell von einer cartesianischen Trennung von Körper und Geist sowie Kultur und Natur ausgingen,
hatten Dinge als menschengemachte Gegenstände meist eine untergeordnete Rolle in den Mensch-Ding-Beziehungen gespielt, da allein dem Menschen
Handlungsmacht (Agency) und damit Kontrolle über die angeblich passiven
Materialien und Dinge zugeschrieben wurde (Heitz – Stapfer 2017, 17–20.
24–28). Diese asymmetrische Sichtweise von Mensch-Ding-Beziehungen und
die ihr zugrunde liegenden Dualismen wurden nun dekonstruiert und stattdessen neue relationale Konzepte von Materialität vorgeschlagen (Heitz – Stapfer
2017, 17–20. 24–28; vgl. DeMarrais u. a. 2004; Ingold 2007; Knappett 2014).
Vertreter*innen des Neuen Materialismus argumentieren einerseits mit
der Wechselwirkung von Mensch-Ding-Beziehungen und – neben der
188 — Caroline Heitz
diskursiven – mit der praktischen, mental-körperlichen, nicht-versprachlichten Ding-Erfahrung (Hahn 2005, 27–6). Im Zentrum steht die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung und Erfahrbarkeit von Dingen sowohl von deren
materiellen Eigenschaften oder Qualitäten, aber auch dem individuellen, situativen Erleben des Menschen mit seinem sozialen und lebensgeschichtlichen Kontext abhängt (Knappett 2014, 4700). Epistemologisch führte das zu
einem Rückgriff auf Theorien der Ding-Wahrnehmungen, die schon Mitte
des 20. Jahrhunderts von Vertreter*innen der Phänomenologie und kognitiven Psychologie formuliert wurden (vgl. Thomas 2006; Soentgen 2014,
226). In seinem Aufsatz Das Ding hatte der in den Nationalsozialismus verstrickte Phänomenologe Martin Heidegger (1889–1976) die Wahrnehmungen
der Dinge am Beispiel eines Kruges und dessen Krughaftigkeit ausgeführt
(Heidegger 2000 [1950], 173). Im alltäglichen Leben haben wir somit eine
habituelle Beziehung zu den Dingen, weil wir aus Erfahrung wissen, dass
„das Ding dingt“, dass es tut, was wir von ihm erwarten (Heidegger 2000
[1950], 170). Wenn der Krug aber in Stücke zerbricht, wird er nach Heidegger
zu einem Objekt, weil die Entscheidung, was mit ihm zu geschehen hat, ob
er repariert oder weggeworfen werden soll, Betrachtungen, Untersuchungen
und Reflexion erfordert, die über das reine gewohnheitsmäßige Erleben hinausgehen (vgl. Knappett 2014, 4704). Die Wahrnehmung der Dinge hängt also
von uns und den Dingen selbst sowie vom Kontext ab, in welchem wir mit
ihnen in Beziehung treten. Darüber hinaus ist die Wahrnehmung nicht nur
abhängig von unseren Sinnen, sondern ebenso von unserer Erfahrung und
Einstellung zu den Dingen sowie den Handlungsmöglichkeiten, die sie durch
ihre Materialität bieten. Nicht für Dinge als solches, aber für materielle Oberflächen und die dabei entstehende jeweilige Raumerfahrung des Subjektes
hat der Kognitionspsychologe James J. Gibson das Konzept der Affordanz (affordance) ausgearbeitet. Überträgt man das Konzept auf Mensch-Ding-Beziehungen, so bieten uns Dinge bestimmte Handlungsmöglichkeiten an. Unsere
Wahrnehmung derselben ist nicht nur situativ und individuell, sondern auch
kulturell und sozial erlernt (Gibson – Schmuckler 1989, 23). Affordanzen werden mitbestimmt durch die Situationen respektive Umgebung, in welchen es
zur Begegnung zwischen einem wahrnehmenden Menschen und den Merkmalen eines Dings kommt (Gibson 1979, 127–143; Knappett 2004, 43–52).
Das relationale Verständnis von Menschen und Dingen wurde von einigen Theoretiker*innen mit Hilfe von Metaphern wie Netzwerk / network
(z. B. Latour 2010), Maschenwerk / meshwork (z. B. Ingold 2007) und Verflechtung / entanglement (Hodder 2012; Hodder 2014, 94)17 beschrieben (vgl. dazu
17 Bei Hodder bezieht sich die Relationalität nicht auf die Entstehung der Dinge
und Menschen in Mensch-Ding-Beziehungen selbst, sondern eher auf deren
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 189
Knappett 2011). Die von Bruno Latour und anderen vorgeschlagene AkteurNetzwerk-Theorie (ANT) thematisiert beispielsweise, wie Beziehungen und
Bindungen zwischen Dingen, Menschen, Orten, Technologien, Wissen, Normen und Werten miteinander verknüpft sind. Sie werden durch kommunikative Prozesse etabliert, aber auch aufgelöst und transformiert (Latour 2014).
Nicht-Menschen werden damit ebenso zu Akteur*innen beziehungsweise
Aktant*innen. Beide müssen daher in solchen symmetrischen Ansätzen,
die auch in der Archäologie angewendet wurden (siehe Shanks 2007; Olsen
2012), gleichermaßen berücksichtigt werden. In diesen wird unter anderem
die Handlungsmacht der Dinge / material agency thematisiert.18 Solche Überlegungen fordern anthropozentrische Perspektiven heraus, denen zufolge
Handeln allein den Menschen vorbehalten sei. Tim Ingold hat in seinem einschlägigen Aufsatz Materials against Materiality (Ingold 2007) gegen die Idee
der Handlungsmacht von Dingen und Konzepten zu Materialität argumentiert, dass die Dinge nur aktiv sind, weil sie den physikalischen Kräften der
Welt unterworfen und ihre Materialien Teil des sich ständig verändernden
materiellen Flusses der Welt sind und sich dabei fortlaufend (trans)formieren
(Ingold 2007, 12; Ingold 2013, 19. 25–26. 93–95). Aus phänomenologischer
Sicht argumentierte er weiter, dass das, was man berühren und erleben kann,
das Material und nicht die Materialität sei. Ferner kritisiert er an Netzwerkmetaphern, dass die Welt eher aus vorübergehend verstricktem Material bestehe, denn aus miteinander in Netzwerken verbundenen Entitäten (Ingold
2007, 7. 13). Im Zuge des Material Turn werden folglich die Konzeptualisierung der Welt als eine Ansammlung von disparaten Entitäten, die cartesianische Trennung passiver Objekte und aktiver Subjekte sowie humanistische
asymmetrische Mensch-Ding-Beziehungen überwunden und durch relationale, posthumanistische Konzepte einer durch Beziehungsgeflechte sich
ständig formierenden und transformierenden Welt ersetzt. Damit werden die
(Trans)formationen des Materiellen selbst ins Zentrum der Untersuchung
gestellt. Die Ansätze des Neuen Materialismus führen folglich zu einer erneuten epistemologischen Verschiebung zum Sein der Dinge selbst und damit zu
neuen ontologischen Fragen.
3) Diese in einigen Ansätzen des Neuen Materialismus vorhandene Verschiebung wird als ontologische Wende beziehungsweise Ontological Turn (Alberti
2016) bezeichnet. Um die dabei relevanten argumentativen Grundlagen zu
verstehen, ist es hilfreich einige zentrale Thesen dieser Ansätze zu betrachten,
gegenseitige Abhängigkeiten im Sinne des Fortbestehens (vgl. dazu auch Alberti
2016, 166).
18 Vgl. Tim Ingold (2007) dazu mit kritischer Haltung.
190 — Caroline Heitz
wie sie unlängst von Stefan Schreiber herausgestellt wurden (Schreiber 2018,
99–119):
• Menschen sind aus posthumanistischer, den Anthropozentrismus
überwindender Sicht ‚nicht besonders‘, also keine unabhängigen
Entitäten, sondern mit der Welt materiell verflochten (Latour 2008;
Olsen 2010; Barad 2012; Hodder 2014; Olsen – Witmore 2015).
• „Dinge entstehen relational“ (Schreiber 2018, 99) und sind kontingent, wobei bei zu diesen relational entstandenen Dingen nicht nur
Gegenstände, sondern auch Konzepte gezählt werden, womit Dinge
unterschiedlich materialisiert sein können (Latour 2002; Ingold 2013;
Fowler – Harris 2015).
• Dinge werden von einigen Theoretiker*innen als „intraaktive
Hervorbringungen“ (Schreiber 2018, 99) konzeptualisiert (vor allem
Barad 2012; sinngemäß auch: Latour 2002; Harmann 2005; Bryant
2011), wobei Karen Barad damit meint, dass nicht vorgängig bestehende Entitäten (Dinge) durch Interaktionen zueinander in Beziehung geraten, sondern die Entitäten beziehungsweise Dinge selbst
erst durch den Beziehungsprozess entstehen – etwa durch Grenzziehungen und der Hervorbringung von Eigenschaften – was sie als
Intraaktion bezeichnet (Barad 2012; Schreiber 2018, 106).
• Daraus folgt der Schluss, dass „Materialität nicht eine in den Dingen
selbst enthaltene“ (Schreiber 2018, 99) Eigenschaft ist, sondern, dass
die Qualitäten der Dinge in der stets im Fluss des Werdens begriffenen Welt immer wieder durch die Beziehungsprozesse selbst konstituiert und konfiguriert werden (Barad 2012; Ingold 2013).
• In einigen Ansätzen des Neuen Materialismus werden „Dinge als
Assemblagen“, also als „Versammlungen von Beziehungsgefügen“
verstanden (Deleuze – Guattari 1977; DeLanda 2016; Schreiber 2018,
99; vgl. Schreiber 2018, 111–116). Die Metapher der Assemblage wird
etwa von Tim Ingold abgelehnt, wobei er in seinem Aufsatz One
World Anthropologie vorschlägt, die Welt nicht als ein Zueinanderstehen, sondern als Miteinanderwachsen und damit als Korrespondenz
(correspondance) zu verstehen (Ingold 2018, 160).
• Diese relational konstituierten, verflochtenen Dinge bilden „flache
Ontologien“/flat ontologies (DeLanda 2002; Schreiber 2018, 99), womit
gemeint ist, dass keine dieser Ding-Entitäten vorgängig ist, sondern
sie alle denselben ontologischen Status haben.
• Ferner vereint die verschiedenen Ansätze des Neuen Materialismus,
dass sie der Meinung sind, ‚Dinge‘ seien ‚real‘ im Sinne des Realismus der oben beschriebenen Relationen (Latour 2002; Harmann 2009;
Barad 2012).
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 191
Die letzten beiden Punkte zeigen, dass bei den meisten Ansätzen des Neuen
Materialismus damit ebenso eine ontologische Verschiebung vollzogen wurde. Diese ontologische Wende führt also zunächst scheinbar weg von der
Epistemologie, die zugunsten der Beschäftigung mit der Ontologie und dem
neuen Realismus irrelevant zu werden scheint. Dass dem aber nicht so sein
kann, zeigt bereits die neue Hinwendung zum Realismus der Relationen im
Neuen Materialismus, wie ich im Unterkapitel „Krisenüberwindung – Ein
Neuer Realismus und Epistemologien Dritter Wege“ zeigen werde.
Insgesamt führt – wie bereits der Digital und der Scientific Turn – auch
der Material Turn zu einer erneuten Frage nach dem Realen, dem Dinghaften, wobei die Einseitigkeit und Asymmetrie sowie der Anthropozentrismus
am Konstruktivismus und damit postmodern-idealistischen Ansätzen kritisiert wird (Hicks 2010; Laufenberg 2011). Relationale, symmetrische Ansätze, welche Mensch-Mensch-, Mensch-Ding- oder Mensch-Welt-Beziehungen
allgemein als Prozesse von Gegenseitigkeit verstehen, fordern postmoderne
beziehungsweise postprozessuale, idealistisch-konstruktivistische Positionen heraus. In der Konstruktionsleistung der menschlichen Erfahrung hatten diese das Geistig-Subjektive überbetont und die körperlich-dinghaften
Aspekte vernachlässigt, genauso wie ontologische Fragen. Der Material Turn
ist in diesem Sinne eine epistemologische und ontologische Wende zugleich,
welche die Archäologie wieder näher an Standpunkte des Realismus führt.
Die epistemologische Krise – wenn man diese Metapher im Sinne eines
kritischen Wendepunktes zu Hilfe ziehen möchte, um die aktuelle erkenntnistheoretische Unsicherheit in der Archäologie und anderen Geistes- und
Sozialwissenschaften zu umschreiben – besteht darin, dass die Tragfähigkeit
der vom idealistisch-konstruktivistischen Standpunkt aus argumentierenden Ansätze der postprozessualen Archäologie angesichts der Erkenntnisse
und der Erfahrungen des Material, Digital und Science Turn nicht mehr gegeben ist. In der Archäologie sind in Bezug auf die Theorie- und Methodendiskussion aktuell zwei konträre Lager festzustellen, welche scheinbar unvereinbare Grundpositionen und wissenschaftliche Praktiken vertreten: Die
dem Idealismus und Relativismus nahen Vertreter*innen der konstruktivistischen postprozessualen Archäologie und eine ebenso heterogene Gruppe
anderer, welche im Fahrtwind des Science, Digital und Material Turn verschiedene Grundhaltungen des Realismus vertreten. Während letztere die
Hegemonie der postprozessualen Ansätze kritisieren, fürchten erstere, dass
der Neue Realismus eine unkritische Rückkehr zu prozessualen Ansätzen bedeutet sowie zu einer Dominanz der Naturwissenschaften in der Archäologie
führt. Diese scheinbar unüberwindbare Kluft konträrer epistemologischer
Standpunkte und ontologischer Annahmen führt dazu, dass die Debatte um
das Erkenntnispotenzial in der Archäologie wieder neu entbrannt ist.
192 — Caroline Heitz
Metamodernismus – oder das Ende der Postmoderne
Wie Kristiansen (2014) zu Recht angemerkt hat, beschränkt sich die oben
skizzierte epistemologische Debatte nicht nur auf die Archäologie, sondern
wird in ähnlicher Weise in allen Sozial- und Geisteswissenschaften geführt
(beispielsweise Laufenberg 2011, 46–48. 53). Kristiansen stellte die berechtigte Frage, ob wir aktuell eine größere paradigmatische Wende oder möglicherweise sogar einen epochalen Umbruch erleben, von der Postmoderne
zu einer revidierten Moderne (Kristiansen 2014, 23) – oder einer Art Moderne 2.0, letzteres in Anlehnung an die Feststellung, dass sich möglicherweise
gerade eine Prozessuale Archäologie 2.0 entwickelt.19 Damit ist eine Debatte
in der Archäologie angekommen, die in den 1990er Jahren bereits in anderen Geisteswissenschaften lanciert wurde. Die Literaturwissenschaftlerin
Linda A. Hutcheon hat das Ende der Postmoderne bereits 1991 ausgerufen:
„Let’s just say it: it’s over. The postmodern moment has passed, even
if its discursive strategies and its ideological critique continue to live
on – as do those of modernism – in our contemporary twenty-first
century world. […] Historical categories like modernism and postmodernism are, after all, only heuristic labels that we create in our attempts
to chart cultural changes and continuities. […] Post-postmodernism
needs a new label of its own, and I conclude, therefore, with this challenge to readers to find it and name it for the twenty-first century.“
(Hutcheon 2002 [1991], 165–166)
Besonders in den letzten Jahren scheint die postmoderne Strömung insgesamt an Zugkraft verloren zu haben. Der Material, der Digital und der Science
Turn fügen sich als Stränge in ein ganzes Bündel unterschiedlicher aktueller gesellschaftlicher Ereignisse, technischer Neuerungen, wissenschaftlicher Ansätze, Erfahrungen und Einsichten, die vermehrt Zweifel an den
epistemologischen Standpunkten der Postmoderne aufkommen lassen. Gesellschaftlich lässt sich eine zunehmende Auseinandersetzung mit globalen
Problemen beobachten, sogenannten real-world problems wie die Literaturwissenschaftlerin Alison Gibbons es ausdrückte (Gibbons 2017, 12). Gemeint
sind damit gesellschaftliche und umweltliche Probleme, die sich uns unübersehbar entgegenstellen und damit Widersprüchlichkeiten und Reibung am
19 Vgl. den Call for Papers einer Sektion, die 2019 während der Jahreskonferenz der
European Association of Archaeologists (EAA) in Bern abgehalten wurde: https://
www.researchgate.net/publication/329787153_CfP_The_Age_beyond_%27para
digms%27_-Eclectic_shapes_of_Processualism_20_EAA_2019_Bern (30.03.2020).
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 193
konstruktivistischen Idealismus und Relativismus der Postmoderne erzeugen. Diese werden nicht nur in der Politik und Wissenschaft, sondern auch
vermehrt in Kunst und Kultur verarbeitet (Vermeulen – van den Akker 2010).
Neben der fortschreitenden Klimaerwärmung machen beispielsweise die
Kriege in Syrien und der Ukraine sowie die SARS-CoV-2-Pandemie die Argumentation der Konfrontation mit globalen Problemen, die zu Krisen ausarten können, durch die eigene Erfahrung der letzten Jahre nachvollziehbar.
Viele dieser aktuellen Herausforderungen entstanden meiner Meinung
nach aus der immer enger zusammenrückenden und immer stärker verflochtenen Welt: die gegenseitigen Abhängigkeiten in Mensch-Umwelt- beziehungsweise Mensch-Ding-Beziehungen, die sich etwa in Schlagwörtern wie
Anthropozän, Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit
oder Pandemie beziehungsweise Posthumanismus, the internet of things und
artificial intelligence widerspiegeln; die zunehmende Anhäufung von Dingen, Daten (big data) und Müll auf unserem Planeten und im All; die erneut
entfachte Diskussion um Wahrheit, Realität und Faktizität (Postfakisches
Zeitalter 20‚ post-truth, alternative facts) und die Rolle der Neuen Medien in
der Globalpolitik (vgl. Heitz 2017a; Gibbons 2017).
Für diese teilweise widersprüchlichen Erfahrungen und Zustände haben
die Kulturtheoretiker Thimotheus Vermeulen und Robin van den Akker die
Bezeichnung Metamoderne (metamodernism 21) vorgeschlagen (Vermeulen –
van den Akker 2010):22
„We will argue that this modernism is characterized by the oscillation
between a typically modern commitment and a markedly postmodern detachment. We will call this structure of feeling metamodernism. According to the Greek-English Lexicon the prefix ‘meta’ refers
to such notions as ‘with’, ‘between’, and ‘beyond’. We will use these
connotations of ‘meta’ in a similar, yet not indiscriminate fashion. For
we contend that metamodernism should be situated epistemologically
with (post) modernism, ontologically between (post) modernism, and
historically beyond (post) modernism.“ (Vermeulen – van den Akker
2010, 3)
20 https://iai.tv/video/beyond-truth-and-falsehood (08.09.2022); https://iai.tv/video/
after-the-end-of-truth (08.09.2022); http://www.lse.ac.uk/Events/2017/10/2017100
2t1830vSZT/is-post-modernism-to-blame-for-our-post-truth-world (08.09.2022).
21 http://www.metamodernism.com (08.09.2022).
22 Andere vorgeschlagene Begriffe: post-postmodernism, altermodernism, cosmodernism, digimodernism, post-humanism (Gibbons 2017, 6).
194 — Caroline Heitz
Sie vermuten also, dass die Wende von der Postmoderne zur Metamoderne
retrospektiv aus historischer Perspektive als epochaler Umbruch aufgefasst werden könnte. Während epochale Zäsuren selten zeitlich eng verortet werden können und damit mehr oder weniger willkürlich gesetzt sind
und den unaufhaltsam vorangehenden Fluss gesellschaftlichen Wandels
nur ungenügend repräsentieren, ist das Konzept der Metamoderne meiner Meinung nach zunächst hilfreich, um eine mehrere Dekaden andauernde Phase vonstatten gehender Transformationen zu beschreiben, deren
Richtungen oder Ergebnisse sich erst in der Retrospektive erkennen lassen werden. Dazu zählen die drei Turns. Mittlerweile hat sich eine gesamte metamoderne Strömung entwickelt, welche verschiedene Künste und
Geistes- und Sozialwissenschaften sowie besonders auch die Philosophie
erfassen (beispielsweise van den Akker – Vermeulen 2015; Turner 2015;
Gibbons 2017; Kersten – Wilbers 2018; Bargár 2021; Latham – Rogers 2021;
Rowland 2021).
Hier interessieren vor allem die philosophischen, also ontologischen und
epistemologischen Neuerungen dieser Strömung:
„Both the metamodern epistemology (as if) and its ontology (between)
should thus be conceived of as a ‘both-neither’ dynamic. They are each
at once modern and postmodern and neither of them. This dynamic can perhaps most appropriately be described by the metaphor of
metaxis. Literally, the term metataxis (µɛταξὐ) translates as ‘between’.
[…] The metamodern is constituted by the tension, no, the double-bind,
of a modern desire for sense and a postmodern doubt about the sense
of it all.“ (Vermeulen – van den Akker 2010, 7)
Epistemologisch und ontologisch gesehen, geht es bei der metamodernen
Strömung also um einen dritten Weg, einen Zwischenweg, der ein Oszillieren zwischen der Moderne und dem Objektivismus und Realismus sowie der
Postmoderne und dem Subjektivismus und Idealismus im Sinne des Konstruktivismus bedeutet (Gibbons 2017). Derzeit wird in der Philosophie diskutiert, wie ein solcher dritter, metamoderner Weg aussehen könnte, der über
die postmodernen Denkgebäude hinausgeht, ohne dabei diese zum Einsturz
zu bringen und gleichzeitig zu epistemologisch längst überholten modernen
Denkansätzen zurückzukehren.23
23 https://www.prospectmagazine.co.uk/philosophy/after-relativism-simon-black
burn (29.12.2017); http://www.metamodernism.com (20.12.2017).
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 195
Krisenüberwindung – Ein Neuer Realismus
und Epistemologien Dritter Wege
Diese metamoderne Wegfindung ist meiner Meinung nach in der archäologischen Forschung erkennbar und verweist auf die Vorgänge, die ich als epistemologische Krise bezeichne und für welche der Digital, Science und Material
Turn symptomatisch sind: die Debatten um die zunächst scheinbar unüberwindbare Kluft konträrer epistemologischer Standpunkte, die Diskussion um
die (Un)Möglichkeit einer dritten Kultur (third culture) zwischen Geistes- beziehungsweise Sozial- und den Naturwissenschaften (Sørensen 2017) und die
schlussendliche Suche nach epistemologischen und ontologischen Auswegen
zur Überwindung dieser Krise und zur Lösung dieser wissenschaftstheoretischen Probleme. Bei der Suche nach Lösungsansätzen kann es weder darum
gehen, zu einem überholten naiven Realismus und unkritischen Positivismus
zurückzukehren, und einen neuen Objektivismus und Empirismus durch ein
Primat der Daten auszurufen (Sørensen 2017, 101), noch sollten das kritischselbstreflexive Denken des Subjektivismus und die gegenwartsbezogene soziale Konstruktion der Erkenntnisse vergessen werden (Sørensen 2017, 108.
110). Anstatt der revidierten Moderne oder Prozessualen Archäologie 2.0
wäre es meiner Meinung nach lohnender, eine metamoderne Haltung einzunehmen und damit neue dritte Wege zu suchen, die zwischen dem Realismus
der Moderne und dem konstruktivistischen Idealismus der Postmoderne vermitteln. Im Folgenden geht es darum, zu thematisieren, wie eine epistemologische und ontologische Fundierung der Metamodernen Archäologie, der
Archäologie nach der Postmoderne, gestaltet sein könnte.
Ontologische und epistemologische Grundlagen
der Metamodernen Archäologie
Es gibt mehrere philosophische und sozialtheoretische Ansätze, welche als ontologische und epistemologische Grundlage für die Metamoderne Archäologie
interessant sein könnten. Auch wenn es sich um eine Pluralität von in vieler
Hinsicht sehr unterschiedlichen Denkrichtungen handelt, die sich theoretisch
nicht vereinbaren lassen und sich gar nicht vereinbaren lassen müssen, so eint
diese Versuche, dass sie die cartesianische Trennung von Körper und Geist sowie Objekt und Subjekt überwinden und damit über die konstruktivistischen
Ansätze der Postmoderne hinausgehen, ohne aber zum Realismus der Moderne zurückzukehren. Dazu zähle ich unter anderem sozialtheoretische Ansätze, Ansätze des Amerikanischen Pragmatismus sowie des Neuen Materialismus (Material und Ontological Turn) beziehungsweise den Feministischen
196 — Caroline Heitz
Materialismus (Material Feminism). Diese eint, dass sie alle – wenn auch unterschiedliche – Haltungen einnehmen, die man als Neuen Realismus (New
Realism) bezeichnen kann. Hier seien ein paar Beispiele angeführt, ohne, dass
ich mit dieser Liste einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben möchte:
• Der relationale Realismus und die Praxeologie (Praxéologie) Pierre
Bourdieus (Bourdieu 2009; 2013; Bourdieu – Wacquant 2013) als Erkenntnistheorie der Reflexiven Anthropologie.
• Die Sozialphilosophie des kritischen Realismus (Critical Realism) 24
(Bhaskar 1975; Archer u. a. 1998), die von Sandra Wallace (2011) für
die Archäologie nutzbar gemacht wurde.
• Verschiedene Neopragmatistische Ansätze, die auf den Amerikanischen Pragmatismus zurückgreifen, insbesondere den Pragmatizismus von Charles S. Peirce (Peirce 1992; Peirce Edition Project 1998),
der unlängst von den Archäologen Martin Furholt (2017a), Marco
Marila (2015) sowie Robert W. Preucel und Stephen A. Mrozowski
(2010) rezipiert wurde.
• Der Quasi-Realismus (Quasi-Realism) des Philosophen Simon
Blackburn (2017).
• Bruno Latours Realismus der Konstruktion und seine Symmetrische
Anthropologie (Latour 2007; 2010), die in der Archäologie beispielsweise in ihren ontologischen Aspekten in der Symmetrical Archaeology
(z. B. Shanks 2007) bereits angeeignet wurde.
• Der Spekulative oder Neue Realismus (Speculative Realism) und die
Objekt-orientierten Ontologien (object-oriented ontologies [OOO];
Meillassoux 2008; Bryant u. a. 2010; Grant 2010; Harman 2010; 2011;
Gabriel 2018), die in die Archäologie bereits in die Arbeiten von
Matt Edgeworth (2016), Tim Flohr Sørensen (2017), Olson (2013),
Christopher Witmore (2014) oder Benjamin Alberti (2016) Eingang
fanden.
• Der Agentielle Realismus (agential realism) von Karen Barad (1998;
2007; 2012), der zugleich durch die relationale Konzeptualisierung
materiell-diskursiver Hervorbringungen sowohl eine Epistemologie
als auch eine Ontologie ist, wofür Barad den Begriff Ethico-ontoepistem-ology verwendet – bereits für die Archäologie nutzbar gemacht durch Yvonne Marshall und Alberti (2014).
Für eine detaillierte Besprechung dieser in ihren Lösungswegen sehr
unterschiedlichen Ansätze sowie deren Chancen und Grenzen für eine
24 https://centreforcriticalrealism.com (07.01.2018); https://roybhaskar.wordpress.
com/what-is-critical-realism/ (07.01.2018).
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 197
Metamoderne Archäologie wäre ein lohnendes aber auch aufwändiges Unterfangen, welches den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Ich werde
daher nur kurz auf zwei unterschiedliche Lösungsansätze eingehen können,
Bourdieus Praxeologie und den Ontological Turn, die – meiner Meinung
nach – sehr unterschiedliche Potenziale für die Metamoderne Archäologie
bieten und das, was ich als Dritt-Weg-Epistemologien bezeichne (Heitz 2018,
75–85).
Pierre Bourdieus Praxeologie und die Reflexive Anthropologie
Im Hinblick auf den Wandel, welcher zum Science und zu Digital Turn geführt
hat, ist die Kombination und Integration qualitativer und quantitativer, sowie natur- und geisteswissenschaftlicher Methoden zu einem gesamthaften
methodologischen Ansatz eines der zentralen Desiderate der Metamodernen
Archäologie. In den Sozialwissenschaften werden solche Forschungsdesigns
unter der Bezeichnung Mixed Method Research25 schon länger eingesetzt
und diskutiert, ebenso wie die dazu nötigen ontologischen Annahmen und
epistemologischen Dritt-Weg-Lösungen (Fries 2009; Creswell – Plano Clark
2010; Sommer Harrits 2011). Ein Ansatz, der dabei auch für die Archäologie
nutzbar gemacht werden kann, ist Bourdieus Reflexive Anthropologie mit
der von ihm ausgearbeiteten Epistemologie, der Praxeologie (Bourdieu –
Wacquant 2013; vgl. Heitz 2018, 75–91. 109–130).
Bourdieus Schriften entstanden bezeichnenderweise ebenfalls in einer
Phase epistemologischer Transformation, jener von der Moderne zur Postmoderne, die mit post-strukturalistischen Ansätzen26 in den 1960er Jahren begann
und schließlich als „Krise der Repräsentation“ oder „Writing Culture“-Debatte
(Clifford 1983; Clifford – Marcus 1986) in der Fach- und Theoriegeschichte der
Sozial- und Kulturanthropologie als paradigmatische Zäsur einging (Fuchs –
Berg 1999).27
25 Dazu gibt es eine Fülle an Literatur und unter anderem auch eine eigene Zeitschrift, das Journal of Mixed Method Research: http://journals.sagepub.com/home/
mmr (15.05.2018).
26 Vertreter*innen des Poststrukturalismus wie etwa Bourdieu lehnten die strukturalistische Vorstellung ab, dass Strukturen formal und inhaltsleer die Wirklichkeit organisieren und diese gegenüber den einzelnen strukturierten Objekten
und konkreten Subjekten unabhängig sind. Sie argumentierten stattdessen, dass
es unmöglich ist, Wissen entweder auf reine subjektive Erfahrung (Phänomenologie) oder auf objektive Strukturen (Strukturalismus) zu gründen (Moebius –
Peter 2014, 20–21).
27 Im Zentrum der „Krise der ethnographischen Repräsentation“ stand die Erkenntnis, dass die ethnographische Forschung doppelbödig ist, da das ethnographische
198 — Caroline Heitz
Bourdieus Werk bildet von der Ontologie über die Epistemologie, Sozialtheorie und Methodologie eine kohärente und konsistente Basis, die sich
darüber hinaus für einen Transfer und damit Aneignung in der archäologischen Forschung meiner Meinung nach besonders eignet. Bourdieus
Theorie der Sozialen Praxis sowie im Besonderen deren Kernstück, das
Habitus-Theorem, bietet einen sozialtheoretischen Ansatz, mit welchem
Mensch-Ding-Beziehungen relational konzeptualisiert werden können,
wenn auch dieser im Vergleich zu Ansätzen des neuen Materialismus (beispielsweise Ingold 2007; 2013) die Rationalität zwischen Subjekt und sozialer
Gruppe beziehungsweise sozialen Strukturen stärker betont (Bourdieu 2007;
2009; 2014). Das Potenzial seiner Sozialtheorie und seiner Konzepte wie Habitus, Doxa oder die Kapitalsorten für die Archäologie konnte bereits mehrfach gezeigt werden (beispielsweise Dietler – Herbich 1998; Barrett 2005;
Shanks 2005; Dammers 2009; Pfrommer 2009; Ballmer 2010; Bartholdy 2010;
Schreg u. a. 2013; Heitz 2017b; Kadrow – Müller 2019). Die epistemologischen Überlegungen Bourdieus blieben bisher in der Archäologie allerdings
noch völlig unbeachtet. Die Reflexive Anthropologie und die Praxeologie
(Bourdieu – Waquant 2003; Bourdieu 2004) bieten einen Lösungsweg in
Form einer erkenntnistheoretischen Grundlage, mit welcher der Dualismus
zwischen Objektivismus und Subjektivismus überwunden werden kann,
indem diese als unterschiedliche Modi des Erkenntnisgewinns verstanden
werden. Darüber hinaus bietet die Praxeologie einen methodologischen
Rahmen, in welchem sich auf sozialtheoretischer Basis qualitative und
quantitative Methoden operationalisieren lassen. Wie bei keinem anderen
sozialtheoretischen Theoriegebäude ist die Kombination qualitativer und
quantitativer Methoden darin ontologisch sowie epistemologisch fundiert.
Die beiden methodischen Richtungen werden dabei als sich gegenseitig ergänzende Mittel des Erkenntnisgewinns in den methodologischen Ansatz
integriert und miteinander kombiniert (vgl. weiter unten).
Die Praxeologie Bourdieus ist Teil seines umfassenderen wissenschaftstheoretischen Konstruktes, der Reflexiven Anthropologie, welche die Notwendigkeit einfordert, unsere zeitgebundenen und forschungsmilieubezogenen Perspektiven auf die Vergangenheit kritisch zu reflektieren. Die Reflexive
Anthropologie lässt sich als Reflexive Archäologie weiterdenken (Heitz 2018,
Schreiben über ‚Kulturen‘ eine Schreibkultur der Ethnologie ist – und damit perspektivisch, durch die Autorität der Schreibenden geprägt ist und nicht etwa die
Wirklichkeit der beschriebenen ‚Kulturen‘ an sich festhält. Betont wurde fortan
die Reflexion der Konzepte des Schreibens, der Erzählung und des Dialogs und
gleichzeitig die Möglichkeit der objektiven wissenschaftlichen Aufzeichnung von
vermeintlichen Fakten zurückgewiesen (Mutman 2006).
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 199
113–115). Um die Form der Reflexivität zu verstehen, die Bourdieu meint,
ist es zunächst notwendig, sich mit seiner Ontologie und Epistemologie vertraut zu machen. Bourdieu geht von einer nicht-cartesianischen Ontologie
des Menschen aus. Er versteht Körper und Geist nicht als zwei voneinander getrennte Größen, sondern als relationales Verhältnis. Sein Verständnis
der Mensch-Welt-Beziehung geht auf den Mathematiker, Physiker und Philosophen Blaise Pascal (1623–1662), aber auch die Phänomenologen Martin
Heidegger (1889–1976) und Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) zurück
(Bourdieu – Chartier 1989, 54; Bourdieu – Wacquant 2013, 161):
„Pascal hat das so ausgedrückt: Le monde me comprend, mais je le comprends – also etwa: Ich bin in der Welt enthalten, aber die Welt ist auch
in mir enthalten. […] Ich bin in der Welt enthalten, aber sie ist auch in
mir enthalten, weil ich in ihr enthalten bin; weil sie mich produziert
hat und weil sie die Kategorien produziert hat, die ich auf sie anwende,
scheint sie mir selbstverständlich, evident. […] Der Akteur […] und die
soziale Welt […] sind, darauf haben schon Heidegger und MerleauPonty hingewiesen, in einem regelrechten ontologischen Einverständnis vereint.“ (Bourdieu – Wacquant 2013, 161)
Demnach befinden wir Menschen uns nicht auf einer beobachtenden Außenposition und blicken auf die für uns objektiv erkennbare, absolute Wirklichkeit der Welt, sondern sind selbst Teil dieser Welt. Unsere Perspektive
ist einerseits subjektiv, denn wir nehmen wahr und verstehen von der Welt
zunächst, was wir durch unsere Sozialisation und Lebensgeschichte wahrzunehmen und zu verstehen gelernt haben. Dennoch gibt es eine Welt außerhalb der Wahrnehmung einzelner Subjekte. Mit unserer Physis sind wir
selbst materialisierte Körper in dieser Welt. Bourdieu zufolge sind Menschen
damit ein Teil der materiellen, objekthaften Welt und somit mess- und zählbar wie andere Dinge der physischen Welt auch (Bourdieu – Chartier 1989,
54).
Der Mensch lässt sich nicht auf seine physische Existenz allein reduzieren, denn gerade die mentale Fähigkeit, über sich selbst und die Welt um
sich herum nachzudenken und den Dingen einen Sinn zu geben, macht
einen entscheidenden Teil unseres Menschseins aus. Dieser mentale, subjektiv erfolgende Prozess beruht auf unserer Wahrnehmung, die aber nicht
einseitig gedanklich, sondern besonders auch eine körperliche ist. Sie entsteht nicht allein innerhalb unseres individuellen Verstandes, sondern ist
körperlich gebunden (Bourdieu 2009, 199; Bourdieu – Wacquant 2013, 161).
Bei idealistischen Positionen werden gleich zwei unhaltbare dualistische
Trennungen vorgenommen, gegen welche relationale Denker wie Bourdieu
200 — Caroline Heitz
argumentieren: eine klare Trennung zwischen Körper und Geist sowie zwischen Individuum und sozialer Gruppe. Da wir in einer bestimmten Zeit und
an einem bestimmten Ort geboren werden, sind wir mit bestimmten umweltlichen, ökonomischen, kulturellen und materiellen Situationen konfrontiert,
die wir gleichzeitig strukturieren. Diese Welt der Erfahrungen wird im Verlauf unseres Lebens in unseren Körper aufgenommen. Bourdieu nennt dies
Einverleibung oder Inkorporierung (embodiment):
„Die Primärerziehung geht mit dem Körper wie mit einer Gedächtnisstütze um. Sie ‚verdummt‘ gleichsam die Werte, Vorstellungen und
Symbole, um sie der Ordnung der ‚Kunst‘ zuzuführen, jener reinen
Praxis, die bar aller Reflexion und Theorie ist. Sie zieht größtmöglichen
Gewinn aus der ‚Konditionabilität‘, dieser Eigenschaft der menschlichen Natur […].“ (Bourdieu 2009, 199)
Wir eignen uns damit im Verlauf unseres Lebens bestimmte Wahrnehmungs-,
Denk- und Handlungsschemata an, die unsere Gefühle, Neigungen und Abneigungen, unsere Vorstellungen von Gut und Richtig, also unser ganzes Denken und Handeln leiten (Fuchs-Heinritz – König 2014, 94–95). Die materiell
und sozial strukturierte Umgebung wird durch unser Handeln weitergeführt
und verändert. Bourdieu hat für die Beschreibung dieses dialektischen Verhältnisses zwischen Akteuren und sozialen Strukturen das Habitus-Konzept
eingeführt. Die in einer sozialen Gruppe geteilten Habitusformen sind Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte und strukturierende Strukturen
(Bourdieu 2009, 165). Der Habitus strukturiert von innen heraus die Wahrnehmung, das Denken und Handeln der Menschen (Akteur*innen). Er ist ein
„Erzeugungsprinzip von Strategien, die es ermöglichen, unvorhergesehenen und fortwährend neuartigen Situationen entgegenzutreten […]
[E]in System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, das alle
vergangenen Erfahrungen integrierend, wie eine Handlungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsmatrix funktioniert und […] es ermöglicht,
unendlich differenzierte Aufgaben zu erfüllen.“ (Bourdieu 1976a, 165.
169 zitiert nach Wacquant 2013, 39–40)
Da die gleichen Habitusformen innerhalb einer sozialen Gruppe das Handeln der Mitglieder strukturieren, entstehen so geteilte Praxisformen, also
soziale Praktiken. Unsere Sozialisierung führt dazu, dass wir die Welt auf
eine bestimmte Art und Weise verstehen, wobei uns diese Perspektive – die
soziale Wirklichkeit oder Realität – zunächst als die einzig logische erscheint
(Bourdieu – Wacquant 2013, 161). Bourdieu verwendet für dieses Phänomen
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 201
des ontologischen Verständnisses den Begriff Doxa (Bourdieu 2009, 330;
Fuchs-Heinritz – König 2014, 98).
Nach Bourdieus relationaler Ontologie der Mensch- Welt-Beziehung sind
Ding-Erfahrungen stets körperlich, mental, subjektiv und objektiviert zugleich und durch Sozialisationen und Situationen strukturiert. Diese Aspekte
sind in seiner Ontologie nicht als getrennt voneinander zu sehen. Vielmehr
stehen sie durch das mental-körperliche In-der-Welt-Sein des Menschen in
Relation zueinander. Mit Bourdieu können wir Menschen gleichzeitig als
Subjekte und Objekte verstehen, die in eine Art „doppelte Realität“ eingebunden sind (Bourdieu 2014, 246–247). Das eröffnet uns die Möglichkeit, auf
mental-körperlicher Ebene und gleichsam in Beziehung zur Welt, in die wir
eingebunden sind, zu Erkenntnis zu erlangen, wobei in der Wahrnehmung
sowie im Menschsein an sich das Mentale und das Körperliche untrennbar
verbunden sind (Grenfell 2014, 9).
Die Erkenntnisse über die Welt ergeben sich dadurch sowohl in der Alltags-, als auch in der Forschungspraxis immer aus diesem doppelten, mental-körperlichen Bezug des Menschen zur Welt. Dinge wie archäologische
Funde sind subjektiv auf individueller Ebene erfahrbar, aber gleichzeitig objektiviert 28 in ihrer räumlichen Ausdehnung als physische Körper mess- und
zählbar. Die Untersuchung von Dingen wie beispielsweise Keramikgefäßen
durch Archäolog*innen kann somit mittels subjektiver, individueller Wahrnehmung und objektivierter Messung geschehen.29 Bourdieu hat argumentiert, dass eine subjektivistisch-konstruktivistische und eine objektivistischrealistische Perspektive auf das Forschungssubjekt oder -objekt nicht klar
voneinander zu trennen sind, wie auch nicht die mentale und die körperliche
Erfahrung der Welt. Er versteht Subjektivität und Objektivität daher nicht als
zwei sich gegenseitig logisch ausschließende epistemologische Positionen,
sondern vielmehr als unterschiedliche Modi und Momente in ein- und demselben Erkenntnisprozess. Diesem Umstand ist nach Bourdieu im (sozial-)
wissenschaftlichen Forschungsprozess Rechnung zu tragen:
„[..] die Sozialwissenschaft [muss] die beiden Arten von Eigenschaften berücksichtigen, die objektiv mit jenen Seinsarten verknüpft sind:
einerseits die materiellen, die sich, wie schon der Leib, wie Beliebiges
28 Bourdieu verwendet anstatt objektiv den Begriff objektiviert im Sinne des Objektivismus und grenzt ihn damit von ersterem ab, vgl. dazu unten (Bourdieu – Wacquant
2013, 12. 19).
29 Messungen können unterschiedlich genau sein sowie Messfehler und Abweichungen beinhalten, entscheidend ist aber, dass in ihrer Aussagekraft gleiche Ergebnisse mit gleichem Messverfahren und gleicher Messanordnung erzielbar sind.
202 — Caroline Heitz
aus der physischen Welt zählen und messen lassen, und andererseits die symbolischen Eigenschaften, die nichts anderes als in ihren
Wechselbeziehungen, d. h. als Unterscheidungsmerkmale aufgefasste
materielle Eigenschaften sind. Eine derartige, in sich doppelte Realität
erfordert, die Alternative zwischen Sozialphysik und Sozialphänomenologie zu überwinden, in der die Sozialwissenschaft gemeinhin gefangen ist.“ (Bourdieu 2014, 246–247)
Es geht Bourdieu also darum, weder eine rein idealistisch-konstruktivistische Forschungshaltung einzunehmen, in der alles eine Frage der subjektiven Perspektive ist, noch eine naiv realistische, die von einem ungehinderten objektiven Zugriff auf die absolute Wirklichkeit ausgeht. Er verbindet
beide zu einer dritten Form der Erkenntnis, der Praxeologie (Bourdieu 2014,
246–247). Diese eröffnet einen dritten Weg, in welchem relationales Denken
Dualismen vorgezogen wird: Wie Individuum und Gesellschaft sich gegenseitig konstituieren, so stehen Körper und Geist, Objekt und Subjekt, Objektivismus und Subjektivismus in einer wechselseitigen Beziehung zueinander
(Bourdieu – Wacquant 2013, 12. 19). Letztere stehen sich nicht unvereinbar
gegenüber, sondern sind zwei sich ergänzende Forschungsperspektiven, mit
denen wir versuchen, Erkenntnisse zu der für uns niemals vollumfänglich
zugänglichen Wirklichkeit zu erzielen.
Mit Subjektivismus meint Bourdieu Forschungshaltungen, deren Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns rein qualitativer und subjektiver Art sind.
Die kritische Beurteilung der wissenschaftlichen Ergebnisse ist nur über qualitatives Nachvollziehen möglich, wie etwa der Prüfung des methodischen
Vorgehens und der theoretischen Grundlagen sowie der Interpretation der
Ergebnisse. Kaum zugänglich bleibt dabei das, was er objektive Strukturen
nennt, also all das, was die Perspektive eines Subjektes übersteigt (Bourdieu
2009, 147; 2014). Als Objektivismus bezeichnet er wissenschaftliche Formen
der Erkenntnis, welche die Welt objektiviert erfassen, womit beispielsweise alle quantitativen Verfahren angesprochen sind (Wacquant 2013, 25–26).
Dazu gehören aus heutiger Sicht computerbasierte Analyse- und Simulationsverfahren, die die Kapazität der menschlichen Kognition übersteigen
beziehungsweise diese erweitern (vgl. Kap. Der Digital Turn). Beim wissenschaftlichen Arbeiten mit einer objektivistischen Haltung besteht die Gefahr, dass wir die erkannten objektiven Strukturen – die letzten Endes ja nur
abstrahierte Modelle der Wirklichkeit sein können – unmerklich zur Realität und sogar zu handlungsfähigen Akteuren überhöhen (Bourdieu 2014,
75). Durch die Praxeologie wird beides in eine relationale komplementäre
Beziehung gesetzt, da nur beide Modi zusammengenommen die körperlichmentale Mensch-Welt-Beziehung erfassen können. Sie sind nur heuristisch
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 203
im Forschungsprozess trennbar, im Menschsein aber stets verbunden. Weil
Bourdieu beide als unterschiedliche Phasen im Forschungsprozess auffasst,
zwischen welchen es zu oszillieren gilt, weist seine Praxeologie das Hauptcharakteristikum des Metamodernismus auf und bietet damit einen der möglichen erkenntnistheoretischen Dritten Wege, welche zur Überwindung der
epistemologischen Krise in der Archäologie führen könnten.
In meiner Arbeit zu materiellen Verflechtungen und (Trans)formationen
neolithischer Keramik im nördlichen Alpenvorland (Heitz 2018) habe ich
aufgezeigt, wie dieser Ansatz von Bourdieus Reflexiver Anthropologie und
seiner Praxeologie sowie der Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden auf Basis eines relationalen Realismus für die Archäologie
nutzbar gemacht werden kann. Dabei hat sich gezeigt, dass Bourdieus relationale Mensch-Welt Ontologie, die zwischen Subjekt und Objekt, zwischen
Subjektivismus und Objektivismus, aber auch zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt, um prozessphilosophische, relationale, posthumanistische theoretische Elemente des neuen Materialismus erweitert werden kann,
ohne dass dabei die sozialtheoretische Dimension verloren geht – und ohne
einen ontologischen Perspektivenwechsel im Sinne des Ontological Turn vorzunehmen. Letzterer bietet aber einen alternativen zusätzlichen Weg für die
Metamoderne Archäologie, wie ich im Folgenden kurz skizzieren möchte
(vgl. unten).
Karen Barads Ethico-onto-epistem-ologie und der Ontological Turn
Neue Wege, die für die Metamoderne Archäologie nutzbar gemacht werden
können, ergeben sich aus der ontologischen Verschiebung (Ontological Turn),
die in einigen Ansätzen des Material Turn enthalten ist. So liegt am Ende des
Material Turn mit den entsprechenden Ansätzen des Neuen Materialismus
schon ein Lösungsansatz zur Überwindung der epistemologischen Krise auf
dem Tisch. Hatte der Material Turn beziehungsweise der Neue Materialismus einerseits zu einer neuen Hinwendung zu den Dingen und damit zur
Überwindung des postmodernen, idealistischen Konstruktivismus geführt,
so bietet die ontologische Verschiebung in einigen dieser Ansätze einen Weg,
idealistische und realistische Positionen miteinander zu kombinieren, ohne
dabei die Position zugunsten der anderen aufzugeben – oder umgekehrt.
Diese wissenschaftstheoretischen Konsequenzen hat Alberti 2016 in seinem Aufsatz Archaeologies of Ontology thematisiert (Alberti 2016). Der Neue
Materialismus beflügelte eine neue metaphysische30 Archäologie, nachdem
30 „Metaphysik behandelt die zentralen Probleme der theoretischen Philosophie,
nämlich die Beschreibung der Fundamente, Voraussetzungen, Ursachen oder ‚ersten Begründungen‘, der allgemeinsten Strukturen, Gesetzlichkeiten und Prinzipien
204 — Caroline Heitz
zuvor mit den idealistisch-konstruktivistischen Positionen ontologische auf
epistemologische Fragen reduziert worden waren (Alberti 2016, 164. 165). In
der Ethnologie geht es beim Ontological Turn darum, den repräsentationalistischen Rahmen, in dem Kulturen als Glaubenssysteme behandelt werden,
die verschiedene Perspektiven auf eine einzige Welt bieten, zu sprengen,
wobei die jeweiligen native ontologies als viele verschiedene Welten aufgefasst werden (Paleček – Risjord 2012). Das zeigt bereits die Feststellung,
dass Ontologie in der Forschungsliteratur auf zwei unterschiedliche Weisen
verwendet wird: In der Philosophie meint Ontologie zunächst die Lehre der
Realität oder des Seins.31 Unter Ontologien / ontologies werden die Vorstellungen bestimmter Menschen von der Realität verstanden (Alberti 2016, 164).
Den archäologischen Theoretiker*innen des Neuen Materialismus geht es
um ersteres, um eine erneute Suche nach der Antwort auf die Frage, was
Dinge beziehungsweise was die Grundlagen dieser Welt sind und wie diese
entstehen (Olsen 2010; Olsen 2012; Olsen – Witmore 2015, 189). Wichtige
Anstöße kamen dabei aus der feministischen Theoriediskussion (Strathern
1988; Butler 1993; Haraway 2008), in welcher posthumanistische Körperund Identitätskonzepte thematisiert wurden. Konzeptuelle Bezüge bestehen
auch zum Neuen ontologischen Realismus (New Ontological Realism) in der
Philosophie (Gabriel 2018, 10). Kennzeichnend für den Ontological Turn und
die erneut metaphysisch ausgerichtete archäologische Theoriebildung ist,
dass die Grundlagen der Welt jenseits der cartesianischen Trennung von
Körper und Geist als relationale Prozesse verstanden werden, durch welche
sich immer wieder neu verflechtende Geflechte entstehen, die denselben ontologischen Status innehaben, also gleich real sind. Das schließt auch den
Menschen mit ein, der im posthumanistischen Sinne ebenfalls nicht losgelöst
von solchen Verflechtungsprozessen existiert. Es geht also um eine grundsätzlich flache Ontologie (Flat Ontology), die ausschließlich aus einzigartigen,
singulären, kontingenten Kategorien des Seins besteht, die sich im räumlich-zeitlichen Maßstab, aufgrund ihrer Materialisierung, Qualitäten und Dynamiken, aber nicht im ontologischen Status unterscheiden (DeLanda 2002,
58; vgl. Witmore 2014; Alberti 2016, 168). Der Ontological Turn hat damit
sowie von Sinn und Zweck der gesamten Realität bzw. allen Seins.“ https://www.
philosophie.ch/beitraege/themenbereiche/theoretische-philosophie/metaphysik
(05.03.2022).
31 „Die Ontologie beschäftigt sich mit allem, was es gibt, denn sie fragt erstens,
was es heißt, daß es etwas gibt, und zweitens, welche Kategorien von Objekten existieren und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.“ https://www.
philosophie.uni-muenchen.de/fakultaet/schwerpunkte/ontologie/index.html
(05.03.2022)
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 205
wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Mit der Auflösung von Grenzen
zwischen der Welt der Ideen und der Dinge wird eine klare Trennung zwischen dem Sein und dem Erkennen, also Epistemologie und Ontologie sowie
Subjektivität und Objektivität unmöglich, wie Alberti resümiert:
„In summary, being neither naturalism nor constructivism, ontological
realism claims that objectivity and truth may be contingent but are
nonetheless demonstrable and robust.“ (Alberti 2016, 169)
Eine Akteurin des Ontological Turn, die sich explizit mit der Frage nach dem
Verhältnis von Ontologie und Epistemologie befasst, ist die Physikerin und
Philosophin Karen Barad, welche für eine oben bereits erwähnte Ethico-ontoepistem-ologie (Ethico-Onto-Epistem-Ology) plädiert (Barad 2007, 90). Sie verweist damit auf die Untrennbarkeit von Ethik, Ontologie und Epistemologie
bei der Wissensproduktion, bei wissenschaftlichen Praktiken und in der Welt
an sich sowie den darin eingebundenen Menschen und Nicht-Menschlichen,
welche die Welt intra-aktiv mitkonstituieren (vgl. Kap. Material Turn). Die
Trennung zwischen den beiden Standpunkten, dem Realismus und dem konstruktivistischen Idealismus, werden damit ebenso wie die Trennung in Objekte und Subjekte durch die Kontingenz der Relationalität überwunden. In
ihrer Theorie des Agentiellen Realismus zeigt Karen Barad am Beispiel des
Welle-Teilchen-Dualismus, eine Erkenntnis der Quantenphysik, dass es mehrere objektive Wahrheiten geben kann. Dabei handelt es sich um Tatsache,
dass Licht und Materie sowohl Wellen- als auch Teilchenverhalten aufweisen. Eigenschaften, die zuvor als einander ausschließend betrachtet wurden
(Barad 2007, 123). Marshall und Alberti (2014) haben Karen Barads argumentationsweise auf ein archäologisches Beispiel bezogen: Die Kategorien
von Geschlecht und gender würden sich beispielsweise nicht ausschließen,
sondern durch die Wiederholung bestimmter materiell-diskursiver Praktiken
entstehen, die beide gleichermaßen real sind (Alberti 2016, 169). Ein weiteres
Beispiel der Aneignung von Karen Barads Agentiellem Realismus in Kombination mit der Akteur-Netzwerk-Theorie und dem Assemblagen-Theorem
ist Stefan Schreibers (2018) qualitative Untersuchung zu den materiellen und
symbolischen Beziehungsgefügen von „römischen Importen im mitteldeutschen Barbaricum“. Letztere werden als Assemblagen beschrieben und durch
die Aufzeigung agentieller Schritte deren sich ständig wandelnde materielldiskursive Beziehungsgefüge in der zu untersuchenden Vergangenheit sowie
in der Gegenwart der Untersuchung aufgezeigt. Zukünftig wäre es sicherlich
interessant, philosophische Ansätze, wie etwa jenen von Karen Barad, weiter
nach ihrem Potenzial für die Metamoderne Archäologie zu untersuchen. Eine
Frage dabei wäre beispielsweise, inwiefern sich mit ihrem Ansatz qualitative
206 — Caroline Heitz
und quantitative sowie geistes- und naturwissenschaftliche Methoden in Forschungsdesigns miteinander verbinden lassen.
Nach der Krise – Ausblick auf die Archäologie
der Metamoderne
Die Erfahrung unserer Zeit scheint in besonderem Maße mit globalen Herausforderungen und subjektiv erlebbaren gesundheitlichen, klimatischen,
ökologischen, sozialen, politischen und ökonomischen Krisen einherzugehen. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Transformationen werden
von philosophischen, wissenschafts- und kunsttheoretischen Debatten um
entsprechende Lösungsansätze begleitet. In diesen werden nun wieder Themenfelder diskutiert, die während der Postmoderne mit ihren idealistischkonstruktivistischen Ansätzen kaum mehr Beachtung fanden, wie etwa Realität, Wahrheit und Faktizität, das Verhältnis des Virtuellen zum Materiellen
sowie die Grenze vom Menschlichen zum Nicht-menschlichen. Mit diesen
Debatten stellt sich unter anderem die Frage nach der Vereinbarkeit von geistes- und naturwissenschaftlichen Formen der Wissensproduktion, sowie von
idealistischen und realistischen Standpunkten. Anzeichen für diese, auch die
Archäologie erfassende epistemologische Krise, verstanden als ein wissenschaftstheoretischer Wendepunkt, sind meiner Meinung nach der Science,
Digital, Material Turn und Ontological Turn sowie die damit einhergehenden Transformationen in der Wissensproduktion. Das derzeit beobachtbare
Schwanken zwischen konstruktiver Verarbeitung und gleichzeitiger Abwehr
solcher Turns ist, wie Doris Bachmann-Medick feststellt, eine typische Übergangsreaktion, die auf aktuelle Umbruchprozesse in der Wissenschaftslandschaft der Geistes- und Kulturwissenschaften hindeutet (Bachmann-Medick
2019, 3).
All diese Veränderungen weisen meiner Meinung nach darauf hin, dass
sich nicht nur die Archäologie, sondern auch unsere Lebenswelten in einer
Umbruchphase befinden, die möglicherweise über die Postmoderne hinausführen wird und als Metamoderne beschrieben werden könnte. Die Metamoderne Archäologie ist durch das Oszillieren oder das synthetische Verbinden unterschiedlicher Forschungshaltungen charakterisiert. Die durch den
Widerspruch vermeintlich konträrer philosophischer Grundhaltungen im
Forschungsprozess ausgelöste epistemologische Krise kann durch Epistemologien oder Onto-Epistemologien dritter Wege überwunden werden. Diese
vermitteln zwischen dem Idealismus und Realismus sowie zwischen subjektivistischen und objektivistischen Perspektiven, indem sie den ontologischen
cartesianischen Körper-Geist-Dualismus, der dieser epistemologischen Krise
Wider die Krise? Archäologie nach der Postmoderne — 207
und dem scheinbaren Widerspruch konträrer Positionen zugrunde liegt,
überwinden. Dazu eignen sich meiner Meinung nach aus unterschiedlichen
Denkrichtungen kommende Ansätze des Pragmatismus, der Praxistheorien
sowie des Neuen Materialismus, deren ontologische und epistemologische
Lösungen in der Archäologie noch wenig genutzt wurden. Solche Ansätze
würden die einseitige Perspektive konstruktivistisch-idealistischer Ansätze
der Postmoderne und damit der postprozessualen Archäologie überwinden,
ohne dass die Gefahr droht, dabei unkritisch zum Realismus des 19. und frühen 20. Jahrhundert zurückzukehren.
Unabhängig davon, ob die archäologische Praxis die Konservierung,
Archivierung, Magazinierung zum Ziel hat, ob die Selbstreflexion des Forschungsprozesses und die forschungsgeschichtliche und aktuellgesellschaftliche Dekonstruktion im Vordergrund steht, oder ob dabei neue Narrative
über die Vergangenheit erzielt und vermittelt werden sollen, die Archäologie
bewegt sich meiner Meinung nach schon seit den 1960er Jahren auf einer
vielversprechenden Mittelposition zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. So haben unter anderen Tim Flohr Sørensen und Kristian Kristiansen
darauf hingewiesen, dass sich prozessuale und postprozessuale Ansätze in
der archäologischen Forschungspraxis nicht abgelöst haben. Vielmehr ist
eine Koexistenz festzustellen, ein Nebeneinander beider Haltungen, wobei es
deren Vereinbarkeit ist, die debattiert wird (Sørensen 2017, 101; Kristiansen
2017, 120). In der Forschungspraxis ist kaum eine strikte Trennung zwischen
idealistisch-subjektivistischen und realistisch-objektivistischen Ansätzen
auszumachen. Vielmehr handelt es sich um eine komplexe Topographie
gradueller Unterschiede zwischen solchen Standpunkten. Dass nun durch
die aktuellen Debatten erneut Bewegung in diese epistemologische Landschaft zu kommen scheint, die selbst zu neuen Auseinandersetzungen mit
Ontologie in der Archäologie führt, birgt meiner Meinung nach die Chance, dass es wieder zu einer Annäherung oder zumindest einem vermehrten
Dialog zwischen Archäolog*innen kommen könnte, die jeweils stärker mit
prozessualen oder postprozessualen Ansätzen sowie quantitativen oder qualitativen Methoden arbeiten. Ein solcher Dialog muss keinesfalls zu einer
Schwächung der mehrheitlich geisteswissenschaftlich oder nur mit Hilfe von
qualitativen Methoden erzielten Forschungsergebnisse führen. Ich sehe auch
keinen Grund, wieso die Pluralität unterschiedlicher Ansätze gefährdet sein
sollte. Vielmehr bieten die erneute Hinwendung zu den Dingen (Material
Turn), die naturwissenschaftlichen Methoden (Science Turn) und quantitativen Ansätzen (Digital Turn) eine Chance: Sich über eine bisher vielleicht
zu wenig reflektierte epistemologische und ontologische Grundlage Gedanken zu machen, mit welcher die grundsätzlich konträren Standpunkte
des Idealismus und Realismus, Subjektivismus und Objektivismus sowie der
208 — Caroline Heitz
qualitativen und quantitativen, natur- und geisteswissenschaftlichen Forschungsrichtungen miteinander konsistent verbunden werden können, sei
es innerhalb ein- und desselben Forschungsvorhabens oder im Sinne unterschiedlicher disparat erzielter Forschungsergebnisse, die sich perspektivisch
ergänzen. Sollten wir zukünftig die Möglichkeiten darauf begrenzen, dass
die Grundhaltung dieser Disziplin zwischen den beiden bekannten Polen der
Moderne und der Postmoderne liegen muss? Nein, sicher nicht, denn sowohl
realismus- als auch idealismusnahe Positionen werden in der archäologischen Forschungsgemeinschaft weiterhin parallel nebeneinander bestehen
oder sogar innerhalb einzelner Forschungsprojekte oder der Perspektive
einzelner Forschenden. Auch diese Form der Oszillation dürfte ein Kennzeichen der Metamoderne sein. Die Metamoderne könnte für die Archäologie
darüber hinaus bedeuten, dass sie zu einer neuen Reflexivität findet. Diese
rückt – mit Bourdieu und Barad gesprochen – das kreative Potenzial der
doppelten Realität des mehr-als-menschlichen In-der-Welt-Seins in den materiell-diskursiven Verflechtungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft im wissenschaftlichen Erkenntnis- und Vermittlungsprozess in den
Fokus. Die Oszillation zwischen Standpunkten, die Synthese von Perspektiven und die Kombinationsmöglichkeiten von Methoden zur Untersuchung
der Dynamik von Materialisierungen und Dematerialisierungen sowie Stabilisierungen und Destabilisierungen in der Zeit ist, was die Metamoderne
Archäologie jenseits der Postmoderne ausmachen wird.
Dank
Mein Dank geht an die Herausgeberschaft dieses Bandes für die Möglichkeit, diesen Beitrag hier zu publizieren, sowie an die Reviewer*innen für ihre
hilfreichen Kommentare. Für Diskussionen und Hinweise danke ich Stefan
Schreiber, sowie dem Schweizerischen Nationalfonds für die Unterstützung
dieses Beitrages im Rahmen des SNF-Postdoc.Mobility-Projektes Nr. 194326
Time and Temporality in Archaeology. Approaching Rhythms and Reasons for
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Kontakt
Caroline Heitz | Universität Bern | Institut für Archäologische Wissenschaften |
Prähistorische Archäologie | Mittelstrasse 43 | 3012 Bern | Caroline.Heitz@iaw.
unibe.ch | https://orcid.org/0000-0001-7188-6775
Standpunkte und
Positionierungen
Archäologische Geschlechterforschung
und feministische Archäologie –
Arbeitsanleitung für morgen
Ulrike Rambuscheck, Sarah Gonschorek, Katja Winger ,
Doris Gutsmiedl-Schümann 1
Zusammenfassung Das Ziel dieses Beitrages ist es, das zukünftige Potenzial der archäologischen Geschlechterforschung und der feministischen
Archäologie vorzustellen. Nach einem kurzen Abriss der Entstehung der
archäologischen Geschlechterforschung und der feministischen Archäologie
erfolgt jeweils eine Definition dieser zwei Ansätze. Danach wird erklärt, warum die Begriffe sex und gender, trotz der Kritik durch Judith Butler, weiterhin
als analytische Werkzeuge beibehalten werden.
Zu weiterhin wichtigen Forschungsfeldern der archäologischen Geschlechterforschung wird die Rekonstruktion von Geschlechterverhältnissen in der Vergangenheit gezählt. Zu den Feldern, die von der archäologischen Geschlechterforschung erst seit Kurzem bearbeitet werden,
gehören Gewalt gegen Frauen*, die Raum- und Landschaftsforschung sowie
die Intersektionalitätsforschung.
Zu den zukünftigen Aufgaben einer feministischen Archäologie gelten die
Kritik der Narrative im Fach, die immer noch männlich bestimmt sind, die
Vermittlung von Wissen über Geschlechter in der Ur- und Frühgeschichte
in Schulbüchern sowie die Verankerung von archäologischer Geschlechterforschung in Studium und Lehre.
Auf die Gefahr der Instrumentalisierung der Ur- und Frühgeschichte in
Bezug auf Geschlechter durch selbsternannte Expert*innen und die Wichtigkeit der archäologischen Geschlechterforschung gerade in Zeiten antiliberaler
Tendenzen in der Gesellschaft (Stichwort Antigenderismus) wird hingewiesen.
Schlüsselbegriffe Geschlechterverhältnisse; Gewalt gegen Frauen*; Raum-
und Landschaftsforschung; Intersektionalität; männlich geprägte Narrative
1
Die Namensnennung erfolgt entsprechend dem jeweiligen Anteil der Autorinnen
an diesem Beitrag.
Ulrike Rambuscheck u. a., Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie –
Arbeitsanleitung für morgen, in: Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie |
Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken
in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 221–248. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15026
221
222 — Ulrike Rambuscheck u. a.
Abstract This contribution examines the future potential of archaeological
gender studies and feminist archaeology. After a brief outline of the origins
of archaeological gender research and feminist archaeology, we define these
two approaches. We explain why the terms sex and gender, despite criticism
from Judith Butler, continue to be used as analytical tools.
We see the reconstruction of gender relationships in the past as one of
the important fields of archaeological gender research. The fields that archaeological gender studies have only recently begun to address include violence against women*, spatial and landscape research, and intersectionality
research.
The future tasks of feminist archaeology include the criticism of narratives in the archaeological disciplines, which are still male-dominated; the
communication of knowledge about gender in pre- and protohistory in
school textbooks; and the embedding of archaeological gender research in
both studies and teaching.
We also point out the danger of self-appointed experts using pre- and protohistory as instruments to prove their theories about gender relations and,
consequently, the importance of archaeological gender research, especially in
times of anti-liberal tendencies in society (keyword anti-genderism).
Keywords Gender Relations; Violence against Women*; Spatial and
Landscape Research; Intersectionality; Male-dominated Narratives
Einführung
Die Geschlechterforschung in der Ur- und Frühgeschichte2 hat sich im
deutschsprachigen Raum seit ihren Anfängen Ende der 1980er / Anfang der
1990er Jahre – als Studentinnen in autonomen Seminaren und Arbeitskreisen
die neue Strömung für sich und ihre Forschungen entdeckt haben (Moraw
2021, 43–47) – bis heute zu einem im archäologischen Mainstream nicht
mehr wegzudenkenden Ansatz weiterentwickelt.
Im Folgenden sollen die zukünftigen Möglichkeiten der archäologischen
Geschlechterforschung und der feministischen Archäologie vorgestellt werden.
2
Dieser Artikel bezieht sich auf die deutschsprachige Ur- und Frühgeschichte
(auch als Vor- und Frühgeschichte, Prähistorische Archäologie und ähnliche Bezeichnungen bekannt). Wenn andere archäologische Disziplinen gemeint sind,
wird dies explizit erwähnt. Die Begriffe Archäologie und archäologische Wissenschaften meinen eine den archäologischen Einzeldisziplinen übergeordnete Fächerbezeichnung im Allgemeinen.
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 223
Einführend wird erklärt, wie archäologische Geschlechterforschung und
feministische Archäologie zu definieren und wie sie entstanden sind sowie
was unter der zentralen Kategorie Geschlecht speziell in der Ur- und Frühgeschichte zu verstehen ist. Danach wird auf die Themenfelder eingegangen,
von denen wir glauben, dass sie zukünftig ein großes Potenzial für eine Analyse durch die Geschlechterforschung besitzen.
Entwicklungen und Definitionen
Sowohl die archäologische Geschlechterforschung als auch die feministische
Archäologie haben ihre Anfänge in den 1980er Jahren im anglo-amerikanischen Raum und in Skandinavien (Hofmann 2014; Koch 2014). Seit den 1990er
Jahren verbreiteten sich diese Ansätze langsam in der deutschsprachigen
Ur- und Frühgeschichte. Lange Zeit standen Frauen*3 im Forschungsinteresse, so dass von einer archäologischen Frauenforschung gesprochen werden
kann. Erst allmählich wurden auch Männer* und weitere Geschlechter in
die wissenschaftlichen Betrachtungen einbezogen. Analog zu anderen Disziplinen setzte sich der Begriff archäologische Geschlechterforschung durch.
Feministische Theorien verwenden – wegen ihrer Nähe und Verflechtung
zur sozialen Bewegung der Frauenemanzipation – als zentrale Forschungskategorie Frauen*, so auch die feministische Archäologie. Die Entwicklung
der Geschlechterforschung anderer Disziplinen zu den Gender Studies haben auch die archäologische Geschlechterforschung und die feministische
Archäologie vollzogen. Damit ist gemeint, dass archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie Forschungsansätze in der Ur- und
Frühgeschichte / Archäologie sind und gleichzeitig zum interdisziplinären
Wissensgebiet der Gender Studies gehören (vgl. Koch u. a. 2019).
Unter archäologischer Geschlechterforschung wird im Grundsatz die Anwendung der Kategorie gender als Analysewerkzeug auf jeden Aspekt der
archäologischen Forschung verstanden (zur Kategorie sex siehe weiter unten). Dies umfasst neben der Rekonstruktion von Geschlechterrollen auch
die Untersuchung der vergangenen Geschlechterverhältnisse in ihrer Entstehung und zeitlichen Entwicklung.
3
Das Sternchen hinter Frauen und Männern verweist darauf, dass es sich hierbei
um soziale Konstrukte handelt, d. h., es gibt nichts Wesenhaftes, was Frauen oder
Männer auszeichnet, sondern je nach Gesellschaft und Individuum kann etwas
anderes darunter verstanden werden. Außerdem soll damit deutlich gemacht
werden, dass die starre Binarität, die sonst mit diesen Begriffen einhergeht, abgelehnt wird.
224 — Ulrike Rambuscheck u. a.
Die feministische Archäologie blickt auf die archäologischen Disziplinen
unter einer feministischen Perspektive, d. h., die Forschungsgeschichte, die
Karriereverläufe von einzelnen Individuen und die jetzige Situation der in
den Archäologien Tätigen werden in Bezug auf Diskriminierung und Ungleichbehandlung der Geschlechter untersucht. Die Unterscheidung in feministische Archäologie und archäologische Geschlechterforschung, wie sie im
deutschsprachigen Raum häufig vorgenommen wird, ist nicht klar zu treffen
und – nach unserer Ansicht – auch nicht notwendig. Für eine bessere Gliederung dieses Beitrags wird sie aber beibehalten.
sex und gender in der Ur- und Frühgeschichte
Der Begriff Geschlecht4 (englisch gender) ist eine zentrale Kategorie jeder
Geschlechterforschung. Mit der sex / gender-Unterscheidung in der feministischen Theorie seit den 1970er Jahren wird ein kausaler Zusammenhang
zwischen dem sexuellen Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender) zurückgewiesen, d. h., aus sex geht nicht gender hervor. Damit wird eine
Naturalisierung von gender und von Geschlechterverhältnissen, wie dies
seit dem 18. Jahrhundert geschehen ist (Degele 2008, 60–62), dementiert.
Die These der amerikanischen Philosophin Judith Butler, nicht nur gender,
sondern auch sex sei sozial konstruiert, genauer – in der Terminologie von
Butler – ein Effekt performativer Akte (Butler 1991), brachte die sex / genderUnterscheidung ins Schwanken, aber nicht zu Fall, denn weiterhin gibt es
gute Gründe, an dieser Differenzierung festzuhalten (eine Aufzählung dazu
gibt es z. B. bei Degele 2008, 69).
Auch wenn oft darauf hingewiesen wird, sex und gender aus Gründen der
Analyse in der Ur- und Frühgeschichte beizubehalten, wird dennoch darauf
verwiesen, dass soziale Praktiken auch Einfluss auf die körperliche Materialität prähistorischer Menschen hatten. Die menschlichen Überreste werden
zwar in erster Linie mit der Kategorie sex verbunden, archäologische Funde
und Befunde mit der Kategorie gender. Doch Skelette und andere menschliche Überreste enthalten nicht nur Daten über das biologische Geschlecht,
sondern auch über das kulturelle (Hofmann 2009, 142). Die anthropologische
Untersuchung von menschlichen Überresten beschränkt sich nicht nur auf
die Geschlechts- und Altersbestimmung, die Bestimmung der Körpergröße
und Krankheiten, sondern auch auf sogenannte Stressmarker oder Überbelastungen des Skeletts, die durch bestimmte Praktiken und Lebensumstände
4
Im weiteren Verlauf des Textes ist jedes Mal gender gemeint, wenn der Begriff
Geschlecht ohne weitere Spezifizierung genannt wird.
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 225
je einzelner Menschen entstanden sind. Weitere Analysen, die neben biologischen auch soziale Phänomene erkennen lassen, sind Untersuchungen der
DNA, mit denen familiäre Verwandtschaft nachgewiesen werden kann; über
die Erforschung von Isotopenverhältnissen in menschlichen Überresten können als weitere Themenfelder Ernährungsweisen und Mobilität antiker Menschen und Bevölkerungen untersucht werden (Alt – Röder 2009, 88–111).
Durch diese kulturellen Phänomene, die an sex abgelesen werden können, wird von einer unerwarteten Stelle aus die Unterscheidung von sex und
gender infrage gestellt. Für eine erst noch zu entwickelnde anthropologische
Geschlechterforschung wird deshalb ein Geschlechterkonzept gefordert,
„das sowohl die biologischen als auch die soziokulturellen Aspekte von Geschlecht in ihren Wechselwirkungen einschließt“ (Alt – Röder 2009, 119).
Der Begriff gender steht für eine Zurückweisung von Zweigeschlechtlichkeit. Wenn die Geschlechterforschung und damit ebenso die archäologische
Geschlechterforschung ihren Schwerpunkt auf Frauen* legen, hat dies historische Gründe: Die Geschlechterforschung hat sich aus der Frauenforschung
entwickelt. Dennoch gehört es zum Grundverständnis jeder Geschlechterforschung, Geschlechtervielfalt zu untersuchen und binäre Geschlechtervorstellungen infrage zu stellen.
Das Geschlechtermodell der allgemeinen Anthropologie, auf dem auch
das der Prähistorischen Anthropologie basiert, ist bis heute ein bipolares,
dass nur Frauen* und Männer* kennt. Die Unbestimmbarkeit von Individuen
in diesem System kann an der Variabilität der Ausprägung von Merkmalen
(was meistens der Fall ist, dann wird von ‚Unbestimmten‘ gesprochen) oder
an Funktionsstörungen im medizinischen Sinne (als was z. B. Intersexualität
in der Anthropologie angesehen wird) liegen (Alt – Röder 2009, 113). So können Menschen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit aber nicht erkannt werden, ein Problem, dem sich eine anthropologische Geschlechterforschung
stellen müsste (Alt – Röder 2009, 114).
Durch DNA-Analysen könnten auch andere Individuen als Mann (XY)
oder Frau (XX) bestimmt werden, z. B. bei Frauen X0 (Turner-Syndrom) und
bei Männern XXY (Klinefelter-Syndrom). Solche Nachweise in alter DNA
(aDNA) sind jedoch äußerst selten5 (z. B. Moilanen u. a. 2022, Roca-Rada
u. a. 2022). Eine Schwierigkeit ist bei solchen Ergebnissen, wie sie mit gender
5
Hierbei spielt es keine Rolle, ob sich vorher theoretisch überlegt wird, welche
Ergebnisse zu erwarten sein könnten. Bei der Bestimmung der Geschlechtschromosomen kann das Ergebnis sozusagen ‚abgelesen‘ werden, z. B. wenn nur
ein X-Chromosom vorhanden ist, ist im Ergebnis auch nur ein X-Chromosom
zu sehen. D. h., die Geschlechtschromosomen sind vorhanden oder sind nicht
vorhanden.
226 — Ulrike Rambuscheck u. a.
korreliert werden können. Ein einfaches Verhältnis zwischen sex und gender ist nämlich nicht gegeben: Anthropologisch ‚Mann‘ bedeutet nicht automatisch, dass dieses Individuum eine wie auch immer geartete soziale Rolle
‚Mann‘ verkörperte oder ausübte. Hier kann auf Beispiele aus der Ethnologie
und auch aus unserer eigenen Gesellschaft zurückgegriffen werden, um verschiedenste Rollenkonzepte von Männlichkeit, Weiblichkeit und dazwischen
bei der Interpretation ins Auge zu fassen.
Zukünftige Forschungsfelder der archäologischen
Geschlechterforschung
Erforschung von Geschlechterverhältnissen
Modelle, die eine Vorstellung davon geben können, wie Geschlechterbeziehungen in der Vergangenheit ausgesehen haben könnten, liefert besonders
die feministische Ethnologie. Hier hat sich seit den 1960er Jahren eine breite Forschung etabliert, die jenseits evolutionistischer Theorien elaboriert die
verwandtschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Bedingungen untersucht, die alle Einfluss auf die Stellung der Geschlechtergruppen innerhalb einer Gesellschaft haben (siehe z. B. die Beiträge in dem Sammelband
von Lenz – Luig 1990).
Die Erforschung von Geschlechterverhältnissen erfolgt in mehreren
Schritten. Zuerst werden Geschlechterrollen rekonstruiert: Wie zeigen sich
‚Weiblichkeit‘, ‚Männlichkeit‘ und andere Geschlechter in einer archäologisch definierten Gesellschaft? In einem zweiten Schritt werden die Beziehungen der zuvor festgestellten Geschlechter rekonstruiert: Gibt es große Unterschiede zwischen den Geschlechtern (in materieller, körperlicher,
räumlicher usw. Hinsicht)? Können diese Unterschiede als Machtbeziehungen gedeutet werden? Und welche könnten das sein (wirtschaftliche, kultische)? Im Folgenden werden einige Beispiele in chronologischer Reihenfolge
vorgestellt, die sich dieser Fragen widmen.
Für das Paläolithikum liegt die Arbeit von Linda R. Owen vor, die die wirtschaftlichen Bedingungen in Südwestdeutschland während des Magdalénien
untersucht (Owen 2005). Hierzu werden ethnografische Quellen herangezogen, die zuvor auf Verzerrungen aufgrund von male bias untersucht worden
sind. So konnten weitverbreitete Stereotype entkräftet werden. Zum Beispiel
kann nicht davon ausgegangen werden, dass während der Eiszeit die Großwildjagd, die in Zusammenhang mit Männern* gebracht wird, die hauptsächliche Nahrungsmittelversorgung darstellte, sondern auch zu dieser Zeit
das Sammeln von Pflanzen für die Ernährung wesentlich war, außerdem für
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 227
weitere Aktivitäten, wie die Herstellung von Kleidung und Gebrauchsgegenständen, diente. Unter der Voraussetzung, dass Frauen* pflanzliche Materialien gesammelt sowie gefischt und kleine Tiere gejagt haben, ist ihr Beitrag
zur Subsistenz als sehr hoch einzuschätzen. Welche Rolle Frauen* in diesen
jungpaläolithischen Gesellschaften spielten, ist trotzdem nicht eindeutig zu
beantworten, denn über ihre politische und religiöse Stellung ist damit noch
nichts ausgesagt. Doch kann in Analogie zu rezenten und subrezenten Ethnien vermutet werden, dass eine große wirtschaftliche Aktivität eine gewisse
Mitsprache in der Gesellschaft bedingte.
Als ein Beispiel für die mögliche kultische Bedeutung von Frauen* im
Neolithikum mag die bemalte Wand dienen, die in einem Haus aus dem
4. Jahrtausend v. Chr. in der Feuchtbodensiedlung Bodman-Ludwigshafen
gefunden worden ist. Diese Malereien von sieben anthropomorphen Figuren und sogenannten Tannenbäumchen (übereinander gesetzte Winkel) auf
einer Lehmwand, die durch fast lebensgroße plastische weibliche Brüste ergänzt wurde, wird als matrilineare Ahnenreihe gedeutet (Schlichtherle 2016).
Unter den reichen Grabausstattungen der Hallstatt- und Latènezeit gibt es
auch viele, die Frauen* zugeordnet werden, auch wenn die Ansprache nicht
immer eindeutig ist und es zu Kontroversen kommt (vgl. Keller – Winger
2017, 14–20). Diese eisenzeitlichen Prunkgräber gelten als die Grablegen der
damaligen Eliten. Darüber, dass Frauen*, die in solchen Gräbern bestattet
worden sind, eine gesellschaftliche Stellung hatten, die denen der ebenso
reich ausgestatteten Männern mindestens ebenbürtig war, gibt es heute keine Zweifel mehr (Röder 2019, 369–370). Doch wie genau ihre Macht, ihr Status und / oder Prestige aussahen, ob sie politische oder religiöse Führerinnen
waren, bleibt schwer einzuschätzen. Dennoch gibt es Untersuchungen, die
über ein weites Gebiet und eine lange Zeitspanne versuchen, den Einfluss
von Frauen* auf ihre Gesellschaft zu bestimmen. Kürzlich hat Rachel Pope
hauptsächlich für den Westhallstattkreis versucht, anhand der Kriterien Waffen / Wagen, Reichtum und Kontakte zum mediterranen Raum, die sich als
Grabbeigaben in den Bestattungen niederschlugen, den gesellschaftlichen
Status von Frauen* und Männern* festzustellen. Neben den archäologischen
Ergebnissen spielen auch anthropologische und naturwissenschaftliche Analysen, die für dieses Gebiet vorliegen, eine große Rolle bei Themen wie Mobilität, Verwandtschaft und Ernährung. Aus all diesen Daten entwirft Pope ein
Bild der Eliten, in dem mal Frauen*, mal Männer* einen höheren Status gehabt haben sollen, je nach Gebiet und Zeit (Pope 2018). Dies bleibt alles recht
vage. Doch bieten z. B. die Untersuchungen zu den Gräbern von Hallstatt im
7. Jahrhundert v. Chr. aus der Zeit der groß dimensionierten Salzproduktion
und des -handels ein präziseres Fallbeispiel, da hier an den Skeletten gezeigt
werden konnte, dass Frauen* wie Männer* im Salzbergbau gearbeitet haben,
228 — Ulrike Rambuscheck u. a.
wodurch beide eine gleichwertige wirtschaftliche Macht erlangt zu haben
scheinen. Die Grabausstattungen zeigen jedenfalls keine großen Unterschiede im Reichtum zwischen den Geschlechtern. Hier scheint es sich demnach
um eine relativ geschlechter-egalitäre Gesellschaft gehandelt zu haben (Pope
2018, 5).
An diesen Beispielen wird deutlich, dass die Erforschung der Geschlechterverhältnisse in ur- und frühgeschichtlichen Zusammenhängen noch ganz
am Anfang steht. Bis jetzt wurde meist nachgewiesen, dass stereotype Vorstellungen von den Rollen und den Beziehungen der Geschlechtergruppen
nicht aufrechterhalten werden können. Um zu konkreten Darstellungen zu
kommen, muss noch viel Detail- und Theoriearbeit geleistet werden. Folgende Fragen könnten weiterhelfen: Welche Modelle aus Ethnologie und Geschichte, wie Männer*, Frauen* und eventuell weitere Geschlechter zusammenleben, können für die Interpretation archäologischer Funde und Befunde
herangezogen werden? Was genau ist mit Begriffen wie Macht, Herrschaft,
Egalität gemeint und wie lassen sich diese Begriffe auf vergangene Verhältnisse übertragen? Was genau ist mit patriarchalen und matriarchalen Strukturen gemeint und wie könnten diese im archäologischen Material nachgewiesen werden?
Gewalt und archäologische Geschlechterforschung
Seit Aufkommen der #metoo-Debatte im Jahr 2017 ist die öffentliche Wahrnehmung für geschlechtsspezifische Gewalt geschärft. Dass ein breites Publikum hierbei auch an der Ausprägung mit diesem Themenfeld verbundener
Phänomene, wie etwa Frauenraub in Altertum und Prähistorie interessiert
ist, lässt sich aktuell in den unterschiedlichsten Medien erkennen. So wurde
in den vergangenen Jahren mehrfach in Tageszeitungen und populärwissenschaftlichen Zeitschriften über Frauenraub im Altertum berichtet (z. B. Holly
2018; Seewald 2019; Titelthema Antike Welt 4/2019 = Keller – Winger 2019).
In diesem Kontext muss auch generell über weibliche Mobilität in der
Vorgeschichte diskutiert werden. Beispielsweise finden sich in der öffentlichen Resonanz einer wissenschaftlichen Studie zur weiblichen Exogamie
in Spätneolithikum und Frühbronzezeit (Knipper u. a. 2017) euphemistische
und romantisierende Beschreibungen über Frauen* wie „Wandervögel“
(Knauer 2017) oder Aussagen wie „[sie kamen,] um dort Familien zu gründen“, „[sie] gehörten als vollwertige Mitglieder zur Familie“, ohne dass dies
durch entsprechende Belege gesichert wäre. Weibliche Mobilität wird mitunter auch als „große[s] Abenteuer“ (Naica-Loebell 2017) pauschalisiert.
Eine Erörterung der Lebensumstände des vorgeschichtlichen Individuums,
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 229
verbunden mit der Frage, welche potenziellen Gründe es für erzwungene
(etwa durch Zwangsverheiratung, Verschleppung und Ausgrenzung) oder
freiwillige Mobilität aufgrund der vorliegenden Indizien gibt, fehlt leider allzu oft.
Auch in wissenschaftlichen Publikationen wird das Phänomen ‚Fremde
Frau‘ oft nicht mit kriegerischen Aktivitäten und damit einhergehenden
Unannehmlichkeiten seitens der Frauen assoziiert, sondern es findet sich
eine „viel friedlichere Erklärung“ (Krämer 1961, 318). So führte z. B. Werner
Krämer die Anwesenheit ‚fremden‘ Frauenschmucks in Manching auf Frauen zurück, die „wohl kaum als Sklavin sondern eher durch Heirat dorthin
gelangt“ (Krämer 1961, 320) waren.
Im Sinne eines Awareness raising wurde der Nachweisbarkeit von Frauenraub in Antike und Ur- und Frühgeschichte eine Tagung gewidmet, auf der
fächerübergreifend Indizien zusammengetragen wurden (vgl. Berndt u. a.
i. Vorb.). Hierbei wurde deutlich, dass die Verschleppung von Frauen gegen
ihren eigenen oder den Willen ihrer Familie nicht nur ein mythologisches
oder ikonografisches Thema darstellt, sondern im Alten Ägypten, in der Antike, im ur- und frühgeschichtlichen Europa und auch heute noch mancherorts eine durchaus gängige Praxis darstellt (Keller – Winger 2019). Während Frauenraub bei der Interpretation prähistorischer Massakerbefunde
mit fehlenden weiblichen Opfern in letzter Zeit mehr Beachtung geschenkt
wird (Meyer u. a. 2018), fehlen derartige Interpretationsansätze sowohl für
Grabbefunde und Fremdformen als auch in ikonografischen Interpretationen (vgl. Teržan i. Vorb.) bisher weitgehend. Obwohl sich prähistorischer
Frauenraub zur wirtschaftlichen und sexuellen Ausbeutung der Opfer nach
heutigem Forschungsstand in keinem Fall mit absoluter Sicherheit nachweisen lässt, sprechen doch zahlreiche Indizien dafür, derartige Tatbestände
unter die gängigen Interpretationsmöglichkeiten archäologischer Befunde
aufzunehmen.
Raum- und Landschaftsforschung
Die Raum- und Landschaftsforschung in der Ur- und Frühgeschichte unter
dem Eindruck des sogenannten spatial turn gibt es schon länger, für die archäologische Geschlechterforschung ist sie aber ein neues Phänomen. Die
Verbindung von gender mit der Raum- und Landschaftsforschung ist noch
sehr selten. Im Folgenden wird die Einführung der Kategorie Geschlecht in
dieses Forschungsfeld beschrieben, zuerst in Disziplinen, die früher als die
Ur- und Frühgeschichte mit dieser Kategorie gearbeitet haben, und danach
in der Ur- und Frühgeschichte selbst.
230 — Ulrike Rambuscheck u. a.
Verbindung von Raum und Geschlecht
Unter der Prämisse „Räume sind nicht geschlechtsneutral“ beschäftigt sich
seit den 1980er Jahren die geografische Geschlechterforschung mit diesem
Thema. Es handelt sich hierbei um ein interdisziplinäres Forschungsfeld, in
dem viele Ansätze, Theorien und Methoden miteinander verknüpft werden,
besonders aus der Soziologie (vgl. Bauriedl u. a. 2010).
Für die Historikerin Susanne Rau geht es bei der Raumanalyse darum,
wie Räume gemacht, also sozial konstruiert sind, und welche Akteur*innen
an der Herstellung von Räumen beteiligt sind (Rau 2013, 142). Zum Thema
Raum und Geschlecht stellt sie drei Bereiche heraus, die untersucht werden können: 1. Die Rolle der Akteur*innen im Prozess der Konstitution und
Nutzung von Räumen. 2. Die Mechanismen der Inklusion und Exklusion
(Ein- und Ausgrenzungen) in der Verschränkung von Raum und Geschlecht.
3. Untersuchung geschlechtlich konnotierter Allegorisierungen räumlicher
Repräsentationen (Rau 2013, 14–15).
Auch in vielen weiteren Kultur- und Geisteswissenschaften wird die
Analyse von Räumen mit der Geschlechterfrage verbunden (vgl. Hubrath
2001a). Zur Verbindung von Raum und Geschlecht gibt es auch Beispiele aus
der Ethnologie. Eine sehr elaborierte Studie zum sozialen und symbolischen
Raum, bei der auch das Geschlecht ein wichtiges Kriterium spielt, ist die
Untersuchung des kabylischen Hauses von Pierre Bourdieu (Bourdieu 1976,
48–65).
Eine wichtige Komponente beim Thema Raum und Geschlecht – wie
sonst auch in der Geschlechterforschung – ist der Machtbegriff. Die Trennung von geschlechterspezifisch definierten und zugleich hierarchisierten
Sphären – häufig noch unterschieden in öffentlich und privat – bewirkte in
der Geschichte oft, dass Frauen* von Macht ausgeschlossen wurden (Hubrath
2001b, 2).
Verbindung von Raum und Geschlecht in der Ur- und Frühgeschichte
Über den Zusammenhang von Raum und Geschlecht ist schon zu Beginn
einer feministischen Archäologie nachgedacht worden. Zum Beispiel führt
Ruth E. Tringham aus, dass Hausarchitektur durch das Visualisieren von
Menschen – Frauen* und Männern*, Alten und Jungen –, die in solchen Häusern in Haushalten lebten, d. h., die in sozialen Beziehungen interagierten,
ergänzt werden sollte (Tringham 1991).
Das Konzept der Verbindung der Hausgröße mit Residenzregeln hat in
der Ur- und Frühgeschichte nur wenig Zuspruch erhalten. Nach dem Ethnologen Melvin Ember ist die durchschnittliche Hausgröße in matrilokalen
Gesellschaften höher als in patrilokalen Gesellschaften. Der Grund hierfür
ist, dass Frauen* einer Lineage in matrilokalen Gesellschaften auch nach der
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 231
Heirat häufig in einem Haus zusammenleben (Ember 1973, zit. n. Eisenhauer
2003, 571). Mit archäologischem Material konnte diese These bislang nicht
bestätigt werden (Eisenhauer 2003, 571).
Eine andere Möglichkeit, Raum und Geschlecht miteinander zu verbinden, ist die Korrelation zwischen Gegenständen, die als von Frauen* genutzte
interpretiert werden, und den Räumen, in denen solche Gegenstände gefunden worden sind. Allerdings ist es nur sehr selten möglich, Gegenstände als
ausschließlich von Frauen* oder Männern* benutzte zu identifizieren. Ein
Beispiel ist der Fund eines von einer Frau* auf einem Holztäfelchen geschriebenen Briefes aus dem frühen 2. Jahrhundert n. Chr., der sich in dem römischen Heerlager Vindolanda, einem Auxiliarkastell am Hadrianswall, fand
(Debrunner Hall 1996, 217–218). Daraus ist geschlossen worden, dass dieser
Fund auf die Anwesenheit von Frauen* an diesem Ort hinweist. Es gibt aber
Stimmen, die zu bedenken geben, bei solchen Funden könnte es sich auch
um Müll von anderen Orten handeln, der entsorgt worden ist (Reuter 2008,
94–95).
Bei diesen Beispielen wird Raum als konventionell angesehen, also als
bebauter Raum, der direkt über Funde und Befunde nachweisbar ist. Ein
neueres Beispiel verweist auf einen sozial definierten Raum. In ihrem Aufsatz Geschlechtsbezogene Kommunikationsräume. Zeichen paralleler Welten?
untersucht Sabine Reinhold (2013) für die Früheisenzeit Kaukasiens (spätes
10. bis spätes 8. Jahrhundert v. Chr.) geschlechtsbezogene Kommunikationsnetzwerke, die sie anhand der Kartierung von Objekten aus Grabbefunden
postuliert. Da sich diese Kommunikationsräume für Männer* (Objekte der
Bewaffnung) und für Frauen* (Objekte von Trachtbestandteilen, also was
von Kleidung, Schmuck und Frisur zu identifizieren ist) aber nicht decken,
wird von ,Parallelen Räumen‘ gesprochen, genauer gesagt von ,Parallelen
Zuständigkeiten‘ der Geschlechter für unterschiedliche Räume. Als eine
mögliche Interpretation dieses Befundes wird angenommen, dass Frauen*
für Kontakte im Gebirgsraum, Männer* für Kontakte in der eurasischen
Steppe zuständig gewesen sind (Reinhold 2013, 78 und Abb. 9).
Der spatial turn erreicht die archäologische Geschlechterforschung erst
allmählich. Dass durchaus Potenzial vorhanden ist, zeigte eine Sitzung der
AG Geschlechterforschung im Frühjahr 2019, auf der fünf Vorträge zum Thema gehalten wurden (Hjørungdal 2019).
Intersektionalität
Die Intersektionalitätsforschung könnte in Zukunft eine Weiterentwicklung
der archäologischen Geschlechterforschung in der Ur- und Frühgeschichte
232 — Ulrike Rambuscheck u. a.
bedeuten. Ursprünglich aus der afroamerikanischen Frauenbewegung stammend, ist das Konzept Intersektionalität für die Analyse von Mehrfachdiskriminierungen von Individuen einer Gesellschaft entwickelt worden
(Crenshaw 1989). Mit seiner Hilfe sollen die verschiedenen Diskriminierungen nicht isoliert voneinander, sondern in ihrer Verschränkung miteinander
und ihrer Gleichzeitigkeit untersucht werden (Walgenbach 2012, 1). In der
Soziologie sind dies traditionell die Diskriminierungs- / Differenzkategorien
race, class, gender, im Deutschen ‚Rasse‘ (oft auch durch Ethnie ersetzt, z. B.
bei Walgenbach 2012, 20), Klasse und Geschlecht.
Beim Übertragen dieses soziologischen Konzepts auf die Ur- und Frühgeschichte sollte bedacht werden, dass hier die möglichen Kategorien (das
Geschlecht, das Alter, der soziale und / oder wirtschaftliche Status, die ethnische Zugehörigkeit und die religiöse Zugehörigkeit eines Individuums) nicht
unbedingt Ausdruck von Diskriminierung sein müssen. Diese Kategorien
können zunächst als Aspekte der Identität bzw. Identitäten eines Menschen
angesehen werden. Ob diese Kategorien im jeweiligen zeitlichen und kulturellen Kontext auch Ausdruck von Diskriminierung sind, muss in einem
weiteren Schritt geklärt werden.
Die Idee, dass sich in Individuen immer mehrere Identitätskategorien
überschneiden, wird in der archäologischen Geschlechterforschung schon
seit einiger Zeit angewendet. Beispielsweise hat sich eine Tagung 2004 mit
den Zusammenhängen von Alter und Geschlecht beschäftigt (Owen u. a.
2004). Auch Sebastian Brather sieht sich die Überkreuzungen von unterschiedlichen Kategorien an, wenn er den ,Reichtum‘ von Gräbern nicht ohne
das Sterbealter der Bestatteten interpretiert (Brather 2004, 55). Explizit auf
die Intersektionalitätsforschung bezogen wird sich aber nur selten.
Eine Arbeit aus der Klassischen Archäologie, in der das Konzept der Intersektionalität explizit angewendet wird, ist der Aufsatz Nonnosa und ihre
Identitäten. Ein spätantikes Fallbeispiel aus der Katakombe San Gennaro in
Neapel (Moraw 2018). Hier untersucht die Autorin anhand einer spätantiken Grabmalerei die Verschränkung der verschiedenen Identitäten einer als
Kleinkind verstorbenen Christin namens Nonnosa. Dabei verwendet sie die
Mehrebenenanalyse, die von den Soziologinnen Nina Degele und Gabriele
Winker entwickelt worden ist (Degele – Winker 2007). Mit diesem Werkzeug
können auf mehreren Ebenen (Struktur-, Identitäts- [Selbstbildnis] und Repräsentationsebene) Ungleichheiten lokalisiert und beschrieben werden. Als
Differenzkategorien werden für diese Zeit (Spätantike) und diesen speziellen
Fall sieben Kategorien benannt, mit deren Hilfe das Grabgemälde, das der
repräsentativen Ebene angehört, analysiert wird. In diesem archäologischen
Fallbeispiel ergibt die Analyse, dass das spätantike christliche Mädchen
Nonnosa Nutznießerin der verschiedenen Differenzkategorien war, d. h., die
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 233
Mehrzahl der Zuschreibungen ihrer Identitäten an sie haben sich positiv auf
ihr Leben ausgewirkt (Moraw 2018, 165–166).
Ein Beispiel aus der Ur- und Frühgeschichte, in dem die Intersektionalitätsforschung in Zukunft gewinnbringend angewendet werden kann, ist die
Verschränkung von sozialer Schicht, Alter und Geschlecht bei den schon oben
angesprochenen eisenzeitlichen Prunkgräbern der Hallstatt- und Latènezeit
(unter Erforschung von Geschlechterverhältnissen).
Durch die Anwendung des Konzepts der Intersektionalität kommen
neben der Kategorie Geschlecht noch weitere Differenz-/Identitätskategorien in den Blick. Dadurch kann es zu einer Relativierung der Kategorie Geschlecht kommen, d. h., Geschlecht muss nicht in allen Fällen das wichtigste
Kriterium sein, um Menschen voneinander zu unterscheiden. Zum Beispiel
ist für das Mittelalter bekannt, dass – zumindest bei adeligen Frauen – ihr sozialer Status oder ihr Amt für ihre Handlungsspielräume häufig eine größere
Bedeutung hatte als ihr Geschlecht (Goetz 1997, 27; Nolte 2011, 41). Somit
könnte das Konzept der Intersektionalität eine Bereicherung auch für die
archäologische Geschlechterforschung darstellen.
Zukünftige Aufgaben der feministischen Archäologie
Narrative in der Prähistorischen Archäologie
Was ist ein Narrativ?
Ein Thema, das bisher in der Ur- und Frühgeschichte noch wenig behandelt
worden ist, ist die Beschäftigung mit Narrativen und die Geschlechterbilder,
die mit diesen meist männlich geprägten Erzählungen einhergehen (Abb. 1).
Hierbei geht es um narrative Muster von Verfasser*innen archäologischer
Forschungsliteratur und deren Auswirkungen auf unser Bild der Vergangenheit. Ohne Narrative wäre die archäologische Wissenschaft eine reine Aufzählung und Aneinanderreihung von Gegenständen. Archäolog*innen verfassen im Zuge ihrer Arbeit immer ‚Geschichten‘, zwar nicht im literarischen
Sinne, sondern entlang der „vorgefundenen, gegebenen und überlieferten
Umstände“ (Saupe – Wiedemann 2015, 2), die durch den Werkzeugkasten der
Archäologie zu einer möglichen und geahnten Wirklichkeit gedacht werden.
Dass diese narrativen Elemente selbstverständlich zur Arbeit jeder historischen Wissenschaft und somit auch der Archäologie gehören, wurde bereits
an anderer Stelle vielfach dargelegt.6 Da diese narrativen Muster zum einen
6
U. a. Hodder 1989; White 1991; Leskovar 2005; Fagan 2006; Veit 2010; Niklasson –
Meier 2013.
234 — Ulrike Rambuscheck u. a.
Abb. 1: Evolutionsreihe anhand weiblicher Individuen. Obwohl etwa die Hälfte unserer
Vorfahren und unserer heutigen Spezies weiblich ist, sind wir daran gewöhnt, dass
Evolutionsreihen fast immer anhand männlicher Individuen dargestellt werden. © Katja
Winger.
„historisch wandelbare Phänomene kollektiver Wirklichkeitserzeugung und
intersubjektiver Verständigung“ (Saupe – Wiedemann 2015, 6) sind, zum anderen aber auch in der Zukunft liegende und aktuelle Forschung durch wiederholende Zitation beeinflussen, ist die Betrachtung bestimmter narrativer
Muster gerade für die Rekonstruktion von Geschlechterverhältnissen und
Geschlechterrollen in der prähistorischen Forschung nicht zu unterschätzen.
Unter den Auswirkungen derartiger Narrative ist in der prähistorischen
Forschung in erster Linie die auswertende Interpretation archäologischer
Zusammenhänge zu betrachten. Was aber verstehen wir in diesem Zusammenhang unter einem Narrativ?
Ein Beispiel für Narrative in der archäologischen Forschung ist die Darstellung des Mannes* als Ernährer und Beschützer der Familie und Gemeinschaft. Dieses viel zitierte narrative Muster, die Annahme, dass Frauen* in
der gedachten historischen Wirklichkeit lediglich für die familiennahen Aufgaben zuständig waren oder das schwache Geschlecht darstellen, prägt den
Blick der Archäolog*innen bis heute in der Forschung.
Bezogen auf die archäologischen Wissenschaften ist die Darstellung des
Archäologen als abenteuersuchenden und dabei wissenschaftlich arbeitenden Mann* ein in den Unterhaltungsmedien gern genutztes Narrativ (Endlich
2007, 193–194). Sowohl im rein fiktiven Genre des Spielfilms wie auch im Bereich von Dokumentationen über archäologische Themen zeigt sich dieses
immer wiederkehrende Darstellungsmuster (Endlich 2007), welches jedoch
bei genauerer Betrachtung auch von Archäolog*innen selbst gelebt wird
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 235
(Kaeser 2010; Holtorf 2007, 72). Die Deutungshoheit und der Entscheidungsträger sind sowohl in fiktiven wie auch dokumentarischen Darstellungen in
den meisten Fällen männlich dominiert, was letztlich jedoch auch der geringeren Anzahl von Frauen* in höheren Positionen geschuldet ist (Endlich
2007, 202. 204). Dieses vorgestellte Narrativ ist jedoch keineswegs ein von
außen projiziertes oder nicht mehr zutreffendes Darstellungsmuster, sondern vielmehr als ein über lange Zeit transportiertes und innerhalb der Fachwelt adaptiertes Selbstverständnis zu verstehen.
„So verrät die recht charakteristische Aufmachung der Archäologen
selbst weit entfernt von der nächsten Ausgrabung auf Hörsaalbänken
wie auch in Kongresssälen einen ,Feldmythos‘, der sich auf unterschiedliche Art und Weise in einem Machogehabe, wie es den heutigen
Wissenschaftsabenteurern eigen ist, äußert.“ (Kaeser 2010, 55)
Narrative im Alltag von Archäolog*innen
Anzunehmen, dass die Archäologie selbst solchen Narrativen in Bezug auf
Geschlechterrollen nicht aufsitzt, wäre naiv. Wie bereits an anderer Stelle
aufgezeigt wurde, ist die archäologische Forschung häufig durch eine überwiegend androzentrische Denkweise und Sprache bestimmt (Koch 2009, 19),
welche letztlich ein Ausdruck überwiegend männlich geprägter Narrative ist.
In Anknüpfung an die aktuelle Umfrage von FemArc und weiteren Umfragen
zu sexueller Belästigung in der Archäologie7 ist an dieser Stelle noch zu bemerken, dass die alltägliche Arbeit vieler Archäolog*innen von einseitigen
herrschenden Geschlechternormen bestimmt ist, die – neben den ungleichen
Machtverhältnissen – die Ursächlichkeit für sexuelle Belästigung darstellen
(Degen 2002, 17). Diese zugrundeliegenden Normen und Rollenverständnisse, die zu einem Arbeitsumfeld mit sexueller Belästigung führen, sind zum
Teil fest in unserer Gesellschaft verankert und wurden durch #metoo in den
letzten Jahren deutlich zu Tage gebracht.
Da es derartige Geschlechterproblematiken in der alltäglichen Praxis gibt,
ist nicht anzunehmen, dass diese in der Auslegungspraxis plötzlich verschwinden. Aufgrund des Mangels an textuellen, selbstinterpretativen Zeugnissen
ist die Deutung von Fundzusammenhängen ohnehin problematisch und muss
immer als Interpretation verstanden werden (Reher – Fernández-Götz 2015,
401). Daher muss sich diese Interpretation methodologisch gegenüber den
7
Siehe Beiträge auf dem Blog von FemArc: https://femarc.de/blog/241-umfragesexuelle-belaestigung-in-der-archaeologie.html; https://femarc.de/blog/284-um
frage-harassment-assault-bullying-and-intimidation-in-archaeology.html sowie
Coltofean-Arizancu u. a. 2023.
236 — Ulrike Rambuscheck u. a.
modernen Narrativen – vor allem in Bezug auf Geschlechterdarstellungen
und Rollenverständnissen – absichern (Niklasson – Meier 2013, 19). Die archäologischen Narrative sind nicht selbstreferenziell, sondern an die großen
Narrativen der heutigen Gesellschaft angeknüpft, und legitimieren demnach
ebenfalls die geltenden sozialen Ordnungen (Niklasson – Meier 2013, 18–19).
Wird die Evolutionsreihe in der Mehrzahl der Fälle ausschließlich männlich
dargestellt, obwohl somit die Hälfte der Menschheit ausgespart wird, lässt
dies tief in die Rollenverständnisse unserer Gesellschaft blicken.
Ein weiteres klassisches Beispiel für die Anwendung bestimmter narrativer Elemente in der Interpretation von archäologischen Quellen ist die oben
bereits erwähnte Auswertung von Grabbefunden. Die Zuweisung bestimmter
Objektgruppen als geschlechtertypisch oder gar geschlechterspezifisch erfolgt in Anknüpfung an aktuelle, in der Gesellschaft stark verankerte Rollenverständnisse, die wiederum die Erzähl- und Denkmuster der Interpretierenden prägen (Kästner 1997, 23; Hofmann 2009, 145). Der Mann* als Krieger in
jeder gedachten Gesellschaft ist ebenso ein Beispiel wie die Frau* als Schönheit, behangen mit Schmuck. Durch die Rückkopplung von derartigen Rollenverständnissen auf archäologische Grabbefunde können wiederum einseitige
Geschlechterverhältnisse in der heutigen Gesellschaft legitimiert werden. Aus
dieser Gefahr heraus ist die Forderung von Jutta Leskovar, interpretierende
Ansätze, also die Anwendung von narrativen Elementen in der Archäologie,
deutlicher sichtbar zu machen, zu verstehen (Leskovar 2005). Dieser deutliche
Hinweis auf das Nutzen von erzählendem Schreiben im Bereich der Interpretation von Befunden, als Annäherung an die historischen Wirklichkeiten,
kann somit auch als Chance genutzt werden, neue Sichtweisen zu entwickeln,
da die Ausbildung von grundsätzlich mehreren interpretativen Modellen zu
einem Befund die Erweiterung des eigenen Weltbildes voraussetzt (Leskovar
2005, 135). Dieses Hinausdenken eröffnet zusätzlich die Möglichkeit, häufig genutzte Narrative zu identifizieren und auf ihre tatsächliche Gültigkeit
zu überprüfen. Daher wäre eine umfangreiche narratalogische Auswertung
archäologischer Fachliteratur als methodologisch notwendig anzusehen, will
die Archäologie hier mit anderen historischen Wissenschaften mithalten.
Vermittlung von archäologischer Geschlechterforschung
Darstellungen in Schul- und Jugendbüchern sowie in populärwissenschaftlichen Produktionen und Publikationen prägen die weit verbreiteten Vorstellungen über Geschlechterrollen in der prähistorischen Vergangenheit und
stellen diese als konstant und unveränderlich dar, wie z. B. der Historiker
Georg Koch (2017) an Fernsehdokumentationen darstellt.
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 237
Eine umfassende Untersuchung der Darstellung ur- und frühgeschichtlicher Themen in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien legte Miriam
Sénécheau im Jahr 2006 vor. Ein Großteil der damals untersuchten Schulbücher ging auf die Arbeitsteilung innerhalb der Gruppe ein, sowohl in Bezug auf eine Spezialisierung als auch im Sinne einer geschlechterspezifischen
Arbeitsteilung (Sénécheau 2006, 205). Untersucht wurden Darstellungen und
Beschreibungen von der Altsteinzeit bis zum Mittelalter sowohl in Schulbüchern wie auch in Lehrfilmen und weiteren Arbeitshilfen für den Geschichtsund Gesellschaftsunterricht. Hier zeigte sich eine klare Tendenz zur Darstellung der Frau8 als nicht belastbares Wesen, welches lediglich Kinder hütet
und einfache Arbeiten am Lagerplatz oder innerhalb der Dorfgemeinschaft
erledigt. Die Aufgaben der Frau in der Altsteinzeit werden in den Lehrwerken durchweg mit der körperlichen Unterlegenheit und somit auch Abhängigkeit der Frau dem Manne gegenüber erläutert (Sénécheau 2006, 205). Es
findet sich lediglich in wenigen Schulbüchern ein Hinweis auf die fehlende
Beweislast einer solchen Arbeitsteilung (Sénécheau 2006, 206; Geschichte und Gegenwart 2011, 48). Daher bestärken die im Unterricht benutzten
Medien, Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien durch ihre Ausführungen die
in der Öffentlichkeit stark vertretene Idee der ,natürlichen‘ geschlechterspezifischen Arbeitsteilung und somit auch Rollenteilung von Mann und Frau
(Sénécheau 2006, 801). Auch in aktuellen Schulbüchern erscheinen weiterhin
die von Sénécheau beschriebenen bildlichen und textlichen Darstellungen
dieser Arbeitsteilung.9 So zeigt eine Rekonstruktionszeichnung aus einem
Schulbuch aus dem Jahr 2015 die Frauen an der Feuerstelle und die Männer bei der Jagd. In einer Gruppenarbeit sollen die Schüler*innen zunächst
Behauptungen in einzelnen Kästchen diskutieren und diese anschließend
anhand der Zeichnung, welche als aktuelle Forschungsmeinung postuliert
wird, überprüfen. Die Aussage „Die Frauen jagten nicht“ wird in diesem Zusammenhang als korrekt eingestuft (Geschichte und Gegenwart 2011, 46).
Weiter heißt es auf den nächsten Seiten:
8
9
In diesem Unterkapitel werden die Begriffe Frau, Frauen und Männer aus den
untersuchten Unterrichtsmaterialien so beibehalten, wie sie dort verwendet
werden.
Auch in weiteren Schulbüchern, welche laut aktuellem Lehrplan an Schulen in
NRW verwendet werden, finden sich ähnliche Arbeitsanweisungen und Darstellungen. So unter anderem in: Gesellschaft Bewusst 2011, 40–41; Geschichte und
Gegenwart 1 2011, 44–47; Heimat und Welt Plus 2013, 56–58; Geschichte und
Geschehen 1 2015, 36–41; Zeitreise 1 2020, 32. 36–37.
238 — Ulrike Rambuscheck u. a.
„In welchem Ausmaß die Frauen an der Jagd beteiligt waren, weiß man
nicht genau. Sicher ist, dass die Frauen Beeren, Kräuter und Kleintiere
gesammelt und auf diese Weise das Überleben der Horde gesichert haben. Wahrscheinlich haben sie alle drei bis vier Jahre ein Kind geboren
und es während der langen Wanderung getragen.“ (Geschichte und
Gegenwart 2011, 48)
Die geschlechterspezifische Arbeitsteilung wird somit nur zum Teil zur Diskussion gestellt, ein klares Rollenmodell jedoch impliziert.
Wir müssen daher davon ausgehen, dass Studierende auch mit derartigen
Vorstellungen in das Archäologiestudium kommen. Um Studierende dazu
anzuregen, die eigenen Vorstellungen auf den Prüfstand zu stellen und die
eigenen, kulturell geprägten Erwartungshaltungen zu erkennen und nicht
unreflektiert auf die Vorgeschichte zu übertragen, ist es notwendig, Rollenbilder und Rollenerwartungen von Anfang an explizit zu machen. Studierende sollten daher möglichst früh im Studium mit Fragen der archäologischen
Geschlechterforschung in Berührung kommen.
Nach einer systematischen Durchsicht der Studien- und Prüfungsordnungen sowie der Modulpläne von Bachelorstudiengängen der bzw. mit Anteilen der Prähistorischen Archäologie in Deutschland wird archäologische
Geschlechterforschung oder gender archaeology als zu behandelndes Thema
nur in drei Studienordnungen explizit genannt: Im B.A. Altertumswissenschaften der FU Berlin, im B.A. Antike Kulturen der Universität Göttingen
und im B.A. Archäologische Wissenschaften der Universität Marburg. Damit haben lediglich drei von 26 derzeit angebotenen Studienprogrammen
der bzw. mit Anteilen der Prähistorischen Archäologie den Blick auf die Geschlechterperspektiven strukturell eingebunden und verstetigt. Darüber hinaus können Fragen der Geschlechterforschung aber auch im Lehrprogramm
angesprochen werden, ohne dass diese im Studienprogramm dauerhaft hinterlegt sind. Eine Durchsicht der Lehrprogramme der Bachelorstudiengänge
der Prähistorischen Archäologie von Sommersemester 2011 bis Sommersemester 2016 zeigte, dass bei deutschlandweit ca. 400 bis 500 Lehrveranstaltungen pro Semester meist einige wenige Veranstaltungen pro Semester dem
Titel nach einen expliziten Genderbezug aufweisen (Gaydarska – GutsmiedlSchümann i. Vorb.). Dies sind auf die Gesamtzahl der Veranstaltungen gesehen immer noch wenige, nichtsdestotrotz hat sich die Situation im Vergleich
zu den 1990er Jahren erheblich verbessert: Eine von der Prähistorikerin Sibylle Kästner durchgeführte Analyse des bundesweiten Lehrangebots in den
Jahren 1990 bis 1999 ergab, dass in diesem Zeitraum keine 10 Veranstaltungen angeboten wurden, „[…] die das Label frauen- oder geschlechterspezifisch […]“ für sich beanspruchen konnten (Kästner 1999, 11).
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 239
Die Vermittlung von archäologischer Geschlechterforschung sollte also in
Schulbüchern und anderen Unterrichtsmaterialien seinen Anfang nehmen.
Daneben ist es wichtig, bei populärwissenschaftlichen Medien, wie Fernsehproduktionen und Sachbücher, vonseiten der archäologischen Geschlechterforschung den aktuellen Forschungsstand einzubringen. Dies wird aber nur
gelingen, wenn auch in Studium und Lehre die archäologische Geschlechterforschung mehr Raum einnimmt, als es gegenwärtig der Fall ist, und so eine
größere Sensibilität für das Thema geschaffen wird.
Fazit
Dieser Beitrag hatte zum Ziel, Themenfelder in der deutschsprachigen Urund Frühgeschichte vorzustellen, die nach unserer Meinung ein großes zukünftiges Potenzial für eine Analyse durch die Geschlechterforschung (hier
und im Folgenden als archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie zusammengefasst verstanden) besitzen. Dabei sollte deutlich geworden sein:
Viele Themen, die in den Fokus der Geschlechterforschung in der Ur- und
Frühgeschichte geraten, haben ihren Ausgangspunkt in Phänomenen unserer heutigen Gegenwart. So ist es mit dem Thema Gewalt und Frauen*, das
sowohl die Beschäftigung mit Gewalt gegen prähistorische / antike Frauen*
wie mit sexueller Belästigung auf archäologischen Ausgrabungen initiiert
hat. Auch das Thema Intersektionalität, ursprünglich für die Analyse moderner Diskriminierungserfahrungen Schwarzer10 Frauen* entwickelt, hat die
Geschlechterforschung in der Ur- und Frühgeschichte erreicht.
Weitere Themen ergeben sich oft aus neuen Sichtweisen auf schon alte
Forschungsgegenstände. Als ein Beispiel ist hier die Raum- und Landschaftsforschung herausgegriffen worden. Unter dem Eindruck des spatial turn in
den Kultur- und Sozialwissenschaften wurden Räume als soziale Konstrukte aufgefasst, deren Analyse unter dem Geschlechteraspekt in der Ur- und
Frühgeschichte erst am Anfang steht.
Die Rekonstruktion von vergangenen Geschlechterverhältnissen dient –
neben anderen Gründen – dazu, diese zu historisieren und somit zu entnaturalisieren. Dies ist für unsere heutige Zeit wichtig, um Geschlechterstereotype
zu entlarven und angebliche Unterschiede zwischen Männern* und Frauen*
mit Verweis auf eine ferne Vergangenheit – meistens ,die Steinzeit‘ – zurückzuweisen. In populär- und pseudowissenschaftlichen Publikationen werden
10 Schwarz wird hier groß geschrieben, um darauf zu verweisen, dass es sich um
eine soziale Konstruktion handelt.
240 — Ulrike Rambuscheck u. a.
Thesen verbreitet, wie die Bedingungen in der fernen Steinzeit für heutige Zustände verantwortlich waren, z. B. bestimmte Farbpräferenzen (vgl.
Grisard 2014; Röder 2014). Auch Fernsehdokumentationen zu urgeschichtlichen Themen dienen häufig dazu, mit Verweis auf dieselbe Epoche die heutigen Geschlechterarrangements als ,natürlich‘ auszugeben (vgl. Koch 2017).
Über Lehrpläne und Schulbücher werden diese Vorstellungen mitunter auch
an Kinder weitergegeben (vgl. Degenkolb u. a. 2008; Sénécheau 2006). Um
hier entgegenzuwirken, ist es wichtig, in Studium und Lehre die Geschlechterforschung in der Ur- und Frühgeschichte besser als bisher zu verankern.
Ein weiterer Grund der Implementierung von Geschlechterforschung in die
Ur- und Frühgeschichte ist der im Fach bis heute nachzuweisende male bias.
Diese ,männliche Voreingenommenheit‘ manifestiert sich – neben anderen
Formen – über die Narrative im Fach, mit deren Hilfe überhaupt über die
Ur- und Frühgeschichte als Zeitepoche gesprochen werden kann. Auch auf
diesen Aspekt wurde in unserer Darstellung eingegangen.
Da besonders die Ur- und Frühgeschichte eine Disziplin ist, die viele Lai*innen fasziniert und über die sie mehr erfahren wollen, ist es eine wichtige Aufgabe, die breite Öffentlichkeit über die Forschungsergebnisse zu unterrichten.
Denn allzu schnell werden diese unreflektiert instrumentalisiert. Ein frühes
Beispiel für eine solche Vereinnahmung der Archäologie im Allgemeinen für
eigene positiv besetzte Geschlechterstereotype ist die sogenannte Matriarchatsforschung, die mit dem Werk Das Mutterrecht von Johann Jakob Bachofen
(1815–1887) im 19. Jahrhundert begann und dessen letzte prominente Vertreterin die Ur- und Frühgeschichtlerin Marija Gimbutas (1921–1994) war. Für
die selbsternannten Matriarchatsforscher*innen im Kielwasser von Bachofens
Werk galten archäologische Funde und Befunde als Projektionsflächen für die
eigenen Wunschvorstellungen einer Gesellschaft, in der Frauen* eine machtvolle Stellung innehatten (Röder u. a. 1996, 377–378).
Eine aktuelle Tendenz, die nicht nur die Geschlechterforschung in der
Ur- und Frühgeschichte, sondern die gesamten Gender Studies bedroht, ist
der sogenannte Antigenderismus, eine Bewegung meist konservativer bis
rechter Gruppen, säkularer wie religiöser Ausrichtungen. Hier wird die ,Natürlichkeit‘ der Zweigeschlechtlichkeit und des traditionellen Geschlechterverhältnisses hochgehalten (vgl. z. B. Adler-Klausner u. a. 2017; Lang – Peters
2018). Sobald solche Gruppen politischen Einfluss gewinnen, versuchen sie,
Forschungen auf dem Gebiet der Gender Studies zu behindern, indem sie fordern, kein Geld mehr dafür zur Verfügung zu stellen, z. B. die AfD in ihrem
Grundsatzprogramm von 2016 (AfD-Grundsatzprogramm 2016, 52).
In beiden Fällen, Vereinnahmung der Ur- und Frühgeschichte durch Matriarchatsforscher*innen, die es bis heute gibt, und Bedrohung von Antigenderismus-Anhänger*innen, ist die Geschlechterforschung in der Ur- und
Archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie — 241
Frühgeschichte besonders gefragt, weil sie allein mit den vielen falschen
Vorstellungen das Geschlecht betreffend aufräumen kann. Es braucht einen
aufgeklärten Blick in die Vergangenheit, damit diese nicht von Ewiggestrigen instrumentalisiert wird. Deshalb haben archäologische Geschlechterforschung und feministische Archäologie noch einen großen Arbeitsauftrag für
morgen vor sich.
Danksagung
Die Autorinnen danken den Herausgebern für die Einladung, sich an diesem Sammelband zu beteiligen. Unser Dank gilt Julia K. Koch, die mit Doris
Gutsmiedl-Schümann zusammen ein erstes Konzept für diesen Beitrag erarbeitet hat. Ferner bedanken wir uns herzlich bei den Reviewer*innen für
ihre Gutachten und bei Beverley Hirschel für das Korrekturlesen des englischen Abstract.
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Kontakt
Sarah Gonschorek M.A. | Freibergerstraße 92 | 59558 Lippstadt | s.gonschorek.
ma@gmail.com
PD Dr. Doris Gutsmiedl-Schümann MHEd | Freie Universität Berlin | Institut
für Prähistorische Archäologie | Fabeckstr. 23–25 | 14195 Berlin | doris.gutsmiedl@
fu-berlin.de | https://orcid.org/0000-0002-8470-1298
Ulrike Rambuscheck M.A. | Heidering 9 | 30625 Hannover | urambuscheck@
hotmail.com
Dr. Katja Winger M.A. | Heinrich Schliemann-Gedenkstätte | Am Brink 1 |
18233 Schliemannstadt Neubukow | winger@neubukow.de | https://orcid.
org/0000-0002-3984-0635
Transkorporalität in der Archäologie:
Subjektkörper diesseits und jenseits
‚des Menschen‘
Stefan Schreiber
, Sophie-Marie Rotermund
Zusammenfassung In der Archäologie werden menschliche, tierische,
pflanzliche, dingliche und landschaftliche Körper in der Regel getrennt untersucht. Menschlichen Körpern kommt hierbei traditionell die größere Aufmerksamkeit zu. Die genannten Körper werden eher als statische Entitäten
und nicht in ihrem stetigen, ko-existenten Werden begriffen. Die wechselseitige Durchdringung der Körper gerät durch die jeweiligen wissenschaftlichen
Spezialisierungen aus dem Blick. Der Neue Materialismus als ein Ansatz, solche ko-existenten Formen der Verflechtung und Dynamik zu konzeptionieren, weist aber gerade bei der Frage nach menschlichen Subjekten Leerstellen
auf. Daher werden in diesem Artikel Annäherungen an mehr-als-menschliche
Subjektkörper durch die Betrachtung von intraaktiven Praktiken der Subjektivierung und Hervorbringung von Körpern integrativ verbunden und gewinnbringend zusammengeführt. Ausgangspunkt ist das Konzept der ‚trans-corporeality‘ bzw. ‚Transkorporalität‘, welches auf Stacy Alaimo zurückgeht. Dieses
öffnet den Blick für die Überschneidungen, Austauschprozesse und wechselseitiger Durchdringung von ko-existenten Körpern und Umwelten. Dadurch
sollen Natur-Kultur-Verflechtungen, Mikroökologien und symbiogenetische
Prozesse in den Fokus gerückt werden, um Körperlichkeiten und Subjektivierungen mit einer neuen Perspektive betrachten zu können. Nach einem Rekurs auf bisherige Ansätze in der Archäologie wird das theoretische Konzept
vorgestellt und abschließend Fragmente sowie Konsequenzen für eine transkorporale Archäologie angeführt, um eine zukünftige Diskussion anzustoßen.
Schlüsselbegriffe Körperlichkeit; Subjektivierung; Material Turn; Neuer
Materialismus; Transkorporalität
Abstract In archaeology, human, animal, plant, material, and landscape
bodies are often studied separately. Human bodies traditionally receive the
Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund, Transkorporalität in der Archäologie: Subjektkörper
diesseits und jenseits ‚des Menschen‘, in: Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.),
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propylaeum.1092.c15027
249
250 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
greater attention. All these bodies tend to be understood as static entities and
not in their state of constant, coexistent becoming. The interpenetration of
bodies is lost from view due to respective disciplinary specialisations. New
materialism as an approach to conceptualise such coexistent forms of entanglement and dynamics, however, has a blind spot, especially where human subjects are concerned. Therefore, in this article, approaches to bodies
of more-than-human subjects are connected, integratively brought together
by considering intra-active practices of subjectivation and corporeality. As
a starting point we introduce Stacy Alaimo’s concept of ‘trans-corporeality’.
Trans-corporeality illuminates the overlapping, exchange processes, and mutual penetration of coexisting bodies and environments. This is intended to
bring nature-culture interrelations, microecologies, and symbiogenetic processes into focus, in order to be able to view physical bodies and subjectivation processes from a new perspective. After a review to previous approaches
in archaeology, the theoretical concept is presented, and in closing, archaeological fragments and consequences for a trans-corporeal archaeology are
listed in order to initiate future discussion.
Keywords Corporeality; Subjectivation; Material Turn; New Materialisms;
Trans-Corporeality
Einleitung
„Menschliche Körper und menschliche Subjekte existieren als solche
nicht schon zuvor; sie sind auch keine bloßen Endprodukte. Menschen sind weder reine Ursachen noch reine Wirkungen, sondern ein
Teil der Welt in ihrem unabgeschlossenen Werden.“
(Karen Barad 2012, 37–38)
„Im Menschlichen kreuzen sich Technomorphismen, Zoomorphismen,
Physiomorphismen, Ideomorphismen, Theomorphismen, Soziomorphismen, Psychomorphismen. Ihre Allianzen und ihr Austausch
definieren alle zusammen den anthropos.“
(Bruno Latour 2008, 183)
Der Material Turn hat die (ur- und frühgeschichtliche) Archäologie erreicht.1
Aber durchdringt er alle Bereiche oder sind bestimmte Untersuchungsfelder
1
Vgl. Alberti u. a. 2013; Hofmann u. a. 2016. Aus unserer eigenen Perspektive können wir vor allem über die ur- und frühgeschichtliche Archäologie sprechen, ähnliche Beobachtungen ließen sich aber sicherlich auch in anderen Archäologien
Transkorporalität in der Archäologie — 251
davon ausgeschlossen? Die Symmetrical Archaeology und Konzepte des Neuen
Materialismus betonen schon eine ganze Weile die Fluidität und Verflechtung
von Dingen anhand der Betrachtung ihrer Übergänge und Dynamiken. Wo
es vor kurzem noch schwer war, sich einen Stein nicht als starr und fest vorzustellen, fließt heute alles (vgl. Ingold 2010; Cohen 2015). Ein kleiner Teil,
der sorgsam behütet wird, widersetzt sich jedoch den neuen Perspektiven:
(ehemals) lebendige Körper. Das ist umso überraschender, sind es doch gerade Konzepte der Vitalität und des Lebens, die als Inspirationsquelle für Neue
Materialismen herangezogen werden (vgl. Hoppe – Lemke 2021). Zudem ist es
gerade die Materialität von Körpern, die wesentliche Impulse und Konzeptualisierungen für feministische Ansätze des Material Turn geliefert hat, ja man
könnte sagen, die ihn in die Welt gesetzt haben (vgl. Grosz 1994; Kirby 1997).
In der archäologischen Betrachtung werden Körper häufig als starre Einheiten untersucht. Auch die soziale und gesellschaftliche Ausdifferenzierung
bleibt oft unhinterfragt. Wer oder was in der Vergangenheit jeweils als Subjekt galt und daraus folgend wem oder was in vergangenen sozialen Gefügen das Recht an gesellschaftlicher Teilhabe zugesprochen wurde. Meist
wird pauschal einer bestimmten menschlichen Gruppe oder allen Menschen
eine Teilhabe zugebilligt. Anderen hingegen, seien es Frauen und Kinder,
Gottheiten, Ahnen, Dinge, Tiere oder Pflanzen wird sie kategorisch abgesprochen. Erkenntnistheoretisch grenzt dies aber oft an einen Zirkelschluss,
wenn dabei rezente, eigene Vorstellungen zurück projiziert werden. Menschen, Personen, Individuen und Akteur*innen werden dabei als gängige
und vermeintlich universelle Konzepte herangezogen, deren Reflexion aber
zu großen Teilen aussteht (dagegen Fowler 2004). Als Arbeitskategorien bieten diese möglicherweise einen guten Ausgangspunkt; als historisch relevante Kategorien müssten sie in ihrer Spezifik erst erwiesen werden.
Es fällt ebenso auf, dass wenn über Körper vergangener Subjekte (im Sinne der eben genannten Konzepte) gesprochen wird, diese immer als ‚gesund‘
im Sinne von leistungsfähig gedacht werden. Als Normalzustand werden
heutige junge, gesunde, Erwachsene den Interpretationen zugrunde gelegt.
Alles davon Abweichende und der Norm Widersprechende wird (noch) als
‚abnorm‘ betrachtet.
An der Zentrierung auf eine durchaus westliche Setzung von Menschen als
alleinige und autonome Subjekte wird in den letzten Jahren verstärkt Kritik
aus den Kulturwissenschaften, der Ökologie und der Biologie geübt. Unter
dem Schlagwort der Dezentrierung des Subjekts wird das spezifisch (post)moderne Verständnis der Kategorie ‚Mensch‘ als Anthropos herausgefordert.
tätigen. Im Folgenden wird daher verkürzt nur noch von Archäologie die Rede
sein.
252 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
Wir möchten in diesem Beitrag zum einen der Frage nachgehen, wie bisher Subjektkörper archäologisch verstanden wurden und wie diese alternativ gefasst werden könnten. Weiterhin werden wir uns mit Subjektivierungspraktiken und Körperproduktionen beschäftigen. Beide Themenfelder
möchten wir zusammendenken.
Als Ausgangspunkt haben wir uns für das Konzept der ‚trans-corporeality‘ bzw. ‚Transkorporalität‘ (Alaimo 2008; 2010) entschieden. Menschliche
und nicht-menschliche Körper sind in dieser Sicht nicht abgeschlossen, sondern transkorporal verbunden. Transkorporalität meint zwei Dimensionen
des Transversalen: 1) das Durchdringen und Durcheinanderfließen unterschiedlicher Körper, 2) das transzendente Durchdringen eines multiplen
Körpers.
Es geht uns darum, die Möglichkeiten von ‚Transkorporalität‘ auszuloten, um natur- und kulturwissenschaftliche Betrachtungen nicht nur auf der
Ebene von Phänomenen, sondern auch auf konzeptioneller Ebene zusammenzubringen. Nach einer Diskussion der Dezentrierung des Subjekts und
Ansätzen des Neuen Materialismus zur Körperlichkeit werden wir die Verortung im Feld archäologischer Forschung vornehmen. Abschließend beleuchten wir schlaglichtartig und fragmentarisch die sich daraus ergebenden oder
bereits existierenden archäologischen Konsequenzen. Wir möchten eine zukünftige Diskussion anstoßen, zum Weiterdenken anregen und zukünftige
Operationalisierungen ermöglichen.
Subjektivierung und materielle Körper jenseits von Anthropos
und Individuum
Grundpositionen zu Menschen in der Archäologie
Die Frage, was Menschen sind und was sie als Anthropos besonders macht,
beschäftigt auch die Archäologien seit Beginn der wissenschaftlichen Institutionalisierung. Postulate, wie jenes, man beschäftige sich mit „the Indian
behind the artifact“ (Braidwood 1958, 734), waren lange Zeit unhinterfragt
(vgl. Garcia-Rovira 2013).
Menschen als biologische Lebewesen, die einzig und allein aus sich heraus zur Ausprägung von Kultur fähig seien, blieb vermeintlich unanfechtbare Grundlage und zugleich Ziel archäologischer Interpretationen. Zwar
bilden die Basis der Beschäftigung mit vergangenen Menschen die kulturellen Differenzen, die erkenntnistheoretisch als kulturelle Fremdheit konzipiert werden. Fast immer aber bleibt die materielle und individuelle Einheit
von Menschen als einzige untersuchungswürdige Subjekte diskussionslos
Transkorporalität in der Archäologie — 253
unangetastet (s. aber z. B. Olsen 2010, 129–149). Dies ist umso erstaunlicher,
als jede archäologische Richtung für ihre jeweiligen Konzeptionen von Menschen und deren Abwesenheit in der tatsächlichen Forschungspraxis kritisiert wurde (vgl. Lucas 2010).
So wurde an der kulturhistorischen Archäologie, wie sie seit Gustaf
Kossinna und V. Gordon Childe auch im deutschsprachigen Raum oft noch
direkt und indirekt betrieben wird, kritisiert, dass sie statt den (einzelnen)
Menschen eher Kulturen und Ethnien sowie deren Geschichte durch Migration, Diffusion und Wandel untersucht (vgl. Jones 1997, 15–39; Brather 2004).
Auch die theoretischen und methodologischen Modifikationen und Spezifizierungen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderten daran
wenig. So interessieren sich die evolutionistisch-nomothetischen Archäologien wie die prozessuale Archäologie eher für die Prozesse hinter den Menschen und Artefakten.2 Solche prozessualen und quantifizierenden Zugänge
wurden daher dafür kritisiert, Menschen als „faceless blobs“ (Tringham 1991,
94) nur auf Systemfunktionen zu reduzieren.
Dagegen geht es den idiographischen – also auf Einzelfälle ausgerichteten – und postmodernen Archäologien wie der postprozessualen Archäologie um die Entschlüsselung menschlicher Strukturen und kulturspezifischen
Zeichenverwendungen.3 Dabei verschwinden Menschen und vor allem deren Differenzierungen in diesen Betrachtungen häufig genug hinter Zeichen,
Codes und sprachlichen Ausdrücken, wie insbesondere feministische Kritik
anführt (Gero – Conkey 1991).
Auch die handlungs- und praxistheoretischen Ansätze seit den 2000er
Jahren4 stellten aus anthropozentrischer Perspektive nur leichte Erweiterungen dar. Ansätze des material culture turn bzw. practice turn (Hicks 2010;
Stockhammer 2011), bei denen materielle Kultur und deren Semantiken und
Praktiken mit ihnen verstärkt Beachtung finden,5 operieren meist mit dem
Begriff der Akteur*innen. Letztlich bleibt dieser Begriff aber auch hier unreflektierte Grundlage und wird synonym zu Menschen verwendet. Die Untersuchung wird eher auf deren Agency gelenkt.
Zwei theoretische Verschiebungen in der Philosophie und den Kulturwissenschaften haben diese unverrückbare Grundlage der vermeintlich höher bewerteten Kategorie ‚Mensch‘ aber umfänglich in Frage gestellt, sind
2
3
4
5
Flannery 1967, 120; Clarke 1978; vgl. z. B. Hansen – Müller 2011; Nakoinz 2019.
Hodder 1991; vgl. z. B. Veit u. a. 2003; Veit 2006; Burmeister 2009; zur Verortung des
Postprozessualismus in der Postmoderne s. Hodder 1990; Eggert 1998; Porr 1998.
Dobres – Robb 2000; vgl. z. B. Hofmann – Schreiber 2011; Stockhammer 2011;
Maran – Stockhammer 2012; Veling 2019.
Hahn 2005; Tilley u. a. 2006; vgl. zur Kritik daran Meier 2016.
254 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
jedoch in den Archäologien u. E. noch zu selten beachtet worden: Die poststrukturalistische Dezentrierung des Subjekts und die posthumanistischen
Herstellungsmodi von Körpern. Diese sollen im Folgenden beleuchtet und
auf ihre Übertragkeit für archäologische Forschung geprüft werden.
Die Dezentrierung des Subjekts durch Prozesse
der Subjektivierung und Individuation
Im Poststrukturalismus und den Gender Studies 6 erfolgte seit den etwa 1980er
Jahren eine Dezentrierung des Subjekts (vgl. Reckwitz 2010; 2012; Wiede
2020). Subjekte wurden nicht mehr als naturgegebene autonome und freie
Personen verstanden, wie es seit dem Zeitalter des Humanismus und der
Aufklärung üblich war. Stattdessen werden sie ständig durch performative
und wiederholte Akte und Praktiken subjektiviert (Butler 1995, 149):
„Subjekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie handeln und ihnen Handlungsmacht zugeschrieben wird. Sie beziehen sich reflexiv auf sich
selbst und ihre Umwelt, begreifen sich als Einheiten und werden auch
von ihrer Umwelt als Einheiten wahrgenommen. Subjekte sind adressierbar, haben einen Namen und eine Biografie, sie besitzen eine
körperlich-leibliche Materialität und entwickeln einen spezifischen
Habitus. Zugleich sind Subjekte weder transzendentale Quellpunkte
aller Erfahrung noch autonome Schöpfer ihrer selbst. Ein Subjekt ist
man nicht, man wird dazu gemacht und muss sich selbst dazu machen.
Subjekte sind in diesem Sinne Effekte von Subjektivierungspraktiken.“
(Alkemeyer – Bröckling 2018, 17)
Dabei wird einerseits manchen Menschen der Subjektcharakter, bzw. ihre
Subjektpositionen abgesprochen und diese aus hegemonialen Kollektiven als
Subalterne ausgegrenzt (vgl. Spivak 2010). Die Art der (un)möglichen Subjektivierungen ist immer gesellschaftlich hervorgebracht. Jede (Ver-)Gemeinschafts- oder (Ver-)Gesellschaftsform(ation) schafft sich ihre eigenen Subjekte, jedes Kollektiv von Subjekten schafft sich ihre (Ver-)Gemeinschafts- oder
(Ver-)Gesellschaftsform(ation). Damit sind Subjekte historisch spezifische
Erzeugnisse und Erzeugungsknoten – das heißt durch ihre Erzeugung erzeugen sie zugleich die möglichen Subjektpositionen und verhindern andere.
6
Für den Poststrukturalismus s. Foucault 1977a; Deleuze – Guattari 1997, für die
Gender Studies s. Minh-Ha 1989; Butler 1991; 1995; Braidotti 1994; Haraway 1995.
Transkorporalität in der Archäologie — 255
Andererseits ist auch die Frage der Individuation eng mit der Dezentrierung des Subjekts verbunden. Wenn Subjekte historisch spezifisch sind,
dann ist auch die Individuation von Menschen als Teil dieser Subjektivierung
historisch spezifisch. Die Individuation ist der ständige Prozess der Formung
und Ausprägung. Anders als in traditionellen Ansätzen, die am Ende der Individuation ein unteilbares, autonomes Individuum sehen, ist dieser Prozess
aber niemals abgeschlossen. Vielmehr bestimmen Individuationsprozesse
erst, was in irgendeinem Status der Individuation überhaupt als Subjekt bzw.
in diesem Fall als Individuum gilt. Durch die Dezentrierung des Subjekts ist
auch die Individuation nicht mehr vom Endergebnis des (menschlichen) Individuums aus zu denken, sondern vielmehr vom unaufhörlichen Werden,
von der Ausprägung individuierter Formen. Diese sind immer zugleich psychisch, sozial, materiell und technisch zu verstehen (Simondon 2007a; 2007b;
vgl. Delitz 2015, 300–310).
Insbesondere die Ethnologie verwies darauf, dass Menschen nicht in allen
kulturellen Gruppen als autonome, untrennbare und holistische Individuen
verstanden werden. Diese Erkenntnisse sollten wir archäologisch nicht nur
mitdenken, sondern akzeptieren und überlegen, wie wir sie in unsere Forschungen integrieren können. So verweist die Ethnologie einerseits auf die
Existenz unterschiedlicher animistischer, totemistischer, naturalistischer und
analogistischer Kosmologien bzw. Ontologien (Viveiros de Castro 2015), die
jeweils die Grenzen zwischen den Kategorien ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ anders ziehen (Descola 2011). Andererseits führt Eduardo Viveiros de Castro am Beispiel
amazonischer Gruppen aus, dass Individuen durchaus nicht auf Menschen begrenzt sind. Vielmehr sehen sich auch Tiere und andere Wesen als ‚Menschen‘,
während sie uns hingegen als ‚Tiere‘ wahrnehmen. Was also als individuierter
Mensch gilt, ist keine Frage der Gattung, sondern der Perspektive (Viveiros
de Castro 2012; 2019). Zugleich verweist die Ethnologie darauf, dass in anderen kulturellen Gruppen die Gemeinschaft als Kollektivsubjekt deutlich in den
Vordergrund gerückt ist und entlarvt damit den Individualismus als universelle
Konstante als modern-westliches Konstrukt. Aber auch in unseren ‚westlichen‘
Gesellschaften kennen wir unzählige Kollektivsubjekte (also Subjektivierungen
von Kollektiven wie soziale und politische Bewegungen, Familien, Institutionen, Staaten etc.), die nicht oder nur in bestimmten Aspekten individuiert werden (Alkemeyer u. a. 2018). Daher sind auch bisher als Individuum angesehene
Subjekte eigentlich Vielheiten, Identitäten im Plural, dezentrierte „Mannigfaltigkeiten“, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari (1997, 12–19) formulieren.
Damit stellen Individuen als untrennbare Entitäten eine heutige und damit
auch historisch spezifische Betrachtungsweise dar. So entwickelte die Ethnologin Marilyn Strathern am Beispiel Melanesiens das Konzept des Dividuums. Im Gegensatz zum westlich-christlichen Verständnis einer autonomen,
256 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
untrennbaren Person arbeitete sie heraus, dass es andere, nicht-westliche Verständnisse von Personen gibt, die relational und ge-/verteilt sind (Strathern
1988; vgl. Smith 2012). Ebenso verweisen aktuelle Entwicklungen des digitalen
und biomedizinischen Wandels darauf, dass Subjekte mittlerweile fragmentiert
sind, also nicht nur dezentriert, sondern auch gänzlich zerstreut vorkommen
können und deren Zusammensetzung nicht an einzelne Körper gebunden sein
muss (Ott 2015). Letztlich sind Subjekte ja bereits in der soziologischen Praxistheorie weniger autonome Einheiten, sondern Kreuzungspunkte von Praktiken, die Subjekte überhaupt erst herausbilden (Schäfer 2016; Hui u. a. 2017).
Die Fragmentierung und Zusammensetzung von Subjekten wird besonders dann deutlich, wenn nach ihrer Handlungsmacht gefragt wird. Bereits
frühe Ansätze der Science and Technology Studies betonten zu Recht die Verteiltheit von Handlungen auf menschliche und nicht-menschliche Wesen
(vgl. Rammert – Schulz-Schaeffer 2002). Besonders Andrew Pickerings Betonung der „mangle of practice“ (Pickering 1995) und Bruno Latours Konzeption der Akteurs-Netzwerke bzw. Aktanten (Latour 1996; vgl. Belliger –
Krieger 2006) sind hier zu nennen. Die Kritik an der Handlungsmacht erfolgt
bezeichnenderweise hauptsächlich an der Übertragung bisher nur für Menschen reservierter Handlungsmodi auf nicht-menschliche Entitäten, statt zu
beachten, dass z. B. in der Akteurs-Netzwerk-Theorie die kategoriale Unterscheidung selbst in Frage gestellt war und die Akteur*innen / Aktanten selbst
bereits Hybride sind.7
Materialisierung und Diskurs als Herstellungsmodi von Körpern
In Subjektivierungsprozessen, der nicht abschließbaren Individuation und
der Verteiltheit von Handeln deutet sich ein Wandel an, der sich auch auf die
Betrachtung von Körperlichkeit ausweitet. Diese wird durch den Neuen Materialismus bzw. material turn (nicht zu verwechseln mit dem material culture
turn, s. o.) markiert (Coole – Frost 2010; Dolphijn – van der Tuin 2012). Hier
wird eine Umwälzung des Verständnisses von Materialität vorgenommen.
Diese ist nicht mehr starrer Grundbaustein, aus dem sich tote und lebende
Körper zusammensetzen. Mit dem Fokus auf den Neuen Materialismus wird
die Vorstellung von Vitalität und Leben als Dynamiken der Übergänge auf
alle Entitäten ausgedehnt. Materialität wird nicht mehr als etwas betrachtet,
dass durch Akteur*innen bewegt wird. Vielmehr wird sie als aktiv und selbst
bewegend konzipiert (Barad 2012; Bennett 2020):
7
Zur Diskussion der Ausweitung der Handlungsfähigkeit auf nicht- oder mehrals-menschliche Entitäten in der Archäologie s. Schreiber 2022.
Transkorporalität in der Archäologie — 257
„Die Dynamik der Intraaktivität impliziert die Materie als einen aktiven
‚Akteur‘ in ihrer fortlaufenden Materialisierung. Oder vielmehr ist die
Materie ein intraaktives Werden, das in ihr schrittweises Werden einbezogen und eingefaltet ist. Materie (Materialisierung) ist eine dynamische Artikulation / Konfiguration der Welt.“ (Barad 2012, 41)
Das Tätigsein der Materie ist dabei nicht mit der menschlichen Tätigkeit
bzw. gängigen soziologischen Handlungsbegriffen zu verwechseln. In den
Arbeiten der für den Neuen Materialismus einflussreichen Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad (Barad 2007; 2012; vgl. Hoppe – Lemke 2015; 2021,
59–79) ist ‚Intraagieren‘ nicht anthropozentrisch an eine*n menschliche*n
Akteur*in gebunden, sondern umfasst alle Handlungen, Wirkungen und
Praktiken von „Agentien“ (agencies) (Barad 2012, 19), die erst in ihrer Intraaktivität zu Entitäten bzw. Dingen werden: Intraagieren ist Tätigsein und
keine Tätigkeit; Intraagieren ist ‚posthumanistische Performativität‘ (Barad
2003). Tätigsein bzw. Intraaktivität meint in diesem Verständnis somit keine
ausschließlich auf Menschen beschränkte, intentionale oder zumindest reflektierte / diskursivierbare Fähigkeit, sondern allgemein das Bewirken von
Veränderungen. Dies wird als ein Zusammenhang aus materiell-diskursiven Praktiken verstanden, eben als posthumanistische Performativität. Die
materiell-diskursiven Praktiken nehmen ontische und semantische Grenzziehungen vor und treiben dadurch einen performativen Prozess der Materialisierung voran. Mit ‚materiell‘ und diskursiv‘ meint Barad in posthumanistischer und postanthropozentrischer Absetzung von Foucault und Butler
aber nicht etwa nur menschliche Materialisierungen und Diskurse. Vielmehr
sind ‚materiell‘ und ‚diskursiv‘ Erzeugungsmodi, in der sich die Welt ständig
weiter konfiguriert. Sie sind keine Gegensätze, sondern lediglich zwei Pole
einer posthumanistischen Performativität, durch die alle Entitäten (menschliche, nicht-menschliche und mehr-als-menschliche) in die Welt kommen.
Für Barad sind ‚materiell‘ und ‚diskursiv‘ daher nicht völlig unterschiedlich,
sondern Materie entsteht genauso diskursiv, wie Diskurse immer auch materialisiert werden.
Diese Dinge bzw. Entitäten befinden sich daher in einem unabgeschlossenen Prozess des Werdens. Daher sind ‚still-gestellte‘, stabile und abgegrenzte Figurationen wie Objekt, Artefakt, Gegenstand etc. im Sinne des Neuen
Materialismus ungeeignete Modi der Konzeptualisierung. Vielmehr bilden
sie eben Ding-Versammlungen (vom altgermanischen Þing; vgl. Latour
2004, 232–237) oder auch Assemblagen / agencements,8 die sich im ständigen
8
Deleuze – Guattari 1997; DeLanda 2006; 2016; Bennett 2020; vgl. zum Begriff
Phillips 2006, archäologisch Hamilakis – Jones 2017; Schreiber 2018; Jervis 2019.
258 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
Werden und Umformen befinden. Diese Assemblagen stellen körperliche Gefüge dar, die aber keine quasi ‚organismischen‘ Ganzheiten (DeLanda 2006,
8–25) sind, sondern stetige Wandlungsprozesse, Materie-im-Werden. Sie sind
Körper in multiplen ineinandergreifenden Realisierungsformen (Mol 2002).
Assemblagen, nicht nur solche mit menschlichen Bestandteilen, befinden
sich zugleich in ständigen Verflechtungsprozessen, gehen ineinander über
und lösen sich auf. Durch diese Erweiterung wird das exzeptionell Menschliche nur als eine Möglichkeit der Ausbildung von Körperlichkeit verstanden.
Körperlichkeit bezieht sich damit nicht ausschließlich auf menschliche Körper, vielmehr ist Körperlichkeit als Existenzmodus in der Welt zu verstehen.
Subjektivierung und Körperlichkeit in der Archäologie
Diese Diskussionen haben sich in den letzten Jahren zum Teil auch in der
Archäologie niedergeschlagen. Neben wenigen generellen Auseinandersetzungen (z. B. Fowler 2004) ist dabei zweierlei zu beobachten. Erstens wurden
Diskussionen um die Subjektivierung und Individuation bisher kaum explizit
geführt, auch wenn das Thema nicht grundsätzlich neu ist. Nicht zufällig forderte Reinhard Bernbeck kürzlich eine Archäologie der Subjekte (Bernbeck
2015). Dennoch gibt es einige Gebiete, in denen eine starke Diskussion geführt wird. Die konsequente Zusammenführung der einzelnen Felder stellt
aber bislang ein Desiderat dar. Zweitens fokussieren Studien zur Körperlichkeit meist entweder auf die Symbolik von Körpern, Körperhaltungen und
Körpermodifikation oder aber auf die naturwissenschaftliche Nachweisbarkeit von Ernährung, Krankheit, Verwandtschaft oder geografischer Herkunft. Dies mag nicht völlig verwundern, ist die Untersuchung menschlicher
Körper doch traditionell eher der (physischen) Anthropologie zugeordnet.
Wie stellen sich die jeweiligen Felder aber genauer dar und welches sind ihre
Grenzen und Lücken?
Ausgehend von Foucaults Studien zu ‚Technologien der Macht‘ insbesondere am Beispiel von Gefängnissen (Foucault 1977b; 2005) als auch der
Agenda der Kritischen Archäologie (Leone u. a. 1987; Herausgeber_InnenKollektiv des FKA 2012) beschäftigen sich Subjektivierungsforschungen
vor allem mit Hierarchisierungen, Disziplinierungs- und Beherrschungsdispositiven. Besonders in der Archäologie Westasiens liegt hier der Fokus
auf den Technologien der Macht während der frühen Staatenbildungen. Die
machtvolle Unterwerfung einer Vielzahl von unterschiedlichen Subjekten
in formalisierte und funktionale Subjektpositionen schafft damit erstmals
ein Unterdrückungsdispositiv, das spezifische Subjekte hervorbringt (vgl.
Pollock 2013; 2017).
Transkorporalität in der Archäologie — 259
Damit inhaltlich eng verbunden ist die Untersuchung von (Ent-)Subjektivierungen im 20. Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Lager“ (Bauman 1998).
Gerade die systematische und industrielle Vernichtung von Menschen, die
durch die Ausgrenzung ihrer Subjektpositionen in der NS-Zeit erst ermöglicht wurde (Pollock 2016; Bernbeck 2017), wirft durch die ethischen und methodologischen Herausforderungen ein neues Licht auf die archäologische
Subjektivierungsforschung.
Eng verknüpft mit der Vernichtung von Subjekt(position)en ist die Ausgrenzung und Marginalisierung Subalterner in der Vergangenheit. Ausgehend von der Hegemonietheorie Antonio Gramcsis (1991–2002 [1929–1935])
und der Kritik an den Subaltern Studies einer Geschichte von unten („writing
in reverse“; Guha 1983, I) durch Gayatri Chakravorty Spivak (Spivak 2010),
partizipieren die Subalternen einer Gesellschaft nicht an dieser, indem sie
nicht gehört und verstanden werden. Dennoch sind sie als Bestandteil der
Ab- und Ausgrenzungsregime konstitutiv für das Eigenverständnis von Gesellschaften. Dadurch entstehen auch archäologisch noch zu wenig reflektierte, methodologische Probleme, da die Archäologie selbst ein hegemonialer Apparat ist, der Subalterne produziert. Diese Herausforderungen gilt es,
in Zukunft zu lösen; erste Schritte dazu wurden aber bereits unternommen.9
Auch von anderer Seite wird die Ausgrenzung und Marginalisierung
von Subjekten thematisiert. Die Human Animal Studies und die Multispecies
Archaeology verweisen darauf, dass auch Tiere (und andere Wesen) bereits
immer Teil sozialer Gruppen und Gemeinschaften waren. Diese werden aber
zumindest seit dem Humanismus aus der Gesellschaft ausgegrenzt und diese
Ausgrenzung mithilfe der Wissenschaften wie Biologie legitimiert. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sich die Subjektivierungen von Menschen, Tieren, Pflanzen und Landschaften gleichen. Vielmehr wird seit dem
Ontological Turn auch in der Archäologie thematisiert, wie diese Subjektivierungen jeweils und höchstwahrscheinlich oft asymmetrisch erfolgten.
Dies reicht von einem Nebeneinander, sozialen Miteinander, Beute-Jäger*innen-Beziehungen bis hin zu Ausbeutungen tierischer Arbeitskraft im Zuge
der Domestikation.10
Eine Archäologie (un)möglicher Subjektpositionen ist vor allem durch die
Gräberarchäologie und Geschlechterforschung geprägt. Während die Quelle
Grab je nach theoretischen Vorannahmen Aussagen über tatsächliche, potenzielle oder ideologisch imaginierte Positionen für Subjekte in der Gesellschaft erlaubt oder erlauben könnte, geht es der Geschlechterforschung vor
9 Bernbeck – Egbers 2019; Egbers 2019; Merten – Renger 2019; Rees – Schreiber 2019.
10 Vgl. Alberti – Bray 2009; Brittain – Overton 2013; Hamilakis – Overton 2013; Hill
2013; Lau – Gamerschlag 2015; Pilaar Birch 2018.
260 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
allem um die Identifikation von gender-Rollen in Bezug zum biologischen
Geschlecht und / oder Alter, Status etc.11 Auffällig ist, dass die Identifikation
und Repräsentation, nicht jedoch die Hervorbringung von Subjekten und
Subjektpositionen im Vordergrund steht (vgl. Fries u. a. 2017; Koch – Kirleis
2019). Subjektivierungsansätze sind noch sehr selten zu finden, auch wenn
sich praxeologische Ansätze des ‚doing gender‘ und des Embodiment diesen
(eher implizit) widmen.12 Von einem ‚doing subject‘ ist die Forschung aber
noch weit entfernt.
Dennoch schlägt gerade die Embodiment-Forschung die Brücke von einer
Archäologie der Subjektivierungen zur Archäologie menschlicher Körper
und Körperlichkeit. Auch wenn diese ursprünglich eng an die physische
Anthropologie gekoppelt war, werden gerade in Bezug auf Bestattungen
immer wieder archäologische Fragen an die Körper menschlicher Individuen gestellt. In den letzten zwanzig Jahren kann man geradezu von einem
Trend körperbezogener Forschung sprechen.13 Neben Fragen der Symbolik
und Repräsentation sind es vor allem außergewöhnliche Formen der Körperbehandlung und -modifikation lebender und toter Menschen, Alter und
Geschlecht, Fragen zur Ernährung, zu Gewalt, Krankheiten, genetischen Defekten, Verwandtschafts- und Herkunftsfragen sowie Osteobiografien, die
hierbei besondere Beachtung finden.14
Ohne im Detail die vielschichtigen Ansätze körperbezogener Archäologien
darzustellen, fallen doch vier Punkte besonders auf:
1) Körper werden meist als existente, abgegrenzte Einheiten gedacht.
Sie sind bereits vorhanden und treten dann in Interaktion. Dadurch
werden sie zugerichtet, hergerichtet, mit Bedeutungen versehen oder
auch in Rituale oder Praktiken eingebunden.
2) Meist werden ausschließlich menschliche Körper untersucht. Andere Körper, seien es tierische, pflanzliche, dingliche, imaginierte
etc., werden wenn dann nur in Abgrenzung dazu thematisiert. Das
Denken in Kategorien, insbesondere biologischen, taxonomischen
Kategorien, ist auch hier vorherrschend. Trotz der speziezistischen
und post-anthropozentrischen Kritik von Multispezies-Ansätzen
bleiben auch diese der biologistischen Artentrennung oftmals treu.
11 Z. B. Alt – Röder 2009; Hofmann 2009; 2014; Derks 2012; s. dazu Hofmann –
Stockhammer 2017, 8.
12 Gramsch 2008; 2010; Harris – Hofmann 2014; Rebay-Salisbury 2017.
13 Hamilakis u. a. 2002; Joyce 2005; Borić – Robb 2008; Rebay-Salisbury u. a. 2010;
Robb – Harris 2013; Crossland – Joyce 2015; Bickle – Sibbesson 2018.
14 Z. B. Sofaer 2006; Rebay Salisbury 2013; 2016; Augstein 2009; 2015; Ion 2011; 2017;
Appleby 2018; 2019; Hosek – Robb 2019.
Transkorporalität in der Archäologie — 261
‚Symbiogenetische‘ Ansätze eines gemeinsamen Werdens aller Arten15 haben bislang kaum den Weg in die Archäologie gefunden. Zugleich bleiben auch archäologische Ansätze des Neuen Materialismus
meist auf Ebene der unbelebten Dinge stehen und beziehen Körper
menschlicher Bestandteile selten aktiv ein.
3) Körper werden oft als statische Zustände mit Eigenschaften, bestimmten Markern und Bedeutungen gedacht. Das Fluide, Prozesshafte der beständigen Veränderung bleibt außen vor oder wird auf
wenige Umbrüche reduziert. Gender wird ebenso kategorial als
Zustand gedacht wie Altersstufen, Krankheiten oder Tod. Die Umbrüche sind dann zumeist in davor / danach, prämortal / postmortal,
gesund / krank etc. konzipiert. Hier wäre u. E. ein Denken in dauerhafter Prozesshaftigkeit hilfreich.
4) Es gibt (zu) wenige Vernetzungen mit einer Archäologie der Subjektivierung. Einer der Gründe ist u. E., dass sich das Feld aus einerseits
kulturwissenschaftlicher Zeichen-, Praxis-, und Gendertheorie und andererseits naturwissenschaftlicher Osteoarchäologie, aDNA-Analysen,
Isotopenforschung und anthropologischer sowie medizinischer Studien
erst langsam aneinander annähert. Hier fehlt noch eine umfassende
Theoretisierung von Korporalität, insbesondere von Transkorporalität,
auch wenn bereits Ansätze dazu erkennbar sind (Hamilakis u. a. 2002;
Fredengren 2013; Harris 2018).
Transkorporalität – Die Verflechtung menschlicher
Körperlichkeiten und einer mehr-als-menschlichen Welt
Sowohl die Erforschung der Subjektivierungspraktiken, der Körperlichkeit
und die Untersuchung fließender und wandernder / wandelnder Materialitäten haben u. E. in der Archäologie wesentliche Lücken. Wo sich Subjektivierung und die Erforschung von Körperlichkeit vor allem auf Menschen
beziehen, verpasst der Neue Materialismus bislang den Anschluss an die materiellen Assemblagen bzw. körperlichen Gefüge mit menschlichen Bestandteilen.16 Hier wirkt die moderne Grenzziehung in Natur und Kultur bzw. Natur und Anthropos nach.
Wenn Subjekte aber Effekte von Subjektivierungspraktiken und Körper
ebenfalls Effekte materiell-diskursiver Praktiken sind, dann kann die Einheit
15 Haraway 2017; 2018; Clarke 2018; Folkers – Opitz 2020; Sprenger 2020.
16 Dadurch unterscheidet sich die Archäologie wesentlich von anderen Disziplinen;
vgl. zur Stoßrichtung des Neuen Materialismus: Hoppe – Lemke 2021.
262 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
sowohl von Subjekt als auch menschlichen Körpern nicht mehr Ausgangspunkt, sondern Ziel archäologischer Untersuchungen sein. Denn – wie bereits im Eingangszitat angesprochen – „[m]enschliche Körper und menschliche Subjekte existieren als solche nicht schon zuvor; sie sind auch keine
bloßen Endprodukte. Menschen sind weder reine Ursachen noch reine Wirkungen, sondern ein Teil der Welt in ihrem unabgeschlossenen Werden“
(Barad 2012, 37–38). Dieses Werden folgt posthumanistischen Konzeptionen
des rhizomatischen Werdens bei Deleuze und Guattari (1997) genauso wie
das Mehr-als-Mensch-Werden des nomadischen bzw. transversalen Subjekts
bei Rosi Braidotti (1994; 2002; 2014) oder des gemeinsamen, symbiogenetischen Werdens bei Donna J. Haraway (2008; 2016; 2018). Es geht also gerade
nicht darum, nur die (Aus-)Differenzierung als Abgrenzung zwischen Lebewesen, Körper und Umwelt, Natur und Gesellschaft zu betrachten. Untersuchenswert ist u. E. eher die Verflechtung und das Ineinandergreifen, ja die
Komplizierung und Relationierung unterschiedlicher lebendiger und nichtlebendiger Wesenheiten (Folkers – Hoppe 2018, 140). Denn alle Wesen
„[…] existieren nicht vor ihren Verhältnissen und Beziehungen. […]
Die Welt ist ein Knoten in Bewegung. […] Es gibt keine unabhängig
existierenden Subjekte und Objekte und keine einzelnen Ursprünge,
einheitliche Akteur*innen oder abschließende Ziele.“ (Haraway 2016,
12–13)
Dieses Werden ist eben keine Interaktion von bestehenden Körpern, wie in
den verbreiteten bisherigen Konzepten der Körperlichkeit, sondern eine Intraaktion. Die Relation existiert vor den intraagierenden Körpern. Eine Abschließung des Werdens im Sinne eines Vorganges, bei dem am Ende ein
Ergebnis – der Anthropos – steht, kann daher auch nicht zielführend sein.
Es gilt vielmehr, die wechselseitigen Individuations- und Korporalitätsprozesse in den Blick zu nehmen. Denn die im archäologischen Befund anzutreffenden Subjektkörper sind keine essenzialistischen Container, sondern
transindividuelle und transkorporale Erzeugungsknoten, in und aus denen
beständig Neues entsteht. Oder wie es Latour formulierte:
„Im Menschlichen kreuzen sich Technomorphismen, Zoomorphismen,
Physiomorphismen, Ideomorphismen, Theomorphismen, Soziomorphismen, Psychomorphismen. Ihre Allianzen und ihr Austausch definieren alle zusammen den anthropos.“ (Latour 2008, 183)
Zur Untersuchung dieser intraaktiven Grenzziehungen bzw. der eingegangenen Allianzen unterschiedlichster Entitäten im Herausbildungsprozess von
Transkorporalität in der Archäologie — 263
Subjektkörpern bietet sich u. E. das Konzept der Transkorporalität (transcorporeality) nach Stacy Alaimo (2008; 2010; 2018) an. Alaimo entwickelte
ihr Konzept als Kritik an der bisherigen Materialitäts- und Körpervergessenheit sozialkonstruktivistischer feministischer Ansätze. Dazu nutzte sie frühe
transkorporale Figuren wie die Figur der Cyborg,17 das Aufkommen der material feminisms 18 und Konzeptionen des feminist ecocriticism bzw. material
feminist environmentalism.19
Ihr Ziel ist es, die Grenzen zwischen Natur und Kultur bzw. der Umwelt
und den Menschen dahingehend hinterfragbar zu machen, dass diese in
einem ökologischen Miteinander aus verschiedensten Körpern in wechselseitiger Durchdringung verstanden werden können (vgl. auch Alaimo 2000;
2016). Gerade die sex-gender-Trennung schreibt, so produktiv sie anfangs
auch war, die Natur-Kultur-Dichotomie fort.20 Das führe dazu, dass der
Körper in poststrukturalistischer, feministischer Forschung paradoxerweise
a-biologisch verstanden wird: „[I]ts social, cultural, experiential, or psychical
construction having been posited against or beyond any putative biological
claims“ (Wilson 1998, 15; vgl. Alaimo 2010, 3). Dagegen bietet gerade der
feminist ecocriticism eine Perspektive ohne die vorherige Klassifikation in
gender und sex an, reduziert menschliche Wesen aber nicht zugleich auf eine
neutrale Position. Vielmehr wird ein Licht auf die komplexen Zusammenhänge von Geschlecht, Sexualität, Ökologie und Ideologie geworfen, die sich
über die Körperlichkeit hinaus auswirken (Oppermann 2013, 68–69).
Transkorporalität meint nach Alaimo:
„[…] the timespace where human corporeality, in all its material fleshiness, is inseparable from ‘nature’ and ‘environment’. Trans-corporeality,
17 Haraway 1995; vgl. archäologisch Schreiber 2016. In der deutschen Übersetzung
wurde bewusst die feminine Form ‚die‘ Cyborg gewählt, da dadurch auf den eindeutig oppositionellen feministischen Charakter der Erzählfigur postmoderner
Menschen hingewiesen werden sollte. Wir übernehmen dies, da die Verstörung
genau die Grenzüberschreitungen der Figur sichtbar macht; s. Haraway 1995, 33
Anm. 2.
18 Braidotti 1994; 2002; Gatens 1996; Grosz 1994; 2004; 2005; Alaimo – Hekman
2008.
19 Gaard 1993; 2011; Barad 2007; Coole – Frost 2010; Iovino 2010; Kirby 2011.
20 Vgl. Dolphijn – van der Tuin 2012, 137–157; für die Archäologie Alberti 2005;
2013; vgl. auch den Call for Papers für die gemeinsame Sitzung der AG Geschlechterforschung und AG TidA „Kategorienbildung und dann? Komplexität,
Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen“; http://www.agtida.
de/cfp-kategorienbildung/ (25.04.2021).
264 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
as a theoretical site, is a place where corporeal theories and environmental theories meet and mingle in productive ways. Furthermore, the
movement across human corporeality and nonhuman nature necessitates rich, complex modes of analysis that travel through the entangled
territories of material and discursive, natural and cultural, biological
and textual.“ (Alaimo 2008, 238)
Dabei geht es Alaimo nicht um die bloße Betonung, dass menschliche Körper
und deren Umgebungen untrennbar und unentrinnbar miteinander verbunden sind. Vielmehr weist sie auf die unvorhersehbaren und verflochtenen gemeinsamen Praktiken hin, die sie an den Intraaktionsbegriff Barads anlehnt.
Denn erst in den materiell-diskursiven Intraaktionen werden sowohl biotische Körper als auch deren jeweilige Umwelten gebildet. Transkorporalität
meint daher nicht die Begegnung bereits existenter Körper, sondern schafft
eine intraaktive Kontaktzone, in der sich menschliche Körperlichkeit und
eine mehr-als-menschliche Welt in ihrer Begegnung ständig rekonfigurieren
und dadurch in die Welt bringen (Alaimo 2010, 2; vgl. Barad 2012).
Anders aber als die technizistische Cyborg Haraways und die Materialströme des Neuen Materialismus (Bennett 2020), ist Alaimos Ausgangspunkt
nicht die (Über-)Betonung der materiellen Welt, sondern gerade die biotische,
menschliche Körperlichkeit und deren Austausch mit der umgebenden Welt:
„Trans-corporeality means that all creatures, as embodied beings, are
intermeshed with the dynamic, material world, which crosses through
them, transforms them, and is transformed by them. While transcorporeality as an ontology does not exclude any living creature, it
does begin with the human, in order – paradoxically perhaps – to disrupt Western human exceptionalism.“ (Alaimo 2018, 435)
Durch den Fokus auf die körperübergreifenden Bewegungen und Begegnungen wird auf die Wechselbeziehungen und Zusammenhänge zwischen
der menschlichen Körperlichkeit und dem Mehr-als-Menschlichen verwiesen. Daher verwendet Alaimo den Präfix trans-, um einen erkenntnistheoretischen Denkraum zu eröffnen, der die Bewegung von Körpern als oft
unvorhersehbares und unerwünschtes Tätigsein menschlicher Körper, nichtmenschlicher Wesen, ökologischer Systeme, chemischer Arbeitsstoffe und
anderer Akteur*innen hervorhebt (Alaimo 2008, 238).
Dennoch vereinfacht Alaimo ihre Argumentation nicht dahingehend,
dass sie von einer flachen Ontologie oder von einer mystischen, spirituellen,
phänomenologischen oder existenziellen Vorstellung eines ‚alles ist verbunden‘- oder ‚alles fließt‘-Logik ausgeht. Es geht ihr vielmehr um ein radikales
Transkorporalität in der Archäologie — 265
Neudenken bisheriger Ontologien, Epistemologien und Ethiken. Mit ihrer
Perspektive möchte sie „science, science studies, citizen science, feminist
theory, environmental theories, critical race studies, disability studies, literature, art and everyday activism“ (Alaimo 2018, 437) zusammenbringen.
Dadurch verbindet Alaimo auch die natur- und geisteswissenschaftlichen
Wissenschaftstraditionen des Sozialkonstruktivismus und Realismus.21
Im Konzept der Transkorporalität verbinden sich also verschiedene transdisziplinäre Sichtweisen. Welche Denklinien, insbesondere für die Archäologie, ergeben sich aber daraus? Im Folgenden geht es uns darum, erste fragmentarische Aspekte zu sammeln und als mögliche Konsequenzen für eine
noch zu entwerfende transkorporale Archäologie darzustellen. Die folgenden
Überlegungen sind nicht wie üblich an explizite archäologische Fallbeispiele
gekoppelt. Vielmehr sollen grobe, archäotheoretische Perspektiven umrissen
werden, um potenzielle Operationalisierungen je nach Fragestellung zu ermöglichen. Hiermit möchten wir also alle Leser*innen konkret einladen, mit
uns und anderen in den Diskurs zu treten.
Fragmente und Konsequenzen für eine transkorporale
Archäologie
Archäologische transkorporale Ethik
Eine transkorporale Ethik kann keine essenzialistische Ethik sein, die abgeschlossenen Körpern spezifische Aufmerksamkeit zugesteht bzw. diese vor
anderen Körpern kategorisch bevorzugt. Vielmehr kann hier nur eine relationale, kritisch-posthumane Ethik angesetzt werden, die nicht die Zustände,
sondern die verflochtenen Materialisierungen in den Blick nimmt, deren Teil
wir sind (Barad 2007, 384). Es gilt also zu fragen:
„What are some of the routes from human corporeality to the flesh of
the other-than-human and back again? How are both terms transformed by the recognition of their interconnection? What ethical
or political positions emerge from the movement across human and
more-than-human flesh?“ (Alaimo 2008, 253)
21 Katharina Hoppe und Thomas Lemke schlagen daher vor, corporeal nicht mit körperlich (oder korporal), sondern korporeal zu übersetzen, „um die im Deutschen
sonst nicht einzufangende Konnotation des Realen beizubehalten, die der Begriff
im Englischen besitzt“ (Hoppe – Lemke 2021, 101).
266 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
Eine solche Ethik sollte die Grenzregime der transkorporalen und transindividuellen Subjektivierungen heutiger westlicher und nicht-westlicher
Gesellschaften in den Blick nehmen. Ziel ist es, heutige Differenzen unter
postkolonialen, ökofeministischen, anti-speziezistischen, -sexistischen und
-rassistischen sowie kritisch-politischen Blickwinkeln einschätzen zu können.
Daran anknüpfend können Grenzregime in der Vergangenheit ebenso thematisiert werden, wie die Veränderungen über die Zeit hinweg. Die Ethik dient
aber nicht dazu, sich von diesen Abgrenzungen vollends zu lösen und alles im
Fluss zu verstehen. Vielmehr sollte auf die Implikationen der Vermischungen
und Verflechtungen, Einlagerungen und Durchdringungen mehr-als-menschlicher Körper geachtet werden, denn transkorporale Ethik bewegt sich in
„a space in which the human actors are still there but now are inextricably entangled with the nonhuman, no longer at the center of the action
and calling the shots. The world makes us in one and the same process
as we make the world.“ (Pickering 1995, 26)
Archäologisch müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir die Grenzen
ziehen. Im Prozess der Erforschung archäologischer Einheiten wie z. B. einem
Befund X aus der Zeitstellung Y stellen wir die ko-existierenden Körper des
Befundes in der Datenaufnahme und Erforschung still. Meist geht das mit
einer Re-Essenzialisierung einher, in dem wir die ständigen Metamorphosen
und transkorporalen Übergänge zugunsten eines klaren Ordnungssystems
ausblenden.
Genauso sind metaphorische Übertragungen zu hinterfragen, die auch
nicht-materielle Konzepte zu Körpern machen. Prominentes und zugleich
höchst fragwürdiges Beispiel wären sogenannte Volkskörper (wie sie in der
kulturhistorischen Archäologie noch bisweilen zu finden sind), in denen
beide Arten der Grenzziehung von essenzialistisch gedachten Menschenkörpern zusammenlaufen. Eine transkorporale Ethik könnte die Naturalisierungen, Enthistorisierungen, Essenzialisierungen und Metaphorisierungen
offenlegen. Auch wenn Abgrenzungen offensichtlich nicht nur Teil transkorporaler Praktiken sein können, sondern auch für eine Kommunikation
notwendig erscheinen und damit allgegenwärtig sind, bilden sie keine ‚unschuldige‘ oder gar ‚natürliche‘ Praxis.
Dies betrifft die Abgrenzung archäologischer Kulturen voneinander genauso wie die Abgrenzung der Menschen zur Umwelt. Archäologisch bedeutet dies u. E., dass Kategorisierungen nicht einfach als vergangene oder
heutige Konstruktionen und Heuristiken begriffen werden sollten, sondern
als wirkmächtige transkorporale Interventionen in die gesellschaftlichen
Grenzregime und Verflechtungsmöglichkeiten von Körpern. Auch durch
Transkorporalität in der Archäologie — 267
unsere Kategorisierungen oder Übergänge werden Normen gebildet, die in
die Gesellschaft zurückwirken, selbst wenn wir sie ‚nur‘ als Analysewerkzeuge begreifen. Jede Kategorisierung (re)produziert Grenzregime der Reinheit
und Stabilität, während eine transkorporale Archäologie möglicherweise mit
einer ethischen Affirmation der Unreinheit und Unklarheit, des Wandels und
der Ko-Existenz einhergehen würde (vgl. Braidotti 2018).
Transkorporale ökologische Archäologie
Es erscheint uns wesentlich, die ökologischen Implikationen ernstzunehmen.
Transkorporale Ansätze verstehen die Umwelt nicht nur als unbewohnten
Raum voller dienlicher Ressourcen, wie es zuweilen landschafts- und umweltarchäologische Forschungen praktizieren.22 Vielmehr wird gefragt, wo
der menschliche Körper endet und die „nichtmenschliche Natur“ (Nash 2007,
8; vgl. Alaimo 2010, 11) beginnt. Die Transkorporalität von Körpern und Umwelt führt zu verflochtenen Ökologien, die einen Umweltdeterminismus als
reduktionistisch verneinen. Dies kann anschaulich an Fußabdrücken beobachtet werden, bei welchen sich Teile menschlicher und tierischer Körper negativ in Landschaften einschreiben und sie so buchstäblich mitformen (vgl.
z. B. Stewart u. a. 2020).
Zugleich ist die Aufteilung in landscapes, soundscapes, skyscapes etc.
eine Kategorisierung, die es ebenfalls zu überwinden gilt, da hier die Grenzziehungspraktiken der Moderne (Latour 2008; vgl. Latour 2017) die tatsächlichen Verflechtungen und komplexen Beziehungen überlagern und dadurch
unsichtbar machen.
Es gilt daher u. E., Landschaften und biologische Körper nicht gesondert
zu betrachten, sondern beide als Prozesse transkorporaler Praktiken einer
mehr-als-menschlichen Welt zu verstehen. Eine Schwierigkeit mag insbesondere im Finden einer kommunikativen Basis liegen, da viele der hier
kritisch betrachteten Ansätze etabliert sind. Diese Etablierung erzeugt ein
weiteres Hindernis, da Mensch-Umwelt-Beziehungen soweit im heutigen
Lebensalltag als Phänomen und Vokabular verankert sind, dass sie kaum
noch hilfreiche Analysebegriffe darstellen, ohne dass ständig die Gefahr von
Zirkelschlüssen besteht. Abhilfe können Mikrostudien schaffen, die sich ihrer eigenen Begrenztheit des Aussagepotenzials auf großen Skalen bewusst
22 Vgl. z. B. einen Großteil der Publikationen der Reihe Scales of Transformation
in Prehistoric and Archaic Societies (STPAS) des SFB 1266: „TransformationsDimensionen – Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen in Prähistorischen und Archaischen Gesellschaften“.
268 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
bleiben und trotzdem für den jeweils abgesteckten Untersuchungsraum die
genannten Verflechtungen anerkennen.
Archäologische Disability Studies
Insbesondere die disability studies, die transkorporale Konzeptionen gewinnbringend nutzen, können damit auch die Archäologie bereichern.23 So betont
Rosemarie Garland-Thomson:
„Disability studies reminds us that all bodies are shaped by their environments from the moment of conception. We transform constantly
in response to our surroundings and register history on our bodies.
The changes that occur when body encounters world are what we call
disability.“ (Garland-Thomson 2005, 524)
Wird diese Perspektive um das Miteinander, Nebeneinander und Durcheinander von Körpern erweitert, dann stellt sich diese einseitige Fluidität
menschlicher Körper als zu begrenzt dar. Menschliche Körper sind immer
bereits transkorporal. Die Vorstellung isolierter, abgeschlossener und ‚gesunder‘ Körper wird mit dem Konzept der Transkorporalität ad acta gelegt.
Stattdessen wird nicht nur auf jene materiellen Umgebungen fokussiert, die
üblicherweise ‚Behinderungen‘ produzieren oder verschlimmern, sondern
jede materielle Dimension, von Pharmazeutika, xenobiotischen Chemikalien, Luftverschmutzung, arbeits- oder altersbedingten Entwicklungs- oder
Abnutzungserscheinungen usw., die sich auf die menschliche Gesundheit
auswirkt, wird gleichermaßen untersuchbar (Alaimo 2010, 12). Damit sind
auch archäologisch nicht mehr nur materielle Ergänzungen wie Prothesen
Produkte transkorporaler Praktiken (vgl. Winance 2006). Vielmehr erweitert
sich das Feld um alle Arten menschlicher ‚Ergänzungen‘, Heilpraktiken, Gendefekte (vgl. Halle u. a. 2019), Körpermodifikationen (die als einschränkend
wahrgenommen werden könnten) genauso wie die Trennung in gesund und
krank hinterfragbar wird. Aber zugleich stellen auch menschliche Körper
für andere menschliche, nicht-menschliche und mehr-als-menschliche Körper Gefährdungen dar, die zu ‚Disabilities‘ führen können, wenn An- und
Einpassungen versagen, seien es verseuchte oder kontaminierte Habitate,
anthropogene Störungen bei Tieren oder natürlich auch der Einfluss anderer
Menschen.
23 Für eine Disability-Perspektive aus Sicht des Neuen Materialismus, vgl. Feely
2016; 2021; Gauci 2021.
Transkorporalität in der Archäologie — 269
Materialitäten mehr-als-menschlicher Körperlichkeiten
Das Konzept der Transkorporalität bringt die Materialität in die Körper zurück. Sie sind dadurch nicht mehr nur Projektionsfläche kultureller Repräsentationen oder Datenbasis naturwissenschaftlicher Untersuchungen. Dabei ist
Materialität keine Eigenschaft von Körpern mehr, sondern ein intraaktiver
Prozess des transkorporalen Werdens der Welt. Zugleich wird Materialität
nicht lediglich auf die Dingwelt konzentriert, sondern:
„[t]he ‘material world’ here includes human actions and intra-actions,
along with the intra-actions of man-made substances, all of which
intra-act with natural creatures, forces, and ecological systems as
well as with the bodies of humans. The maps of transit between human corporeality and nonhuman nature are infinite.“ (Alaimo 2008,
259)
Eine transkorporale Archäologie bedeutet u. E. archäologisch, nicht von
den Dingen auszugehen oder den Dingbegriff auf Menschen auszudehnen,
wie in einigen Ansätzen des Neuen Materialismus üblich (s. dazu Witmore
2014; Schreiber 2018; 2020). Vielmehr können die archäologisch untersuchten Gefüge als mehr-als-menschliche Körper verstanden werden. Jede Unterscheidung in menschliche und nicht-menschliche Körper ist eine Kette von
Entscheidungs- und Grenzziehungspraktiken. Diese sind intraaktiv und rekonfigurieren die Körper ständig; sie bringen sie hervor. Damit geht eine
transkorporale Archäologie zwar von menschlichen Körpern aus. Sie bleibt
aber nicht auf diese beschränkt, sondern kann die jeweiligen Trennungen
in menschliche und mehr-als- oder weniger-als-menschliche Körper, in lebende
und tote Körper etc. in ihrer historischen Dimension untersuchen.
Eine dieser intraaktiven Grenzziehungen ist die zwischen Befund und
Fund. Beide befinden sich üblicherweise in einem mehr oder weniger transkorporalen Verflechtungs- und Durchdringungsprozess. Erst durch die archäologischen Ausgrabungs- und Dokumentationspraktiken werden Befund
und Fund voneinander getrennt (vgl. Lucas 2012). Betrachtet man z. B. ein
Grab, so ist gar nicht klar, inwiefern sich der menschliche Körper mit dem
Erdkörper verbunden hat. Durch den Verwesungsprozess verbindet sich das
organische Material langsam mit dem Erdreich oder den Beigaben. Der Körper wird nach und nach in die Körper von Kleintieren aufgenommen. Die
Humusbildung kann bereits abgeschlossen sein oder es zeigt sich noch ein
‚Leichenschatten‘. Eventuell können auch erst durch naturwissenschaftliche
Untersuchungen feststellbare Spurenelemente menschlicher Körper in der
Erde angetroffen und dokumentiert werden.
270 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
Zugleich schreiben sich die Praktiken nicht nur in Befund und Fund, sondern auch in die Körper der Archäolog*innen ein (vgl. Edgeworth 2012). Das
bedeutet auch, dass bestimmte archäologische Tätigkeiten spezifische Körper
hervorbringen; sei es, dass geschlechtstypische Arbeitsteilungen performativ
auch die entsprechenden Körper produzieren, sei es, dass wiederholte Anstrengungen auch Muskeln oder Abnutzungserscheinungen hervorbringen.
Ebenfalls sind auch Mikrospuren und DNA-Kontaminationen an Objektkörpern ebenso wie z. B. Schnittspuren oder Magen-Darm-Inhalte von Subjektkörpern aufschlussreich für transkorporale Intraaktionen. Gerade die
Zunahme von naturwissenschaftlichen Analysemethoden lässt sich das Feld
einer ganzen Reihe transkorporaler Praktiken betreten, die eine völlig neue
Perspektive eröffnen.
Transkorporale Food Studies
Transkorporalität stellt die untrennbare, individuelle Einheit von Körpern
in Frage. Körper sind keine „organismisch“ gedachten Container (DeLanda
2006, 8–25) oder cartesianische, mechanistische Automaten (vgl. Gatens 1996,
109–111), sondern Verdichtungen von „material agencies that traverse substances, objects, bodies and environments“ (Alaimo 2018, 437). In dieser Formulierung wird die Herleitung von Körpern über den Begriff der Assemblage
bei Deleuze und Guattari sowie den Neuen Materialismus deutlich:
„Treue der neuen materialistischen Ontologie gegenüber bedeutet, dass
man den Körper als eine Assemblage begreift, die von unzähligen bakteriellen Mikrosystemen abhängig ist und deren komplexe genetische
Struktur auch von Umweltfaktoren beeinflusst wird. In diesem Sinne
kann man den Körper nicht nur als kontingentes und nicht-terminales
Erzeugnis der Evolution betrachten, sondern auch als eine durchlässige Entität, die mit kleineren und größeren Materialisierungen interagiert, oder gar als ein kleiner Knoten, durch den sie hindurchfließen.“
(Coole 2014, 35)
Vielleicht wird die Unschärfe in der Abgrenzung, ja sogar Auflösung individueller Körper und separierbarer Akteur*innen im Prozess der Nahrungsaufnahme am deutlichsten. Pflanzen, Tiere und Mineralien werden über verschiedene
Transformationsschritte zum Teil menschlicher bzw. eben mehr-als-menschlicher Körper: „While eating may seem a straightforward activity, peculiar material agencies may reveal themselves during the route from dirt to mouth“
(Alaimo 2008, 253). Hierbei ist auch die Anknüpfbarkeit zu archäologischer
Transkorporalität in der Archäologie — 271
Forschung offensichtlich. Neben der Aufnahme von z. B. psychoaktiven Substanzen sind es vor allem konkrete Ernährungspraktiken, die archäologisch eine
Rolle spielen. Die Nahrungsaufnahme wird nicht mehr nur zum Marker für
die soziale Stellung eines Menschen, sondern es werden ganz konkret andere
Entitäten in den menschlichen Körper eingelagert und zum konstitutiven Teil
von ihm (vgl. Stockhammer – Fries-Knoblach 2019). So ist das Trinken griechischen Weins in früheisenzeitlichen Zusammenhängen in Mitteleuropa nicht
nur eine Übernahme von Trinksitten. Vielmehr ist das Trinken im Rahmen des
Gelages eine Intraaktion, die erst durch den Vorgang verschiedenste Körper so
nah zusammenbringt und ineinander verflechtet, dass neue Körper hervorgebracht werden. So ist ein*e Trinker*in nicht mehr ein Mensch, der lediglich an
einem Gelage teilnimmt. Durch die transkorporale Verflechtung von menschlichem und alkoholischem Körper entsteht erst der*die Trinker*in. Er*sie wird
daher durch das Trinken intraaktiv hervorgebracht (Schreiber 2019). Zugleich
wird aber auch die Keramik zum hybriden Körper, denn es lagern sich nicht
nur Getränke und Nahrungsbestandteile darin ein, sondern auch Menschen
selbst werden Teil der keramischen Körperstruktur. Nicht nur das Eindrücken
der Finger beim Herstellungsprozess, sondern jede Verwendung führt dazu,
dass sich Speichel, Fett, Hautschuppen, Schweiß, Blut etc. zum Teil der Keramik werden. Damit sind sowohl menschliche als auch keramische Körper
immer bereits mehr-als-menschliche Körper und könnten in ihrem Gemeinsam-Werden untersucht werden (s. z. B. Hamilakis 2017, 177–180).
Transindividuelle Archäologie der (De-)Fragmentation
von Subjektkörpern
Die mehr-als-menschlichen Körper verweisen auch auf die mehr-als-menschlichen Subjekte: „The trans-corporeal subject is generated through and entangled with biological, technological, economic, social, political and other
systems, processes and events, at vastly different scales“ (Alaimo 2018, 436).
Subjekte und Körper im Begriff der Transkorporalität (und äquivalent dazu
der Transindividualität; Andermann 2016) bilden sich durch multiple, transversale und transgressive Übergänge, Transformationen und Metamorphosen. Wo Braidotti von nomadischen Subjekten spricht, verweist Transkorporalität zugleich auf deren nomadische Körper (Braidotti 1994; 2006; vgl.
Schreiber 2021). In der Begegnung von Subjekten und Körpern entstehen
Subjektkörper, die weniger-und-mehr-als-Menschen umfassen können:
„Die Vorstellung von Subjektivität als einem Gefüge, das auch nichtmenschliche Akteure umfasst, hat eine Reihe von Konsequenzen. Sie
272 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
setzt voraus, dass Subjektivität erstens nicht das exklusive Vorrecht
des Anthropos ist, zweitens nicht mit einer transzendentalen Vernunft
zusammenhängt, drittens abgekoppelt ist von der Dialektik der Anerkennung und viertens auf der Immanenz der Beziehungen beruht.
[…] Wir müssen das Subjekt als transversale Entität sichtbar machen,
als einen übergreifenden Zusammenhang, der das Menschliche, unsere genetischen Nachbarn – die Tiere – und die Erde als Ganze umfasst,
und das in einer verständlichen Sprache.“ (Braidotti 2014, 87)
Archäologisch bedeutet dies, nicht nur die Körper auf ihre Durchdringungen und Verflechtungen hin zu denken, sondern ebenfalls Subjekte nicht als
gegeben hinzunehmen. Wer oder was in den jeweiligen Gesellschaften als
teilhabendes Subjekt galt, kann von Tieren, Ahnen, Göttern, Bäumen, Objekten, Landschaften bis hin zur gesamten Erde reichen. Hier gilt es u. E., die
zugrundeliegenden vergangenen Ontologien ernst zu nehmen und sie nicht
lediglich als falsches Verständnis der Welt abzutun (vgl. Alberti u. a. 2013;
Watts 2013).
Zugleich bedeutet es aber auch, die transindividuelle Einheit von Entitäten – nicht von Menschen – weiter zu denken. Vor bereits 20 Jahren wies
John Chapman (Chapman 2000; Chapman – Gaydarska 2007) darauf hin, dass
sich archäologische Funde durchaus nicht immer in der gedachten Einheit
finden, die wir oft annehmen. Funde können durchaus über weite Entfernungen fragmentiert und verteilt sein. Diese Fragmentierungen interpretiert
er als intentionalen Prozess der Vernetzung. Selbstverständlich sind auch
nichtintendierte Prozesse denkbar, bei denen ganze Landschaften entstehen
können, wie Þóra Pétursdóttir (2018; 2020) mit dem Konzept der Drift Matter als vermüllte Küstenlandschaft sichtbar macht. In eine ähnliche Richtung
geht auch die Vorstellung von Wasser als fließender Körper (Normark 2014),
das am ehesten als Hyperkörper oder Hyperobjekt angesprochen werden
kann (Morton 2013). Fragmentation, Treiben und Refitting sind dynamische,
manchmal im wörtlichen Sinne fließende Prozesse, bei denen die Geschlossenheit von Körpern ebenso in Frage gestellt wird wie unser archäologischer
Drang zur Vollständigkeit (vgl. Kümmel 2006). Die Zersplitterung, Fragmentierung, Verwitterung und Verwesung sind keine nur negativ besetzten Prozesse, die es archäologisch rückgängig zu machen oder zumindest aufzuhalten gilt. Sie sind der Seinszustand transkorporaler Körper.
Ein gutes Beispiel für die transkorporale Seinsweise von Körpern ist der
Nachweis von Neanderthal- und Denisova-aDNA in Sedimenten, wie eine
Untersuchung von Viviane Slon u. a. (2017) belegt. Durch die wechselseitige
Durchdringung der Körper war es möglich, aDNA nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus Bodenablagerungen zu entnehmen. Dadurch wird
Transkorporalität in der Archäologie — 273
die Grenze, wo menschliche Körper enden, soweit ausgedehnt, dass auch
andere Befunde vielversprechende Möglichkeiten der Untersuchung einstmals vorhandener menschlicher Überreste eröffnen, die bisher maximal als
Leichenschatten oder Röntgenuntersuchungen anhand der Eisenbestandteile
im menschlichen Blut sichtbar waren.
Archäologie der Affekte
Mit dem Konzept der Transkorporalität können und sollten Begegnungen und
Interaktionen neu gedacht werden. Körper begegnen sich nicht mehr nur an
Oberflächen, sie durchdringen einander und schaffen sich dabei erst. Das reicht
von ko-konstitutiven Prozessen der Sexualität und Fortpflanzung, über Berührungen, Spüren, Interpenetration bis hin zu Verschmelzungen, Ergänzungen,
Ersetzungen, Verletzungen, Kontaminationen, Verwesungen, Mutationen etc.
Der Begriff der Intraaktion kann hier nur der Anfang sein, eine Archäologie
transkorporaler Begegnungen zu schaffen. Hier bietet es sich für die Zukunft
sicherlich an, Intraaktionen mit dem Konzept des Affektes nach Baruch de
Spinoza (2010 [1677]) sowie Deleuze und Guattari (1997) zu spezifizieren.
Affekt wäre in dieser Konzeption die Wechselwirkung und Transformation von (nicht nur menschlichen) Körpern, die durch die Begegnung mit anderen Körpern ausgelöst wird (Kwek – Seyfert 2015, 128). Diese Begegnung
ist nicht ausschließlich symbolisch, materiell oder ideell, sondern immer alles zusammen. Körper sind dabei immer zugleich Auslöser und Empfänger
materiell-diskursiver Begegnungen. Das bedeutet: „Körper können andere
Körper nicht affizieren [erregen; Anm. St. S. / S.-M. R.], ohne selbst affiziert zu
werden – alles was affiziert, wird auch selbst affiziert“ (Kwek – Seyfert 2015,
128). Affekt ist also immer ein relationales und wechselseitiges Dazwischen,
er entsteht „in the midst on in-between-ness“ (Seigworth – Gregg 2010, 1).
In der Sicht de Spinozas ist der Affekt nicht den Körpern innerlich, sondern
umgekehrt durchlaufen Körper Affekte und werden dadurch beständig individuiert. Daher sind Affekte auch keine Interaktionen im traditionellen Sinne
interagierender Körper, sondern Körper sind Ergebnisse intraaktiver, affektiver Begegnungen. Affekt ist eine von der Kognition, Signifikation, Emotion
und bewusster Verarbeitung zu unterscheidende Ebene, die Körper miteinander intensiv und resonant in Relation setzt und dabei die Körper beständig
verändert. Affekte sind Begegnungen von Körpern, die im Falle mehr-alsmenschlicher Körper dem Bewusstsein vorgängig sind und diese Körper beständig durchdringen (Massumi 2002, 28–30). Dadurch ist Formbildung und
Individuation von Körpern – und damit auch menschlichen Individuen – nie
abgeschlossen (Andermann 2016). Emotionen und Gefühle, Praktiken und
274 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
Handlungen sind je nachgängige, abgeleitete Phänomene. Affekte lassen
sich daher auch nicht in diskrete, etablierte Kategorien fassen, sondern sind
dynamische Wirkverhältnisse (Seyfert 2012; Slaby 2018, 57) transkorporaler Körper. Erste archäologische Schritte zu einer Thematisierung affektiver
Begegnungen hat Yannis Hamilakis mit seinem Buch Archaeology and the
Senses (2013; 2017) entworfen, indem er die Verflechtungen von Assemblagen
anhand der archäologisch untersuchbaren Affekte thematisiert.
Eine transkorporale Archäologie der Affekte bereichert die körperlichen
Begegnungen um oft unbeachtete Sinneseindrücke wie Geruch, Geschmack
oder generelle Fragen zur Sauberkeit bzw. der Rolle von Schmutz oder bisher
als körperliche Exkremente, Haare etc. bezeichnete Körper (Douglas 1992).
Bereits im Material Culture Turn wurde hervorgehoben, dass die subjektive
Wahrnehmung und Bedeutungsproduktion von Alltagsobjekten von solchen
Aspekten abhängen, da man es nicht mit sauberen Museumsgegenständen in
Vitrinen zu tun habe (Bringéus 1986, 171; Hahn 2005, 15). Eine Archäologie
der Affekte erweitert diese Perspektive aber auf alle Formen körperlicher
Begegnung, nicht nur jener von Menschen mit Objekten.
Zuletzt verknüpft eine transkorporale Archäologie der Affekte auch verschiedene Zeiten und Akteur*innen. So wurde kürzlich durch den Einsatz eines Computertomografen der Stimmtrakt des altägyptischen, mumifizierten
Priesters Nesyamun (bzw. nesj-amun / nsj-Imn) gescannt und mittels eines
3D-Druckers nachgebildet (Howard u. a. 2020). Auf diese Weise konnte ein
Vokal hervorgebracht werden, den Nesyamun so oder so ähnlich geäußert
haben kann (kritisch dazu Matić 2021). An diesem Beispiel ist aus transkorporaler Perspektive mehreres bemerkenswert. Zum einen begegnen sich die
Körper der Mumie, die der Geräte und die der Forscher*innen, um einen
Laut zu hören, den es 3000 Jahre lang nicht mehr gab. Der Vokal wird zwar
technisch vermittelt erzeugt und transformiert, ist aber dennoch nur durch
die körperlichen Merkmale der Mumie möglich. Zugleich begegnen sich zum
anderen der Priester und die Zuhörer*innen affektiv. So steht auf dem Sarg
Nesyamuns, zu dessen Aufgabe als Priester und Schreiber das Sprechen und
Singen gehörte, dass jener, dessen Name nach seinem Tod ausgesprochen
würde, ewig lebe. Wir können nun zwar nicht seinen Namen, aber zumindest
in die Zeit hineinhören.
Relationale Archäologie transkorporaler Begegnungen
Zugleich verweist die Archäologie der Affekte darauf, dass diese eben nicht
in, sondern immer zwischen Körpern entstehen. Begegnungen wie z. B. die
Anregung und der Ausdruck von Emotionen (Ahmed 2004; 2010, Tarlow
Transkorporalität in der Archäologie — 275
2012), die Erlangung, Speicherung und Abrufung von Wissen (Hofmann –
Schreiber 2015) oder die Praktiken, die Körper ausführen (Veling 2019),
sind immer relational in-between, sie sind transkorporale Affekte und Effekte. Sie sind einerseits eben nicht in einem Körper, andererseits aber auch
nicht in einer Zeit, sondern zwischen Räumen und Zeiten. Die Vorstellung
eines Extended Mind (Malafouris – Renfrew 2010; Malafouris 2013, 57–87)
greift deutlich zu kurz, ebenso wie die Vorstellung einer Verlängerung des
Arms durch ein Werkzeug oder Smartphone. Auch Kleidung und Schmuck
sind aus transkorporaler Betrachtung nicht lediglich Repräsentationen sozialer oder persönlicher Ordnungen, sondern immer auch Körperdynamiken, genauso wie Frisuren, Körperbemalungen, Tätowierungen oder das
Phänomen der Turmschädel. Dieses sind nur erste Schritte zu einer relationalen Archäologie transkorporaler Begegnungen, aber sicherlich nicht
die letzten.
Transversale posthumanistische Archäologie
In ihrem Artikel Posthumanism, the Transcorporeal and Biomolecular Archaeology diskutiert Christina Fredengren (2013) Transkorporalität als alternativen Rahmen, um die Umwelt in uns zu denken. Ausgehend von der
Osteologie, der aDNA- und Isotopenanalyse zeichnet sie die biomolekularen
Netze mehr-als-menschlicher Körper nach. Ihr Ziel ist es, die Figurationen
(nicht Identitäten!) zu erfassen, die ihrer und unserer Meinung nach die Körper durchziehen.
Ihr Beitrag verweist aber nicht nur auf die Entgrenzung der Körper und
die transversalen Verflechtungen der Körpernetze, sondern insbesondere
auch auf die transversalen Anforderungen zukünftiger Wissenschaften (vgl.
auch Fredengren 2021). Möchte die Archäologie (oder vielleicht besser die
Archäologien) als Wissenschaft nicht nur noch durch ihre institutionelle
Verankerung existent sein – und diese Verankerung wird durch neue Studiengänge wie Altertumswissenschaften mittlerweile auch vorsichtig entgrenzt – sondern auch inhaltlich den Anforderungen einer geänderten Wissenschaftslandschaft genügen (vgl. Braidotti 2017), kann sie nicht mehr an
der Trennung in Geistes- / Kultur- und Naturwissenschaft festhalten. Vielmehr gilt es, eine transkorporale Wissenschaft nicht innerhalb einer der beiden „Kulturen“ zu verorten (vgl. Sørensen 2017). Oder wie Braidotti formuliert: „The Proper Study of the Humanities is No Longer ‘Man’“ (Braidotti
2019, 35). Stattdessen müssen große Anstrengungen unternommen werden,
Körper nicht mehr als lediglich natürliche Oberflächen oder Rohstoffe für
kulturelle Bedeutungsein- und zuschreibungen zu verstehen.
276 — Stefan Schreiber, Sophie-Marie Rotermund
Fazit
Es lässt sich zusammenfassen, dass aus der Perspektive transkorporaler
Subjekte eine Vielzahl an Untersuchungsperspektiven für die Archäologie
hervorgehen. Diese sind nicht immer neu, verknüpfen aber bisherige Studien mit neuen Richtungen und Fragen. Dadurch lassen sich (zu) statische
Betrachtungen und Universalisierungen der Kategorie Mensch – also des
Anthropos – hinterfragen. Durch die Verbindungen mit Subjektivierungsprozessen gehen, anders als in manchen Kritiken zu Neuen Materialismen (vgl.
dazu Olsen – Witmore 2021), Ausprägungen, Inwertsetzungen und Verkörperungen von Menschen nicht verloren, sondern werden ins Zentrum gerückt.
Zugleich verbinden sich hierbei historisierende und evolutionäre Ansätze im Sinne einer transversalen posthumanistischen Archäologie. Diese
ermöglichen, biologische, psychische, physische, soziale und kulturelle Hervorbringungen in Beziehung zu setzen und in ihrer jeweiligen Spezifik zu
untersuchen. Der Fokus liegt dabei auf den historisch spezifischen Ausprägungen der Grenzziehungspraktiken und Kategorisierungen von Körpern.
Durch diese wird bestimmt, was jeweils als Subjekt gegolten hat, in welcher
Weise es auf- oder abgewertet wurde sowie welche Tabus und Rechte diese
verkörperten Subjekte genossen.
Dabei geht es aber nicht um eine kategorische Einordnung dieser Subjekte, sondern um die körperlichen Verflechtungen und Fluiditäten, da Körper sich in ständigem materiell-diskursiven Wandel befinden. Die skizzierten
Fragmente sind als erste archäologisch motivierte Herangehensweisen zu verstehen, diesen transkorporalen Verflechtungen gerecht zu werden. Sie lassen
sich erweitern und verändern und wir laden hiermit zur Diskussion ein, dies
auch zu tun.
Denn im Sinne einer Neubewertung und Neukonzeptionierung natursowie kulturwissenschaftlicher Wissenspraktiken als eine gemeinsame Methodologie sehen wir in den nächsten Jahren große Herausforderungen auf
die Archäologie zukommen. Diese besteht u. E. nicht im Addieren oder Konterkarieren bestehender Ansätze, sondern der Entwicklung eines sprachlich,
gedanklich und materiell zu gestaltenden Dritten Raums der Verflechtung.
Den vorliegenden Beitrag verstehen wir als ein Angebot, an dieser Gestaltung mitzuwirken.
Danksagung
Wir danken den Herausgebern und dem*der Peer Reviewer*in für die hilfreichen Anmerkungen. Der vorliegende Artikel entstand u. a. im Rahmen der
Transkorporalität in der Archäologie — 277
Tätigkeit von Stefan Schreiber im Profilbereich „40,000 Years of Human Challenges. Perception, Conceptualization and Coping“ der Johannes GutenbergUniversität Mainz sowie am Leibniz-Zentrum für Archäologie.
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Kontakt
Dr. Stefan Schreiber | Leibniz-Zentrum für Archäologie | Ludwig-LindenschmitForum 1 | 55116 Mainz | stefan.schreiber@leiza.de | https://orcid.org/0000-00031065-5003
Sophie-Marie Rotermund, B.A. | Freie Universität Berlin | Institut für Prähistorische Archäologie | Fabeckstr. 23–25 | 14195 Berlin | sophiemarierotermund
@gmail.com
Die Kritik an der Subjektlogik und
ihre Auswirkung auf die Interpretation
von Hortfunden der Spätbronze- und
Früheisenzeit
José Eduardo M. de Medeiros
Zusammenfassung Eine soziologische Kritik an der subjektivischen Handlungslogik hat Konsequenzen für die archäologische Interpretation. Diese
theoretische Reflexion richtet sich u. a. gegen den Versuch, einen Sachverhalt
zu erklären, indem man ihn in die Absicht eines Subjekts zurückverlagert,
woran sich Handlungen anschließen, die den Sachverhalt hervorbringen, so
wie man ihn vorfindet. Das hat weitreichende Folgen für die archäologische
Interpretation im Allgemeinen und für die Deutung der Hortfunde der Spätbronze- und Früheisenzeit im Speziellen. Denn Hort- bzw. Depotfunde sind
einerseits als positive Auslese aus unbekannten Gründen definiert. Andererseits ist die Niederlegungsabsicht ein wichtiges Instrument für die Kategorisierung von Hortfunden. Eine zu starke Betonung der Absichten folgt einer
absolutistischen Erklärungslogik und steht im offenkundigen Widerspruch
zu der negativen Definition dieser Quellengattung. Aber die Theorie des deutschen Soziologen Günter Dux zeigt, dass die Struktur einer Erklärung durch
subjektive Elemente wie Absichten, Werte oder Triebe eine unendlich offene
Diskussion möglich macht. Denn der Logik dieser Erklärungsform nach können die Diskussionen nur zu Ruhe kommen, wenn ein absoluter Grund für
das zu erklärende Phänomen gefunden werden kann. Da gerade bei Hortfunden der Grund per definitionem nicht bekannt ist, besteht die Gefahr, dass sich
die Diskussionen um die richtige Deutung im Kreis drehen. Allgemein anerkannte Feststellungen über das Fundbild können so verlorengehen. Um diese
Denkblockade zu umgehen, ist ein Verständnis für die Form der Erklärung
und der Kritik daran erforderlich. Diese theorieunterstützten Einsichten
führen zu einer Relativierung der Niederlegungsabsichten als heuristisches
Werkzeug und zu einer realistischen, reflektierten Anerkennung des
bereits vorhandenen Wissens über die spätbronze- und früheisenzeitlichen
Hortfunde in Mitteleuropa.
José Eduardo M. de Medeiros, Die Kritik an der Subjektlogik und ihre Auswirkung auf die
Interpretation von Hortfunden der Spätbronze- und Früheisenzeit, in: Martin Renger, Stefan
Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze
im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 293–333.
DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15028
293
294 — José Eduardo M. de Medeiros
Schlüsselbegriffe Günter Dux; Horte; Spätbronzezeit; Früheisenzeit;
Subjektivische Handlungslogik; Prozessuale Logik
Abstract A sociological critique of the logic of action has consequences for
archaeological interpretation. Any explanation based on the logic of action
attempts to explain a fact through recourse to a subjective intention behind
the fact. The intention sets in motion a chain of reactions, bringing about the
fact as it stands before the observer. This interpretive method poses a challenge for archaeological theories in general, and for the interpretation of late
Bronze Age and early Iron Age hoards in particular. On the one hand, the
archaeological category of hoards is defined as an intentional selection of objects for unknown reasons. On the other hand, underlying intention is an important instrument for the classification of hoards. Fundamentally, a strong
emphasis on the intention behind an act follows an absolutist strategy of interpretation, and clearly contrasts with the negative definition of that category (as an intentional selection of objects without any clear underlying reason). But the theory of the German sociologist Günter Dux demonstrates that
the structure of an interpretation through subjective elements such as intention, values, or drive makes an infinitely open discussion possible. Following
this interpretive logic, the discussions about how to correctly interpret these
depositions can only come to an end if an absolute reason can be found for
the phenomena. Since the reason for a hoard is by definition not known, this
epistemological situation runs the risk that discussions continue indefinitely.
Consequently, generally accepted statements about the archaeological record
are forgotten. In order to avoid such a dead end, an understanding of this
interpretive form and its criticism are necessary. These theory-supported insights lead to a relativisation of intention as a heuristic tool and, accordingly,
to a realistic, reflected assessment of the already available knowledge about
the late Bronze Age and early Iron Age hoards in Central Europe.
Keywords Günter Dux; Hoards; Late Bronze Age; Early Iron Age;
Subjective Logic of Action; Processual Logic
Einleitung
Die Aufgabe einer theoretischen Diskussion ist eine reflexive. Die Bilder und
Analogien, mit denen Erkenntnistheoretiker*innen versucht haben, den Begriff der Theorie zu verdeutlichen, weisen bereits darauf hin: Es geht um eine
Brille, die Forscher*innen aufsetzen, um einen Gegenstandsbereich sehen
zu können. Andere Autor*innen definieren Theorien, Hypothesen, Annahmen oder Vermutungen als ein Netz, das Denker*innen auf die Welt werfen,
Die Kritik an der Subjektlogik — 295
um etwas aus der Realität zu fangen. Alle Metaphern verweisen so auf das
subjektive Moment der Theorie, nämlich als Bestandteil eines Erkenntnisprozesses im Subjekt. Ohne sie hätte man nichts über die Welt aussagen, ja
gar irgendetwas von ihr sehen können. Mit ihnen können unsere Aussagen
nur begrenzt wahr sein. Der Fallibilismus geht z. B. davon aus, dass Menschen
nur sicher sein können, wenn eine theoretische Erwartung falsch ist. Aus
Karl Poppers Texten lernen wir, dass gerade wenn man falsch liegt – wenn
beispielsweise der Fuß einen Stein auf dem Weg trifft und es wehtut – man
etwas über die Welt lernt. Theodor W. Adorno führte in seinen Vorlesungen
ein Bild Émile Durkheims an (Adorno 2011, 55): Wenn eine Person an der
Gesellschaft leidet, lernt sie etwas über die Gesellschaft. Das heißt: Wenn
das Subjekt arbeitslos ist, sich für Stellen bewirbt und nichts findet, lernt es
etwas über die systemischen Verknüpfungen, die man Gesellschaft nennt (in
diesem Fall das System des Arbeitsmarkts), kennen. Die Widerlegung einer
Erwartung nimmt ein Körnchen der vorfindlichen Realität auf. Aber sie regt
auch zur Formulierung komplexerer bzw. ‚besserer‘ Hypothesen an.
Ein wichtiges Erfordernis dafür ist eine Reflexion des Subjekts über sich
selbst, über seine eigenen theoretischen Annahmen. Der Schaltkreis des Verhaltens, aus Fehlern zu lernen durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf
sich selbst, wird schon früh im Leben eines Subjekts gebildet. Schon der Erwerbsprozess der Handlungskompetenzen in der Frühkindheit kommt nicht
ohne ein reflexives Moment aus (Dux 2017b, 70–71. 77–79). Fehler in der
Koordination einzelner Akte zwingen den menschlichen Organismus, seine Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, um seine Bewegungen besser
an die Umgebung anzupassen (Dux 2017c, 48. 70–73). In diesem Sinn wiegt
der Vorwurf der „Theoriefeindlichkeit“ schwer, den man gegen die deutsche
archäologische Forschungstradition erhoben hat (Eggert – Veit 1998, 11).
Denn dies könnte eine unwissenschaftliche Insistenz auf Fehler, eine trotzige
Ablehnung der Selbstreflexion oder eine fehlende Kompetenz in abstraktem
Denken bedeuten. Leichtfertig wäre der Versuch, diesen bereits festgestellten und nur zögerlich behandelten Mangel auf den Erfolg einer Archäologie
zurückzuführen, die niemals irrt, in allen ihren theoretischen Annahmen
richtig liegt und nur vollkommene Begriffssysteme anwendet. Denn das
würde heißen, dass man zwar nie einen Fehler gemacht hat, aber auch nie
etwas daraus lernen konnte.
Ziel dieser einleitenden Gedanken ist es, klar zu machen, dass eine theoretische Reflexion aus einem Bewusstsein von Fehlern hervorgehen kann – das
sind Enttäuschungen des Subjekts mit der vorfindlichen Welt. Wer Fehler
macht, gerät in eine instabile Situation. Und Krisen in einer Wissenschaft fordern erkenntniskritische Auseinandersetzungen. Manfred K. Eggert hebt in
seinen Schriften häufig hervor, dass die Archäologie als Kulturwissenschaft
296 — José Eduardo M. de Medeiros
durch schwierige Zeiten geht (Eggert 2008, 403–412). Der wichtige Beitrag
Bruce G. Triggers liegt in der Enthüllung der engen Beziehung zwischen dem
Schicksal der Mittelschichten und dem der Archäologie als Wissenschaft. Seine Geschichte der Archäologie (Trigger 2007) zeigt, dass existenzielle Ängste
vor sozialen Schwierigkeiten einen fruchtbaren Boden bieten, theoretische
Systeme zu bauen, die die Situation der Archäologie in der Gesellschaft in
einem besseren Licht erscheinen lassen. Die Aufzählung der Symptome einer wissenschaftlichen Krise kann man von Thomas S. Kuhn (Kuhn 1997,
103) übernehmen: das Wuchern konkurrierender Artikulationen, die Bereitschaft, alles zu versuchen, der Ausdruck einer offenen Unzufriedenheit, das
Zuflucht-Suchen bei der Philosophie und bei der Grundlagendiskussion. Der
theoretische, reflexive Moment ist notwendig, weil die Unstimmigkeiten zwischen dem vorhandenen Verhaltens- und Kognitionsschema sowie der Welt
so zahlreich sind, dass man sie nicht mehr als bloße alltägliche Anomalien
beiseiteschieben kann. Die Absenz eines nachhaltigen Gleichgewichtszustands zwischen der Welt und ihrer Repräsentation führt zum theoretischen
Moment, denn Krisen zeigen an, dass der Zeitpunkt für einen Wechsel des
intellektuellen Werkzeugkastens, was beim Handwerk so wie bei der Wissenschaft selten und nur in den „unbedingt notwendigen Fälle[n]“ passiert,
gekommen ist (Kuhn 1997, 89).
Die Krise in der Archäologie geht jedoch über die sozialen Probleme hinaus, die es für Studenten*innen und Berufsarchäologen*innen schwierig machen, sich erfolgreich in der Marktgesellschaft zu positionieren. Es gibt auch
allgemein eine Unsicherheit darüber, ob die Erkenntnisse, die man gewonnen hat, tatsächlich einen nützlichen Gewinn darstellen. Die pragmatischen
Sorgen des amerikanisch-archäologischen Denkens in der New Archaeology gehen einerseits auf diesen sozial bedingten Wunsch, dass die (eigene)
Archäologie besser bzw. wichtiger in der Gesellschaft dastehen solle, und
andererseits auf die Unsicherheit zurück, die entsteht, wenn man versucht,
den praktischen Wertdieser Wissenschaft zu zeigen (Trigger 2007, 407–418).
Gerade diese Suche nach dem Nützlichen, der eine scharfe kategoriale Trennung zwischen dem Nutzlosen und dem Nützlichem zu Grunde liegt, steht
unter einem begründeten Verdacht, ideologisch motiviert zu erfolgen, denn
unnütz ist in unserer Zeit immer noch das, was vom Profit nicht entstellt
ist (Adorno 2008). In diesem Artikel1 wird eine andere Definition von Ideologie vorgeschlagen. Ideologie ist danach nur eine Art und Weise, Sachverhalte zu erklären, die nicht länger sinnvoll erscheint (Dux 2017b, 12). Derartige Unterscheidungen, wie zwischen nützlich und unnütz, sind insofern
1
Dieser Artikel umfasst Teile meiner Dissertation (de Medeiros 2021), die um einige
Aspekte erweitert und verändert wurden.
Die Kritik an der Subjektlogik — 297
ideologisch, als sie versuchen, Sachverhalte durch einen Bezug auf etwas
Fundamentales zu erklären. Diese Strategie sucht bereits in der Ursache die
Wirkung in potenzieller Form, in dem Fundamentalen das Komplementäre.
Wenn sich ein Phänomen nicht auf seine grundlegende Ebene reduzieren
lässt, wird durch diese Denkweise postuliert, dass das Phänomen auf eine
ihm eigene Dimension gründen müsse.
Die allgemeine Verlegenheit unseres Fachs basiert zum einen darauf, dass
man nicht zu wissen glaubt, welche Rolle die Wissenschaft der Archäologie
in der Gesellschaft spielt. Sie hat u. a. eine eindeutig pädagogische Rolle, die
jedoch nur vor der Folie einer die prähistorischen Perioden einschließenden
Menschheitsgeschichte sinnvoll wird (de Medeiros 2018). Trigger fasst z. B.
die Aufgaben der Archäologie in zwei didaktischen zusammen, nämlich die
Rationalität und Intelligenz aller menschlichen Gemeinschaften zu zeigen
sowie ihre kulturelle Kreativität und Vielfalt zu zelebrieren (Trigger 2007,
524). Zweitens rührt die Unsicherheit von dem theoretischen Pluralismus her,
welcher – wie Paul Feyerabend (1995) schon sah – der Kreation von Hypothesen zwar zugutekommen kann, aber einer Akkumulation von Wissen im
Sinne einer Evolution bzw. eines Fortschritts nicht förderlich ist. Das erste
Problem ist schwieriger zusammenzufassen. Ich verweise deswegen auf meinen Artikel von 2018 und auf Triggers Hauptwerk (2007). Das zweite kann
man sehr gut anhand der Diskussion über die Hortfunde der Spätbronze- und
Früheisenzeit schildern.
Kritik an der subjektivischen Logik
Es mag zwar richtig sein, dass die deutsche Archäologie im Vergleich zu der
englischsprachigen wenig Theorie reflektiert hat (vgl. Eggert – Veit 1998;
Sommer 2002; Veit 2002). Aber gerade der deutsche Sprachraum bietet die
enorme Chance, sich Begriffssysteme wie das des Soziologen Günter Dux
anzueignen. Seine historisch-genetische Theorie der Kultur (Dux 2017c) unterstützt erkenntniskritische Bemühungen in unserem Fach. Eine Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen, die aus anderen Kultur- und Sozialwissenschaften hervorgegangen sind (vgl. Eggert – Veit 2013; Call for Papers
für diesen Band 2), birgt große Chancen.
Die Soziologie führt eine lange Tradition der Kritik an der absolutistischen Logik fort. Die ersten Anzeichen kann man mit Karl Marx und seinem Denksystem identifizieren (Dux 2017c, 265). Sein Beharren auf der
2
http://v22016073679635713.nicesrv.de/wp-content/uploads/2019/01/CfATheorie.
pdf (24.01.2022).
298 — José Eduardo M. de Medeiros
Historizität der Konstrukte und sozialen Ordnungen sowie seine Einsicht
(Marx 1978, 28–29), dass ein modernes Denken die Natur als Annahme voraussetzen muss (Dux 2017c, 43), deuten auf die paradigmatischen Veränderungen in den Weltbildern in der Moderne hin (Dux 2017c, 15–31). Die Idee
des Warenfetischismus (Marx 1962, 85–98 insb. 97) weist bereits eindeutig
auf die Veränderungen der Erklärungsstrukturen hin, welche die Teile des
modernen Weltbildes verknüpfen. Es geht dabei um ein anderes Objektverständnis. Denn mit dem Konzept kritisierte Marx die Beziehung des modernen Menschen zu den Waren, die man bloß als fertige Produkte ansieht. Das
marxistische Denken betont jedoch den Herstellungsprozess, der die fertigen
Waren zunächst hervorbringen muss. Der Prozess ist ein realer Bestandteil
der Welt, wenigstens genauso real wie sein Endprodukt. Diese Insistenz auf
den realen Herstellungsprozess der Dinge und auf den Bildungsprozess der
sozialen Tatsachen führte so zu der Kritik der Religion oder der Philosophie
(Marx 1978; vgl. den „mythischen Nebelschleier“ des „gesellschaftlichen Lebensprozesses“ Marx 1962, 94). Weltdeutungen entstehen, nachdem die Welt
sich auf irgendeine Weise organisiert hat (Dux 2017c, 265–266). Ich fasse
beispielhaft zusammen: Der Priester wird Priester in einer Gesellschaft, die
sich bereits derart organisierte, dass sie die Möglichkeit für die Existenz von
Priestern bereitstellt. Diese Einsicht geht mit einer Skepsis gegenüber Abstraktionen und mit dem Anspruch auf eine empirische, materialistische Argumentation einher, die in der Moderne wenigstens seit Francis Bacon (Dux
2017c, 26) dokumentiert ist. Folglich dienen Weltdeutungen wie die Religion
oder die Philosophie zur Erhaltung einer bereits entstandenen sozialen Ordnung (Marx 1978), deren Bildungsprozess für die Mitglieder der Gesellschaft
verhüllt bleibt. Das heißt: Wenn der*die Arbeitslose zum Priester kommt,
um sich über seine oder ihre Lage zu beschweren, wird er*sie Abstraktionen
(wie alles in Gottes Plan passt oder wie sich ein*e Christ*in in so einem Fall
zu verhalten hat) hören, die weit über seine oder ihre konkrete Lage hinausgehen. Dabei verlangt die eigene Notlage nach ganz konkreten Lösungen,
nämlich Arbeit.
Theodor Adorno erweiterte den Verdacht gegenüber Abstraktionen. Tatsächlich hat niemand anders sich mehr bemüht, das, was er logischen Absolutismus nannte, zu kritisieren (Adorno 1955). In seiner Vorlesung über
Kant weist er immer wieder auf dieses Moment der unmäßigen Abstraktion
in dem Werk dieses Philosophen hin (Adorno 1995). Die Bewegung des Denkens wird genauer beschrieben. Es geht von der vorfindlichen Realität aus
und führt sie in eine abstraktere Ebene zurück, wo man den Grund für das
Vorfindliche räsonieren soll. Zusammen mit Max Horkheimer (Horkheimer
2007) steht Adorno exemplarisch für eine Erkenntniskritik, die den Anfang
der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie charakterisiert.
Die Kritik an der Subjektlogik — 299
Die erkenntniskritische Theorie von Günter Dux
Der deutsche Soziologe Günter Dux arbeitet wenigstens seit 1971 (das Jahr
seiner Habilitation, hier Dux 2018a) mit einer Erkenntnistheorie, die den
geschichtlichen Wandel der Weltbilder mit der kognitiven Entwicklung
einzelner Gesellschaftsmitglieder verbindet. Er schließt seine Arbeit an die
erkenntniskritische Tradition der Soziologie bewusst an (Dux 2017c, 371),
die sich gegen absolutistische Argumente wendet. Im Gegensatz zu anderen
Theorien „mit universalistischem Anspruch“ (Bohmann – Niedenzu 2020,
1) erfolgt die Rezeption seiner Theorie nur zögerlich (Bohmann – Niedenzu 2020, 1). In der Archäologie außerhalb der Einflusssphäre der Universität
Freiburg, wo er von 1974 bis zu seiner Emeritierung 1997 3 Professor für Soziologie war, bleibt mir bis zu diesem Zeitpunkt eine Nutzung seiner Theorie
unbekannt. Der nüchterne Umstand der langsamen Aufnahme seiner Ideen
erklärt er auch selbst: Seine radikal materialistische (Bohmann – Niedenzu
2020, 3) – selbst wenn keineswegs reduktionistische – Perspektive und seine
Überzeugung, die ganze Geschichte durch seinen realistischen Konstruktivismus (Dux 2017c, 29–32. 37–52. 77–84. 146–147. 255–270) wiedergewinnen zu können (Dux 2017c, 265–346), kollidieren mit Tendenzen unserer Zeit
(Dux 2017c, 105–144). Er wirft dem Denken der Gegenwart vor, die Postulate
der Konvergenz der Welt auf das Subjekt und der Konstruktivität der Welten
zu verabsolutieren (Dux 2017c, 25–31. 57–58. 79–84. 111–128). Diese Postulate stellen zwar einen Erkenntnisgewinn der Neuzeit dar (Dux 2017c, 25–27),
aber sie müssen durch ein prozessuales „Denken vom Vorrang der Natur“
(Dux 2017c, 129) und durch das Postulat der Historizität (Dux 2017c, 29–31)
ergänzt werden. Werden sie ergänzt, so wird die Akzeptanz seines „realistischen Konstruktivismus“ oder „konstruktiven Realismus“ (Dux 2017c, 146)
unabdingbar. Die Alternative würde bedeuten, „Welten als freischwebendes
Konstrukt einer unauslotbaren Geistigkeit“ zu verstehen (Dux 2017b, 88).
Axel Paul (2019, 14–15) sieht in den Jahrzehnten (1970er, 80er und 90er),
in denen Dux seine Theorie entwickelt, die Hochzeit einer für die Dux’sche
Theorie ungünstigen postmodernen Theorielandschaft. Diese tendiert eher
zu Formen eines „radikalen Konstruktivismus“, ist skeptisch gegenüber
Vorstellungen von Fortschritt und kritisch gegenüber einer Theorie, die die
abendländische Geistesgeschichte von der Urgeschichte, über die klassische
Antike bis zur westeuropäischen Moderne zum Maßstab für die Untersuchung nicht-westlicher Gesellschaften erklärt (Paul 2019, 15) und sich so
3
Aus persönlicher Kommunikation weiß ich, dass er bis heute im Jahr 2021, 24 Jahre nach seiner Emeritierung, noch neue Texte verfasst.
300 — José Eduardo M. de Medeiros
immer wieder dem Vorwurf des Eurozentrismus – aus postmoderner Perspektive – gegenübersieht (Dux 2017a, 16–17).
„Ich denke, dass diese, cum grano salis, postmoderne Konstellation im
Kern dafür verantwortlich war, dass die historisch-genetische Theorie
bislang nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die ihr gebührt. Doch
ich denke auch, dass die Zeiten sich geändert haben und ihre eigentliche Rezeption erst noch bevorsteht.“ (Paul 2019, 16)
Tatsächlich beschreibt sein Werk am besten den historischen Wandel in den
Strukturen des Weltverstehens im Subjekt.4 Der Bildungsprozess des modernen Weltverständnisses ist nur zu verstehen, wenn man sich die gesamte
Geschichte des Geistes vor Augen führt – und unsere Zeit habe, so Dux, als
einzige Periode in der Geschichte die Gelegenheit dazu (Dux 2017c, 7). Denn
in der historischen Betrachtung der Weltdeutungen stellt man eindeutig fest,
dass sich in der Moderne langsam eine Erklärungslogik entfaltet, die sich
paradigmatisch anders auf die Weltbilder der Menschen auswirkt. Ansätze
dieser Logik lassen sich bis in das Mittelalter zurückverfolgen (Dux 2017c,
18). Eindeutige Belege tauchen erst in der Moderne in den Werken von Isaac
Newton, Michel de Montaigne, Immanuel Kant bis Charles Darwin auf (Dux
2017c, 15–31. 164). Laut Dux geht es dabei um einen Umbruch der Weltbilder. Ich habe das Wort ‚paradigmatisch‘ oben absichtlich benutzt. Denn die
Veränderung der Erklärungslogik kann auf die Wissenschaft als eine Form
von Paradigmenwechsel übertragen werden, wenn man unter einem Paradigmenwechsel die Veränderung der Strukturen der sinnhaften Artikulation
über die Welt versteht.5 Hierin liegt ein weiterer Grund für die langsame
Rezeption seines Werks. Die Veränderungen im Denken, die seine Reflexion
anbietet, zielen darauf ab, das ganze Weltbild zu ändern (Dux 2017b). Er hat
selbst sein ganzes Leben dafür gebraucht und ist sich dessen bewusst, wie
schwierig es ist, seine Theorie zu präsentieren, denn es gehe ja um eine Änderung der Logik, wie er mir einmal sagte. Mit Logik sind die Strukturen gemeint, die im Denken umgesetzt werden, um Elemente der Welt zu verbinden
und die das bestimmen, was wir Verstehen nennen (Dux 2017c, 116–117).
4
5
Mit Subjekt ist das empirische Subjekt gemeint. Nur, die sinnhaften Strukturen der Lebensführung sind nicht schon im organischen Substratum angelegt.
Sie werden erst gebildet. Aber das ist ein zu großes Thema, dem Dux sein ganzes Leben gewidmet hat. Ich kann hier nur auf das Buch von 2017 (Dux 2017a)
verweisen.
De Medeiros 2021, 19–25; vgl. die „paradigmatische Bedeutung“ in Dux 2017b, 80;
2017c, 15.
Die Kritik an der Subjektlogik — 301
Da seine Theorie Geschichte und subjektive kognitive Entwicklung vereinigt, ermöglicht sie es, den Wandel der Erklärungsstruktur als eine kognitive Veränderung im erkennenden Subjekt zu verstehen (de Medeiros 2021,
19). Kognitive Schemata setzen Sachverhalte in Beziehung zueinander und
die Erklärungsstruktur funktioniert wie das „Gerüst eines Beziehungssystems“ (Dux 2018a, 9). Dies gilt speziell in unserem Fall für die Beziehung
zwischen Explikandum (das, was es zu erklären gilt) und Explikans (das, was
das Explikandum sinnhaft erweitern, bestimmen oder aufklären soll) (Dux
2018a, 9). Demzufolge setzt jede Erklärung die Struktur derart um, dass sie
das Muster dessen explizit macht, was als sinnvolle Erklärung gelten darf
(Dux 2018a, 9). Die Verknüpfungen werden so gebildet, dass das Deutungssystem, in der Form von Aussagen, Sprachspielen oder anderen sozialen Repräsentationen, die verfolgten Paradigmen in ihrer Konstruktion erkennen
lässt (Dux 2018a, 9).
Knapp auf den Punkt gebracht verfahren die primären Erklärungsschemata so, dass man „etwas auf seinen hinter ihm gelegenen Ursprung zurückführt“ (Dux 2018a, 10). Dux nennt diese primäre Logik eine subjektivische
Handlungslogik. Diese Logik ist primär, weil sie sich als die ‚erste‘ sowohl
in der ontogenetischen Entwicklung der Gattungsmitglieder6 als auch in der
Geschichte der Menschen darstellt. Die Handlungslogik ist subjektivisch, weil
das Muster der Handlung das Gerüst überzieht, über das sich die Subjekte ihre
Welten vorstellen. Die Erwartung, mit dem Schema der Handlung das Objektive zu verstehen, hat ontogenetische Gründe.7 Die frühkindliche Erfahrung
der Handlung strukturiert das Objekt- und Ereignisschema. Die Enttäuschungen gegenüber den noch nicht assimilierten Widerständen der Welt müssen
in der frühen Kindheit dadurch verarbeitet werden (Dux 2018a, 42–45), dass
das Subjekt seine Aufmerksamkeit auf sich lenkt, um die Fehler in der Motorik
unter der Aufsicht des Bewusstseins zu koordinieren (Bohmann – Niedenzu
2020, 7–9). Die Folge ist, dass Objekt- und Subjektverständnis zur gleichen
Zeit gebildet werden. Vor allem aber ist die Entwicklung des Kindes in der
frühen Kindheit stark von den sorgenden Anderen geprägt. Handlungs- und
6
7
Dux spricht von Gattungsmitgliedern. Man hat mir empfohlen, in meiner Doktorarbeit Art-mitglieder zu benutzen. Neulich las ich in einem Werk (Bohmann –
Niedenzu 2020), das in die historisch-genetische Theorie einführt, auch Gattungs- und Gesellschaftsmitglieder. Ich finde den Begriff Gesellschaftsmitglieder
irreführend, weil „die Sozialwelt nicht vor der naturalen Wirklichkeit da“ war
(Dux 2018a, 45; vgl. hier weiter unten). Formulierungen wie Menschenkind finde
ich sympathischer.
Der Begriff der Ontogenese beschreibt die Entwicklung eines Wesens oder eines
Organismus von der frühesten Kindheit bis zum erwachsenen Zustand.
302 — José Eduardo M. de Medeiros
Interaktionskompetenzen werden gleichzeitig gebildet, so dass die Erwartung
entsteht, einen fast kommunikativen Umgang mit den Objekten der Welt eingehen zu können:
„Wir sind danach in der Lage, die allenthalben verbreitete Meinung,
die subjektivische Wirklichkeitsauffassung sei auf die Übertragung sozialer Verhältnisse auf das Gebiet der Natur zurückzuführen, richtigzustellen. Von einer Übertragung oder Analogie kann nicht die Rede
sein. Weder war die Sozialwelt vor der naturalen Wirklichkeit da, noch
steht für die Auffassung menschlicher Subjektivität ein separates Erkenntnisvermögen zur Verfügung. Richtig ist vielmehr, daß bereits die
anthropologische Ausgangslage eine Disposition für die Ausbildung
der subjektivischen Matrix schafft und den Menschen auf einen quasikommunikativen Umgang auch mit den Objekten der Natur festlegt.“
(Dux 2018a, 45)
Die meisten überlebenswichtigen Veränderungen in der Umgebung des Kindes haben wirklich ein Subjekt als Ursache. Das führt dazu, dass die subjektive Struktur des handelnden Subjekts auf beide Pole der Erfahrung, das sind
die Objekt- und Subjektseite,8 als Struktur des Verstehens angewandt werden
kann und tatsächlich wird. Strukturen haben eine integrative Funktion und
verbinden Elemente der Welt bzw. Umwelt (Dux 2018a, 9). Die Erfahrungen
werden dann im Rahmen der bekannten Strukturen assimiliert, und zwar so,
dass die Strukturen zur Geltung kommen, manchmal „hinter dem Rücken“
der erkennenden Subjekte selbst (Dux 2018a, 9). Das führt zu dem bekannten Phänomen, dass Menschen ein Ereignis immer als durch irgendetwas
anderes verursacht wahrnehmen. Die Ursache ist noch nicht bekannt, aber
jede*r weiß, dass ein Geschehen verursacht worden ist, sonst würde man gar
nicht auf die Idee kommen, überhaupt nach nur einem Grund für das Ereignis zu suchen (Dux 2018a, 9). In diesem Sinne wird die Welt nach einem bestimmten Muster vorgestellt. Die Art und Weise, wie die Repräsentation der
Welt zu Stande kommt, ist im Vorhinein festgelegt, z. B. indem wir kausale
Zusammenhänge antizipieren (Dux 2018a, 9). Mit dieser Struktur geht ein
explikatives Moment einher, nämlich die Erwartung, einen Vorgang in zeitlicher Folge durch eine hinter ihm oder vor ihm liegende Ursache zu erklären
(Dux 2018a, 9).
8
Auch die Spaltung Subjekt-Objekt muss erst in der Ontogenese gebildet und erlernt werden, indem der Organismus Erfahrungen gegenüber einer eigenständigen Welt verarbeiten muss (Dux 2017a).
Die Kritik an der Subjektlogik — 303
Die Organisation der menschlichen Lebensform ist nicht von Natur aus
gegeben (Dux 2017b, 66). Aber der Erwerbsprozess von Wissen über die
vorfindliche Welt fängt mit den Sinnen als organische Ausstattung an. Die
Sinne sind unabdingbar für die Vermittlung zwischen dem Subjekt und seiner Außenwelt (Dux 2017b, 66). Man muss davon ausgehen, dass sie relativ
erfolgreich sind. Aber die Erfassung der Wirklichkeit ist eine Aufgabe des
Denkens (Dux 2017b, 65), welches am Anfang des Lebens nach dem Muster
der subjektiven Handlung strukturiert ist.9 Folglich wird die Wirklichkeit
über die subjektivische Handlungslogik erfasst (Dux 2017c, 89–94; 2017b).
Und das hat eine Bedeutung für Objekte und eine andere für Ereignisse.
Objekte werden substanzlogisch aufgefasst, als würden ihre Eigenschaften
aus einem virtuellen Ursprung in oder hinter dem Objekt emanieren (Dux
2018a, 40–41). Ereignisse werden immer wahrgenommen als die Folge einer
statischen Ursache, die dem Begriff der psychomorphen Ursache von Jean
Piaget ähnelt (Hallpike 1979, 424–479). Wichtig ist, dass die Folge bereits
in dem Grund, die Eigenschaft in dem Kern der Substanz vorliegt, wenn
auch manchmal umrisshaft als Potenzial. Substanz und Ursache werden ursprungslogisch aufgefasst und in Ursprungsschemata zusammengedacht.
Das potenzielle Moment eines Ursprungs hängt mit der wichtigen Eigenschaft der Handlung zusammen, eine „komplizierte Antizipationsleistung“
zu sein, wobei das vorgestellte Ziel als der motivierende Grund für die Handlung gilt (Vobruba 2020, 108).
Die Ursprungslogik weist eine wichtige Eigenschaft auf. Sie macht einen
Regress im Denken möglich, der sein Ende nur in einem Absoluten wiederfinden kann. Eine Erklärung ist gültig und sie gilt als ausreichend, wenn
sie den wahren Grund hinter der Erscheinung enthüllt. Eine Suche nach
dem Wesen hinter der Erscheinung findet solange statt, bis eine Erklärung
in einem absoluten Punkt aufgezeigt werden kann, denn nur das Absolute
setzt sich selbst in der Welt. Der absolute Ursprung hat so eine subjektivische Form, denn ähnlich der Selbstreflexion eines Subjekts hört die Reflexion
nur in dem Moment auf, wo Denker*in und Vorstellung als absolut identisch
gelten. Das kennt das menschliche Subjekt, weil sein Bewusstsein so strukturiert ist. Dass es so strukturiert ist, ist das Ergebnis eines langen evolutionsgeschichtlichen Prozesses (Dux 2017a). Das handlungslogische Moment
9
Hinter dieser Feststellung verbirgt sich ein weiterer wichtiger Punkt, der die
Zwecke dieses Artikels übersteigt. Die Tatsache, dass „der Prozeß der Ausbildung
des Wissens für jeden immer von der kulturellen Nulllage des Organismus aus
beginnt“ (Dux 2017b, 90), stellt das sichere Fundament für Analogien da, wie sie
Manfred Eggert (1998) als Werkzeug für die Archäologie verteidigt. Der Vergleich
beider Argumentationen ist aufschlussreich.
304 — José Eduardo M. de Medeiros
dieser Erklärungsstruktur stellt den Bezugspunkt auf das Subjekt her. Die
Erklärungen suchen in einem Subjekt ihr Ende, weil eine Handlung ihren
Anfang im Subjekt wirklich hat (Dux 2018a, 49). Es geht Dux nicht darum,
eine allgemeingültige Definition vom ‚Selbst‘ oder vom ‚Subjekt‘ vorzuschlagen. „Weder gibt es eine strukturierte Umwelt für das Neugeborene noch hat
es ein ‚Selbst‘, das sich von dieser Außenwelt reflexiv absetzen könnte“ (Bohmann – Niedenzu 2020, 20). Wichtig ist das Handlungsmoment einer sich
langsam bildenden Handlungskompetenz in der interaktiven Umgebung der
frühen Kindheit (Dux 2017b, 61–79; Dux 2018a, 45). Vielmehr geht es Dux in
seiner Theorie darum, dass Handlungen als aus einem Inneren des Organismus wahrgenommen werden können und diese Wahrnehmung Konsequenzen für unser Verständnis von Objekten hat. So haben auch die Merkmale einer Substanz Ereignischarakter, denn die Eigenschaften eines Objekts weisen
auf ein Aktionszentrum in oder hinter dem Objekt zurück (Dux 2018a, 40–41).
Es ist diese Verbindung der Erklärungsstruktur mit dem Muster der Handlung, die z. B. dazu führen kann, dass sogenannte animistische Gesellschaften
nicht absolut zwischen Menschen und Tieren unterscheiden (Descola 2011),
ohne dass man gleich über Anthropomorphismus oder Vermenschlichung
reden muss. Es liegt auch in der Geltung dieser Logik, dass unterschiedliche
Gesellschaften Erklärungen für Ereignisse in der Welt in sogenannten metapersons suchen und finden (Sahlins 2019; Strathern 2019). Vor diesem Hintergrund werden ebenso Phänomena wie die Zuschreibung von Agenzien
auf Artefakte oder der Aufbau sozialer Beziehungen zu materiellen Dingen
(Gell 1998, 18–21) verständlich. Das kann in der Vergangenheit sowie in der
Gegenwart passieren, weil die subjektivische Handlungslogik immer wieder
neu in der Frühkindheit jedes neuen Menschenkinds entwickelt wird.
Im Gegensatz zu der „ontogenetisch frühen, historisch traditionalen“
Logik (Vobruba 2020, 107) steht die langsame Entfaltung einer neuen Logik während der Neuzeit. Wenn ein konkretes Datum hier genannt werden
sollte, könnte man das Publikationsjahr von Isaac Newtons Hauptwerk 1687
nennen (Newton 1999). Auch Dux erwähnt das Datum (Dux 2017c, 16). Richtig ist das aber nicht ganz, weil die Entfaltung der Prozesslogik schon im
Mittelalter anfängt (Dux 2017c, 16–17) und bis heute noch andauert (Dux
2017b, 1). Die prozessuale Logik der Moderne sucht eine Explikation in dem
Entstehungsprozess eines Explikandums so, dass man von den objektiven
Bedingungen ausgeht, die ein Ereignis ermöglichen, ohne dieses auf seine
anfänglichen Faktoren zu reduzieren (Dux 2017c, 31). Prozesse werden als
Teil eines Innenzusammenhangs der objektiven Welt aufgefasst (Dux 2017c,
15–16).
Das ‚Soziologendeutsch‘ des genannten Autors ist schwierig zu verstehen
und manchmal irritierend. Aber die Tatsache, worauf die historisch-genetische
Die Kritik an der Subjektlogik — 305
Theorie der Kultur von Dux basiert, ist ziemlich eindeutig: Es gibt in der
Moderne oder in den letzten Jahrhunderten eine Veränderung in der Weltanschauung – in der Art und Weise, wie die Welt als Vorstellung gedacht
wird – und zwar in der Richtung einer fortschreitenden Säkularisierung (Dux
2017c, 314–316; vgl. Strathern 2019, 1–106). Alan Stratherns (2019) historische Untersuchungen unterscheiden religiöse Ideen nach einem immanentistischen und einem transzendentalistischen Paradigma. Immanentistisch
sind Formen von Religiosität, „die sich an die Existenz übernatürlicher Kräfte
und Agenzien orientiert, denen die Kraft zugeschrieben wird, menschliche
Bemühungen zu helfen oder zu vereiteln“ (Strathern 2019, 322, Übersetzung
d. Verf.). Eine transcendentalist tradition bezeichnet hingegen eine Form von
Religiosität, „die auf die Transzendenz der weltlichen Existenz und den Imperativ der Erlösung oder Befreiung von der menschlichen Bedingung ausgerichtet ist“ (Strathern 2019, 322, Übersetzung d. Verf.). Seine Untersuchungen
zeigen deutlich, dass immanentistische Überlegungen in den historisch jüngeren, transzendentalistischen Traditionen überleben. Was ist also der Grund,
warum immanentistische Denkweisen immer wieder ihren Weg in transzendente Denksysteme finden? Auch auf diese Frage liefert das ontogenetische
Moment der Dux’schen Theorie eine Antwort: Die primäre, subjektivische
Denkform wird von jedem neuen Menschenkind aus Neue ausgebildet. Auch
zu der Frage nach dem Grund, warum transzendente Systeme überhaupt in
der Lage sind, ‚begriffliche Kontrolle‘ kompetent auszuüben – der Begriff bedeutet laut Strathern die Fähigkeit, Enttäuschungen gegenüber dem Glauben
zu verkraften und sich den durch die Erfahrung entstandenen Widerlegungen
von Glaubenssätzen zu entziehen – liefert die historisch-genetische Theorie
einen Beitrag: Mit dem Rückzug des Numinosen aus der Welt, sei es weil Gott
allein die Aufgabe der Schöpfung zugeschrieben wird oder weil sich ein buddhistisches Bewusstsein über die illusorische Welt erhebt, ist die Handlungsmacht des Absoluten nach wie vor allumfassend und trotzdem nicht mehr für
jedes einzelne Ereignis verantwortlich. Wie konkret sich das Absolute aber
aus den Weltbildern verabschiedet, ist in den partikulären Entstehungsgeschichten der jeweiligen Kulturen zu verstehen. Dux schaut sich den Fall der
christlichen Religion genauer an (Dux 2017b, 185–225, insbes. 212–225) und
arbeitet mit einer These, wobei der Rückzug Gottes aus der Welt die technischen Entwicklungen im Mittelalter begünstigt ebenso wie, umgekehrt, die
Erweiterung des technischen Konstanzwissens über die Natur den göttlichen
Ruhestand gefördert hätte (vgl. Dux 2017c, 16–17. 347–368). Denn der Gewinn
an Konstanz- und Handlungswissen verstärkt den Eindruck, subjektivische
Mächte seien für ein Verständnis der Phänomena der Natur nicht notwendig
(Dux 2017c, 16–17). Auf diese Weise entziehen technische Entwicklungen
den religiösen Weltbildern tatsächlich jeden Bezug zur Realitätsauffassung,
306 — José Eduardo M. de Medeiros
was für die früheren Zeiten in der Geschichte der Menschheit nicht der Fall
war: für die vormodernen Zeiten waren religiöse Interpretamente „operante
Mechanismen“ in der Welt (Dux 2017b, 80–85. 279–283). Dieser Rückzug der
Subjektlogik aus dem Weltbild schafft die Erkenntnischance, prozesslogische
Verbindungen der Erscheinungen zu konstruieren und legt das Fundament
für die sogenannte Säkularisierung.
Ich glaube, dass alle sich über einen Umbruch der Weltbilder in der Moderne als einen Säkularisierungsprozess einig sind, auch wenn die Natur
und die Konsequenzen dieser Veränderungen umstritten sind. Dux setzt auf
der Suche nach einer Antwort auf die Frage, worum es bei diesem Wandel
geht und wodurch er möglich wurde. Der Wandel ist laut Dux ein Umbruch
im Weltverständnis, das durch die naturwissenschaftliche Revolution des
16. und 17. Jahrhunderts und die darauffolgende industrielle und politische
des 18. und 19. Jahrhunderts (Dux 2017c, 15) hervorgebracht wurde. Die Bedeutung der „naturwissenschaftlichen Revolution“ (Dux 2017c, 15) liegt in der
Elimination einer ‚subjektivischen‘ Logik im Naturverständnis. Diese Logik
bestand darin, Ereignisse in der Natur durch die Struktur der Handlung eines
Subjekts zu erklären. In der Moderne macht eine solche Erklärung weniger
Sinn oder sie ist wenigstens nicht ausreichend: Seit Newtons Zeit gestaltet
sich eine Erklärung, die sinnvoll sein soll, durch eine funktional-relationale,
systemische Logik und die Naturwelt wird als eigenständiges Ganzes verstanden (Dux 2017c, 15–17). Eine sinnvolle Erklärung beschreibt einen dem
Naturvorgang bzw. der Welt selbst immanenten Entstehungskontext. Auf die
Sozialwelt übertragen bedeutet dies, dass eine Erklärung eines kulturellen
Phänomens nicht mehr auf einen Grund in subjektivischer Form wie Absichten, Werte oder das gesamte Sozialsystem zurückgehen kann (Dux 1987). Eine
prozessuale Logik in der Analyse von sozialen und kulturellen Konstrukten
führt notwendigerweise zu einer langfristigen historischen Perspektive (Bohmann – Niedenzu 2020, 4–6). Eine ähnliche Ansicht vertreten Autoren wie
Alan Strathern (2019) oder Marshall Sahlins (2019). Im Vergleich zu diesen
anderen historischen Sichtpunkten liegt der Vorteil der Dux’schen Theorie in
der Verbindung der geschichtlichen Entwicklung mit den kognitiven Strukturen im Subjekt (Bohmann – Niedenzu 2020, 4–6). So erscheint ein kultureller
Wandel als die langsame Abfolge von Organisationsformen vom Wissen, das
erstmal von jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied von der frühen Kindheit
an konstruiert werden muss. Diese Perspektive, die kognitive / individuelle
und historische / soziale Entwicklungsprozesse verbindet, stellt das Besondere der Theorie von Dux dar und zeitigt erkenntnistheoretische Konsequenzen, die häufig missverstanden werden. Es geht nicht um den Vorwurf, dass
nicht westliche Gesellschaften substanzlogisch denken. Die Beschreibung der
subjektivischen Struktur ermöglicht den Zugang zu historischen Sinnwelten
Die Kritik an der Subjektlogik — 307
(Dux 2017c, 11) und erklärt, warum interkulturelles Verständnis überhaupt
möglich ist (Dux 2017b, 91), ohne dabei im Voraus schon festzulegen, welche
konkreten kulturellen Welten auf der Basis der Struktur entstehen können.
Allerdings fehlt ein Argument, wie man von den großen Strukturen zu den
Spezifika kommt. Die Beschreibung der logischen Struktur ist somit ein erster
Schritt, dem weitere wissenschaftliche Arbeit folgen muss. Denn was auch
immer auf der Basis der Strukturen konstruiert wird, ist nicht schon in ihnen
angelegt. Außerdem ist das substanzlogische Moment nur ein Aspekt einer
Logik, die Kategorien wie Identität, Raum, Zeit, Herkunft (Dux 2017c, 89–94)
und Existenz (de Medeiros 2021, 30–35)10 gleichzeitig strukturiert. Zum anderen ist die Logik insofern universell, dass sie vom „Anfang der Sozialisation“ an (Dux 2017c, 41–46) von allen Menschen neu aufgebaut wird. Es geht
auch nicht darum, die Kategorien des Denkens auf ein stabiles Selbst nach der
Tradition der westlichen Philosophie zurückzuführen, denn Subjektivität ist
prozessual zu verstehen und auch das ‚moderne Selbst‘ ist ein Konstrukt, dessen Entstehung durch die Rekonstruktion von dessen Geschichte verstanden
werden kann (Dux 2019).
Man kann tatsächlich versuchen, die Beschreibung der „Strukturmomente
der subjektivischen Logik“ (Dux 2017c, 49) für die Untersuchung religiöser
Vorstellungen in der Urgeschichte zu nutzen, wie man das in Freiburg versucht (Huth 2003, 276–281). Aber ich möchte hier auf eine andere Konsequenz
aufmerksam machen: den Erhalt der subjektivischen Logik in unserer Zeit.
In diesem Kontext wird dieser Artikel nicht darauf abzielen, eine ausführliche Materialanalyse anzubieten. Wenn ich folgend die Hortfunde behandle,
werde ich die Quellenkritik von Christoph Huth (1997; 2008; im Druck) und
Regine Maraszek (2006) übernehmen sowie voraussetzen. Auch für eine ausführliche Verteidigung meiner Interpretation bietet der vorliegende Artikel
nicht den geeigneten Anlass (vgl. de Medeiros 2021). Ich lehne mich für meinen Ansatz an Sebastian Brathers (2004, 324) Unterscheidung der Methoden
einer historischen Kulturwissenschaft an. Dort differenziert er drei Verfahren:
Heuristik, Quellenkritik und Interpretation. Ich konzentriere mich hier auf
10 In diesem Unterkapitel meiner Dissertation erweiterte ich den Horizont der
Dux’schen Theorie um die Dimension der Ontologie(n) und zeige, wie die subjektivische Handlungslogik unser Verständnis vom Existenzurteil beeinflusst.
Vor diesem Hintergrund ist der Kontrast zu den ontologischen Ansätzen anderer
Autor*innen wie Eduardo Viveiros de Castro (Viveiros de Castro 2015) besser zu
verstehen. Zusammengefasst: Ontologien funktionieren als Hilfsmittel, mit dem
modernen Bewusstsein der „Konvergenz der Welt“ (Dux 2017c, 57) auf einen Erkenntnisprozess im Subjekt (Dux 2017c, 25–32. 57) umzugehen, sprich, der Konstruktion der Welt durch das Erkenntnissubjekt.
308 — José Eduardo M. de Medeiros
die Heuristik und darauf, welche Fragen wir stellen wollen sowie welche Art
von Antworten wir dann von der archäologischen Quelle erwarten.
Mythos und Rekonstruktion
Die erkenntniskritische Theorie von Dux schafft einen Standard, an dem
man wissenschaftliche Urteile messen kann. Möglicherweise sagt der Soziologe uns zwar nicht, wie die richtige Rekonstruktion urgeschichtlicher Verhältnisse aussehen muss, aber die Beschreibung der subjektivischen Handlungslogik kann inadäquate Aussagen entkräften. Gleichzeitig können einige
Aussagen, die handlungslogisch gebaut werden, bedingt weiterhin gelten,
wenn man sie mit dem Abstand betrachtet, der durch ein Verständnis für
die primäre Logik entsteht (de Medeiros 2021, 30–35. 69–90). Die subjektivische Struktur hinterlässt Spuren in der Sprache (Dux 2017c, 229–240) und
es ist eine schwierige Aufgabe, die Sprache von diesen metaphysischen Rudimenten vollständig zu bereinigen. Wir nutzen sie im Alltag ohne weitere
Konsequenzen:
„Eine Unzahl von Fragen unserer alltäglichen Lebenswelt erfährt auch
heute auf diese Weise ihre Antwort: ‚Warum ist das Glas zerbrochen?‘
‚Ich habe es fallen gelassen.‘ – ‚Wo ist Hans?‘ ‚Peter hat ihn fortgeschickt.‘ – ‚Was ist das für eine Person? Weshalb ist sie hier?‘ ‚Ich mag
sie.‘ Und so fort. Gewiß, unter Umständen muß sich jede dieser Antworten den Vorwurf gefallen lassen, kurzschlüssig zu sein. Jede läßt
sich hinterfragen. ‚Warum hast du es fallen gelassen?‘ ‚Warum hat
Peter ihn fortgeschickt?‘ ‚Warum magst du sie?‘ Auf jede weitere Frage mögen sich weitere Gründe finden lassen. Gleichwohl ist es nicht
einfach mangelndes Interesse, wenn diese Fragen unterbleiben. Der
Abschluß der Erklärung in der Person des Handelnden ist nicht ohne
realen Grund.“ (Dux 2018a, 48)
Man kann gut beobachten, wie sich die subjektivische Struktur bis in die
heutige Zeit erhalten hat. Denn die subjektivische Erklärungslogik wird von
jedem Gesellschaftsmitglied in der Sozialisation neu entwickelt. Der Spracherwerb kommt wohl selten ohne die Struktur des Subjekts aus (Dux 2018a,
48). Die Identität, die es zwischen Subjekt und Prädikat zu geben scheint,
spiegelt die Gleichheit wider, mit der das Verhältnis zwischen Ursprung und
Emanation, Substanz und Merkmalen gedacht wird (Dux 1989, 225). Da die
Logik immer wieder neu von den einzelnen Subjekten in der frühen Kindheit
aufgebaut und im Erwachsenenleben weitergetragen wird, ist es möglich,
Die Kritik an der Subjektlogik — 309
dass diese Logik auch in der Wissenschaft zum Ausdruck kommt. Manche
Wissenschaftsbereiche, wie die juristischen Wissenschaften (Dux 2018a)
oder die Philosophie (Dux 2017c, 107–110) schaffen es, sie auf der abstrakten
Ebene zu erhalten. Solange eine Kritik der Logik nicht ausreichend propagiert ist, wird man an der althergebrachten Erklärungsweise festhalten. Sie
bringt sich zur Geltung in Momenten von Unsicherheiten oder wenn man
über einen Gegenstandsbereich nicht ausreichend informiert ist. Da niemand
alles weiß über jeden Bereich der Welt, ist es verständlich, dass jede*r irgendwann auf eine Strategie zurückgreift, mit der man glaubt, die Welt sicher
erklären zu können.
Das Problem der subjektivischen Erklärungsstruktur ist, dass die diese
Struktur widerspiegelnden Erklärungen Formen des Reduktionismus wiederholen. Wenn eine Erklärung einen Sachverhalt benennt, der strukturell
einer Handlungskette entspricht, läuft die Erklärung oder das Bedürfnis,
überhaupt nach einer Erklärung zu suchen, aus. Der Prozess ist die exakte
Umkehrung einer Handlung, die vom Handelnden weg zum Ziel hin verläuft (Dux 2017c, 89). Da sie genetische Erklärungen sind, bedarf diese Erklärungsstrategie eines Ursprungs; wird dieser enthüllt, „ist das Ereignis soweit
erklärt, daß nichts weiter zu erklären ist“ (Dux 2017b, 106). Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf das Wesentliche, „und das ist die letzte, die eigentlich bestimmende Ursache“ (Dux 2017b, 107). Der Grund wird im Schema der
Handlung derart aufgefasst, dass Anfang und Ursprung subjektiv gedacht
werden. Darum enden alle Diskussionen abrupt und endgültig, wenn der Anfang eines Prozesses auf Prinzipien wie Grundwerte, Absichten, Geschmack,
Wille oder Entscheidungen zurückgeführt wird (Dux 1987).
Eine reduktive Erklärung versucht, das zu verarbeitende Problem als
Ganzes verständlich zu machen, indem sie den Grund nennt, in dem alles
wurzelt. Das ist die größte Schwäche solcher Erklärungen. Sie verfahren tautologisch, indem sie annehmen, was eigentlich rekonstruiert werden sollte.
Die Verhaltens-, Denk- und Sprechweise von Menschen wird beispielsweise
auf ihren Charakter zurückgeführt – wie Heraklit bereits proklamiert hatte,
der Charakter wird zum Schicksal des Menschen (Diels 1957, Fragment 22B
119). In der Archäologie verhält es sich ähnlich. Die archäologische Quelle
sieht so aus, weil die Menschen sie damals so hinterlassen haben. Die Hortfunde als eine Quellengattung der Urgeschichtlichen Archäologie sind auf
irgendeine bestimmte Weise zusammengesetzt, weil man sie so zusammensetzen wollte. Diese Methode stellt keinen Erkenntnisgewinn dar, weil die zu
erklärenden Ereignisse bereits potenziell in der vermuteten Ursache (z. B. in
der Niederlegungsabsicht) beschlossen liegt.
Demgegenüber liegt der Erkenntnisgewinn einer Rekonstruktion darin, Einsicht in die Entwicklungslogik zu gewinnen, die dem historischen
310 — José Eduardo M. de Medeiros
Veränderungsprozess von Sinnwelten unterliegt (Dux 2017b, 11–13). Die Rekonstruktion ist empirisch mühsamer zu erarbeiten. Sie sieht auch schriftlich
anders aus als eine Erzählung (Dux 2017b, 131–135). Die Geschichte als Wissenschaft ist eine Rekonstruktion (Dux 2017b, 45). Sie verfährt so, dass die
Geschichte allmählich einzelne Züge der Menschheitsgeschichte in irgendeiner erhellenden Weise aufklärt. Das ist zugegebenermaßen selten möglich
für die Vorgeschichte. Das verschafft meinem Vorhaben hier, den Wert der
historisch-genetischen Theorie für die Archäologie im Allgemeinen und den
Erhalt der Logik am Beispiel der Diskussion um die Hortfunde im Besonderen zu zeigen, ein experimentelles Moment.
Erhalt der Logik in der Archäologie
Der Erhalt der subjektivischen Handlungslogik in der gegenwärtigen Archäologie zeigt sich in unterschiedlichen Reflexionsbereichen. Zunächst taucht
der Rückgriff auf uranfängliche Triebe immer noch als explikative Strategie
in Verbindung mit Diskussionen über Schmuck, Dekoration oder ästhetische
Erlebnisse auf. In einem Ausstellungskatalog von 2016 findet man Ausdrücke
wie „ein Wunsch nach Selbstdekoration“ (Uelsberg 2016, 9) oder „ein zutiefst
menschliches Bedürfnis“ (Uelsberg 2016, 75) in Bezug auf die Tatsache, dass
Schönheitshandeln mit Hilfe von Schmuckobjekten seit langer Zeit belegt ist
(vgl. auch dazu Dissanayake 2001). Dabei gehen die Praxen des ‚Sich Schmückens‘ ersichtlich auf sozial differenzierte und individuell unterschiedliche
Motivationen zurück, deren Entstehung und Form gerade die Aufgabe einer
sozialwissenschaftlichen Erklärung wäre (Degele 2004).
Zweitens geschieht die Verwendung einer alten Logik noch in Diskussionen, wo die mediale Dimension des Denkens und der Sprache in den
Blickpunkt rücken muss. Ich denke hier an die symbolische Eigenschaft von
Gegenständen und an das Konzept der Ideologie. Die symbolisch-mediale
begriffliche Organisation der Welt scheint Schwierigkeiten zu bereiten. Aber
diese Medialität ist Bedingung der Möglichkeit des Symbolismus im Umgang mit Gegenständen. Das geistige Medium versteht man nur als Element
im Prozess des kommunikativen Aufbaus der Welt seit der Kindheit und als
phylogenetisches Resultat der evolutiven Naturgeschichte. Diese sind die
prozesslogischen Vorgaben, die Dux in seiner historisch-genetischen Theorie
der Kultur tiefer beschreibt. Aber man verfährt handlungslogisch und subjektivisch, wenn man dem Kommunikationsmedium die Aufgabe zuschreibt, für
Überzeugung und Gehorsamkeit in anderen Subjekten zu sorgen. Dieses Verfahren scheint vorzuschlagen, dass sich Intentionen in der Sprache substanzlogisch übertragen und wie ein Agens den*die Empfänger*in der Botschaft
Die Kritik an der Subjektlogik — 311
erreichen. Man erwartet, dass Symbole eine ideologische Rolle erfüllen. Aber
die Symbole sind nicht selbst in der Lage, andere Menschen zu manipulieren
(vgl. Pfaffenberger 2001). Nach dieser Auffassungsart der Kommunikation
fungieren Ideologie, geistige Konstrukte, Ideen, Kommunikationsmittel und
Symbole als Demiurgen, die eine soziale Ordnung erhalten, stabilisieren und
zum reibungslosen Funktionieren bringen soll.
Letztlich zeigt sich die mythische Struktur besonders deutlich in der
Auseinandersetzung mit Hortfunden. Da man sie als eine positive Auslese
aus unbekannten Gründen definiert, verneint ihre Definition bereits einen
Grund (Huth 2008, 131). Dennoch wird eine Erklärung für die Auswahl der
Funde, die Deponierung und letztlich den Verbleib im Boden erwartet, die
die Intentionen und Motivationen hinter diesen Handlungen aufzeigt (vgl.
Eggert 2008, 79; Huth 1997, 177–193). Das subjektivische Erklärungsverfahren, einem Phänomen seinen Grund in Strukturen eines Subjekts beizulegen,
steht in einem offensichtlichen Widerspruch zur Definition dieser archäologischen Quellengattung selbst. Die Suche nach einer Erklärung für den
wirklichen Grund hinter der Erscheinung geht solange weiter, bis eine Begründung in einem Subjekt gefunden wird. Ein Grund, der sich selbst erklärt.
Dafür reicht es, wenn die Begründung ganz allgemein in subjektivischen
Strukturen wie Absichten und Motivationen angelegt ist. Der Sachverhalt
bringt die Diskussionen zum Stillstand. Das geschieht dadurch, dass das
Denken weiterhin darauf fixiert ist, ‚den*die Täter*in‘ und seine*ihre Motive
hinter der Handlung aufzudecken (vgl. den Titel von Dux 2018b), anstatt den
Sinn in der Entwicklung der prähistorischen Prozesse aufzuklären, die zu
Deponierungsphänomenen führen, d. h. diese Entwicklungen in ihrer historischen Entfaltung prozesslogisch zu verfolgen. Es gibt dafür ausreichende
Elemente im Fundbild, die von Vertreter*innen der unterschiedlichsten Deutungsrichtungen anerkannt werden.
Ein Beispiel aus der Hortfundforschung
Definition einer Quellengattung
Hort- oder Depotfunde bilden eine Quellenkategorie, die am einfachsten
durch den Kontrast mit den anderen Fundgattungen erklärt wird. Es sind
Funde, die weder einer Siedlung noch einem Grab mit Sicherheit zugeordnet werden können (Eggert 2008, 76). Die Objekte in einem Depot sind auf
menschliche Handlungen zurückzuführen. Nur, niemand kann genau sagen,
um welchen Handlungszusammenhang es genau geht. Die didaktische paradigmatische Unterscheidung stellte Hans Jürgen Eggers folgendermaßen
312 — José Eduardo M. de Medeiros
dar: Siedlungen liefern eine negative Auswahl an Objekten aus bekannten
Gründen. Demgegenüber enthalten Gräber eine positive Auswahl aus bekannten Gründen, während Horte eine positive Auswahl aus unbekannten Gründen kennzeichnet (Eggers 2006, 207). Die negative Definition in der klassischen Kategorisierung ist zweifach (weder Grab noch Siedlung und positive
Auswahl aus unbekannten Gründen) und führt zu Verunsicherungen, wenn
eine Interpretation vorgeschlagen werden soll. Das zeigt sich schon am Ausgangspunkt: die Bezeichnung der Quelle. Denn viele Bezeichnungen und
Namen, die für diese Deponierungen verwendet werden, orientieren sich an
bestimmte Interpretationen. Schatz-, Opfer- und Votivfunde sind einige Beispiele. Auch dem Versuch, die Begriffe von Konnotationen zu bereinigen,
stehen Hindernisse entgegen. Das Wort Horten selbst hat z. B. die Bedeutung
von Bewachen und Hüten. Allerdings dürfen Definitionen in einer Wissenschaft nicht essenzialistisch verstanden werden. Man muss sie nehmen, wie
sie entstanden sind, nämlich als ein Etikett, das bereits existierende vorfindliche Phänomena betitelt. Für alle praktischen Zwecke sind Hort und Depot
Synonyme. Sie bezeichnen alle „im unmittelbaren räumlichen Zusammenhang aufgefundene[n] Kleinaltertümer, die sich weder den Grab- noch den
Siedlungsfunden zuweisen lassen“ (Eggert 2008, 76). Schließlich muss man
die negative Definition (positive Auswahl aus unbekannten Gründen) ernst
nehmen und alle möglichen Interpretationen im Licht dieser negativen Kategorisierung betrachten. Ernst nehmen heißt akzeptieren, dass es keine pauschale Interpretation gibt, weil Horte negativ definiert werden – und nicht
umgekehrt. Das gibt mir Anlass, noch etwas anderes zu klären, was häufig
missverstanden wird. Es geht hier nicht darum, die Kategorie der Hortfunde
insgesamt abzuschaffen. Diese Kategorisierungen (positive / negative Auswahl aus bekannten / unbekannten Gründen) sind hilfreich. Auch Konzepte,
die auf eine subjektivische Logik basieren, helfen, die Funde zu verwalten,
zumal Menschen sich dadurch auch verständlich ausdrücken. Der Punkt ist
eigentlich, dass die subjektivische Logik immer einen Sinn macht, da sie von
jedem neuen Menschen entwickelt wird. Man kann sie also benutzen, um
anfängliche Kategorien oder Unterscheidungen wie nach „Niederlegungsart
und -absicht“ vorzuschlagen. Ich kritisiere nur die Reichweite der Logik als
eine Form von Erklärung.
Niederlegungsart und -absicht
Alle Schwierigkeiten mit Deutungsfragen zur Seite gestellt, gibt es in der
Forschung einige etablierte Leitfäden für die Arbeit mit Hortfunden. Erstens geht es darum, die Fundsituation gut zu kennen. Dafür unterscheidet
Die Kritik an der Subjektlogik — 313
Helmut Geißlinger (1984) zwischen Fundumständen und Fundverhältnissen.
Der erste Begriff bezieht sich auf die Verhältnisse zur Zeit der Deponierung,
der zweite auf diejenigen bei der Entdeckung. Eggert verwendet dafür die
Begriffe „Niederlegungs-“ oder „Deponierungs-“ und „Auffindungsverhältnisse“ (Eggert 2008, 76–79). Leider sind gut untersuchte Hortfunde selten.
Viele Funde sind nicht im Rahmen einer Ausgrabung oder einer Forschungsarbeit entdeckt worden, sondern die Beobachtungschancen variieren und
sind in der Regel schlecht (Huth 1997). Eine Unterscheidung zwischen „Indikatoren prähistorischer Auswahlprozesse“ und „Indikatoren rezenter Auswahlprozesse“ (Huth 1997) verdeutlicht mit dem Begriff des Prozesses die
Tatsache, dass es sich bei den meisten Hortfunden nicht um eine statische
Auswahl, gefolgt von einer einmaligen Deponierung handelt. Eine weitere
wichtige Unterscheidung, die sich quer durch Deutungsschulen durchgesetzt
hat (Eggert 2008, 76–79), ist die zwischen Niederlegungsart (reversibel, irreversibel) und Niederlegungsabsicht (profan, sakral) (Eggert 2008, 79). Diese
bildet den Kern der interpretativen Diskussion (Eggert 2008, 79). Letztlich
spielt die Hortzusammensetzung auch eine Rolle. Die Idee geht in der folgenden Formulierung auf Geißlinger zurück, dass der Fundinhalt als „Indikator
für Deponierungsmotive“ dient (Geißlinger 1984, 327).
Die Trennlinie rituell / profan
Zusammenfassend lässt sich anhand der Niederlegungsart und -absicht auf
zwei allgemeine Typen von Horten in der Bronzezeit schließen, nämlich einen reversiblen, profanen und einen irreversiblen, rituellen Typ (Geißlinger
1984, 322; Eggert 2008, 80). Die meisten Interpretationsversuche orientieren
sich an dieser rituell-profanen Trennlinie (Eggert 2008, 80), obgleich es in den
letzten Jahrzehnten immer mehr Versuche gibt, sie zu überwinden (Maraszek
2006, 301–302), durch die Annahme von kulturhistorischen Hypothesen zu
bronzezeitlichen Gemeinschaften.11
Die Trennlinie ist künstlich und sie genügt der Vielfalt des Fundbildes
nicht. Die Kritikpunkte sind zahlreich. Man weist unter anderem darauf hin,
dass es rituelle Deponierungen gibt, die den Niederlegungsumständen nach
reversibel sind (z. B. auf trockenem Grund an einem Transportweg). Man
hätte sie theoretisch schon damals bergen können. Das ist aber nicht passiert. Gerade Deponierungen, die der Deponierungsart nach reversibel und
im Boden geblieben sind, stehen unter dem Verdacht, aus religiösen Gründen
11 Auch sozialsystemtheoretische Erklärungen können analog zu den ideologietheoretischen subjektivisch ausfallen (de Medeiros 2021, 136–141, vgl. 90–114).
314 — José Eduardo M. de Medeiros
dort abgelegt worden zu sein. Demgegenüber gibt es ausreichende profane Gründe, warum eine weltliche Deponierung so gut versteckt wird, dass
sie praktisch für irreversibel gehalten werden kann. Daher ist eine Kategorisierung anhand dieser Trennlinie (sakral / rituell-profan) umstritten, aber
sie ist weiterhin ein heuristisches Werkzeug, das der Forschung bis heute
zur Verfügung steht, um die Handlungskontexte wenigstens ansatzweise
unterscheiden zu können. Außerdem bildet diese virtuelle Trennlinie den
forschungshistorischen Hintergrund, vor dem die Deutungsansätze und die
Deutungsdiskussionen ihren Sinn bekommen. Schließlich könnte man auch
mit Dux argumentieren, dass die Vorstellung von sakralen und profanen Provinzen im Leben der Menschen Anhaltspunkte im Konstitutionsprozess der
menschlichen Lebenswelt hat, wenn man diesen als einen Prozess vom Wissenserwerb versteht.12
Ich habe, so wie Dux, Verständnis für den Wunsch der „Denker der Neuzeit ganz von vorne anfangen zu wollen“ (Dux 2017b, 5). Gleichzeitig denke
ich, dass eine empirische Wissenschaft in manchen Aspekten pragmatischer
sein darf. Problematisch ist vielmehr ein Alleingültigkeitsanspruch einiger
Theorien, die eine Erklärung für alle Horte beanspruchen. Die Diskussion
erreicht dadurch ein undurchschaubares Ausmaß an Spekulation. Ich glaube, in der Beibehaltung der subjektivischen Logik (also der These von Dux
folgend) bei der Beschäftigung mit Niederlegungsabsichten einen Grund für
das spekulative Moment entdeckt zu haben und hoffe, die divergierenden
Ansichten näher zu bringen und zwar dadurch und insofern, dass dieser Artikel Licht auf diese Erklärungsstruktur wirft.
Die absichtstheoretische Divergenz und das verfügbare Wissen
Die Beschäftigung mit der Forschungsgeschichte (Huth 1997, 4–62) weist
darauf hin, dass vergangene Kategorisierungen stark von Handlungszusammenhängen abhängen, die nur im Deutungsrahmen gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse funktionieren. So spricht John Evans im 19. Jahrhundert
von persönlichen Hortfunden (personal hoards), die Waffen oder Gerät
einer Einzelperson beinhalten, Händler*innenhorten (merchant’s hoards),
die aus vielen neuen Gegenständen bestehen, und Gießer*innenhorten
(founder’s hoards) bestehend aus zerbrochenen Objekten, Gusskuchen und
Gussformen (Huth 1997, 5). Ähnlich verhält es sich in Frankreich. Die großen Namen der bronzezeitlichen Hortfundforschung wie Ernest Chantre
12 Dux 2017b, 150–156 und vgl. die weiterführende Argumentation im Bezug auf
Religion 157–159. 227–283.
Die Kritik an der Subjektlogik — 315
unterschieden zwischen trésors, fonderies und chachettes de fondeurs (Huth
1997, 26). Solche Bezeichnungen haben die Zeit und die Kritik nicht überstanden. Der Grund dafür liegt nicht nur in der Nähe zu und Abhängigkeit
von den Hypothesen einer vorausgesetzten, gesamtkulturellen Theorie zu
den Entwicklungen der Spätbronzezeit – z. B. Vere Gordon Childes Hypothese vom reisenden Handwerker, die er im Rahmen einer handwerklichen
Revolution in der Spätbronzezeit aufstellt (Childe 1940, 168–194); oder im
Fall des merchant’s hoard die Vorstellung eines*einer reisenden professionellen Händlers*in, der*die seine Produkte unterwegs versteckt. Es könnte
ja sein, dass die Theorie richtig war. Der Grund für die Instabilität dieser
Kategorisierung liegt eher darin, dass sie strukturell nur dann funktioniert,
wenn die Kategorie auf einen Handlungszusammenhang zurückgeführt
wird, in dem gewisse Absichten und Motivationen sinnvoll erscheinen.
Diese Absichten müssen für Archäolog*innen bekannt sein. Neue Gegenstände sind nur in Verbindung zu Händler*innendepots zu setzen, wenn
man eine Vorstellung davon hat, wie Händler*innen ihre Güter handhaben
und transportieren. Persönliche Horte sind auch nur eine sinnvolle Kategorie unter der Voraussetzung, dass wir die Bedingungen der Beziehung zwischen Besitzer*in(nen) und Ding kennen. Ich leugne nicht, dass man diese
Bedingungen kennen kann. Würden wir sie kennen, dürften wir allerdings
die Horte nicht mehr als solche (positive Auslese aus unbekannten Gründen) bezeichnen, weil wir dann einen Grund für die Auswahl, die Deponierung und den Verbleib im Boden plausibel machen könnten.13 Kategorisierungen nehmen immer ein Stück des Vorfindlichen in die Vergangenheit
mit. Es gehört strukturell zu solchen Modellbildungen. Im 19. Jahrhundert
waren Händler wichtig, die wenigstens in Europa eine ganze Welt erobert
haben (vgl. Vobruba 2020, 111–113). Möglicherweise erklären diese historischen Verhältnisse eine schnelle Akzeptanz dieser Kategorisierungen und
ein aufmerksames Auge für den Herstellungsprozess von Bronze. Heute
sind wir in einer anderen Phase in der Entwicklung der Marktgesellschaft,
wo wir alle zunächst zu Konsument*innen erzogen werden (Bauman 2009).
Die Handlungsmacht, die jede*r von uns beim Austausch in den Märkten
erfährt, spiegelt sich im Deutungsvorschlag der „Gaben an die Götter“ wider (Hänsel – Hänsel 1997). Ich behaupte, dass hier die Vorstellung eine
Rolle spielt, man könne mit genug Geduld sich die Gunst der Gött*innen
auch kaufen. Das ist eine anachronistische Interpretation, denn es ist nicht
einmal sicher, dass die numinosen substanziellen Kräfte der Welt überhaupt
in der Form von Gött*innen personifiziert waren, wie es der Fall war für
13 Das ist der Grund, warum Schiffswracks nicht als Hortfunde kategorisiert werden.
316 — José Eduardo M. de Medeiros
die römische Religion, woher die Idee von do ut des zuallererst entliehen
worden ist (Hänsel – Hänsel 1997).
An dieser Stelle hilft eine Verbindung zu den Dux’schen Einsichten. Die
subjektivische Handlungslogik, die wir von seiner Theorie kennen, bildet
das Fundament für ein Weltbild, wo numinose handelnde Kräfte durchaus
existieren können. Die Erwartung, fast kommunikativ mit Objekten und Ereignissen umzugehen, ist also auch in seiner Theorie zu finden. Aber diese
Aspekte zeigen sich in einer Tiefendimension und in einer ereignishaften
Eigenschaft einer Wirklichkeit, die in oder hinter den Objekten und Ereignissen existiert. Aber nichts in der subjektivischen Logik macht die Existenz
von Gött*innen notwendig. Da seine Theorie strukturell angelegt ist, entscheidet sie nicht schon a priori über den semantischen Gehalt, der in jedem
Kontext anders sein kann (Dux 2017b, 90–91). Ein Verständnis gewinnt man
trotzdem für viele Fragen, die Deponierungen ritueller Art betreffen. Das
ist ein Aspekt meiner Reflexion mit Hilfe der Dux’schen Beschreibung vergangener Weltbilder, worauf ich unten zurückkomme. Der andere liegt in
der ungerechtfertigten Übertragung gegenwärtiger Tendenzen auf die Interpretation der Vergangenheit.
Ein subjektivisches Erklärungsmuster fordert gerade dazu auf, Szenarien
zu entwickeln, in denen die Gegenwart „in Potenz beschlossen liegt“ (Dux
2017b, 107). Die subjektivische Struktur funktioniert wie eine Art Versuchung, solch einen anachronistischen Fehler in der Deutung des Fundbildes
unbewusst vorzunehmen. Indem man versucht, die Auswahl der Objekte,
ihre Deponierung und ihren Verbleib im Boden durch den Rekurs auf eine
Absicht, wie z. B. dass eine Kommunikation mit Gött*innen beabsichtigt war,
zu erklären, gerät die Interpretation in eine schwierige Lage, weil interpretative Aussagen gemacht werden, für die handfeste Beweise fehlen. Deswegen
ist es wichtig, eine Skepsis zu entwickeln für Erklärungen in der Form von
Absichten, die den Anspruch erheben, das ganze Fundbild in seiner Vielfalt
zu erklären. Es ist für mich eine Lehre aus der Dux’schen Kritik der subjektivischen Erklärungslogik, dass sich der Versuch lohnt, ein Urteil über
Absichten zurückzuhalten, um anachronistische Fehler zu vermeiden. Man
sieht an der Struktur der Erklärung deutlich die Gefahr, dass aufgrund der
antizipatorischen Leistung (Vobruba 2020, 108) der Handlungsstruktur Konsequenzen in ihre Ursachen mitgenommen werden. Man kann eine Handlung erstmal planen und dann ausführen. Man kann sie auch beabsichtigen.
In diesen Fällen ist die Handlung im Geist vorbereitet, in Gedanken oder in
der Absicht bereits umrisshaft formiert, bevor sie in der Welt umgesetzt wird.
Diese Eigenschaft einer Handlungslogik kommt mythischen Erzählungen zugute, denn Mythen zielen auf die Versicherung der uranfänglichen Dauer
des Bestehenden (Dux 1992, 23) und die Handlungsstruktur unterstützt die
Die Kritik an der Subjektlogik — 317
Strategie, das, was später geschieht, bereits am Anfang als potenzielle Möglichkeit zu sehen. Da Absichten für eine prozessuale Rekonstruktion nach
Dux nicht als ausreichende Ursache gelten, sollten wir Archäologen*innen
bewusster bzw. vorsichtiger mit dem Wunsch umgehen, eine Absicht zu erwähnen. Da wir die Intentionen anderer Menschen (in der Gegenwart oder in
der Vergangenheit) nur schwer nachvollziehen können, liegt die Vermutung
nahe, dass wir mit diesen Absichten als Erklärungshypothese Handlungskontexte voraussetzen, die eher in der Gegenwart einen Sinn für uns machen.
Alternativ könnte man z. B. anstelle von ‚Gaben an die Götter‘ nüchterner
feststellen, dass Weihe- und Opfergaben in den Gesellschaften der Bronzezeit
Sinn machen können. Gleichzeitig kann man zugeben, dass man nicht weiß,
ob es eine Gött*innenwelt überhaupt gab und ob ein konkretes Depot überhaupt eine Gabe war. Derartige Unsicherheiten zu akzeptieren, wird dann
leichter fallen, nachdem die Tatsache klarer wird, dass der Wunsch, eine Absicht zu nennen, auf diese universelle Logik zurückzuführen ist, die gerade
im Gegensatz zur wissenschaftlichen Rekonstruktion steht (Dux 2017c). Das
Vermeiden von Anachronismen stellt dann einen Bonusvorteil dar. Natürlich
werden nicht alle Anachronismen vermieden, aber die Wissenschaftler*innen werden achtsamer.
Darüber hinaus liefert der Streit um die richtige Deutung der Brucherzhorte ein gutes Bespiel dafür, wie sich Diskussionen im Kreis zu drehen
scheinen (Huth 1997, 4–62. 177–193). Die Deutungsdivergenzen setzten früh
ein. Schon bei der Deutung der Fragmentation, was ein Hauptcharakteristikum der Hortfunde der Spätbronzezeit darstellt (Huth 1997; Maraszek 2006),
gehen die Interpretationen auseinander (Huth i. Dr.; Hansen 2016). Dass alle
bereit sind, die Fragmentation als wiederkehrendes Merkmal des Phänomens
anzuerkennen, scheint in Vergessenheit zu geraten. Es scheint so, weil häufig genug für jede allgemein anerkannte Tatsache eine Interpretation mitgeliefert wird, die darauf insistiert, ihren Grund in einer subjektiven Absicht
namhaft zu machen. Gleichwohl gibt es einige Tatsachen, die regelhaft in der
Quelle festzustellen sind und eine Mehrheit der Forscher*innen ist sich darüber einig (Huth i. Dr.; Hansen 2016), dass die Fragmentation einer Methodik
folgt und nicht bloß das Resultat von versehentlichen alltäglichen Brüchen
darstellt. Es ist die Bedeutung dieser Methodik, die sich aus dem Material
selbst nicht ergibt und daher zu kontroversen Diskussionen führt. Daher
wird auch häufig die Tatsache betont, dass die Brüche absichtlich vorgenommen worden sind (Huth i. Dr.). Die regelhaften Aspekte der Brucherzhorte
nach Huth (i. Dr.; vgl. Huth 1997) können folgendermaßen zusammengefasst
werden:
• Die Hortfunde beinhalten eine Mischung aus intakten und beschädigten Objekten.
318 — José Eduardo M. de Medeiros
• Die Beschädigung schließt eine Weiternutzung aus.
• Die Datierung der Inhalte schwankt zwischen jüngeren und älteren
Gegenständen.
• Fehlgüsse und Objekte mit Gussgraten tauchen ab und zu auf.
• Eine häufige Erscheinung sind Kupfergusskuchen.
• Stücke geschmolzener Bronze, Zinn- und Bleibarren sind selten.
• Gold taucht nur selten auf.
• Nach Zahl der Objekte sind die verschiedenen Bruchstücke am meisten vertreten, gefolgt von ganzen Objekten und Kupferbarren.
• Nach Gewicht haben die Kupferbarren den eindeutig größten Anteil
am Gesamtgewicht.
• Die Fragmente passen nur in den seltensten Fällen zueinander.
• Massive Objekte wie Absatz- und Randleistenbeile sind häufiger
intakt als dünne Objekte wie Schwerter.
• Dünne längliche Objekte sind in der Regel zerlegt.
• Hohle Objekte wie Tüllenbeile sind in der Regel zerdrückt.
• In intakten Tüllen steckt häufig ein anderes kleineres Objekt.
• Je größer das Depot, desto größer das Herkunftsgebiet der Objekte.
• Größere und kleinere Hortfunde liegen nah beieinander verbreitet.
• Die allgemeine Verbreitung spiegelt urgeschichtliche und nicht rezente
Auswahlprozesse.
• Die Verbreitung in der Nähe von Verkehrswegen wie Flüssen oder
Bergpässen spiegelt somit auch prähistorische Verhältnisse und keine Voreingenommenheit bei der Entdeckung.
• Die Verbreitung der Funde folgt einer zeitlichen und räumlichen
Richtung von Osten nach Westen im Laufe der Spätbronzezeit.
• Während der Früheisenzeit geht die Zahl der Funde sehr stark zurück, mit Ausnahme von Südfrankreich und der Bretagne.
• Entdeckungsjahr, -methode und Beobachtungsgrad haben einen
direkten Einfluss auf die Fundzusammensetzung, und zwar so, dass
kleinere Funde mit Skepsis zu sehen sind. Mangelnde Aufmerksamkeit kann zu einer Auswahl der ansehnlichen oder wiedererkennbaren Objekte und zum Übersehen von Objekten wie z. B. Gusskuchen
in diesen Depots führen.
Der Streitpunkt liegt in der Deutung dieser Regelmäßigkeiten. Dass methodisch vorgegangen worden ist, sagt noch nichts über die verfolgten, beabsichtigten Ziele aus. Absichtlich zerstört werden können Opfergaben und
Rohstoff in der Vorbereitung für das Gussverfahren. Es scheint mir so, als
ob jeder neue Deutungsversuch einen besseren Grund, eine bessere Niederlegungsabsicht anbieten will und natürlich davon ausgeht, dass die von
Die Kritik an der Subjektlogik — 319
anderen erwähnten Absichten nicht ausreichend sind. Es liegt in der Natur der subjektivischen Argumentation, dass ein Grund die Kraft beinhalten
muss, die ihm nachgeordneten Konsequenzen hervorzubringen. Erscheint
der Grund, den z. B. ein*e andere*r Forscher*in vorschlägt, nicht ausreichend,
kann man immer einen anderen, besseren Grund finden, der dahintersteckt.
Ich übernehme mutatis mutandis das, was Dux über pyramidale Begriffssysteme schreibt: Wir ordnen absichtstheoretisch die Interpretationen in
ein System von aufsteigender Fundamentalität (Dux 2018a, 14). Jede einzelne Absicht wird durch ihre Beziehung zur nächsthöheren bestimmt (Dux
2018a, 14). Wenn man eine Absicht entdeckt, die „nicht aus sich heraus und
für sich zu bestehen vermag“, und sie deswegen „als ‚abhängig‘“ bezeichnet,
dann ist jede Absicht „von [ihrer] nächsthöheren und durch [sie] hindurch
schließlich und endlich von der Spitze der Pyramide abhängig“ (Dux 2018a,
14). Die Spitze der Pyramide ist der letzte bestimmende Grund, den kein*e
Forscher*in behauptet zu kennen (vgl. die zur Publikationszeit schon mehr
als hundertjährige Forschungsdiskussion bei Huth 1997, 4–62).
Außerdem geht es bei der Interpretation von Hortfunden als Zeugnisse ritueller Phänomena auch nicht um ein bloßes Ausschlusskriterium nach dem
Prinzip, wenn manche Horte nicht wirtschaftlich zu deuten sind, dann müssen sie rituell gedeutet werden. Das ist ursprungslogisch: Wenn ein Phänomen nicht auf den einen Ursprung zurückgeht, dann muss es auf einen ihm
eigenen anderen Ursprung zurückgeführt werden. Das ist ein interessanter
Punkt, der aus der Dux’schen Kritik der Ursprungslogik stammt, denn man
kann nicht ausschließen, dass – sagen wir einmal so: for the sake of the argument – ein Brucherzhort, den man hauptsächlich im wirtschaftlichen Kontext verstehen würde, in den Boden mit einem Amulett gelangt, das z. B. vor
einem Raub schützen sollte. Wäre die Deponierung jetzt rituell oder profan
zu deuten? Oder wären derartige Funde Zeugnisse beider Phänomena gleichzeitig? Die Miniaturbeile des Launacien der Früheisenzeit und die Ringschmuckbarren der Frühbronzezeit sind hervorragende Beispiele dafür, dass
kulturelle Überlegungen eine Rolle gleichzeitig zu metallwirtschaftlichen
spielen könnten. Die Formgebung für das Material in der erkennbaren Gestalt bekannter Gegenstände in einer Periode, wo ein Wechsel der Rohstoffquelle stattfindet (in der Frühbronzezeit von Fahlerz- zu Kupferkieskupfer
[Krause – Pernicka 1998] und in der Früheisenzeit die Einführung von Eisen
[Huth 2008]), konnte als Hinweis interpretiert werden, dass die gegenständliche Gestalt die Abnahme des alten Materials erleichtern sollte (Huth 2008,
145–146). Möglicherweise war es so, weil diese Gegenstände in anderen Kontexten, inklusive Zusammenhängen religiöser Art, wie die paarweise Niederlegung von Waffen und Beilen (Maraszek 2006), eine Funktion noch erfüllen
konnten, während das Interesse für das Metall als Rohstoff abnahm.
320 — José Eduardo M. de Medeiros
Ein Weg zur Versöhnung der unterschiedlichen Deutungsstrategien und
zum Fortschritt in der Diskussion führt dadurch, dass wir erstmal die bereits
anerkannten Gemeinsamkeiten akzeptieren. Dies wird uns allen leichter
fallen, wenn wir das Nicht-Erwähnen der Absichten für eine Weile aushalten. Der kritische Abstand gegenüber Erklärungen in subjektivischer Form,
der aus der Lektüre von Günter Dux entsteht, unterstützt diese Bemühung,
die Niederlegungsabsichten zu relativieren und Frieden zwischen den Deutungsschulen zu schließen, denn wie Thomas Kuhn bereits beobachtet hatte,
können Meinungen nicht lange divergieren in den Wissenschaften:
„Kein Wunder also, dass in den frühen Stadien der Entwicklung jeder
Wissenschaft verschiedene Leute, die sich dem gleichen Bereich von
Phänomenen, aber gewöhnlich nicht alle den gleichen Phänomenen
gegenüber sehen, sie auch auf unterschiedliche Art und Weise beschreiben und interpretieren. Was allerdings überraschend ist und
vielleicht in diesem Ausmaß auch nur auf den Gebieten vorkommt, die
wir Wissenschaft nennen, ist die Tatsache, daß solche anfänglichen
Unterschiede weitgehend verschwinden können. Sie verschwinden
tatsächlich in sehr hohem Maße, und dann anscheinend für immer.“
(Kuhn 1997, 32)
Wie dem auch sei, die Brucherzhorte machen während der Spätbronzezeit
die Regel aus und liefern den Maßstab, an dem wohl unterscheidbare Befundmengen und Ausnahmen gemessen werden. Im Vergleich dazu gibt es
tatsächlich andere Depotfunde, die seltener sind und von dieser Regelerscheinung eindeutig abweichen, wobei ein auffallender Unterschied der Zustand
der Funde ist. Es gibt z. B. Funde aus Gewässern in Spanien (Ruiz-Gálvez
Priego 1995), Italien (Sestieri u. a. 2012), Frankreich (Mohen 1977) und Großbritannien (Burgess u. a. 1972), deren Zerstörung, in der Regel durch Anwendung von Feuer, nicht auf eine handwerkliche Vorgehensweise hinweist,
weil die Größe der Stücke nicht das für ein Gußtiegel übliche Maß aufweist.
Die Fragmente aus den Brucherzhorten sind deutlich kleiner als in den genannten Beispielen und die Untersuchung des Depots von Peters Sport Field
(Needham 1990) in Egham, Südengland, hat der Annahme Kraft verliehen,
dass die Größe der Fragmente in einem Depot mit der Legierung zusammenhängt und somit mit einer Wiederverwendung im metallurgischen Verfahren. Dort waren die Horte nach Legierung getrennt deponiert und größere
Fragmente waren von einer Legierung, die sich für größere Objekte eignet,
während kleinere Fragmente von einer Legierung für kleinere Objekte. Es
gibt auch Horte, die aus technisch anspruchsvoll hergestellten Gegenständen
in gutem Erhaltungszustand bestehen. Sie sind zwar weniger häufig oder
Die Kritik an der Subjektlogik — 321
zahlreich, aber sie sind ebenso weit verbreitet. Wenigstens drei weitere Kategorien von Hortfunden sind in der Forschung bereits vorgeschlagen worden:
Waffen- (Huth 2012), Gefäß- (Metzner-Nebelsick 2003) und Schmuckhorte
(Verger u. a. 2007; Piningre 2014; de Medeiros 2021). Dennoch spielt bei der
Deutung dieser Hortfunde als Zeugnisse religiöser Handlungen nicht nur
ein Aspekt wie der Zustand der Funde eine Rolle. Es gibt eine Menge von
Faktoren wie z. B. der Ort der Deponierung, die vermutete Reversibilität oder
Irreversibilität des Depots zur Zeit der Deponierung, die Zusammensetzung
der Funde, die Repetition von Objekten einer einzigen funktionalen Kategorie, der Vergleich mit ähnlichen und mit kontrastierenden Fundsituationen
wie den Brucherzhorten – um nur einige Aspekte zu nennen –, die zusammenkommen müssen, wenn man bestimmte Deponierungen in irgendeiner
Form in einem religiösen Kontext verstehen will. Die zahlreichen Gründe,
die differenzierte Art und Vorgehensweise der Argumentationen, die man
für eine Kategorisierung dieser Fundgruppen als Zeugnisse ritueller Handlungen braucht, sind zu komplex, um sie auf diesen letzten Seiten wiederzugeben. Wichtig für die Argumentation in diesem Artikel ist Folgendes: Manche Gründe haben ganz und gar nichts mehr mit einer rituellen absichtlichen
Deponierung zu tun.
Schließlich ist der Weg der prozesslogischen Rekonstruktion (Dux 2017b,
45) die Alternative für ein Verständnis für die Objekte in den Hortfunden,
das nicht nach Niederlegungsabsichten sucht. Man geht von der ein wenig
besser bekannten Periode aus, untersucht, wie diese entstanden ist und entdeckt dabei etwas über die Praxen in der vorangehenden Periode. Wenn
man positiv zeigen will, dass einige spätbronze- und früheisenzeitliche Horte Zeugnisse ritueller Praxen sind, bleibt nichts anderes übrig, als eine Rekonstruktionslinie zu verfolgen, die von der Spätbronzezeit zur Früheisenzeit
verläuft. Die archäologischen Voraussetzungen sind die symbolischen, materiellen und kulturellen Verbindungen zwischen der Spätbronze- und Früheisenzeit, woraus Georg Kossack (1999) seine Schlüsse zog. Der methodische
Zugang ist eine „Rekonstruktion“ (Dux 2017b, 45): Man betrachtet die durch
die Quellenlage besser beobachtbaren rituellen Zeugnisse der Eisenzeit, geht
hinter dieser Periode zurück, um die Gründe zu erschließen, warum die rituellen Formen der Eisenzeit so aussehen wie sie aussehen. Dabei werden die
systemischen Verknüpfungen wahrnehmbar, die die rituellen Formen in der
Spätbronzezeit prägen und in der Früheisenzeit wieder entstehen, wie die
durch Gegenstände vermittelte Beziehung zum Numinosen (Huth 2011, 8).
Strukturell betrachtet, könnte man den kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Perioden der Spätbronze- und Früheisenzeit sogar weniger
Wichtigkeit beimessen und sich an die Idee der „Analogien“ (Eggert 1998)
anlehnen. Die strukturelle Rekonstruktion wäre jedenfalls aus zwei Gründen
322 — José Eduardo M. de Medeiros
möglich: Gesellschaften lassen sich auf einer virtuellen Linie der Weiterentwicklung kognitiver Formen anordnen (Dux 2017b, 89), und „wenn weiter
die kategoriale Ausgangslage gleich ist und die Entwicklung nur durch Zuerwerb von Wissen erfolgt, dann dürfen wir strukturell eine allerwärts gleiche Entwicklungslogik erwarten, notabene: strukturell, nicht auf der semantischen Ebene der Ausdeutungen. Eben das sichert interkulturelles Verstehen“
(Dux 2017b, 90–91, Herv. d. Verf.). Außerdem sind wir laut Dux in der Lage,
urgeschichtliche Gesellschaften zu „verstehen“, und zwar „nicht deshalb,
weil wir den gleichen metaphysischen Trieb“ haben, sondern „weil jeder von
uns in der Ontogenese von den gleichen Bedingungen ausgegangen ist und
die gleichen Strukturen ausgebildet hat“ (Dux 2017b, 91).
Das Beispiel der Schmuckhorte (de Medeiros 2021) ist in dieser Diskussion aufschlussreich. Diese verdienen als Quellenkategorie weit mehr Aufmerksamkeit als bisher, erscheinen jedoch weniger häufig als die Waffen in
den Diskussionen über rituelle Praxen der Spätbronzezeit. Diesen Umstand
kann man, angelehnt an das Zusammenspiel von historischen Aspekten und
Momenten der Subjektbildung in der Dux’schen Theorie, auf eine in der Regel männliche, moderne Voreingenommenheit zurückführen (de Medeiros
2021, 115–120). Im Schmuckhort trésor du Déroc von Vallon-Pont-d’Arc (dép.
Ardèche, FR) (Roudil 1990) wurde ein Collier aus 150 Bronzeperlen und
25 Bernsteinperlen zusammen mit einem Bärenzahn gefunden; außerdem
Ringanhänger, Armringe aus Bronze und aus Lignit, 170 Bronzeringchen,
18 Knöpfe und zwei sphéroide. Diesen Schmuckhort hat man aus einer Höhle
geborgen. Handelt es sich um eine Deponierung an einem rituellen, liminalen Ort oder um ein Versteck für wertvolle Stücke? Das Depot von La Motte
(dép. Hérault, FR) ist in einem Fluss entdeckt worden (Verger u. a. 2007) und
enthält Gegenstände, die einen vollständigen Satz an Kleidungsbestandteilen
und Schmuck für den gesamten Körper umfassen könnten: Ohrringe für den
Kopf, drei Torquen in unterschiedlichen Größen als Halsschmuck; eine weitere große sechsreihige Halskette; ein Gürtel, der wahrscheinlich aus Leder
bestand und mit konischen Beschlägen verziert wurde und dessen Schließe
erhalten ist. Eine gegliederte Kette mit eventuell anthropomorphen Anhängern dürfte unterhalb des Gürtels angebracht worden sein. Es gibt noch Armund Beinringe, Bronzeröhren und eine runde Scheibe, für die man anhand
von Vergleichen mit Frauengräbern in Italien eine Nutzung am unteren Teil
des Kleids vermutet (Verger u. a. 2007, 145). Es ist möglich, dass es sich dabei
um einen verlagerten Siedlungsfund handelt (Verger u. a. 2007). Eindeutige
und endgültige Beweise fehlen sowohl für eine absichtliche Deponierung im
Fluss als auch für die These eines bewegten Siedlungsfunds. Somit haben wir
hier den exemplarischen Hortfund: positive Auswahl (die Objekte sind aufgrund menschlicher Handlung in eine Holzkiste gesetzt) aus unbekannten
Die Kritik an der Subjektlogik — 323
Gründen (der Kontext, aus dem das Entdeckte kommt, ist nicht eindeutig
zuzuordnen). Zeugt dieses Depot jetzt vom Reichtum in einer Siedlung oder
doch von einer Weihegabe an eine Gottheit im Fluss? Darüber hinaus ist es
schwierig, nach einem Grund zu suchen, warum diese Objekte im Boden
bzw. im Fluss verbleiben, obgleich sie Rohstoff liefern könnten und auch in
kulturellen Zusammenhängen wie z. B. als Erbstücke weiter Verwendung
hätten finden können. Wenn man nach einem Kontext sucht, der wenigstens
die Existenz derartiger Schmuckausstattungen erklären könnte, sind Überlegungen nach dem wirtschaftlichen oder rituellen Grund für den Verbleib im
Boden nicht unbedingt notwendig. Die Einseitigkeit der Deponierung (nur
Schmuckstücke) und die Geschlossenheit einiger Funde (z. B. war La Motte
laut Grabungsbericht unter außergewöhnlich guten Beobachtungsbedingungen in einer Holzkiste aufbewahrt, Blanot [Thévenot 1991] und Mathay in
Gefäßen [Piningre 2014]) sprechen dafür, dass sie als zusammenhängendes
Ensemble zu sehen sind (vgl. die Argumentation in Verger 1998). Das Gewicht der Ausstattungen, das kaum für eine alltägliche Nutzung tauglich ist,
und die Tatsache, dass die Schmuckobjekte viele Körperteile bedecken würden, weisen zudem darauf hin, dass es sich um besondere Kleidungen handelt, die nicht für den Alltag gedacht waren (vgl. Milcent 2004). Wenn man
sieht, welche Bedeutung Kleidung und Textilherstellung in der Früheisenzeit hatten (Norman 2011; Huth – Kondziella 2017), wie sehr die Anhänger
der spätbronzezeitlichen Schmuckobjekte aus den Depots der Hautes-Alpes,
Mathay, La Motte und Blanot an Webgewichte erinnern (Lorin 2020), wie
in der bildlichen Überlieferung der Hallstattzeit Kleidung auch übervoll mit
Ringschmuck (wie in Sopron, Ungarn; Huth 2017) dargestellt worden ist, und
Textilherstellung hoheitlich inszeniert sowie mit Hochzeitsnarrativen in Verbindung gesetzt werden können (Huth 2003, insb. Taf. 80–81), liegt die Vermutung nahe, dass diese Hortfunde Zeugnis von Hochzeitskleidung ablegen.
In diesen Kontexten dienen derartige Ausstattungen gerade aufgrund des materiellen Reichtums vielleicht für eine rituelle Legitimation der matrilinearen
Gemeinschaften, die in beiden Perioden existiert haben könnte (Bräuning
2009). Dies könnte der Fall sein, wenn z. B. diese Ensembles, ähnlich wie die
Rolle von Textilien in der Eisenzeit (Huth – Kondziella 2017), auch als Mitgift fungieren. Ob diese Hortfunde selbst Weihegaben, „Totenschätze“ oder
„Selbstausstattungen“ (Huth 1997, 188) waren, die mit Absicht deponiert
worden sind, spielt in dieser Interpretation keine Rolle. Trotzdem werden
sie als Zeugnisse ritueller Praxen gesehen und bereichern das Bild der Periode um Elemente, die die Kooperation und Vereinigung von Gemeinschaften
und nicht nur das Agonale der Waffen betonen. Analogien (vgl. Eggert 1998)
zu anderen matrilinearen Gemeinschaften helfen da weiter. Diese Analogien sind strukturell durch den Anfang der Konstruktion von Wissen in der
324 — José Eduardo M. de Medeiros
Ontogenese begründet (Dux 2017b, 89–91). Bei den Minangkabau in Sumatra
ist es üblich für eine Braut, bei der Hochzeit eine Krone von ca. 6 kg auf dem
Kopf zu tragen (Baldizzone – Baldizzone 2001). In Marokko, wo sich die Gesellschaft anders als die Minangkabau in Sumatra organisiert, erscheint die
Braut vollständig bedeckt mit Schmuck, während der Mann schlichter auftritt (Baldizzone – Baldizzone 2001, 182).
Die Frage hier ist jedoch eine andere: Warum spielen diese schwer wiegenden Teile eine Rolle für Braut, Bräutigam, Familie und Zuschauer*innen? Warum sollten schwer wiegende Schmuckausstattungen, die im Alltag
kaum Bewegungen erlauben, überhaupt eine Bedeutung haben, die für diese
unterschiedlichen Gemeinschaften ersichtlich ist und sinnvoll wirkt? Wenn
sie – wie aus den ethnologischen Beispielen bekannt – von der Matrilinie
als Mitgift an die nächste Generation weitergegeben werden, dann gilt dies
ursprungslogisch – hier wende ich Dux wieder an – als eine Legitimation
der Würde der Frauenlinie. Wer einen Ursprung teilt, erscheint substanzlogisch in einer Verbindung von Teilidentität. Das Gewicht und die Kunstfertigkeit drückt ganz konkret einen Reichtum aus, der in einer Beziehung
der Menschen zu subjektivischen Agenzien entstanden ist. Diese können
Ahnen, Gött*innen, Kulturheld*innen, Geister, Dämonen oder die Familienmitglieder sein. Die Unterscheidung spielt erstmal keine Rolle (z. B. Sahlins
[2019] und Strathern [2019] benutzen dafür den allgemeinen Begriff der
Metapersonen). Wichtig ist – um mit Dux weiter zu argumentieren – das
handlungslogische Moment: Das Denken sucht in Agenzien einen Grund
für den Reichtum und diese Agenzien sind genauso kräftig wie der Wohlstand, den sie hervorbringen.
Eine kulturelle Rolle als Mitgift oder Erbstück und die Tatsachen, dass es
sich bei den Schmuckensembles um Produkte von großer technischer Kunstfertigkeit handelt und die Aufmerksamkeit der Forschung für Schmuck noch
ansteigt,14 helfen, die Seltenheit dieser Funde zu verstehen. Wertvolle Mitgiften gehen nur selten verloren. In La Motte war es wahrscheinlich doch ein
14 Dass die letzten wichtigen Entdeckungen in Frankreich waren, kann ich nicht
mit prähistorischen Auswahlprozessen eindeutig verbinden. Für eine statistische
Klärung dieser quellenkritischen Fragen gibt es zu wenige Funde. Auf jeden Fall
hat die französische Forschung das Thema Schmuck stärker hervorgehoben. Autor*innen wie Louis Bonnamour (2000), Pierre-Yves Milcent (2004), Annie Dumont
(Dumont – Benoit 2006) und Stéphane Verger (Verger – Pernet 2013) haben in den
letzten Jahren die Diskussion um Schmuckhorte als historisch bedeutsame Quelle
in den Vordergrund gebracht (Verger u. a. 2007). Ob sie das tun, weil es dort mehr
Funde gibt, oder ob es dort mehr Funde gibt, weil sie sich auch darauf konzentrieren, ist im Moment schwer zu beurteilen.
Die Kritik an der Subjektlogik — 325
Unfall, wahrscheinlich eine Überschwemmung, die diese Funde in den Fluss
brachte. Die Frage, ob Schmuckhorte rituelle Deponierungen sind, lässt sich
für viele Depotfunde nicht eindeutig beantworten – mit Ausnahme von den
Horten im Départment Hautes-Alpes in Frankreich. Der Deponierungsort in
großer Höhe über 1000 m und die Häufung mehrerer Deponierungen dort
könnte man analog zu den Waffenhorten am wahrscheinlichsten als rituelle Deponierungen deuten. Interessanterweise war Jacques-Claude Courtois
(1960), der als einer der ersten die Schmuckfunde in der Region zusammen
betrachtet hatte, einer ganz anderen Meinung. Er glaubte, die Horte aus der
Region dienten nur als Rohstoffreservoir. Es kann sein, dass ich mich in den
Absichten für das Phänomen in den Hautes-Alpes irre – die Erklärung für
das Vorhandensein sonderbarer Schmuckensembles als im Rahmen von Mitgift- und Hochzeitspraxen, die bis in die Eisenzeit belegt sind, verliert dadurch nicht an Argumentationskraft.
Anstatt von den Niederlegungsabsichten aus zu argumentieren, geht
diese Argumentation von den Elementen aus, die unterschiedliche Archäolog*innen für die Früheisenzeit akzeptieren, und verfolgt eine Entwicklungslinie der Hochzeitspraxen mit besonderer Kleidung von der vorangegangenen Periode zu der nächsten. Der Rahmen dieser Praxen gibt einen
Richtungssinn für die Interpretation dieser Schmuckhorte, ohne sich dabei
auf Diskussionen über die konkreten Absichten, für die Auswahl, für die
Deponierung oder für den Verbleib im Boden einzulassen. Dieses rekonstruktive Verfahren im Umgang mit Hortfunden übernimmt zwei Einsichten
von Dux’ Werk: die Idee der Rekonstruktion und die Kritik an absichtstheoretischen Ansätzen. Es respektiert den Aussagewert der Quelle, nämlich die
Grenzen einer negativ definierten Kategorie. Aber es erlaubt uns trotz einer
negativ definierten Quellenkategorie Einblicke in die Periode. Vor allem ermöglicht es einen offenen Blick auf die Vielfalt der Hortfunde, denn es gibt
nicht mehr nur eine Absicht oder nur einen Handlungszusammenhang, der
alle Depotfunde erklärt.
Letztlich gibt es eine Reihe von Fragen, bei deren Beantwortung die
Dux’sche Methode helfen kann. Wenn es Deponierungen ritueller Art gibt,
wie z. B. die Waffen aus den Flüssen (Huth 2012) oder die Nadeln aus den
Seen (Fischer 2012; 2016), verstehen wir dann wirklich, warum diese Handlungsformen für die Menschen damals sinnvoll erschienen? Die Dux’sche
Theorie gibt uns einen Hinweis: Es gibt eine identitätslogische Beziehung
zwischen Emanation und Substanz, Subjekt und seinen Aspekten. Ob ein
Schwert in den Fluss gelangt aus Dankbarkeit für eine bereits vorangegangene Gunst einer numinosen Macht oder als Fürbitte um einen zukünftigen Gefallen, spielt dann für dieses strukturelle Verständnis keine große Rolle mehr.
Ich verurteile nicht, dass man es wissen möchte. Aber aus der Kritik an der
326 — José Eduardo M. de Medeiros
Subjektlogik lernen wir, dass es aus wissenschaftlicher Perspektive kein Versagen ist, dass wir es nicht konkret wissen. Verstehen wir wirklich, warum
an Orten wie Flüssen, Felsspalten oder Höhlen deponiert wurde? Warum ist
das sinnvoll in der Lebenswelt der anderen? Hier kann die Dux’sche Theorie
wieder helfen. Es gibt eine Tiefendimension, die in einen Grund der Welt
führt – wie auch immer der Grund konkret aussieht. Es gibt diese Dimension, weil der Anfang der Handlung in einer Subjektivität gesehen werden
kann (Dux 2017b, 73–76; 2017c, 179). Woher kommt es, dass man so denkt?
Es sind Denkmuster, die im interaktiven Umfeld jedes Neugeborenen von jedem Kind selbst und eigenständig konstruiert werden. Auch wir entwickeln
das Muster. Das sind aber interpretative Konsequenzen, die ich hier nicht
ausführlicher beschreiben kann, aber ich möchte sie unbedingt erwähnen,
weil sie den Reichtum an Ideen aus Dux’ Werk ausmachen.
Selbst wenn man die Interpretationen, die ich oben nicht vermeiden konnte, nicht glauben will, kann eine Kritik an der subjektivischen Logik Archäolog*innen in vielen anderen Aspekten der Hortfunddiskussion einigen. Die
von Dux übernommene historisch-genetische Theorie schlägt eine Veränderung der Erklärungsstruktur vor – weg von der Suche nach einem absoluten
Grund in der Form von Absichten (vgl. Bernbeck 2003), die alle weiteren Erklärungen sinnlos machen, hin zur Untersuchung der Bedingungen, die eine
bestimmte Erscheinung wie die Hortfunde möglich machen. Eine Argumentation über Absichten und Motivationen muss so gesehen fehlgehen, weil diese
für uns nicht mehr nachvollziehbar sein können (auch per definitionem wie
beim Beispiel der Hortfunde). Mit der Anwendung der prozessualen Logik
verändert sich die Fragestellung an das archäologische Material. In diesem
Kontext ist die Kritik an der subjektivischen Erklärungslogik vor allem als
Befreiung gedacht, und zwar für alle, die sich mit Hortfunden beschäftigen.
Denn solange Archäolog*innen Interpretationen im Muster der subjektivischen Erklärung für sinnvoll halten, werden sie über einheitliche Deutungen
für alle Funde diskutieren. Die Diskussion kommt nur zur Ruhe, wenn ein
letzter Grund, eine letzte Absicht genannt werden kann. Da jede*r Forscher*in
einen Vorschlag hat und die Funde dieses auch nicht kategorisch widerlegen,
werden die Vorschläge divergieren und die Diskussionen fortlaufen. Die Theorien, die man gewöhnlich für ‚die Deutungen‘ der Hortfunde hält, im Gegensatz zu der empirischen Material- oder Befundanalyse, halten sich häufig an
den Absichten, Zielen und Motivationen einer als einmalig, fest und stabil
angesehenen Deponierungshandlung fest. Die Deponierungshandlung soll als
Prinzip dienen, woraus sich die Erklärung für alle anderen Elemente der zur
Deponierung führenden Prozesse ableiten lässt. Die Fixierung auf die Absichten hinter der Tat ist dadurch zu erklären, dass die archäologische Forschung
den Strukturwechsel der Explikation (Dux 2018a) nur langsam vollzieht.
Die Kritik an der Subjektlogik — 327
Fazit
Dieser Artikel stellte die Theorie des Soziologen Günter Dux vor und versuchte, einige Konsequenzen hieraus für die urgeschichtliche Archäologie zu
verarbeiten. Die Rezeption seiner Theorie erfolgt zögerlich, aber sie ist aus
mehreren Gründen wichtig. Sie beschreibt eine subjektivische Handlungslogik, die in ihrer Struktur eine Vielzahl an Ideen für die Interpretation urgeschichtlicher Phänomena ermöglicht. Gleichzeitig geht seine Theorie mit
einer Erkenntniskritik derselben Logik einher, die Folgen für die archäologische Interpretation im Allgemeinen und für die Deutung der Hortfunde der
Spätbronze- und Früheisenzeit im Speziellen zeitigt. In diesem Text ging es
hauptsächlich um die erkenntniskritischen Konsequenzen.
Diese erkenntnistheoretische Kritik richtet sich gegen den Versuch, einen
Sachverhalt zu erklären, indem man ihn in die Absicht eines Subjekts zurückverlagert. Die Schwierigkeiten, die ein absichtstheoretischer Zugang zur
archäologischen Quelle bereitet, werden deutlich in den Diskussionen um
die richtige Deutung der Hortfunde der Spätbronze- und Früheisenzeit. Die
Einsicht, dass die Deutungsdivergenzen aus der Erwartung entstehen, eine
Erklärung in der Form von Absichten zu finden, und die auf die Dux’sche
Theorie zurückgehende kritische Auseinandersetzung mit dieser Subjektlogik führte zu einer Relativierung der Niederlegungsabsicht als heuristisches
Werkzeug im Umgang mit den Hortfunden.
Darüber hinaus geht die Kritik an der subjektivischen Logik davon aus,
dass unsere Zeit einen Wechsel in der Erklärungslogik vollzogen hat, nämlich von einem subjektivischen zu einem prozesslogischen Denken. Im
Gegensatz zu einer absichtstheoretischen Perspektive versucht eine prozesslogische Rekonstruktion, die Entwicklungslinie sozialer Praxen nachzuvollziehen. Im Rahmen dieser Praxen können einige Depotfunde sinnvoll
erscheinen. Beispielsweise könnten die Schmuckhorte der Spätbronzezeit als
Zeugnisse von Hochzeits- und Mitgiftpraxen gedeutet werden, die für die
Früheisenzeit belegt sind. Diese prozesslogische Methode lässt einige Fragen
offen, wie die Frage nach dem konkreten und ereignisgeschichtlichen Grund
für die Niederlegung oder für den Verbleib der Depotfunde im Boden. Auf
der einen Seite verstehen wir nach der Kritik an der Subjektlogik, warum
die Suche nach Antworten für diese Fragen nicht überschätzt werden sollte.
Andererseits spiegeln diese Schwierigkeiten gerade das Faszinierende an den
Hortfunden wider: Als positive Auswahl aus unbekannten Gründen können
sie immer wieder neu untersucht werden, damit wir zu neuen Erkenntnissen
gelangen.
328 — José Eduardo M. de Medeiros
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José Eduardo M. de Medeiros | je_medeiros@id.uff.br
Kinosophische Archäologie.
Archäologie verstehen durch Kino,
Philosophie und Literatur
Aleksander Dzbyński
Zusammenfassung Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Gedankenexperiment, in dem die prozessuale Archäologie durch das Prisma der kinosophischen Imagination betrachtet wird und aus dieser Blickrichtung neue
Bedeutungszusammenhänge hervorgebracht werden. Kinosophische Imagination betrifft das, was wir normalerweise tun, wenn wir Filme interpretieren
und dabei verschiedene philosophische Denkrichtungen mitberücksichtigen.
Kurzum kann man sich das ganze Gedankenexperiment als Was-wäre-wennFrage vorstellen. Im folgenden Beitrag wird grundsätzlich eine konkrete Frage gestellt: Was wäre, wenn wir die prozessuale Archäologie als einen Film
betrachten? Diese Frage ist umso berechtigter, als Lewis Binford, einer der
Gründer der prozessualen Archäologie, selber filmische Metaphern anwendete und zwar dann, wenn er versuchte, zentrale Probleme seiner Theorie
darzustellen. Im ersten Teil des Beitrags wird also die Idee eines ‚vibrant life‘
besprochen, welche Binford im Zentrum seiner Theorie der mittleren Reichweite (middle range theory) stellt. Anschließend komme ich dazu, die Problematik der Fakten in der Archäologie zu besprechen, gefiltert durch die Bildtheorie von Ludwig Wittgenstein. Man kann hier ähnliche Denkmuster im
Denken von Binford und Wittgenstein verfolgen. Desweiteren wird auf das
Problem der pastness eingegangen, und im Speziellen wird hier die Frage gestellt, ob Vergänglichkeit Geschichtlichkeit simuliert oder sogar missverstanden werden kann? Diese Problematik wird mit Hilfe einer polnischen Komödie beleuchtet, in der sowohl Artefakte, Theorien, als auch Archäolog*innen
eine wichtige Rolle spielen.
Schlüsselbegriffe Theorie der mittleren Reichweite; Lewis Binford;
Bildtheorie; Ludwig Wittgenstein; Kino; geselliges Trinken; Andrew
Sherratt; Philip K. Dick
Aleksander Dzbyński, Kinosophische Archäologie. Archäologie verstehen durch Kino, Philosophie
und Literatur, in: Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie |
Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der
Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 335–353. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15029
335
336 — Aleksander Dzbyński
Abstract There is no need to query whether philosophy goes hand in hand
with archaeology. All previous theoretical trends in archaeology drew from
philosophical thinking. Therefore, philosophy is primary in archaeological
reflection. But can we add cinema and literature to this equation? Of course
we can. In such a consideration, philosophy remains primary, but cinema and
literature slide between philosophy and archaeology. This approach can be
called cinematosophical. Is it a successful and valuable approach? It is hard
to say, but some philosophers suggest that it offers a unique perspective that
sometimes reveals more than we might expect (Žižek 1992). The article takes
such a cinematosophical approach, and offers insight into archaeology from
a different perspective. From this unique vantage point, we can for example
observe that processualism and post-processualism are not as far apart as is at
first apparent, or as is presented in academic textbooks. Some archaeologists
have known this for a long time, and have proposed unification programs.
Of course, such proposals can also be subjected to a cinematosophical analysis, and questioned as to whether such unification is possible. Perhaps it
is ‘theoretically’ possible, but we still have some problems with recognising
the conditions for the production of archaeological knowledge that occur at
a different level from that to which everyone officially refers. It can be also
said that the cinematosophical approach is not fundamentally new. It was
anticipated by one of the fathers of processual archaeology, Lewis Binford.
Binford wanted to ‘shoot’ documentary films about the past, in which we
could observe the “vibrant life” of our ancestors. Going further along this
path, one can even say that the whole history of archaeology is more closely
associated with cinema than we might expect.
Keywords Middle Range Theory; Lewis Binford; Picture Theory; Ludwig
Wittgenstein; Cinema; Drinking Together; Andrew Sherratt; Philip K. Dick
Einleitung 1
Es erübrigt sich zu fragen, ob die Philosophie mit der Archäologie Hand in
Hand geht. Alle bisherigen theoretischen Strömungen in der Archäologie
schöpften aus dem philosophischen Denken. Deshalb steht die Philosophie
in der archäologischen Reflexion an erster Stelle. Was wäre jedoch, wenn wir
zusätzlich auch Kino und Literatur dafür nutzen, die archäologische Denkweise zu beleuchten? In diesem Fall würde immer noch die Philosophie an
1
Dieser Beitrag ist eine Ausarbeitung der Thesen, die ich bereits in Cinematosophical Introduction to the Theory of Archaeology. Understanding Archaeology Through
Cinema, Philosophy, Literature and some Incongruous Extremes (Dzbyński 2020)
ausführlich darstelle und kontextualisiere.
Kinosophische Archäologie — 337
erster Stelle stehen, aber Kino und Literatur würden sich zwischen Philosophie und Archäologie einfügen. Weil die Literatur, die ich hier meine, oft
auch verfilmt wird, könnte man diesen Ansatz demzufolge als kinosophisch
bezeichnen.
Es handelt sich also um ein Gedankenexperiment. Ob es ein erfolgreicher und wertvoller Ansatz sein wird, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall
behaupten einige Philosoph*innen, dass der kinosophische Ansatz einen
‚schiefen Blick‘ bietet, der manchmal mehr zeigt, als wir von ihm in erster Linie erwarten könnten (Žižek 1992). Der vorliegende Beitrag ist mit
diesem kinosophischen Ansatz verbunden und bietet einen Einblick in die
Archäologie aus einer anderen Perspektive. Dank dessen können wir zum
Beispiel sehen, dass Prozessualismus und Postprozessualismus nicht so weit
auseinander liegen, wie es auf den ersten Blick scheint oder wie dies in den
akademischen Lehrbüchern dargestellt wird. Einige Archäolog*innen haben
dies offensichtlich schon lange gewusst und folglich Vereinheitlichungsvorschläge unterbreitet (Bintliff 1993). Natürlich kann man solche Vorschläge
auch einer kinosophischen Analyse unterziehen und sich fragen, ob eine
derartige Vereinheitlichung überhaupt möglich ist. Vielleicht ist sie ‚theoretisch‘ möglich, aber wir haben immer noch einige Probleme damit, die
Bedingungen der Produktion des archäologischen Wissens zu erkennen, die
auf einer anderen Ebene stattfinden als die, auf die sich alle Beteiligten offiziell beziehen. Man könnte natürlich ganz provokativ sagen – aber darum
geht es hier letztendlich – dass der kinosophische Ansatz nicht grundlegend
neu ist. Er wurde bereits von einem der ‚Väter‘ der prozessualen Archäologie vorweggenommen: Lewis Binford. Wenn wir Archäolog*innen uns in
seine Texte einlesen, stellen wir fest, dass Binford filmische Metaphern anwendet und zwar dann, wenn er versucht, zentrale Probleme seiner Theorie
darzustellen. Ich möchte also noch einen zusätzlichen Schritt wagen und
behaupten, dass Binford Dokumentarfilme über die Vergangenheit ‚drehen‘
wollte, in denen wir das ‚pulsierende Leben‘ (vibrant life) unserer Vorfahren
beobachten könnten. Folgt man dieser Spur ein Stück weiter, kann man sogar sagen, dass die gesamte Geschichte der Archäologie mehr mit dem Kino
verbunden ist, als wir normalerweise erwarten würden – dies ist jedoch eine
andere Geschichte.
Lewis Binford als Filmemacher
Sein Ziel war es, eine universelle Methode zur Erlangung objektiver Erkenntnisse (wie in den Naturwissenschaften) zu schaffen, die eine konstante
Verbindung zwischen Beobachtung und Theorie darstellt (Binford 1962). Er
338 — Aleksander Dzbyński
bezeichnete sie als Theorie der mittleren Reichweite (middle range theory).
Aber wie kann man prähistorische Gesellschaften beobachten? Wie kann
man diese Theorie an Menschen testen, die schon vor mehreren tausend Jahren gestorben sind? Binfords Lösung war eigentlich genial. Eines der Axiome
der New Archaeology, die Binford mitgestaltete, besagte, dass die Umweltbedingungen die materielle Kultur bestimmen. Es war also notwendig, zeitgenössische Gesellschaften zu finden, die, so glaubte man, noch unter ähnlichen Bedingungen existieren wie die, die schon lange gestorben sind, und
gewissermaßen ersatzweise die noch existierenden zu beobachten. Die Überprüfung bestand darin, die Abhängigkeiten zwischen menschlichem Verhalten und den materiellen Überresten dieses Verhaltens zu erfassen. Damit
sollten sich spezialisierte Forscher*innen befassen – die sogenannten EthnoArchäolog*innen. Binford schrieb:
„Let me give an example. One very common class of finds made by
archaeologists is stone tools. Since we hope to gain a better understanding of the context in which men make, use and dispose of stone
tools, it would naturally be very helpful to see some people using them.
This, indeed, was the concern that sent me into the central desert of
Australia several years ago, to do fieldwork among a group of people
who knew about stone tools and periodically did still use them for
various purposes. I hoped to be able to relate information about the
actual behavior of these people (the dynamics) to the consequences of
that behavior, as seen in the distribution, design and modification of
stone tools (the statics). […] My aim was to study the relation between
statics and dynamics in a modern setting. If understood in great detail,
it would give us a kind of Rosetta Stone: a way of ‘translating’ the static, material stone tools found on an archaeological site into the vibrant
life of a group of people who in fact left them there.“ (Binford 1983, 24)
Mit anderen Worten: So wie der Stein von Rosetta mit seiner Inschrift in
drei antiken Sprachen den modernen Linguist*innen erlaubte, die ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern, sollten die Archäolog*innen die Theorie
der mittleren Reichweite verwenden (eine Art Rosetta-Stein), die das ‚vibrant
life‘ der Menschen aus der Vergangenheit rekonstruieren wird.
Was sind aber statische und dynamische Daten? Archäologische Daten:
Steine, Knochen, Keramikfragmente schaffen eine statische ‚Aufzeichnung‘
in der Gegenwart. Archäologen*innen registrieren ihren Standort und die Anordnung im Boden, aber letztlich sind sie nicht an ihrer statischen Beschreibung interessiert, sondern an der Dynamik der vorgeschichtlichen Gemeinschaften, die diese Muster hinterlassen haben. Sie müssen diese Dynamik zu
Kinosophische Archäologie — 339
dem Muster hinzufügen, basierend auf dem aktualistischen Prinzip, das besagt, dass sich Gemeinschaften mehr oder weniger gleich verhalten, egal ob
sie aus der Vergangenheit stammen oder in der Gegenwart leben. Nehmen
wir zum Beispiel an, dass wir einen Friedhof ausgraben, der aus einer kleinen
Anzahl ‚reich‘ ausgestatteter Gräber und aus einer großen Anzahl ‚arm‘ ausgestatteter Gräber besteht (statische Daten). Daraus schließen wir, dass es in
dieser Gesellschaft eine soziale Ungleichheit gab (dynamische Daten). Dabei
gehen wir davon aus, dass es in beiden Fällen einen ‚mittleren‘ Zusammenhang zwischen der Anzahl bzw. dem Wert der Gegenstände in den Gräbern
und dem sozialen Status der bestatteten Person gab und auf diese Weise wird
das erste Axiom der Theorie mittlerer Reichweite erfüllt.
Binford argumentierte, dass im Grunde jede*r Archäolog*in die Prinzipien der Theorie mittlerer Reichweite mehr oder weniger bewusst anwendet, d. h. wir schlagen ständig Versionen der Beziehung zwischen statischen
Daten und sozialer Dynamik vor und konstruieren dabei unbewusst Annahmen mittlerer Reichweite. Daher sollte die Aufgabe der New Archaeology nur darin bestehen, die Forschungsabläufe zu formalisieren, um die von
den Archäolog*innen verwendeten Begriffe zu klären, z. B. die Einteilung in
einfache und komplexe Siedlungen, reiche und arme Gräber usw. Die meisten Archäolog*innen, argumentierte Binford, verwenden diese Begriffe auf
der Basis des ‚gesunden Menschenverstandes‘, aber der gesunde Menschenverstand, wendete er ein, ist heutzutage nicht das beste Werkzeug der Forschung (Binford 1983).
Die prozessuale Archäologie war eine Revolution für das Denken über
die Vergangenheit, aber mit der Zeit begannen auch Kritiker*innen aufzutauchen. Die Universalität der Gesetze, nach welchen die Gemeinschaften
auf die Umwelt reagieren, wurde hinterfragt. Wir würden nie wissen, ob die
Annahme des Aktualismus in jedem Fall gleichermaßen zutrifft. Wenn ich
ein Befund als Vorratsgrube interpretiere und zeige, dass es 5, 10 oder sogar
15 diagnostische Merkmale mit bekannten Vorratsgruben teilt, ist es immer
noch möglich, eine andere Interpretation dieses Befunds zu liefern ( Johnson
2013, 79). Einige Kritiker*innen behaupteten schließlich, dass die Theorie
mittlerer Reichweite eine Revolution im technischen sowie methodischen
Bereich darstellt und daher eigentlich keine Theorie ist (Trigger 1994, 312).
Das ist eine interessante Aussage, denn wenn man mehr darüber nachdenkt,
kann man die middle range theory eigentlich als einen Versuch betrachten,
eine universelle Maschine für die Interpretation archäologischer Daten zu
bauen – als Versuch, einen universellen Algorithmus zu konstruieren, der
jedes Mal ein objektives Analyseergebnis liefert. Nicht umsonst spuckten die
in der New Archaeology zum ersten Mal eingesetzten Computer ausgiebig
Diagramme, Tabellen und Erklärungsmodelle aus.
340 — Aleksander Dzbyński
Versuchen wir es nun mit dem kinosophischen Ansatz. Statische Daten
sind Einzelaufnahmen mit einer Kamera, die ein*e Archäolog*in während
seiner oder ihrer Arbeit bei einer Ausgrabung / in einer archäologischen Stätte macht – es sind hunderte, manchmal tausende. Dann gehen die EthnoArchäolog*innen in die benachbarten Siedlungen und Dörfer der ansässigen
Bewohner*innen und suchen nach vergleichbaren Aufnahmen von Gebäuden, Werkzeugen, Plätzen usw. Sie fertigen wieder eine Serie von Fotos an,
mit dem Unterschied, dass darauf diesmal lebende Menschen erscheinen, wie
sie ihre alltäglichen Tätigkeiten ausführen. Dadurch können die Forscher*innen diese beiden Fotomaterialien abgleichen, sogar aufeinanderlegen und
die menschlichen Handlungen hier und jetzt mit den an den archäologischen
Stätten hinterlassenen Muster abgleichen. Bei besonders günstigen Bedingungen könnten sie sogar aus diesem Material einen Film ‚drehen‘, der das
‚vibrant life‘ zeigt, wie es sich Binford wünschte.
Man sollte übrigens beachten, dass die Geschichte der Archäologie, um
in der Sphäre der Filmographie zu bleiben, die Geschichte des Films selbst
zu imitieren scheint. Die kulturhistorische Archäologie Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts hat nur Standbilder (Vitrinen, Zeichnungen, Stiche) aufgenommen und im Stil der Kunstgeschichte darüber nachgedacht.
Die New und die spätere Processual Archaeology lassen sich mit der neuen
Ära der Filmkamera identifizieren, als man begann, Filme zu drehen – diese bewegten Bilder, die zunächst alle faszinierten und das ‚vibrant life‘ der
Menschen widerzuspiegeln schienen. Bei der ersten öffentlichen Vorführung
dieser lebendigen Bilder, von den Gebrüdern Lumiere aufgenommen, die am
28. Dezember 1895 im Pariser Grand Caffe stattfand, wurden offenbar einige
Zuschauer*innen beim Anblick der auf sie zufahrenden Lokomotive in einen
großen Schrecken versetzt. Damals war die Kamera noch stationär auf dem
Bahnsteig positioniert, die den herannahenden Zug leise aufnahm. Diese Kamera steht für den Prozessualismus, der eine Revolution in der theoretischen
Betrachtung der Wirklichkeit war.
Mit der Zeit kam man jedoch zu der Erkenntnis, dass diese universelle
Methodik (der Prozessualismus) letztlich nur eine kleine Menge an universellen Information hergibt. So beschreiben Colin Renfrew und Paul Bahn die
Reaktion folgendermaßen:
„The wilier archaeologists, such as Kent Flannery, saw that the ‘law and
order’ school was making a mistake, and producing only ‘Mickey Mouse
laws’ of little conceivable value. Flannery’s favorite example was: ‘as the
population of a site increases, the number of storage pits will go up.’ To
which he replied, scathingly: ‘leapin lizards, Mr. Science!’.“ (Renfrew –
Bahn 2012, 476)
Kinosophische Archäologie — 341
So wie also heute niemand statische Schwarz-Weiß-Filme wie die Gebrüder
Lumiere machen sollte (außer vielleicht als Kunstexperiment), so sollte auch
niemand mehr ausschließlich den prozessualen Ansatz in der Forschung verwenden. Dies ist jedoch nur eine malerische Metapher, die nur eine Seite der
so wahrgenommenen Archäologie zeigt.
Binford, Wittgenstein und das Problem der Fakten
Ludwig Wittgenstein war ein Philosoph, dessen Ideen die Essenz des archäologischen Denkens im Allgemeinen bilden, obwohl er in diesem Zusammenhang kaum angeführt wird. Sein Denken traf ins Zentrum dessen, womit sich
die Archäologie beschäftigt, nämlich Dinge: wie wir über sie sprechen und,
noch wichtiger, wie wir über sie sprechen sollten. Wittgenstein war sehr
beunruhigt darüber, dass die Philosophie seiner Zeit in Worten, Sätzen und
Theorien versinke, die zu nichts führten und nichts bedeuteten. Die meisten
der philosophischen Probleme waren für ihn gar keine Probleme, weil sie,
wie er glaubte, nur aus dem Missverständnis der Logik unserer Sprache resultierten. Diese Ansicht vertrat er im Tractatus Logico-Philosophicus (2003
[1922]), dem einzigen Buch, das er zu seinen Lebzeiten veröffentlichte.
Viele moderne Philosoph*innen halten den Tractatus für das größte philosophische Werk des 20. Jahrhunderts. Der größte Teil dieses kleinen Buches
ist ein Versuch, zwei Fragen zu beantworten: Welche logische Struktur hat
die Sprache und was ist ihre Beziehung zur Welt? Im Grunde ist der Tractatus
als ein komplettes philosophisches System konzipiert. Es besteht aus sieben
Thesen, die auf den folgenden Seiten entwickelt werden. Wittgenstein stellte
dort fest, dass die Realität und die Sprache eine Gemeinsamkeit aufweisen –
es ist die logische Form, die es der Sprache erlaubt, die Realität abzubilden.
Die Beziehungen zwischen den Elementen der Sprache und der Wirklichkeit verlaufen so, dass einfachere logische Sätze durch logische Konstanten,
d. h. Symbole, die in der Umgangssprache durch Wörter wie ‚und‘, ‚oder‘,
‚wenn … dann‘, usw. kombiniert werden können, ausgedrückt werden. Ein
solcher Satz von Thesen wurde logischer Atomismus genannt. Die Idee
stammt von Bertrand Russell, Wittgensteins Lehrer, worin behauptet wird,
dass Zustände von Dingen (logische Atome) voneinander unabhängig sind,
ebenso wie die unabhängigen elementaren Sätze, mit denen wir über diese
Dinge sprechen. Wittgensteins Position unterscheidet sich jedoch grundlegend vom Russell’schen Ansatz, in dem die logischen Atome nur aus Namen
bestehen. Wittgenstein ging viel weiter und nahm an, dass logische Atome
Tatsachen sind, also existierende Zustände: „Die Welt ist alles, was der Fall
ist“ (1. These), schreibt der Philosoph gleich zu Beginn des Tractatus. Und er
342 — Aleksander Dzbyński
schließt die Aufzählung mit den Worten: „Wovon man nicht sprechen kann,
darüber muss man schweigen“ (7. These).
Seine Idee wurde ‚Bildtheorie‘ genannt, weil Wittgenstein behauptete,
dass ein Satz ‚die Welt auf den Prüfstand stellt‘. Das heißt, der Satz ist falsch
oder wahr, weil er ein Abbild eines bestimmten Sachverhaltes ist. Die philosophische These ist also ein Modell oder ein Bild der Zustände der Welt, während die Struktur dieser These eine mögliche Kombination von Elementen
der Realität ist. Die Welt besteht aus Tatsachen, die in gegenseitigen Beziehungen stehen. Die Tatsachen wiederum spiegeln sich sprachlich in Sätzen
wider. Die Beziehung zwischen Sätzen und Tatsachen ist von signifikanter
Natur, denn sie ist es, die einen Sinn herstellt. Die Sprache reflektiert also die
Welt, und ihre logische Struktur reflektiert die logische Struktur der Welt.
Heißt das, dass es nichts gibt, was Wert und Bedeutung hat, aber nicht ausdrückbar ist? Das mag sein. In der Philosophie und vielleicht auch in der
Archäologie gilt jedoch: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss
man schweigen.“
Der Tractatus Logico-Philosophicus könnte sicherlich als die Bibel einer
Archäologie der Tatsachen betrachtet werden, oder zumindest als eines
ihrer Evangelien. Die Archäologie der Tatsachen existiert formell nicht, ist
aber ein ziemlich wichtiges Element in der Erforschung der Vergangenheit.
Sie vertritt den spezifischen Glauben, dass eine atheoretische Archäologie
möglich und aufgrund der Undurchsichtigkeit der Theorie selbst sogar wünschenswert ist. Einige Archäolog*innen behaupten, dass die Vorgeschichte
aus Fakten besteht, die wir in Arte-Fakte (stellen menschliches Handeln dar)
und Öko-Fakte (stellen auch die Anwesenheit der Natur dar) unterteilen (z. B.
das Klima). Die Ablagerungen beider Tatsachen sind in der Regel Geo-Fakte,
d. h. geologische Schichten, die auch den Lauf der Zeit bezeugen. Wenige
wundern sich über die Doppelgesichtigkeit dieser Ausdrücke. Schon im Begriff des ‚Artefakts‘ wird die spezifische Künstlichkeit betont, die mit der
menschlichen Schaffung von Ereignissen verbunden ist, nicht das ‚Faktum‘
selbst. Das Artefakt ist also eine Metapher und ein Hinweis auf das menschliche Handeln bzw. auf Aktivitäten, jedoch so, wie sie heute verstanden
werden. Das ‚Faktum‘ selbst bleibt allerdings verborgen, weil es bereits im
Prozess des Entdeckens, des Betrachtens, grundlegend interpretiert wurde
(Mamzer 2004, 25).
Diese Fakten zeugen von bestimmten Ereignissen in der Vergangenheit;
(Arte- oder Öko-) Fakten sind ein objektives Bild der vergangenen Realität
und finden Unterstützung im Prinzip des Aktualismus, laut dessen behauptet
wird, dass die kulturellen Prozesse in der Vergangenheit ähnlich waren wie
die heutigen, und die Rolle der Archäolog*innen ist es, die Ereignisse genau
zu beschreiben, zu studieren und darauf basierend zu rekonstruieren. Nach
Kinosophische Archäologie — 343
dem Motto: „möge die Gegenwart der Vergangenheit dienen“ rekonstruieren
Archäolog*innen die Vergangenheit anhand von Modellen der Gegenwart.
Werkzeuge sind Werkzeuge, Häuser sind Häuser, und Gräber sind Gräber,
und es hat keinen Sinn, sich einzureden, dass sie etwas anderes sein könnten,
denn das ist die logische Struktur historischer Wirklichkeit. Das ist alles, was
wir wissen können, denn „[w]ovon man nicht sprechen kann, darüber muss
man schweigen.“
Archäolog*innen wollen aber sprechen. Oft vergisst man nur, dass nicht
über die Fakten selbst gesprochen wird. Wenn es so wäre, würde der archäologische Diskurs in etwa so aussehen (Johnson 2013, 26–27):
1) Lepenski Vir ist eine mesolithische Fundstelle in Serbien.
2) Die Eisenzeit ist später als die Bronzezeit.
3) In der Dordogne, Frankreich, gibt es viele Malereien und Zeichnungen
an den Wänden oder Gewölben der Höhlen.
4) Die trichterförmigen Gefäße sind charakteristisch für die
Trichterbecherkultur.
5) In der Jungsteinzeit gab es einen Übergang zu einer sesshaften
Lebensweise.
6) Das Alter dieses Gegenstandes ist nach der 14C-Datierung ca.
5400 BP.
Was nun? „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen!“
Kommen wir zum kinosophischen Ansatz zurück. Binfords methodologischer Traum war die Möglichkeit, einen ‚Film‘ zu drehen, der sich aus zwei
Pfaden zusammensetzt: erstens geht es um Fakten und Muster, die an den
archäologischen Fundstellen beobachtet werden (statische Daten), und zweitens um Verhaltensmuster, die aus einer lebenden Gesellschaft abgeleitet
werden (dynamische Daten). Wenn wir jedoch mitberücksichtigen, was in
einem solchen ‚Film‘ sichtbar gemacht werden kann – wie mit Werkzeugen
und Gegenständen umgegangen wird – so müsste er eigentlich aus einer Abfolge von Bildern bestehen: sie kamen, sie bauten eine Siedlung, dann bauten
sie einen Tempel, eine Stadt. Später kam eine Dürre und die Stadt wurde
verlassen, vom Dschungel überwuchert, dann kamen andere Menschen und
bauten eine andere Stadt, usw.
Ist das dieses ‚vibrant life‘, dessen Rekonstruktion die prozessualen Archäolog*innen gemeint haben? Man muss kritischer darüber nachdenken,
denn jede*r weiß, dass das Leben nur scheinbar direkt so ‚vibriert‘, wie es
tatsächlich auf den Bildern erscheint. Menschen treffen sich in Cafés und
Restaurants nur scheinbar, um zu essen und zu trinken – das kann man zu
Hause auch tun. Sie besuchen diese Orte, um miteinander zu reden, sich dort
zu entspannen, wohlzufühlen, zu flirten, usw. Und gerade zum Flirten ist ein
344 — Aleksander Dzbyński
Mensch eigentlich in jeder Situation bereit, wie das beispielsweise in dem
Film Witness von Peter Weir gezeigt wird (Weir 1985). In dem Film wird der
Polizist John Book, gespielt von Harrison Ford, damit beauftragt, den Zeugen eines Verbrechens, einen achtjährigen Jungen aus der Amish-Siedlung,
zu schützen. Die Amish-Gemeinschaft ist eine konservative protestantische
Kommune, die sich durch strenge Regeln des Lebens auszeichnet. Frisuren
und Kleidung, sowohl bei Männern als auch bei Frauen, werden durch ein ungeschriebenes Gesetz, genannt Ordnung, geregelt. Sie akzeptieren keine moderne Technologie: Sie benutzen keine Elektrizität (die Orthodoxen), Autos,
Fernsehen, Fotografie und andere moderne Erfindungen. Praktisch jede*r ist
in der Landwirtschaft und dem damit verbundenen Handwerk tätig – sie leben wie traditionelle Gemeinschaften, die von Ethno-Archäolog*innen zum
Einbezug von dynamischen Daten untersucht werden sollten.
An einem Tag wird John eingeladen, beim traditionellen Bau einer Scheune mitzuhelfen und weil er sich mit Holzarbeiten auskennt, gewinnt er in den
Augen der Gemeinde Respekt. Diese organische Sozialarbeit offenbart jedoch
auch etwas anderes – die charakteristische Spannung zwischen ihm und
Rachel (Kelly McGillis), der Mutter des Jungen, wird deutlich. Dabei tut Rachel
gar nichts Besonderes: sie bedient John nur beim Essen, sie benutzt einen
Wasserkrug genau wie jede andere Frau in der Gemeinde. Dennoch spüren
wir die Spannung, die sich auf die anderen Mitglieder der Gemeinde überträgt,
dieses ‚vibrant life‘, welches sich allerdings zwischen den Fakten abspielt.
So sähe ein Film aus, den viele gerne sehen würden – ein Film, den wir
aber gemäß der oben besprochenen methodischen Annahme nicht machen
könnten. Hier scheint Binford, der ‚Schöpfer‘ der middle range theory, eine
Art Exponent des ‚späteren Wittgensteins‘ zu sein (siehe unten): Dynamik
in Statik übersetzt – das wäre eine ‚lebendige‘ Rekonstruktion der Vergangenheit, aber erst unter Berücksichtigung der Inhalte zwischen den Fakten,
außer dem, worauf man mit dem Finger zeigen oder was man sagen kann.
Wir können zwar Filme über Fakten machen, z. B. Geschichten darüber, wie
Häuser, Scheunen und Siedlungen gebaut, wie Felder angelegt wurden, Tiere
gezüchtet usw., aber ich würde das nicht als ‚lebendige‘ Erzählung bezeichnen. Das ist nur ein Bericht. Es ist, als ob uns jemand zur Party einlädt und
uns endlos Fotos aus dem Urlaub zeigt: Ankunft im Hotel, Liegen am Strand,
Einkaufen, Museumsbesuch, Eis essen usw. Das wird einfach langweilig.
Binford und Wittgenstein teilen ein wichtiges Merkmal. Beide wollten
eine universelle Methode der Interpretation der Fakten entwickeln, auf welcher unser ganzes Wissen über Realität (Wittgenstein) und Vergangenheit
(Binford) ruhen würde. Beide haben sich diese Methode als eine Verbildlichung der Sachverhalte vorgestellt. Ein weiterer Aspekt dieser theoretischen
Vorstellungen wird ersichtlich, wenn wir einige Konsequenzen aus einem
Kinosophische Archäologie — 345
solchen kinosophischen Ansatz ziehen. In gewissem Sinne wird es unnötig,
über Fakten und Sachverhalte zu sprechen, die konstant und unveränderlich
sind (die Sonne geht auf und unter, es gibt eine Ursache und Wirkung von
Handlungen, Menschen kommen und gehen, sie bauen ständig Scheunen,
Häuser und stellen Werkzeuge her usw.). Es würde genügen, mit dem Finger
auf das alles zu zeigen, was geschieht oder einfach dies in einem Film zeigen,
aber das ist nicht immer möglich. Dies sollte uns aber die Möglichkeit geben,
ein sprachliches Modell oder einen universellen Film über die Realität zu erstellen. Denn alles andere ist nur Geplapper und Spekulation. Mit anderen
Worten: Wir könnten die Welt um uns herum perfekt beschreiben, wenn sie
stillstünde oder konstant wäre, wie ein Modell oder ewig wiederholbarer
Film. Schlimmer noch, wir dürften über diesen Film nicht sprechen!
Nun, Wittgenstein hat den Fehler in seinem neuen Werk Philosophische
Untersuchungen (das nach seinem Tod veröffentlicht wurde; Wittgenstein
2019 [1953]) eingestanden. Er behandelt dort die Sprache als Teil des menschlichen Lebens und nicht als objektive Widerspiegelung derselben. Er beginnt
mit der Kritik der Sprache als Abbild (Tractatus) und behauptet, dass sie nicht
in ein kohärentes System aufgenommen werden kann (wie Gottlob Frege,
Russell und er selbst es wollten), weil die Sprache aus einer großen Anzahl
symbolischer Formen und Funktionen besteht. Man kann also sagen, dass es
keine eindeutige Beziehung zwischen der Benennung und dem Objekt gibt,
auf das sich diese Benennung bezieht, sondern dass es so viele Beziehungen
gibt, wie viele Möglichkeiten es gibt, sie zu verwenden. An die Stelle der
universellen logischen Form ist die Idee von der Vielheit der gegenseitig irreduziblen Sprachspiele (daher die Sprachspieltheorie) getreten; an die Stelle
der Bildtheorie der Begriff der Verwendung. Elementare Sätze, von deren
Existenz er in der ersten Arbeit überzeugt war, gibt es nicht mehr, während
verschiedene Aussagen über die Welt immer auf der Basis von zusammenhängenden Gruppen von Aussagen funktionieren und erst innerhalb deren
Bedeutung gewinnen. Mit anderen Worten, sie gewinnen Bedeutung nur im
Kontext anderer Äußerungen. Im Tractatus forderte Wittgenstein absolute
Klarheit der Aussage, die durch logische Analyse erfolgen sollte – es war ein
Echo von Leibnizschen Calculemus!, während in den Philosophischen Untersuchungen diese Klarheit relativiert worden ist.
Das Problem der pastness
Die Vergänglichkeit ist ein Alterungsprozess, der bestimmte Spuren auf den
Denkmälern hinterlässt (Abnutzung, Zerfall, Patina, Veränderung der chemischen Zusammensetzung usw.). Sie hinterlässt also Spuren an materiellen
346 — Aleksander Dzbyński
Objekten, die wir im Rahmen der Geschichte interpretieren und manchmal
können wir sie sogar messen und zur Datierung von z. B. Denkmälern verwenden. Dieser Prozess kann aber auch simuliert werden. Wenden wir uns
wieder dem kinosophischen Ansatz zu, mit dem Unterschied, dass wir hier
Literaturausschnitte studieren.
In dem Science-Fiction-Roman von Philip K. Dick, The Man in the High
Castle (Dick 1974), der eine alternative Geschichte der Nachkriegszeit beschreibt, finden wir ein interessantes Gespräch über Geschichte und Monumente. Wyndam-Matson, der Leiter eines metallurgischen Konzerns, erzählt,
dass die Begriffe ‚Geschichtlichkeit‘, ‚Wert‘ oder ‚Bedeutung‘ nicht zum Bereich der Tatsachen gehören, sondern außerhalb der Beschreibungsobjekte
liegen und sich im Bewusstsein der Betrachter*innen befinden, die sie in rein
subjektiven Zusammenhängen verwenden. Hier ein Ausschnitt aus dem Gespräch, den er mit seiner Geliebten Rita führt:
„‘Look at these. Look the same, don’t they? Well, listen. One has historicity in it.’ He grinned at her. ‘Pick them up. Go ahead. One’s worth,
oh, maybe forty or fifty thousand dollars on the collectors’ market.’
The girl gingerly picked up the two lighters and examined them.
‘Don’t you feel it?’ he kidded her. ‘The historicity?’
She said, ‘What is ‘historicity?’’
‘When a thing has history in it. Listen. One of those two Zippo
lighters was in Franklin D. Roosevelt’s pocket when he was assassinated. And one wasn’t. One has historicity, a hell of a lot of it. As much
as any object ever had. And one has nothing. Can you feel it?’ He nudged her. ‘You can’t. You can’t tell which is which. There’s no ‘mystical
plasmic presence’, no ‘aura’ around it.’
‘Gee’, the girl said, awed. ‘Is that really true? That he had one of
those on him that day?’
‘Sure. And I know which it is. You see my point. It’s all a big racket;
they’re playing it on themselves. I mean, a gun goes through a famous
battle, like the Meuse-Argonne, and it’s the same as if it hadn’t, unless
you know. It’s in here.’ He tapped his head. ‘In the mind, not the gun.’.“
(Dick 1974, 66)
Rita erwidert, dass sie nicht glaubt, dass eines der Feuerzeuge Roosevelt gehörte und bestätigt damit die These ihres Liebhabers:
„‘That’s my point! I’d have to prove it to you with some sort of document. A paper of authenticity. And so it’s all a fake, a mass delusion.
The paper proves its worth, not the object itself!’ […] From the wall
Kinosophische Archäologie — 347
he took the Smithsonian Institution’s framed certificate; the paper and
the lighter had cost him a fortune, but they were worth it – because
they enabled him to prove that he was right, that the word ‘fake’ meant nothing really, since the word ‘authentic’ meant nothing really.“
(Dick 1974, 66)
Wyndam-Matson hat natürlich nicht ganz Recht. Es geht nicht um das, was
sich ‚im Kopf‘ befindet, sondern um sprachliche Ausdrücke, die niemals real
oder falsch in dem Sinne sind, dass sie mit der Realität vereinbar wären. Sie
werden im Rahmen eines mehr oder weniger präzisen Gesellschaftsvertrags,
eines Sprachspiels, festgelegt. Da die Gemeinschaft selber die Regeln festlegt,
welche die Realität einordnen, führt dies dazu, dass die Bedeutung eines Wortes nicht mehr dieselbe ist, indem sie zum Beispiel, wie die Archäolog*innen,
den Begriff Denkmal einführt, den es früher nicht gab. Heutige Denkmäler
waren früher einfach identisch mit den Werkzeugen, mit den Häusern, mit
den Gräbern – mit den Dingen im Allgemeinen, erst heute wurden sie zu
einem Element des Diskurses, der Spekulation und, nolens volens, zum Objekt der Manipulation.
Die von Cornelius Holtorf (2013) beschriebene Vergänglichkeit ist im
Speziellen im Zusammenhang mit dem oben zitierten Teil von Dicks Buch
wichtig. Die Fabrik, die von Wyndam-Matson geleitet wird, stellt Fälschungen für die reichen Japaner*innen her, die sie nicht von den Originalen unterscheiden können, und zwar nicht in dem Sinn, dass sie es nicht wissen (es
gibt US-Geschichtsexpert*innen unter ihnen), aber der Prozess der Bildung
von Vergänglichkeit ist hier gestört worden. Dicks Gedanken gehen tiefer als
eine einfache Erzählung über die Fähigkeit, den oder die Besatzer*in zu überlisten. Man kann also sagen, dass die Amerikaner*innen die Japaner*innen
betrügen, indem sie ihnen Fälschungen anbieten, die die wahre Geschichte
der Vereinigten Staaten imitieren, als Antwort auf das Servieren einer falschen Welt seitens der Japaner*innen, die ihr Land besetzen. Offensichtlich
versteht Dick das Problem der Authentizität, genau wie Holtorf. In Dicks
Buch wundert sich Wyndam-Matson als Amerikaner über das Problem der
Authentizität und kommt zu dem Schluss, dass diese nicht auf eine konkrete
Weise bestimmt werden kann, womit er unwissentlich ein sehr wichtiges
Problem formuliert. „It is rather a matter of ‘social sense’“, schreibt Holtorf,
„and the outcome of everyday discourses of what to believe and whom to
trust“ (Holtorf 2013, 434). Es scheint also, dass das Problem der Authentizität von Denkmälern, verstanden als Vergänglichkeit, gleichermaßen für das
gilt, was wir soziale Gerechtigkeit nennen, die Integrität des Handelns in
der Gesellschaft und die Offenheit des Diskurses. Wenn diese in irgendeiner
Weise gestört sind (im Buch ist es der Krieg, der die Realität verzerrt, aber
348 — Aleksander Dzbyński
es sind auch andere Bedrohungen der offenen Gesellschaft bekannt, wie z. B.
der Abbau der Bürgerrechte, Einschränkungen der Redefreiheit, Ausweitung
der autoritären Regimes, Korruption usw.), so wird auch der Prozess der Vergänglichkeit gestört sein.
Interpreting pastness
Die Vergänglichkeit kann also simuliert werden. Man kann also sagen, wenn
wir unseren kinosophischen Ansatz verwenden und die Bedeutung von
pastness etwas ausweiten, wir als Archäolog*innen die Vergangenheit durch
unsere Interpretationen simulieren. Kann sie völlig missverstanden werden?
Offensichtlich kann sie das.
Das Problem der Vergänglichkeit wird in einem anderen Werk aus dem
Science-Fiction-Genre auf amüsante Weise dargestellt. Seksmisja (Sexmission)
unter der Regie von Juliusz Machulski (1984) ist eine der bekanntesten polnischen Komödien (2008 wurde sie von den Leser*innen der Zeitschrift FILM
zur „Polnischen Komödie des Jahrhunderts“ gewählt). Der Film erzählt die
Geschichte von zwei Männern, die sich einem Kälteschlaf-Experiment unter
der Leitung des Nobelpreisträgers Professor Wiktor Kuppelweiser ( Janusz
Michałowski) unterziehen. Laut Vertrag sollten die tapferen Männer in drei
Jahren wieder aufgeweckt werden, doch wie üblich macht die unberechenbare Geschichte dieses wissenschaftliche Unterfangen zunichte. Das Erwachen
erfolgt fünfzig Jahre später als geplant: im Jahr 2044, in einem völlig anderen
gesellschaftspolitischen Kontext – in einem unterirdischen Staat, in dem die
Frauen sich mit der In-vitro-Methode fortpflanzen und dank der genetischen
Kontrolle nur Mädchen geboren werden. Von der Archäologin, die sich um
sie kümmert, Dr. Lamia Reno, erfahren sie, dass, während sie in der Kältestasis schliefen, ein atomarer Weltkrieg ausgebrochen war und männlichen
Gene zerstört wurden, was dazu führte, dass sie derzeit die einzigen Männer
auf dem Planeten sind, oder besser gesagt, unter seiner Oberfläche.
Zwei Männer bemühen sich, die Frauen davon zu überzeugen, dass
sie eine einmalige Chance haben, die vorkriegszeitlichen Bedingungen
wiederherzustellen, aber die Frauen lehnen diesen Vorschlag als eine
‚archaische‘ Lösung ab. Die Zeit vor dem Ausbruch des Krieges ist für
sie eindeutig negativ bewertet als die Zeit der Unterdrückung seitens der
Männer, während sie gerade in der besten aller möglichen Welten leben, in
der es keine Gewalt gibt, wo eine perfekte soziale Organisation besteht und
eine spezielle Pille die sexuelle Sehnsucht in den Wunsch umlenkt, Wissen zu
erwerben. Stattdessen haben sie vor, den Männern Schreckliches anzutun –
‚Naturalisierung‘, das heißt, sie durch Chirurgie und Genetik in weibliche
Kinosophische Archäologie — 349
Personen zu verwandeln. Das können die einsamen Filmhelden nicht hinnehmen und fliehen aus diesem totalitären Gefängnis. Auf der Flucht haben
sie die Möglichkeit, diese neue Welt von unten bis oben zu besichtigen und
in den prähistorischen Schichten der unterirdischen Welt finden sie eine Flasche Wein aus dem 20. Jahrhundert. Es folgt der berühmte Satz, bei dem jedes
Kino in Polen vor Lachen bebte: „Unsere Kumpels waren hier!“ Diese Flasche
Wein, ein Artefakt aus der vergessenen Vergangenheit, wurde sofort einer
adäquaten, weit verbreiteten ‚kulturellen Aktivität‘ zugeordnet – der männlichen Tradition des kollegialen Trinkens. Für die zwei Männer war die Interpretation „Unsere Kumpels waren hier“ ganz offensichtlich, denn sie lebten
wirklich in der Zeit, von der sie sprachen, und es waren definitiv gute Erinnerungen für sie. In der Kultur der Frauen der Zukunft gibt es jedoch keine
Glasflaschen mehr. Sie stehen im Museum, denn diese Periode der Menschheit liegt begraben und niemand will sie wieder erfahren. Die Frauen leben in
einer technischen Hochkultur, sie können zwar die Flasche in die Kategorie
des männlichen Alkoholkonsums einordnen, aber für sie wäre die Interpretation durchaus negativ: in der Vergangenheit betranken sich Männer bis zu
Unbewusstheit und belästigten die Frauen. In einer Szene wird auch gezeigt,
wie Frauen sich vorstellen, ein Rasiermesser zu benutzen. Weil sie denken,
dass man sich mit so etwas nicht rasieren kann, ordnen sie dieses Werkzeug der Kategorie der Folter zu – siehe ‚rituelle Objekte‘ der gegenwärtigen
Archäolog*innen.
In den USA wurde der Film seitens feministischer Organisationen negativ bewertet. Der Regisseur selber glaubt, dass Sexmission im Westen bis
heute so wahrgenommen wird. Man kann aus dem Film aber auch genau das
Gegenteil herauslesen, oder eben die Akzente anders verteilen, wenn man
den politischen Kontext mitberücksichtigt, in dem der Film produziert wurde. In den Ostblockländern, welche die realsozialistischen Systeme erlebten,
lag die Interpretation dieses Films auf der Hand – es handelt sich um eine
Darstellung eines totalitären Systems, in dem dank des historischen Zufalls
die Beziehung zwischen Mann und Frau im ideologischen Rahmen herausgegriffen wird. Am Ende entpuppt sich der totalitäre Staat der Frauen als eine
spezifische Mystifikation, die mit harter Hand von einem impotenten Mann
(Ihre Exzellenz) regiert wird.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Frauen in der unterirdischen Diktatur der Zukunft, d. h. einer gesellschaftlichen Organisation, die sich auf ein
wissenschaftlich-technisches Paradigma stützt, eine klare Theorie über die
längst ausgestorbene männliche Spezies haben. Der Film zeigt jedoch deutlich, dass im Kontakt mit diesem seltsamen Öko-Fakt, welches zum Leben
erwacht und aus dem Museum oder sogar direkt aus der Ausgrabung in die
Welt der Lebenden verlagert wird, eine bestimmte wissenschaftliche Theorie
350 — Aleksander Dzbyński
in eine politisch gesteuerte, mit Klischees und Vorurteilen behaftete Ideologie verwandelt: „Die These, dass der Mann das fehlende Bindeglied zwischen
uns und den Affen ist, ist somit beweisbar“, sagt Dr. Lamia, die im Auftrag
der archäologischen Abteilung die Forschungen an den aus dem Kälteschlaf
geweckten Männern durchführt. Die Überwindung der ‚wissenschaftlichen‘
Vorurteile, die explizit aus dem emotionslosen Denken entstehen, besteht natürlich in der Anwendung des hermeneutischen Projekts, denn die ‚Artefakte‘ sind doch auf irgendeine Weise ‚attraktiv‘ und bewegen Dr. Lamia (und
ihre Kollegin) dazu, sich mit ihnen auf eine sentimentale Reise in die Vergangenheit zu begeben, an deren Ziel sie letztendlich in ein reales und funktionierendes Fragment der prähistorischen Realität hineinversetzt werden.
Wenn ich mich auf diesen Film beziehe, dann möchte ich bei den Leser*innen nicht nur die humoristische Seite betonen. Ich möchte ebenso
darauf verweisen, dass auch in der Archäologie eine Vorstellung männlich
dominierten Trinkens existiert. Sie wurde von Andrew Sherratt (1987) expliziert. Er analysierte europäische Gefäßtypen und kam zu dem Schluss,
dass die Tradition des kollegialen Alkoholkonsums im Chalkolithikum entstand und aus dem Nahen Osten nach Europa gelangte. Sherratt wies auf
die charakteristischen Formen von Gefäßen hin, die die europäischen Keramikinventare zu dominieren begannen: Becher, Tassen und Trinkbecher
verschiedener Art.
Wenn wir also die Filmfantasie mit der archäologischen Theorie kombinieren, haben wir es mit interessanten Wechselwirkungen zu tun. Die Frauen
im totalitären Staat der Zukunft haben im Wesentlichen Recht: Männer sind
hauptsächlich Barbaren, betrunkene und aggressive Individuen usw. Aber
Männer aus der Vergangenheit lassen eine solche Interpretation nur unter
sich zu, blinzeln dabei und behaupten öffentlich, dass Frauen, milde gesagt,
übertreiben. Was Männer tun, ist, dass sie sich gerne in eigener Gesellschaft
entspannen. Vielleicht, wenn Zeitreisen möglich wären, würden wir in der
Vorgeschichte die Wahrheit über Männer und Frauen entdecken, aber wir
würden nicht daran glauben und es als Fantasie behandeln, wie einen Traum,
der die Wahrheit erzählt, obwohl er unwirklich ist.
Für den Moment sind jedoch Zeitreisen nicht möglich, aber das zeitgenössische Kino suggeriert uns dennoch etwas. Da sich unsere Fantasien oft
auf das beziehen, was wir in der Öffentlichkeit nicht sagen und sogar aus
dem Bewusstsein verdrängen, entpuppen sich sowohl die Sexmission als auch
die Theorie des geselligen Trinkens als eine Interpretation, die bei den heutigen Männern vorherrscht – sie mögen einfach Alkohol!
Stellen wir uns also vor, Sherratt nimmt an einem solchen Experiment
teil, das in dem Film Sexmission dargestellt wird, und findet eine Flasche (oder
einen Becher zum Weintrinken) in den tiefen Schichten der unterirdischen
Kinosophische Archäologie — 351
Welt. Seine Interpretation ist eindeutig: „Unsere Kumpels waren hier!“ Damit
kann er seine Theorie des männlichen Trinkens bestätigen und bei dieser Gelegenheit würde er sicher ein Glas noblen Whiskeys leeren. Natürlich ist das
nur ein Trick, der grundsätzliche Unterschied ist, dass Sherratt nicht als aufgetauter Wissenschaftler aus der Vergangenheit in unsere Welt gekommen
ist. Um zu verstehen, was Archäolog*innen tun, müssen wir die Perspektive
umkehren – es ist nicht Sherratt oder irgendein zeitgenössischer Archäologe, der in die Vergangenheit reist, sondern es sind Archäologinnen aus
der Zukunft, die in unsere Welt kommen. Sie finden hier eine Flasche, eine
ähnliche wie in ihrer Welt die Museumsvitrinen bevölkern. Nebenan befindet sich immer die Beschreibung: „Das ist eine Flasche, mit der die Männer
in prähistorischen Zeiten Frauen und oft ganze Familien terrorisiert haben“.
Natürlich könnten sie versuchen, mit den Erdlingen zu kommunizieren und
herauszufinden, wozu die Flaschen wirklich dienten, aber wie viele andere
Science-Fiction-Filme und -Bücher zeigen, ist ein solches Unterfangen noch
nie gelungen.
Das Beispiel mit einer Flasche Wein, die von dem männlichen Spezies gefunden wird, wäre sicherlich für Willard Van Orman Quine, einen amerikanischen analytischen Philosophen, der sich in Opposition zum Wiener Kreis
stellte, von Interesse. Der Wiener Kreis des Logischen Empirismus war eine
Gruppe Intellektueller aus den Bereichen der Philosophie, der Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, der Mathematik und Logik, die sich von 1924
bis 1936 unter der Leitung von Moritz Schlick regelmäßig in Wien trafen. Ihr
Ziel war die Suche nach einem „empiristischen Sinnkriterium“, die Kritik der
Metaphysik und die Verbindung der Wissenschaften im Rahmen einer formellen Wissenschaftssprache. Quine glaubte, dass Erfahrung eine wichtige
Rolle im Erkenntnisprozess spielt, wenn auch mit Einschränkungen. Unter
Bezugnahme auf Wittgenstein entwickelte und vertiefte er das Konzept der
Sprachspiele, die in der Folge als epistemologischer Holismus genannt wurden. Demnach sind Bedeutungen nicht Wörter oder Sätze (wie der ‚frühe‘
Wittgenstein es wollte), sondern unser gesamtes Wissen, das wir im Moment
haben (vgl. ‚späterer‘ Wittgenstein). Es gibt keine Sätze, die nur aufgrund
der Präzision der Aussage wahr wären, weil die Wahrheit des Satzes nicht in
eine sprachliche und eine sachliche Komponente zerlegt werden kann. Wenn
jemand eine Theorie über eine Kategorie von Objekten vorschlägt, z. B. über
mikrolithische Werkzeuge, sind wir geneigt anzunehmen, dass unser Verständnis seiner Worte in zwei Schritten erfolgt: 1) wir müssen verstehen,
was diese Objekte sind und 2) wir müssen verstehen, was die Theorie über
sie aussagt. Das ist jedoch nicht wahr!
Zu verstehen, was Objekte sind, bedeutet im Grunde zu beherrschen, was
die Theorie über sie sagt, denn:
352 — Aleksander Dzbyński
„The totality of our so-called knowledge or beliefs, from the most casual
matters of geography and history to the profoundest laws of atomic
physics or even of pure mathematics and logic, is a man-made fabric
which impinges on experience only along the edges. Or, to change the
figure, total science is like a field of force whose boundary conditions
are experience.“ (Quine 1963, 42)
Der Gesamtheit unseres Wissens sowie unserer Überzeugungen wohnt ein
Konflikt mit der Erfahrung inne und die Sätze der Theorie haben keine eigenen empirischen Konsequenzen, sondern sie müssen im Bereich der Diskussion und des Gedankenaustauschs überprüft werden. Mit anderen Worten:
Es muss in der Wissenschaft Theorien geben, die wir ständig diskutieren
können und die nie ganz wahr oder falsch sind.
Wie sieht es also letztendlich mit Flaschen, Feuersteinwerkzeugen, zerbrochenen Töpferwaren und diversen Artefakten aus, die Archäolog*innen
bei Ausgrabungen finden? Materielle Objekte, schreibt Quine, sind nichts anderes als eine Reaktion auf Reize (Nervenreizungen), die kein direktes Abbild
dieser Objekte sind. Die Quellen der Bedeutung dieser Reize sind vorsprachlich, so dass ihre Steuerung und Organisation von der kulturellen Umgebung
des*der Betrachter*in abhängen muss und dort der Interpretation unterliegt.
Um zu sprachlich ausgedrückten Beobachtungen zu werden, müssen sie notwendigerweise von der lokalen kulturellen Umgebung gedeutet werden, also
von der lokalen Sprache. Da die Sätze, die der*die Archäolog*in äußert, keine
Sätze sein können, die mit den Benutzer*innen dieser Objekte in der Vergangenheit vereinbart wurden, werden sie also zu Sätzen, die nur hier und jetzt
in der archäologischen Gemeinschaft vereinbart werden. Auf diese Weise
sind empirische Evidenz-Beobachtungs-Sätze, die eine gegebene Theorie bestätigen, keine Beobachtung von Objekten, wie sie an sich waren. Als Ergebnis der Verständigung im Umfeld der zeitgenössischen Forscher*innen sind
sie empirische Zeugnisse, die für ihre eigene Bestätigung sorgen (Mamzer
2004, 54). Der*die Archäolog*in scheint in der gleichen Position wie der*die
Futurolog*in zu sein, der*die anhand ausgewählter Merkmale der Gegenwart
versucht, die Zukunft vorherzusagen, wobei seine oder ihre Vorhersagen nur
in der Gegenwart bestätigt werden können (siehe Sexmission). Wir brauchen
also nicht nur Fakten, universelle Methoden und Algorithmen, die uns wahrheitstreue Filme über die Vergangenheit zeigen. Wir brauchen immer noch
gute Theorien, die auf unserer Vorstellungskraft beruhen. Diese erkenntnistheoretische Forderung wurde ins Zentrum einer anderen archäologischen
Theorie gestellt – der postprozessualen Archäologie, aber das ist eine andere
Geschichte.
Kinosophische Archäologie — 353
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Kontakt
Apl. Prof. Aleksander Dzbyński | Universität Warschau | Institut für Archäologie |
Krakowskie Przedmieście 26/28 | 00-927 Warschau | a.dzbynski@uw.edu.pl
Der Geltungsanspruch archäologischer
Praxis – wissenschaftliches Arbeiten
zwischen Wahrheits- und Normdiskurs
Georg Cyrus
Zusammenfassung Archäologisches Arbeiten, sowohl in der Ausgrabungs-
praxis als auch beim Schreiben von Artikeln, hat eine ethische Dimension, die
immer wieder Gegenstand kontroverser Debatten ist. Eine wichtige Schlussfolgerung dieses Diskurses ist die Omnipräsenz der ethischen Dimension.
Meiner Ansicht nach ist diese aber nicht überall gleichstark ausgeprägt. In diesem Artikel geht es nicht um die Frage, wie ethisches Verhalten in der Archäologie aussehen sollte, sondern darum, welche Aspekte in der archäologischen
Arbeit wie stark von einem ethischen Diskurs geprägt sind.
Um dies zu untersuchen, verwende ich die Wahrheitstheorie von Habermas,
die sich besonders gut eignet, da sie von einer Situiertheit des Wissens ausgeht, welche sich aus dem diskursiven Charakter ergibt. Das bedeutet, Wahrheit wird innerhalb eines Kollektivs mittels Kommunikation ausgehandelt.
Entscheidend für meine Arbeit ist Habermas’ Aufteilung in Wahrheitsdiskurs
und Normdiskurs. Beide Diskurse sind sich formal ähnlich und werden daher
häufig verwechselt. Der jeweilige Geltungsbereich ist jedoch grundsätzlich
ein anderer. Während der Wahrheitsdiskurs versucht zu erkennen, was wirklich ist, ist es Ziel des Normdiskurses, gesellschaftliche Regeln auszuarbeiten.
Während der Wahrheitsdiskurs beschreibt, beschäftigt sich der Normdiskurs
auch mit ethischen Fragen.
Um die ethische Dimension verschiedener Aspekte der archäologischen
Arbeit auszuloten, analysiere ich, welche Teile Wahrheits- und welche Normdiskurs sind. Meine Schlussfolgerung lautet, dass die Dokumentation und die
beschreibende statistische Analyse eher dem Wahrheitsdiskurs zugeordnet
werden können, die Interpretation und die theoretische Archäologie jedoch
klar Teil des Normdiskurses sind. Letztendlich plädiere ich dafür, diese Diskurse offen als Normdiskurse zu führen.
Schlüsselbegriffe Kritische Theorie; Ethik; Wahrheit; Kritische
Archäologie; Habermas
Georg Cyrus, Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis – wissenschaftliches Arbeiten zwischen
Wahrheits- und Normdiskurs, in: Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.),
Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen Diskurs,
Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 355–373. DOI: https://doi.org/10.11588/
propylaeum.1092.c15030
355
356 — Georg Cyrus
Abstract Archaeological work, both in excavation practice and in written arti-
cles, has an omnipresent ethical dimension that has repeatedly been the subject
of controversial debate. However, in my opinion, this ethical dimension is not
equally pronounced in every step of the archaeological investigation. This article is not trying to question how an ethical archaeology ought to be, but rather
discusses which aspects of archaeology are more and which are less ethical.
To analyse this, I use the “Theory of Truth” (Wahrheitstheorie) by Habermas,
which is particularly suited, as it takes the situatedness of knowledge as
a starting point. This situatedness is established by the discursive character
of truth in Habermas theory. The differentiation between discourse of norms
(Normdiskurs) and discourse of truth (Wahrheitsdiskurs) is the most crucial
part of his theory for my analysis. Both kinds of discourse are similar in form
and therefore often confused, but they cover fundamentally different domains.
While the discourse of truth aims to discover what really is, the discourse of
norms seeks to establish social rules for a society. The discourse of truth tends
to describe, while the discourse of norms scrutinises ethical dimensions.
Throughout the paper I analyse how to identify these two discourses.
I conclude that the documentative and descriptive aspects of archaeological
research are part of the Wahrheitsdiskurs, while the interpretive and theoretical work are naturally part of the Normdiskurs. Finally, I argue in favour of
more open reflection on these discourses to clarify the ethical dimension of
the archaeological investigation.
Keywords Critical Theory; Ethic; Truth; Critical Archaeology; Habermas
Einleitung
Archäolog*innen wie Alfredo González-Ruibal, Yonatan Sahle und Xurxor
Ayán Vila (González-Ruibal u. a. 2011, 59–60) forderten immer wieder, Subjekte vergangener Gesellschaften in unsere ethischen Diskussionen mit einzuschließen. Auch Susan Pollock und Reinhard Bernbeck (Pollock – Bernbeck
2016, 34–35) stellen das Leid vergangener Subjekte in den Vordergrund und
fordern dazu auf, die Täter*innen in den historischen und archäologischen
Narrativen nicht zu Hauptpersonen zu machen. Ähnlich verlangt auch Sarah
Tarlow (2000, 720), dass wir die Emotionen vergangener Subjekte mit einbeziehen müssen, da ein Ignorieren dieser sie entmenschlichen würde. In
der archäologischen Praxis, sowohl auf dem Feld als auch beim Schreiben
von Berichten und Synthesen, spielen ethische Überlegungen nach meiner
Erfahrung jedoch kaum eine Rolle. Am ehesten werden sie explizit in der
Historischen Archäologie geführt, in der ein Fokus auf der Rekonstruktion
des Alltagslebens der Unterdrückten liegt, das in den Archiven der Machthabenden keine Erwähnung findet. So wird etwa widerständige Alltagspraxis
Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis — 357
in Zwangsarbeiter*innenlagern der Nazizeit erforscht (Bernbeck – Pollock
2017) oder anhand der materiellen Kultur der Chorrocke in der kurzlebigen
Hauptstadt New Echota gezeigt, wie sie sich, trotz des Drucks der weißen
Siedler*innen, ihre Alltagspraktiken bewahrten (Little 1994).
Theoriebildung und das Schreiben historischer Narrative ist jedoch nicht
nur in der Neuzeit, sondern für alle archäologisch untersuchten Zeiten
ethisch. Theoretischen Diskussionen liegt immer ein Menschen- und Weltbild zugrunde, dass die ideologische Basis jeder Arbeit darstellt. Bei jedem
Narrativ ist die Einnahme des Blickwinkels eine ethische Entscheidung, dies
gilt für wissenschaftliche genauso wie für fiktive Erzählungen. Ob man sich
zum Beispiel Genderrollen in der Unterschicht der Altbabylonischen Gesellschaft oder den Machtapparat der assyrischen Könige als Forschungsgebiet
wählt, impliziert bereits, welche Teile der damaligen Gesellschaften behandelt und welche verschwiegen werden.
Randall McGuire (2008, 188–221) stellt die Grabungspraxis als politische
Aktion in den Mittelpunkt, bei der es darum ginge, sich zu positionieren, bestimmte politische Forderungen zu unterstützen und so als Archäolog*in in
den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs mit einzugreifen. Die Verknüpfung
von vergangenen und gegenwärtigen Subjekten, die mit dem Kampf der vergangenen Subjekten in Verbindung stehen, funktioniert vor allem über die
Sichtbarmachung durch eine Grabung (Bernbeck – Pollock 2017, 457–458).
Ähnlich argumentiert Gabriel Moshenska (2017), wenn er den situationistischen und emanzipativen Charakter von Grabungen betont, die durch ihre
Sichtbarkeit Teil des öffentlichen Lebens werden. Aber was machen wir bei
Grabungen sichtbar, die sich nicht mit der jüngeren Vergangenheit beschäftigen, sondern möglicherweise mit viel älteren Epochen?
Bei der Fixierung auf Grabungen in der Historischen Archäologie als
Mittel der politischen Aktion ergeben sich nämlich zwei Probleme. Erstens
gibt es, im Gegensatz zu einer Arbeiter*innensiedlung, die im Colorado
Coalfield War (1913–1914) zerstört wurde und somit Teil der Geschichte unseres kapitalistischen Systems ist, keine direkte Verbindung zu einem etwa
im Assyrischen Reich begangenen Unrecht. Dieses Phänomen beschreibt
Jenny Tillmanns mit dem Konzept der passiven Historisierung, womit sie
die Distanzierung von Subjekten der Geschichte meint, die sich von alleine
mit dem Vergehen von Zeit entwickelt. Wir vergessen und verlieren unseren Kontakt zu der Geschichte je länger sie her ist. Dadurch büßen die Menschen der Vergangenheit ihren Platz in unserer moralischen Gemeinschaft
ein1 (Tillmanns 2012, 23–24. 30). Zweitens ergibt sich ein anderes Problem
1
Hiermit ist die Gruppe von Subjekten gemein, für die wir uns moralisch verantwortlich fühlen. Dies können, neben lebenden Menschen, auch bereits verstorbene
358 — Georg Cyrus
daraus, die Grabung in den Mittelpunkt einer politisch expliziten Archäologie zu stellen: Es erfordert, eine Grabung auch tatsächlich durchführen
zu können – die meisten Archäolog*innen sind jedoch keine Grabungsleiter*innen. Um diesen beiden Dilemmata zu entkommen, muss einerseits
ein radikaler humanistischer Standpunkt eingenommen werden, bei dem
man alle Menschen in die moralische Gemeinschaft aufnimmt. Zum anderen muss auch das Niederschreiben archäologischen Wissens und nicht nur
die Ausgrabung als ethische und politische Aktion wahrgenommen werden.
Während der erste Schritt vor allem eine individuelle Einstellungsfrage ist,
ist es für den zweiten Schritt notwendig, genau zu untersuchen, welche Aspekte der archäologischen Schreibarbeit eigentlich ethisch sind. In diesem
Text soll es genau um diese zweite Frage gehen. Dabei steht nicht im Vordergrund, ob Wissenschaft objektiv oder subjektiv ist oder ob sie ideologiefrei sein sollte – die Grundannahme dieses Artikels ist, dass Wissen immer
aus einer bestimmten Perspektive produziert wird. Die Begriffe von Objektivität und Subjektivität erscheinen mir zudem nicht geeignet, zur ethischen
Frage beizutragen.
Habermas’ Wahrheitstheorie
Um die archäologische Wissenschaft auf ihre Ethik zu untersuchen, werde
ich mich Jürgen Habermas’ (1984 [1972]) Analyse zum diskursiven Charakter der Wahrheit bedienen. Hier untersucht er den sprachlich strukturierten Teil unserer Kultur, der den Anspruch hat, die Realität zu ergründen.
Darüber hinaus hat Sprache auch die Eigenschaft, die von William Foley
(1997, 37–40) Reflexivity genannt wird und unsere Fähigkeit beschreibt,
auch jenseits einfacher Tatsachenberichte Sprache zu benutzen, um zum
Beispiel Witze zu machen, zu lügen oder auf alle anderen möglichen Weisen
zu irritieren. Um diese Fähigkeiten geht es hier aber nicht. Ich verstehe den
archäologischen Diskurs also als nichtreflexiven Teil der Sprache, da es sich
um einen wissenschaftlichen Diskurs handelt, der kein Interesse an Irritation hat und daher mit Habermas’ Wahrheitstheorie beschrieben werden
kann. Dafür werde ich seine Unterteilung in Wahrheitsdiskurs und Normdiskurs auf die archäologische Wissensgenerierung übertragen.2 Hierbei
2
sein, etwa im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Es können aber
auch noch nicht geborene sein, wie in der Debatte zur Klimagerechtigkeit.
Zuletzt möchte ich noch anmerken, dass ich mich hier vor allem auf eine Idee
Habermas’ beziehe, aber nicht beanspruche, sein gesamtes Werk vollständig zu
kennen oder auf die Archäologie übertragen zu können. Wenn ich hier also von
Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis — 359
handelt es sich wohlgemerkt nicht um ein Modell des wissenschaftlichen
Fortschrittes, sondern darum, welche Geltungsbereiche bestimmte Diskurse
haben.
In den „Vorstudien und Ergänzungen“ zu seiner Theorie des kommunikativen Handelns beschäftigt sich Habermas unter anderem mit dem Konzept
Wahrheit (1984 [1972], 127–187). Hier stellt er eine Reihe von Wahrheitstheorien vor, vergleicht und kritisiert sie, um dann den Akt der Kommunikation
zu den Wahrheitstheorien hinzuzufügen. Wenn Habermas von Wahrheit
spricht, so meint er die formallogische Definition der Wahrheit, also eine
logisch wahre Aussage. Diese Wahrheit ist dabei zunächst banal und muss
nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Um die Wahrheit mit
unseren persönlichen Beobachtungen, also der Wirklichkeit, zu koppeln,
müssen wir uns aber darüber unterhalten (Habermas 1984 [1972], 127–137).
Dieser Sprechakt ist gegenwärtig von allerlei Problemen begleitet, angefangen bei der Fähigkeit der Sprechenden bis hin zu den Machtverhältnissen,
in denen wir uns befinden. Keinesfalls sollten wir uns täuschen lassen und
glauben, dass wir es mit einer Form eines neutralen Diskurses zu tun haben,
auch in der Wissenschaft nicht. Habermas ist sich dessen bewusst, wenn
er den ausgehandelten Charakter der Wahrheit betont. Er entwickelt dennoch die Utopie der idealen Sprechsituation, in der der gleichberechtigte
Austausch schließlich zur Wahrheit führen könnte (Habermas 1984 [1972],
174–183). Eine solche ideale Diskussion wird solange geführt, bis ein Konsens erzielt wurde, denn die Wahrheit könne weder befohlen werden noch
ein Kompromiss sein. Ob eine solche ideale Sprechsituation hergestellt werden kann, lässt Habermas offen, aber er rät dazu, sich ihr so gut wie möglich
zu nähern.
Weiter geht Habermas auf andere Vorstellungen von Wahrheit ein, die
er zunächst typologisiert, um sie später in seine Wahrheitstheorie mit einbeziehen zu können. Er klassifizierte in seiner Theorie vier Formen von
Geltungsansprüchen: Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit (Habermas 1984 [1972], 137). Verständlichkeit beschreibt die Fähigkeit, sich mitzuteilen3 und Wahrhaftigkeit die Vertrauenswürdigkeit der Person, welche die Aussage tätigt. Ich beschränke mich im Folgenden auf den
3
Habermas spreche, meine ich den impliziten Autor (siehe Booth 1961, 67–77) des
hier zitierten Werks Wahrheitstheorien von 1972.
Verständlichkeit ist nicht selbsterklärend und durchaus ein sehr vielschichtiges
Thema. Eine Wahrheitstheorie, die vor allem auf Verständlichkeit aufbaut, ist die
Metaphern-Theorie von George Lakoff und Mark Johnson, bei der untersucht
wird, wie wir die Wirklichkeit über Metaphern verstehen und kommunizieren
(Lakoff – Johnson 1980, 159–184).
360 — Georg Cyrus
Wahrheits- und Richtigskeitsdiskurs, da Verständlichkeits- und Wahrhaftigkeitsdiskurs einen anderen Geltungsanspruch haben. Gerade der Wahrhaftigkeitsdiskurs unterscheidet sich stark, da über die Wahrhaftigkeit einer
Person meist nicht mit ihr, sondern über sie diskutiert wird.
Der Wahrheitsdiskurs
Habermas vertritt eine Konsenstheorie der Wahrheit, bei der eine Diskussion
zu einem einstimmigen Ergebnis kommen muss. Diese beginnt mit einer unmittelbaren sinnlichen Erfahrung, die eine sinnliche Gewissheit produziert.
Sehe ich zum Beispiel, wie eine Taube von einer Möwe gefressen wird, so
bin ich mir durch meine sinnliche Wahrnehmung gewiss, dass das wirklich
so geschah. Diese sinnliche Gewissheit ist aber zunächst nur individuell und
daher keine Wahrheit. Hierfür muss ich einen Geltungsanspruch stellen: Erzähle ich niemanden von dem Vorfall, bleibt es eine sinnliche Gewissheit.
Dieser Geltungsanspruch betrifft zwar eine sinnliche Beobachtung, ist aber
nur mittelbar mit ihm verbunden, weil er erst einmal nur eine Behauptung
ist. Die Tatsache, dass es um meine eigene Beobachtung geht, verleiht dem
Geltungsanspruch einen subjektiven Charakter. Erst wenn ich meinen Geltungsanspruch vor einem Kollektiv durchgesetzt habe, ist es mehr als nur
eine sinnliche Wahrnehmung – dann ist es eine Wahrheit. Bei der Bildung des
Konsens spielen diskursive Teile eine Rolle, wie zum Beispiel eine Diskussion
über die Wahrheit einer Beobachtung, in der sie mit anderen Beobachtungen
verglichen wird. Es spielen aber auch nicht-diskursive Teile eine Rolle wie
Wahrhaftigkeit und die Verständlichkeit der Menschen, die den Geltungsanspruch erheben (Habermas 1984 [1972], 141–143). Der Normdiskurs hingegen
ist dem Wahrheitsdiskurs zwar ähnlich, unterscheidet sich aber in einigen
wichtigen Aspekten.
Der Normdiskurs
Im Gegensatz zur Wahrheit ist die Norm etwas komplizierter, da sie sich auf
das System der Sprache bezieht. Habermas konzeptualisiert das Entstehen
und Wirken von Normen folgendermaßen: Es gibt einen normativen Diskurs, in dem Normvorschläge diskutiert werden und deren Resultat Normen
sind. Richtigkeit ist dann eine Eigenschaft von Handlungen, die beschreibt,
wie stark sich diese Handlungen an Normen hält (Habermas 1984 [1972],
146–148). Ein Beispiel hierfür wäre der Normvorschlag, der nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurde, nie wieder Täter*in zu sein. Allgemein wurde
Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis — 361
diese Norm anerkannt und der Verdacht, Täter*in zu werden, bestimmt viele
Diskussionen in der deutschen Öffentlichkeit. Ein Beispiel war der Bundeswehreinsatz im Bosnienkrieg in den 1990ern, der gegen die Kohl-Doktrine,
nie wieder eine Deutsche Armee in ein während der Nazi-Zeit von Deutschland besetztes Land zu schicken, verstieß. Wie dieses Beispiel zeigt, sind solche Normdiskurse in ihrer Ambivalenz und in ihrer Tragweite weit von der
idealen Sprechsituation entfernt. Außerdem können Normvorschläge weitreichenden Einfluss auf Gesellschaften haben und lassen kein ‚wahres‘ Ergebnis erwarten.
Normvorschläge werden innerhalb der Gesellschaft diskutiert und wenn
es einen Konsens gibt, dann werden daraus geltende Normen. In unserer
Gesellschaft ist dieser Konsens kein basisdemokratischer Konsens, sondern
ebenso wie der Wahrheitsdiskurs von Machtverhältnissen und Dominanzen
durchzogen. Habermas hat aber das Ideal, eine solche unhierarchische Diskussion einzuführen und den Konsens zum Konsens im basisdemokratischen
Sinne zu machen. Die geltenden Normen stellt er in Soll-Sätzen dar, die einen
regulativen Charakter haben, also Vorschriften etablieren (Habermas 1984
[1972], 146–147). Der Soll-Satz zum oben genannten Beispiel wäre dann: „Du
sollst kein*e Täter*in sein“. Das Wort soll kann in Analogie zu den logischen
Operatoren wie wenn … dann … gesehen werden.
Was den Norm- weiterhin vom Wahrheitsdiskurs unterscheidet, ist sein
Geltungsbereich, den Habermas innerhalb der Kultur sieht. Kultur ist für
Habermas der durch Sprache strukturierte Teil der Wirklichkeit (Habermas
1984 [1972], 146). Diese Definition ist in der Archäologie unüblich, da wir
es in der Regel mit nicht mehr sprachlich strukturierten Überbleibseln zu
tun haben. Diese strukturieren wir dann selbst neu, indem wir sie typologisieren, beschreiben sowie vergleichen und fügen sie nach Habermas somit
wieder der Kultur hinzu. Denken wir aber weiterhin mit Habermas’ Kulturbegriff über die archäologische Quellen nach, stellt sie sich zunächst nicht
als Kultur dar, sondern wirkt wie externe Überreste, die ebenso gut aus der
Natur stammen könnten. Nach meinen Erfahrungen mit Grabungen können
Tier- und Wurzelgänge sehr lange mit menschlich produzierten Kontexten
verwechselt werden und erst durch unsere Interpretation und damit der Verknüpfung mit der Sprache verbinden wir sie wieder mit Kultur. Auch Georg
Simmel hatte schon ähnliche Gedanken, wenn er schreibt, dass eine Ruine
ein Menschenwerk sei, das wie ein Naturwerk wirke (Simmel 1907). Daher
ist es möglich, archäologische Quellen zunächst als Beobachtung mit dem
Wahrheitsdiskurs zu betrachten, obwohl sie einmal Teil von Kultur waren.
Neben den unterschiedlichen Charakteristika von Wahrheits- und Normdiskurs gibt es aber auch viele Gemeinsamkeiten, die zu Schwierigkeiten
führen können.
362 — Georg Cyrus
Verwechslungsgefahr der Diskurse
Die Verwechslungsgefahr der beiden Diskurse liegt darin begründet, dass
sowohl der Wahrheits- als auch der Normdiskurs sprachlich geführt werden
und damit beide mit einem Geltungsanspruch beginnen. Diese Diskurse werden in den seltensten Fällen mit den klaren Operatoren wie soll oder wenn…
dann… erörtert und der Geltungsbereich wird verwechselt. Habermas sieht
diese Verwechselung des Geltungsbereichs als eine typische Irreführung an
(Habermas 1984 [1972], 157–158). Normdiskurse werden teilweise als Wahrheitsdiskurse geführt und umgekehrt. Die Frage, ob Normen und Ethik einen
formallogischen Wahrheitsanspruch haben, ist schon alt und wurde in der
Philosophie zwischen Empirist*innen, die sich dagegen und Naturrechtsphilosoph*innen, die sich dafür aussprachen, diskutiert (Habermas 1984 [1972],
144). Diese Diskussionen reflektieren den Deutungsanspruch von Aussagen
in der Regel nicht. Wir stehen also fast immer vor der schweren Aufgabe, die
impliziten Deutungsansprüche bestimmter Aussagen zu analysieren.
Ein Beispiel für eine solche Verwechslung kann mittels der Debatte über
die richtige Ernährung dargestellt werden. Die Richtigkeit der Ernährung wird
zunächst nicht anhand von Wahrheiten, sondern durch Normen bestimmt. Es
ist also eigentlich eine Normendebatte, die darüber streitet, ob man vegetarisch oder vegan, low carb oder einfach nur kein Fast Food essen sollte. Die
Richtigkeit sollte anhand ethischer Argumentationspunkte wie Gesundheit,
Selbstbestimmung und Tierrechte geführt werden. Sie wird jedoch oft als
Wahrheitsdiskurs dargestellt, wenn zum Beispiel bei der Paleo-Diät auf wissenschaftliche Ergebnisse zur Ernährung im Paläolithikum verwiesen wird.
Die Auswertung von Knochenresten aus Siedlungen oder Isotopenanalysen
können sicherlich etwas über die Ernährung der im Paläolithikum lebenden
Menschen sagen. Eine fleischreiche Ernährung während der Eiszeit kann aber
weder ein Argument für eine Paleo-Diät noch gegen einen veganen Lebensstil sein. Es hat schlicht und einfach einen anderen Geltungsbereich.
Nach dieser etwas längeren Einführung in Habermas’ Theorien kann ich
meine anfängliche Frage über Wahrheit und Ethik in der Archäologie genauer stellen: Welcher Teil der archäologischen Arbeit beruht auf Beobachtung
und behandelt die Quellen so, als sei sie ein Produkt der ‚Natur‘ (dieser Teil
muss mit dem Wahrheitsdiskurs untersucht werden) und welcher Teil oder
ab welchem Zeitpunkt wurden diese Quellen bereits wieder in die Kultur
aufgenommen, wurde also wieder sprachlich strukturiert (dieser Teil muss
mit dem Normdiskurs untersucht werden)? Im Folgenden werde ich versuchen, diese konkreteren Fragen zu beantworten. Dafür werde ich Teile der
archäologischen Praxis untersuchen und Vorschläge bieten, welche Bereiche
welchem Geltungsbereich zuzuordnen sind.
Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis — 363
Die archäologische Praxis ist vielseitig und reicht von einer Notgrabung
an einer Autobahntrasse bis zum Entwickeln und Diskutieren archäologischer Theorien an den Universitäten. Über Laborarbeit, Feldarbeit bis hin
zur Bibliotheksarbeit ist alles vertreten. Im Kern ist die Archäologie über
ihre Quellen, also ihren speziellen Zugang zur Welt definiert (Eggert 2006,
190–191; Nativ 2018). Meine Annahme ist, dass der Wahrheitsdiskurs sich
in der Archäologie auf die Beschreibung der archäologischen Quellen beschränkt und allerhöchstens einen Teil der Methodik mit einbezieht, der vor
allem zur Darstellung, nicht aber zur Analyse der archäologischen Quelle
genutzt wird. Archäologischen Theorien, wie der Agency-Theorie oder auch
Entanglement-Theorie, und auch den meisten Modellen liegt jedoch ein impliziter Normdiskurs zu Grunde. Die Rekonstruktion vergangener Gesellschaften sind dann häufig Mischungen aus Wahrheits- und Norm-Konsens,
die aber in der Regel als Wahrheit aufgefasst werden. Im Folgenden werde
ich die Beschreibung der archäologischen Quelle als Wahrheitsdiskurs der
archäologischen Theorie als Normdiskurs gegenüberstellen.
Wahrheitsdiskurse in der Archäologie
Die Beschreibung archäologischer Quellen findet in der Regel für die Befundzusammenhänge auf der Grabung und für die Funde in der nachträglich ablaufenden Fundaufarbeitung statt. Mit Habermas geschieht hier folgendes: Ausgräber*innen oder Bearbeiter*innen betrachten Befunde oder
Funde und erlangen dadurch eine unmittelbare sinnliche Gewissheit. Diese
Gewissheit ist jedoch subjektiv, da es die einzelne Beobachtung eines Subjektes darstellt. Anthropologische Untersuchungen der Grabungspraxis haben gezeigt, dass sie von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein kann. So
untersucht Antonia Davidović-Walther (Davidović 2009, 17–30; DavidovićWalther 2011) die Produktion archäologischen Wissens auf Grabungen aus
wissenschaftsanthropologischer Sicht. Dabei stellt sie fest, dass Wissen nicht
so sehr durch Reproduzierbarkeit, sondern eher durch die Anwesenheit bestimmter vertrauenswürdiger oder etablierter Forscher*innen erzeugt wird.
Im Feld steht vor allem das Handeln im Vordergrund und dies wird in Kleingruppen gelernt und im Netzwerk mit bestimmten Werkzeugen ermöglicht.
Durch diese Ansprüche ergibt sich auch eine Verbindung zwischen Wissen,
Wissenschaft und Machtpositionen einzelner, die den Wahrheitsdiskurs in
seiner Aushandlung beeinflusst. Matt Edgeworth (2012) sieht das Ausgraben
bestimmter Befunde als verkörpertes Wissen, bei dem alle Sinne angewendet
werden und welches nicht so ohne weiteres rationalisiert werden kann. Er
geht einen Schritt weiter als Davidović-Walther und schlussfolgert, dass der
364 — Georg Cyrus
Befund selbst als Akteur gesehen werden kann und wir Archäolog*innen
unsere Theorien vom Material ausgehend konzipieren sollten. Hier scheint
er jedoch Wahrheitsdiskurs mit Normdiskurs zu vermischen. DavidovićWalthers Beobachtung, dass hier Wissen vor allem über die Anwesenheit
von Individuen im Feld hergestellt wird, die eine Diskussion über konkrete
Dinge wie Schichtverläufe oder Befundzusammensetzung führen, spiegelt
sehr deutlich Habermas’ Wahrheitsdiskurs wider.
Schon auf der Ebene der Grabung, so stellt Davidović-Walther fest, beginnen die Ausgräber*innen die Wahrheit, unter den gegebenen meist undemokratischen Verhältnissen, diskursiv auszuhandeln. Im besten Fall ist der
Sinneseindruck noch statisch beobachtbar und man kann vor Ort diskutieren.
In diesem Fall wird der Geltungsanspruch verbal gestellt und dann diskutiert.
Eine andere Form des Geltungsanspruches ist die Dokumentation. Schreiben
die Ausgräber*innen etwas nieder, ist dies ein Geltungsanspruch, der auch
später noch diskutiert werden kann. Bei der Dokumentation spielt Verständlichkeit und Wahrhaftigkeit eine wichtige Rolle. Ist die Dokumentation unverständlich, lässt sich daraus keine Wahrheit erschließen und vertrauen wir
den Ausgräber*innen nicht, so lehnen wir den Geltungsanspruch ebenfalls
ab, diesmal aber, weil wir an ihrer Wahrhaftigkeit zweifeln. Es ist wichtig zu
unterstreichen, dass der Wahrheitsdiskurs keinesfalls objektiv ist, sondern
subjektiv und ideologisch. Er ist aber auf eine andere Weise ideologisch als
der Normdiskurs, nämlich durch Auswahl von verkörpertem und daher meist
unterbewusstem Wissen.
Eine letzte wichtige Erkenntnis für den Wahrheitsdiskurs ist, dass die
Wahrheit banal ist. Der katalogische Diskurs und trockene Grabungspublikationen sind die Folge des Wahrheitsdiskurses. Eine archäologische Wahrheit ist die Reihenfolge von Schichten oder die Konstruktion einer Mauer.
Die Frage ist aber, welche Rolle das in unserer gegenwärtigen Welt spielen
soll. Welche Relevanz hat die Reihenfolge von Schichten für uns? Wollen wir
zu aktuellen Debatten beitragen, müssen wir nicht nur den Wahrheitsdiskurs, sondern auch den Normdiskurs führen. Die Frage lautet also: Wie sollen wir diese archäologischen Wahrheiten interpretieren? Welche Teile sollen
wir mehr berücksichtigen als andere? Welche Gesellschaft sollen wir in den
Funden sehen?
Normdiskurs in der Archäologie
Der Geltungsbereich des Normdiskurses liegt, im Gegensatz zum Wahrheitsdiskurs und wie oben erwähnt, in dem durch Sprache strukturierten Teil der
Wirklichkeit. Die Theoriediskussion bezieht sich vor allem auf die Bücher
Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis — 365
und Schriften einzelner Theoretiker*innen bis hin zu theoretischen Schulen.
Dies kann so weit gehen, dass theoretische Ansätze in der Archäologie als
Scholastik bezeichnet wurden (Bintliff 2011, 9). Der durch Sprache strukturierte Teil unserer Welt ist nicht unabhängig von Beobachtungen und der
Wahrheitsdiskurs ist das beste Beispiel dafür, da er ebenfalls mit Sprache
geführt wird. Insofern gibt es eine Verknüpfung zwischen dem Geltungsanspruch des Wahrheitsdiskurses, also der Beschreibung archäologischer Befunde und dem Normdiskurs, also der Theorie.
Wurde einmal ein Geltungsanspruch in der Theorie erhoben, in der Regel
mit Bezug auf Autor*innen jenseits unseres Faches,4 muss er diskursiv verhandelt werden. Dieser Diskurs wird, wie schon der Wahrheitsdiskurs, nicht
ideal geführt, sondern ist von Machtstrukturen durchdrungen, so dass auch
hier ein Konsens nicht als Konsens im demokratischen Sinne verstanden
werden kann. Ob sich Theorien durchsetzen oder nicht, ist eine sehr komplexe Frage. Die sogenannten Grand Theories, also kulturgeschichtliche Archäologie, Prozessualismus und Postprozessualismus, werden immer unklarer,
je näher man sich mit dem tatsächlichen Diskurs befasst (s. Trigger 1999).
Ich habe den Eindruck, eine Kategorisierung in Grand Theories entsteht vor
allem durch die Leser*innen, die versuchen, eine schier undurchschaubare
Entstehungsgeschichte einer Idee zu vereinfachen, um sie fassen zu können.
Hierfür werden, wie für alle historischen Prozesse, Gründer*innen identifiziert. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass solche Ideen durch travelling
concepts (Bal 2011) entstehen, die teilweise schwer zurück verfolgbar sind
und die Geltungsansprüche sowie die Reaktionen darauf eher als Prozess
des Theoretisierens (Lucas 2015, 28–29) gefasst werden können. Am Ende
ist es dann schwer, einen Ursprung oder Gründer*innen zu finden. Mir geht
es aber nicht um die Frage, wie ein Konsens gefunden, sondern über was
eigentlich diskutiert wird. Meine Ansicht ist, dass es sich nicht um Wahrheit,
sondern um Normen handelt.
Kritische Ansätze beschäftigen sich schon länger mit den Ideologien, die
hinter allen Schritten der archäologischen Arbeit stehen. Dies gilt aber besonders für die theoretischen Gedanken in der Archäologie. Bruce Trigger
(1984) hat etwa die nationalistische Agenda hinter der kulturhistorischen
Archäologie und die imperialistische Agenda der prozessualen Archäologie
beschrieben. Eine ähnliche Erkenntnis im Zusammenhang mit der kulturhistorischen Archäologie äußert Hans-Jürgen Eggers (2010 [1959]) im Rückblick auf die ideologische Nutzung in der Vorkriegszeit. Trigger (1993) stellt
ebenfalls dar, wie marxistische Ideen den Theoriediskurs beeinflussten. Auch
4
Autoren wie: Marx – Giddens – Heidegger – Latour. Ein extremes Beispiel hierfür
liefert Shanks (2007, 593–594).
366 — Georg Cyrus
in der postprozessualen Archäologie wurden Züge der neoliberalen Ideologie identifiziert, die vor allem in ihrer Fokussierung auf Symbolik (Patterson
2005) und der Rezeption der Agency-Theorien (Bernbeck 2003) hervortreten.
Auch gegenüber der symmetrischen Archäologie gibt es die Befürchtung,
dass eine unkritische Auflösung der Grenze zwischen Mensch und NichtMensch als Legitimation für die schleichende Dekonstruktion der Menschenrechte dienen könnte (Burmeister 2012). Der Grund, warum Theorien
einfacher ideologiekritisch betrachtet werden können, wohingegen das bei
Feldarbeit und den meisten Methoden nicht der Fall ist, lautet, dass Theorien
offensichtlicher, wenn auch implizit, als Normdiskurs geführt werden.
Der ideologische Charakter archäologischer Theorien führt aber zu verschiedenen Reaktionen. Einerseits fordern einige, weniger theoretisch zu
arbeiten, da die Archäologie so zu einer Legitimation politischer Handlungen werden kann. Andererseits wird gefordert, den ideologischen und politischen Charakter explizit zu machen, um sich klarer politisch positionieren zu
können und die Ideen nachvollziehbarer zu machen. Gegen die theoretischen
Aspekte in der Archäologie sprach sich zum Beispiel Eggers aus, der die Instrumentalisierung der Archäologie in der Nazizeit noch deutlich vor Augen
hatte. Er plädiert für eine Abkopplung rassistischer Theorien und eine Hinwendung zu einem eher beschreibenden Diskurs (Eggers 2010 [1959]). Diese
Nachkriegsstrategie der Entnazifizierung der Inhalte sieht Ulrich Veit (2002,
38–41) als einen wesentlichen Grund für ein langanhaltendes Theoriedefizit
in der deutschsprachigen Archäologie. Bernbeck (2010, 69–70) bezeichnet
diese Theoriefeindlichkeit als katalogischen Diskurs. Eine ähnliche Meinung
wurde aber auch von Assaf Nativ (2018) vertreten, der die biblische Archäologie für ihren ideologischen Charakter kritisiert und als Gegenvorschlag
‚das Archäologische‘ konzipiert, das man zunächst einmal beschreiben sollte,
bevor man mit Theorien unterfütterte Aussagen tätigt. Obwohl Eggers und
Nativ unterschiedliche Fälle vor sich haben, sind die Parallelen bemerkenswert: Beide sehen die Instrumentalisierung der Archäologie für politische
Agenden als Problem an und schlagen als Lösung vor, zurück zu den Quellen
zu gehen und zu überprüfen, ob solche theoretischen Aussagen überhaupt
gemacht werden können. Mit Habermas gesprochen verlangen beide, dass
man vom Normdiskurs zum Wahrheitsdiskurs zurückkehrt.
Ganz anders wird die Situation von González-Ruibal (2012) bewertet,
der vielmehr verlangt, sich selbst als politische*n Akteur*in und nicht nur
als objektive*n Wissenschaftler*in zu sehen. Er unterscheidet dabei zwischen dem Politischen und der Politik. Letztere ist für ihn der Kampf um
Macht in einem bestimmten Gesellschaftssystem, während das Politische
demgegenüber für Einstellungen und Stimmen aus der Bevölkerung steht.
González-Ruibal spricht sich dafür aus, gegen die etablierte Politik politisch
Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis — 367
zu sein und dazu auch die Archäologie zu mobilisieren. In Reaktion auf den
Rechtsruck in der Europäischen Union geht er zusammen mit Pablo Alonso
González und Felipe Criado-Boado (González-Ruibal u. a. 2018) sogar noch
einen Schritt weiter und befürwortet eine klare öffentliche Positionierung,
die durchaus mit der Archäologie als Legitimation unterstützt werden solle.
McGuire (2008) ist ebenfalls der Meinung, dass Archäologie als politische
Aktion verstanden werden muss. Ihm geht es vor allem darum, archäologische Grabungen mit sozialen Konflikten explizit zu verbinden, um somit Teil
politischer Bewegungen zu werden. Die Liste politisch engagierter Archäolog*innen ließe sich fortsetzen (z. B. Hamilakis 2016; Pollock 2016; Al Quntar
2017). Hier wird die Deutung vollkommen in den Normdiskurs verlagert,
denn die Autor*innen stellen Geltungsansprüche, wie man mit archäologischen Quellen umgehen soll.
Versteckter Normdiskurs in der Archäologie
Nicht alle theoretischen Diskussionen werden offen als Normdiskurs geführt.
Eine Strategie, die bewusst oder unbewusst häufig in der Theoriediskussion
angewendet wird, ist es, den Wahrheitsdiskurs vom Normdiskurs zu trennen
und die Theorie anschließend als Teil des Wahrheitsdiskurses darzustellen,
um Normdebatten nachrangig zu machen. Diese oder jene theoretische Richtung soll nicht ethisch geführt werden, da sie dem Wahrheitsdiskurs diene.
Eine ethische Auseinandersetzung müsse abgetrennt davon geführt werden.
Lewis Binford (1962) nimmt in seinem stets zitierten Artikel Archaeology
as Anthropology Bezug zum Wahrheitsdiskurs, indem er die Worte explication
und explanation benutzt. Er nimmt diese Verschiebung in den Wahrheitsdiskurs vor, indem er Kultur als extrasomatische Anpassung an die Natur konzipiert, also als ein System, das evolutionsbiologischen Paradigmen folgt und
schließlich eine Unterteilung in Subsysteme zulässt. An keiner Stelle wird auf
ethische Fragen eingegangen, obwohl ein evolutionistisches Verständnis von
Kultur und eine systemische Sicht auf Gesellschaften eine ganze Reihe von
ethischen Fragen aufwerfen, die alle mit dem Normdiskurs diskutiert werden
müssen. Ian Hodder (1984) kritisiert etwa, dass hier kein Wahrheitsdiskurs
vorliegt, weil es sich nicht um tatsächliche Beobachtungen handelt, die argumentativ verhandelt werden, sondern immer nur um Hilfshypothesen, die
vorher mal implizit und mal explizit aufgestellt wurden.
Unter der Maxime „zurück zu den Dingen“ finden sich solche Strategien
auch in der posthumanistischen Ding-Theorie der letzten Jahre. Timothy
Webmoor und Christopher Witmore (2008) sehen etwa die Stärke der Archäologie in den Dingen und sprechen sich für eine Gleichberechtigung von
368 — Georg Cyrus
Menschen und Dingen aus, da beides sowieso immer hybridisiert und untrennbar sei. Sie vertreten die Ansicht, dass dieser symmetrische Ansatz reale Netzwerke konstruieren könne und alles, was mit Ethik zu tun habe, eine
Hierarchisierung dieser Netzwerke sei, die nicht mit der eigentlichen Theorie
zu tun habe:
„And we must never confuse this analytical levelling with notions of
axiological or ethical equivalence […]. The former is a strategy for teasing out a vast network of associations among a variety of entities; the
latter arises out of these associations.“ (Webmoor – Witmore 2008, 61)
Das Ziel dabei ist es, eine neue Metaphysik zu etablieren und dieses Projekt ist zweifelsohne im Wahrheitsdiskurs verankert (Alberti 2016, 165–169).
Ein solches Theorieverständnis ist vor allem deswegen interessant, weil
die Gegenstimmen hauptsächlich im Normdiskurs angesiedelt sind (z. B.
Burmeister 2012; Thomas 2015).
Beiden Beispielen gemein ist die Verbindung zum Wahrheitsdiskurs über
bestimmte Konzepte, die in sich selbst nicht als Wahrheitsdiskurs identifizierbar sind: Bei Binford ist es die Evolution und bei Webmoor und Witmore
sind es die vermischten Dinge. Beide Ansätze funktionieren als Bindeglied
zwischen tatsächlichen Beobachtungen, die Teil des Wahrheitsdiskurses sind
und Theorien und Interpretationen die Normdiskurse entfachen.
Verbindung zwischen Wahrheitsdiskurs und Normdiskurs
Für Habermas gibt es Verbindungen zwischen Wahrheitsdiskurs und
Normdiskurs. Der Wahrheitsdiskurs strukturiert Beobachtungen durch
einen Konsens als Teil der durch Sprache strukturierten Welt und das bedeutet, Wahrheiten sind Teil der Kultur. Der Normdiskurs hingegen wird
auf Grundlage dieser sprachlich strukturierten Welt geführt und bezieht
sich somit auf die geführten Wahrheitsdiskurse. Was Habermas unerwähnt
lässt, ich aber für eine wichtige Ergänzung halte, ist, dass Wahrheit in einer
Diskussion geschaffen wird und damit immer von schon vorhandenen Normen abhängt. Habermas geht es in seinem Text auch darum, die Normen
für einen Wahrheitsdiskurs zu etablieren, die er für ethisch vertretbarer
hält, nämlich die ideale Sprechsituation. Der Wahrheitsdiskurs umfasst
also Beobachtungen als Geltungsbereich, wird aber über einen durch Normen geprägten Sprechakt vollzogen. Der Normdiskurs hat die sprachlich
strukturierte Welt als Geltungsbereich, basiert jedoch auf ausdiskutierten
Wahrheitsdiskursen.
Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis — 369
Das hat für die Archäologie eine ganze Reihe von Implikationen. Der
Wahrheitsdiskurs in der Archäologie wird durch viele außerarchäologische
Normen geprägt, wie der Hierarchisierung der Gesellschaft sowie der Sprachen, in der wir schreiben und denken. Die Normdiskussion in der Archäologie wird jedoch vor allem anhand auf diese Weise etablierte Wahrheiten und
andere Normen außerhalb der Archäologie geformt. Auch die archäologische
Theorie sollte auf archäologischen Wahrheiten aufbauen. Das macht sie aber
noch nicht zu einem Teil des Wahrheitsdiskurses.
Da wie oben ausgeführt Wahrheits- und Normdiskurs unterschiedlich
funktionieren, plädiere ich für historische Synthesen, die als Normdiskurs
geführt werden. Es geht hierbei um die Frage, welche spezifische Auswahl
wir treffen, denn die Auswahl bestimmt, welche Teile der Geschichte Teil
unserer Gesellschaft wird oder bleibt. Um die weiter oben erwähnte passive
Historisierung, also dem langsamen, aber stetigen Vergessen der Geschichte
mit Vergehen der Zeit, abzufedern, braucht es eine aktive Historisierung.
Diese ist die gezielte Beschäftigung mit der Geschichte, die es ermöglicht,
auch längst vergangene Menschen wieder in unsere moralische Gemeinschaft aufzunehmen (Tillmanns 2012, 23–24). Die normative Frage lautet
also: Wen sollen wir aktiv historisieren, wen sollen wir in unsere moralische
Gemeinschaft aufnehmen? Welche Auswahl sollen wir treffen? Archäologische Theorien sollten als Normdiskurs geführt werden, weil sie am offensichtlichsten politisch motiviert sind und nicht nur die Legitimationsgrundlage für archäologische Narrative darstellen, sondern häufig genug auch für
tatsächliches politisches Handeln genutzt werden können.
Aussichten und Grenzen des archäologischen Normdiskurses
In diesem Artikel habe ich die archäologische Wissensproduktion von der
Ausgrabung bis zur historischen Synthese und Theoriearbeit mit der Wahrheitstheorie von Habermas dargestellt. Dabei habe ich festgestellt, dass die
Ausgrabung und Dokumentation sowie bedingt auch der Fundbericht als
Wahrheitsdiskurs und das theoretische Arbeiten als Normdiskurs beschrieben werden können. Methoden besetzen einen für mich noch nicht ganz
fassbaren Raum und ich nehme an, dass es hier auf die konkrete Anwendung
ankommt. Daher habe ich mich auf die Dokumentation der archäologischen
Feldpraxis und die archäologische Theorie fokussiert. Normdiskurs und
Wahrheitsdiskurs sind durchaus miteinander verknüpft, funktionieren aber
in anderen Geltungsbereichen und können daher getrennt beschrieben werden. Das grundsätzliche Problem, das in der Archäologie, aber auch in anderen Wissenschaften, besteht, ist, dass der Normdiskurs nicht ausreichend als
370 — Georg Cyrus
solcher anerkannt wurde und ich schlage daher vor, archäologische Theorie
explizit als Normdiskurs zu führen.
Die hier vorgestellte Wahrheitstheorie hat jedoch ihre Grenzen, da sie
nur im Bereich der Sprache funktioniert. Deutlich wird das an folgendem
Beispiel, in dem eine Verlagerung des Normdiskurses zum Wahrheitsdiskurs verlangt wird, da die Sprache nicht ausreicht, um einen Normdiskurs
zu führen. In der Debatte über die Fassbarkeit des Völkermordes durch
die Nazis wurde verlangt, zu beschreiben und nicht zu erzählen (Scherpe
1995). Diese Forderung unterscheidet sich von den weiter oben beschriebenen Forderungen, zum Wahrheitsdiskurs zurückzukehren, um die Archäologie gegen politischen Missbrauch zu schützen, fundamental. Hier geht es
darum, wie mit einem Ereignis umgegangen werden soll, dem man eigentlich mit Worten nicht gerecht werden kann. Es geht um die Grenzwerte des
menschlich Fassbaren. Sollte man eine moralisierende Erzählung oder eine
leere Beschreibung des Holocausts bevorzugen? In einem solchen Kontext
kann auch Habermas’ Wahrheitstheorie nicht mehr funktionieren, die auf
der sprachlich strukturierten Welt aufbaut. Auch bei der Rekonstruktion der
älteren Vergangenheit könnten wir es mit unbeschreiblichen Ereignissen zu
tun bekommen, die weder verglichen noch beschrieben werden können. Die
einzige Verantwortung, die wir dann noch haben, sei das Beschreiben der
Ereignisse, soweit es uns möglich ist.
Habermas (1984 [1972], 174–183) schließt sein Essay über die Wahrheitstheorie mit der Konzeption der idealen Sprechsituation, die für ihn die einzige Möglichkeit darstellt, einen idealen Norm- und Wahrheitsdiskurs zu
führen. Hier stellt er sich einen herrschaftsfreien Diskurs vor, in dem jede*r
gleichwertig miteinander Gedanken austauschen kann und jede*r mit dem
Willen zur Wahrheit die Argumente des*der andere*n abwägt. Bei der idealen Sprechsituation handelt es sich gewissermaßen um eine WissenschaftsUtopie, die wir noch nicht erreicht haben. Habermas sagt, dass ein Wahrheitsdiskurs ohne ideale Sprechsituation eigentlich gar nicht geführt werden
müsse, aber die Realität ist der Utopie so fern, dass eine konsequente Durchführung dieser Forderung (entweder ideale Sprechsituation oder gar nichts)
unweigerlich zum Ende der Diskussion führen würde. Ich glaube trotzdem,
dass utopische Ideen wichtig sind, um zielgerichtet zu handeln. Anstatt einer
entweder ganz oder gar nicht-Mentalität sollte man immer wieder versuchen,
diese Utopie zu erreichen, auch wenn ein Erfolg aussichtslos ist. Mir ist klar,
dass es mühsam ist, theoretische Diskussionen als Normdiskurs zu führen
und mir ist ebenso klar, dass es mühsam ist, alle Stimmen gleichberechtigt
sprechen zu lassen und dass es noch mühsamer ist, sich von anderen Ideen
überzeugen zu lassen. Aber ich denke, mit Habermas gesprochen, dass es ein
Normdiskurs ist, der geführt werden soll.
Der Geltungsanspruch archäologischer Praxis — 371
Danksagung
Danke an den Berliner Theorielesezirkel, in dem ich viele der Gedanken über
die Jahre entwickelt habe. Teile der Literaturliste dürften an die Texte erinnern,
die wir dort gelesen haben. Ich danke außerdem den Herausgebern dieses Bandes, dass sie mir die Möglichkeit zur Publikation meiner Ideen gegeben haben.
Zuletzt danke ich Arno Hölzer und Lea Rees für das Gegenlesen dieses Beitrags.
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Kontakt
Georg Cyrus | georg.cyrus@gmx.de |
https://orcid.org/0000-0003-4990-5321
Ethik und Verantwortung
Die Hinwendung zum Tier. Ein Interview
zu (kritischen) Tierstudien
Henriette Baron , Daniel Lau, Martin Renger
Stefan Schreiber , Alexander Veling
,
Vorwort Archäologie stellte lange Zeit fast ausschließlich menschliches
Handeln und Wirken ins Zentrum. Seit mehreren Jahren ist quer durch die
Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften jedoch eine Verschiebung festzustellen, die eine Hinwendung zum Tier vollzieht. Um die unterschiedlichen
Dimensionen dieser Sichtweise zu diskutieren, baten wir zwei archäologische Forscher*innen, ihre Perspektiven in einem schriftlich geführten Interview darzulegen. Dazu haben wir neun identische Fragen an Daniel Lau und
Henriette Baron gesandt, die sich dankenswerterweise bereit erklärten, nicht
nur unsere Fragen zu beantworten, sondern auch einen abschließenden Kommentar zu den jeweils anderen Interviewantworten abzugeben. Gerade die
sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Positionen unserer Interviewpartner*innen sind u. E. dazu geeignet, das Potenzial, aber auch die möglichen
Schwierigkeiten der (kritischen) Tierstudien in der und für die Archäologie
zu beleuchten.
Schlüsselbegriffe Human-Animal Studies; Animal Studies; Critical Animal
Studies
Preface For a long period, archaeology was focused almost exclusively on
human action and activity. During the past several years, however, there has
been a shift across the humanities, cultural studies, and social sciences towards the study of non-human animals. In order to discuss the different dimensions of this new focus, we asked two archaeological researchers to present their perspectives in a written interview. For this purpose, we sent nine
identical questions to Daniel Lau and Henriette Baron, who kindly agreed not
only to answer our questions, but also to provide a concluding commentary
on each other’s interview answers. In our opinion, the very different experiences and positions of our interview partners are particularly illuminating
Henriette Baron u. a., Die Hinwendung zum Tier. Ein Interview zu (kritischen) Tierstudien, in: Martin
Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen
und Ansätze im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023)
377–396. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15031
377
378 — Henriette Baron u. a.
in terms of the potential, but also the possible difficulties of (critical) animal
studies in and for archaeology.
Keywords Human-Animal Studies; Animal Studies; Critical Animal Studies
Interview
Herausgeber Sie beschäftigen sich mit Human-Animal Studies (HAS), Animal Studies (AS) bzw. Critical Animal Studies (CAS). Wie sind Sie zu dieser
Forschungsrichtung gekommen, wie verstehen Sie diese und was reizt Sie
besonders daran? Geht es Ihnen eher darum, posthumanistische Narrationen für heutige Debatten anzubieten, Tieren der Vergangenheit Sichtbarkeit zu verschaffen oder darum, die (Un)Sichtbarmachung von Tieren
in der Vergangenheit zu thematisieren? Was motiviert Sie spezifisch als
Archäo(zoo)log*in, sich diesem Bereich zu widmen? Welche Unterschiede sehen Sie zu bisherigen Perspektiven auf Tiere in der Archäologie? Wo
sehen Sie die wichtigsten Potenziale für die nächsten Jahr(zehnt)e?
Daniel Lau Mein Forschungsfeld sind die Critical Animal Studies (CAS) –
diese verstehe ich in deutlicher Abgrenzung zu den Human-Animal Studies
(HAS) und den Animal Studies (AS). Während die AS sich generell dem
Tier als Forschungsobjekt nähern und beispielsweise Migrationen untersuchen, aber sich auch (unkritisch) mit Vivisektion beschäftigen, steht
bei den HAS das Tier als Subjekt in Interaktion mit dem Menschen im
Vordergrund. Hier wird beispielsweise untersucht, welche symbolische
Bedeutung Tiere im Miteinander mit dem Menschen haben (oder hatten)
und es wird der Frage nach einer animal agency nachgegangen. Ebenso
wie die AS sind die HAS gegenüber Ausbeutungsverhältnissen unkritisch
und dekonstruieren die Machtverhältnisse nicht, decken sie nicht auf, sondern schreiben sie fort und zementieren sie damit. Wenngleich das Tier
den HAS gemäß im Mittelpunkt steht, ist es doch wiederum nur ein Forschungsobjekt und nicht Subjekt.
Im internationalen Bereich wird der politische Arm der HAS als CAS
bezeichnet. Hier geht es darum, die vielfältigen Mensch-Tier-Beziehungen
hinsichtlich der asymmetrischen Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen,
Stichwort: Speziesismus. Also die Bevorteilung einer Spezies (des Menschen) gegenüber anderen Spezies (den sogenannten Tieren). Die CAS
verknüpfen daher auch Standpunkte der Tierbefreiungsbewegung mit
dem akademischen Diskurs. Die CAS positionieren sich eindeutig als anti-speziesistisch und verfolgen in der Regel einen total liberation-Ansatz.
Die Hinwendung zum Tier — 379
Ziel ist es – wenngleich utopisch – eine befreite Welt für alle Tiere, einschließlich des Menschen, zu schaffen.
Im deutschsprachigen Raum gibt es keine strenge Unterscheidung
zwischen HAS und CAS – hier gibt es vielmehr innerhalb der HAS einige
Protagonist*innen, die eine politische Position vertreten und zudem in
der Tierbefreiungs- oder Tierrechtsbewegung aktiv sind oder dieser nahestehen. Ich selbst bin Gründer und Herausgeber der Zeitschrift für Kritische Tierstudien und versuche hier, eine deutlichere Positionierung der
CAS im deutschsprachigen Raum zu erzielen, um einer Verwässerung der
CAS-Positionen mit den unpolitischen HAS-Positionen entgegenzuwirken. Zugleich bin ich seit einigen Jahren in der Tierbefreiungsbewegung
aktiv und lebe seit zehn Jahren vegan (im strikt politischen Sinne, nicht
als Diät oder Fitness-Hype, denn beides wiederum entpolitisiert den Diskurs, der einer veganen Lebensweise ursprünglich zugrunde lag). Dass
ich mich in meinen Schriften zu den CAS hingezogen fühle, ist also nur
logische Konsequenz aus meiner Vita.
Posthumanistische Debatten interessieren mich weniger – ich versuche anhand archäologischer Belege die Anfänge des Speziesismus zu
fassen. Herauszufinden, wann es offensichtlich normativ geworden ist,
dass Menschen Nicht-Menschen ausbeuten. Ich frage mich, wann das
Fangen, Einsperren, Züchten und das Töten – als finaler Akt der Beherrschung – kein Tabu mehr war, sondern zum Alltag gehörte. Interessant
ist, wie Nicht-Menschen überhaupt gesehen wurden – hier hänge ich den
vier ontologischen Modellen von Philippe Descola an, um eine andere
als die westliche Sichtweise auf Nicht-Menschen zu gewinnen (Descola
2011, Anm. d. Herausgeber). Wer ist Mensch – wer ist Nicht-Mensch? Eng
verknüpft damit sind auch Praktiken der Dehumanisierung oder Animalisierung, in denen Fremde (auch heute noch!) auf den Status von Tieren
herabgesetzt werden, so dass damit ihre Ausbeutung, Verfolgung und
letztlich Tötung legitimiert wird.
In den letzten Jahren haben die HAS Einzug gehalten in die vielfältigen
archäologischen Diskurse, wenngleich die Beschäftigung mit ‚dem Tier‘
der archäologischen Forschung vom Anbeginn inhärent ist. Wer sich mit
Neolithisierungsprozessen auseinandersetzt, wird sich auch mit der Domestikation sogenannter Haustiere befassen wollen und wen die Bilderwelten der antiken Gesellschaften interessieren, wird zwangsläufig auch
die Darstellungen von Nicht-Menschen sehen. In diesen Forschungsbeispielen – ob rituell-kultisch oder ökonomisch motivierte Interpretationen
getätigt werden oder ob sich das Interesse auf das Vermessen und Klassifizieren von Knochen beschränkt – wird das ‚Tier‘ hier als Objekt gesehen, an dem menschliche Geschichte gemessen wird. Dass sich Menschen
380 — Henriette Baron u. a.
und andere Tiere stets gegenseitig beeinflusst haben, wird in der großen
Mehrheit der archäologischen Forschung allenfalls in einer Fußnote registriert, nie jedoch explizit formuliert. Denn das würde bedeuten, anzuerkennen, dass Menschen die ganze Zeit über Nicht-Menschen gefangen
genommen, gequält, ausgebeutet und getötet haben. Diesen eklatanten
Speziesismus in der Archäologie aufzudecken und publik zu machen, ist
eine spannende Aufgabe, der ich mich stelle und die mich fasziniert. Im
Zuge der gegenwärtigen Debatten um Fleischkonsum, Massentierhaltung
oder Nachhaltigkeit sehe ich die Chance, die CAS – insbesondere in Verbindung mit der Archäologie – zu einem befreiten Forschungszweig zu
machen, denn im Gegensatz zu der oftmals beschworenen Objektivität
der Wissenschaft erkennen die CAS, dass diese Objektivität ein Konstrukt
ist. Wir bekennen uns zu unseren politischen Zielen und verfolgen diese
und verorten vor allem unsere Forschung geopolitisch.
Henriette Baron Ich habe mich schon immer für Tiere interessiert und ich
mochte das Crossover aus Archäologie und Tieren, das die Archäozoologie
bietet. Mich hat dabei zunächst einmal die Spurensuche gereizt: wie man
aus Knochen (die ich im Übrigen als Arbeitsmaterial sehr liebe) einen
ganzen Kosmos an Erkenntnissen herauslesen kann. Im Laufe der Jahre
sind mir aber zunehmend die weißen Flecken bewusst geworden: Das
Phänomen, dass in der Archäologie die Rolle, die Tiere im Alltagsleben
hatten, vielfach nicht beachtet wird, dass Forscher*innen auf dem Auge
geradezu blind sind und die Bedeutung der Tiere massiv unterschätzen.
Ich denke, dass das zu einem gewissen Grad daran liegt, dass Tiere
heutzutage in unseren Leben eine so untergeordnete Rolle spielen. Wir
sehen sie nicht mehr: Wir erleben die Nutztierhaltung und die Schlachtung
nicht mehr mit; viele Menschen sind nicht in der Lage, eine Amsel oder
eine Lerche zu erkennen; man kennt Hühner nur noch in totem Zustand.
Das assoziationsreiche Sozialverhalten von Tieren, das Jahrhunderte, Jahrtausende lang Menschen inspiriert hat, sich selbst in Tieren wiederzuerkennen und sie dazu zwang, sich mit ihnen zu arrangieren, ist unsichtbar
geworden – und damit verarmt unsere Perspektive auf Tiere. Sie werden
eindimensionaler wahrgenommen als früher. Insofern ist es mir tatsächlich
ein Anliegen, Tiere und ihre Verwobenheit mit Menschen und Gesellschaften in der Vergangenheit sichtbar zu machen. Ich möchte über diese Sichtbarmachung auch erreichen, dass Menschen von heute ihre Perspektiven
auf Tiere hinterfragen können und sich mehr damit auseinandersetzen,
wie irrational und komplex unser Verhältnis zu Tieren ist. Für mich stand
also immer die Beziehung zwischen Menschen und Tieren im Vordergrund und ich verorte mich entsprechend mit meinen archäozoologischen
Die Hinwendung zum Tier — 381
Forschungen in den Human-Animal Studies (HAS). Die Critical Animal
Studies (CAS) hingegen vermengen in meiner Wahrnehmung zu stark
Emotionen bzw. politische Agenda und Wissenschaft. Sie gehen, sobald
sie sich von der Gegenwart und Zukunft ab- und der Vergangenheit zuwenden, damit das Risiko ein, historische Begebenheiten nicht unter den
Bedingungen ihrer eigenen Zeit zu betrachten, sondern an modernen ethischen Maßstäben und zeitgenössischen politischen Zielen zu messen. Bei
den Animal Studies (AS) wiederum fehlt mir der Fokus auf den Menschen.
Als wichtigstes Potenzial für die Zukunft sehe ich die bessere Integration archäozoologischer Erkenntnisse in archäologische und historische Fragen. Vielen Archäolog*innen ist nach wie vor nicht bewusst, dass
die Archäozoologie wesentlich mehr leistet, als zu rekonstruieren, was
Menschen gegessen haben. Dafür muss sich aber auch die Archäozoologie stark wandeln: von einer primär naturwissenschaftlich operierenden
Disziplin hin zu einer naturwissenschaftlich basierten, wirklich interdisziplinär aufgestellten Geisteswissenschaft, die ihre Faktengrundlage,
maßgeblich unter Einbeziehung theoretischer Rahmenwerke, auf andere
Fragestellungen hin prüft als es bisher die Regel ist – und ihre Ergebnisse
nachdrücklicher kommuniziert.
Herausgeber Viele archäologische Grundkonzeptionen (z. B. Temporalität, Raum, Leben / Tod) sind an menschlichen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Dispositionen ausgerichtet, so kulturell unterschiedlich diese
auch entworfen werden. Wie müsste ein archäologischer Deutungsrahmen konzeptuell beschaffen sein, um Erfahrungs- und Lebensräume sehr
unterschiedlicher Spezies einzufangen? Besteht hier nicht die Gefahr, anthropozentrische Sichtweisen zu reproduzieren und sie um weitere ‚kolonisierbare‘ Spezies zu erweitern?
Daniel Lau Von einem epistemologischen Standpunkt aus betrachtet, können wir einem Anthropozentrismus nicht entkommen. Allerdings können wir versuchen, eine ontologisch andere Perspektive einzunehmen –
die Modelle nach Descola sind als heuristisches Werkzeug zu verstehen,
derer wir uns bedienen können, um nachzuvollziehen, wie unterschiedlich Nicht-Menschen wahrgenommen werden können. Auf der anderen
Seite kann freilich versucht werden, auch die Perspektive und die Lebensumwelt aus Sicht der untersuchten Spezies zu beschreiben. Einen
solchen Versuch beispielsweise stellen die Studien des Jakob Johann von
Uexküll dar, der die Lebenswelt einer Zecke zu beschreiben versucht (von
382 — Henriette Baron u. a.
Uexküll – Kriszat 1934; Anm. d. Herausgeber). Hier wird deutlich, dass
die Zecke über gänzlich andere Wahrnehmung und Temporalität verfügt
als der Mensch. Die Zecke sitzt auf einem Ast und wartet auf ein anderes Lebewesen, auf das sie sich herunterfallen lassen kann, um das Blut
zu trinken. Langzeitexperimente haben gezeigt, dass eine Zecke 18 Jahre
lang ohne Nahrung einfach nur warten kann. Wie nimmt also eine Zecke
Zeit wahr? Sicherlich anders als der Mensch. Anhand der zoologischen
Erkenntnisse über Wahrnehmung der Nicht-Menschen ist es uns möglich, Modelle zu entwerfen, wie diese Nicht-Menschen eventuell wahrgenommen haben könnten. Das beginnt bei Banalitäten wie Seh- und
Geschmackssinn und führt aber auch zu dem Versuch, Innenwelten zu
rekonstruieren – letztlich ist es nichts anderes, als sich in die Vorstellung
eines Sumerers oder einer Ägypterin zu versetzen – wir wissen schlicht
und ergreifend nicht, was diese Menschen gedacht oder getan haben,
denn sie sind uns in Raum und Zeit fremd geworden. Natürlich lässt
sich die Erfahrungswelt einer Zecke nicht mit einem Menschen aus der
Bronzezeit gleichsetzen, jedoch ist es auf einem gewissen Abstraktionsgrad um unsere Kenntnis beider Welten gleich schlecht bestellt.
In den HAS gibt es im Bereich der Geschichtswissenschaften einen
Ansatz, eine Tiergeschichtsschreibung zu entwickeln, also eine Geschichte aus der Sichtweise der Nicht-Menschen. Eine der führenden
Historiker*innen auf diesem Gebiet ist Mieke Roscher. Ziel dieser Tiergeschichtsschreibung ist nicht eine menschliche Historie ‚mit Tieren‘,
sondern eine wahrhaftige Geschichte der Tiere. Hier darf auf keinen Fall
das asymmetrische Herrschaftsverhältnis aus dem Blick verloren werden.
Hier muss angeklagt werden – spätestens die erste Waffe, die im Paläolithikum gegen einen Nicht-Menschen gerichtet wurde, muss geächtet
werden. Gleichfalls sind Zeiträume der sogenannten Domestikation als
Zeiten der Verfolgung, Gefangennahme und Ausbeutung zu beschreiben.
Diese anthropogenen Einflüsse hatten Wirkung auf die Nicht-Menschen,
aber auch umgekehrt hatten die Migrationen der Nicht-Menschen und
schließlich die Konstruktion von sogenannten Wild- und Haus- oder
Arbeitstieren Auswirkungen auf das Sozialgefüge und die Geschichte des
Menschen. Kein Krieg in den letzten 10.000 Jahren ist vom Menschen alleine geführt worden. Die Nicht-Menschen wurden unweigerlich stets in
die Belange des Menschen involviert – sie hatten keine Wahl. Hier können nur ganz oberflächlich einige Themen angerissen werden, doch sie
verdeutlichen die Gefahr, dass die unkritische Beschäftigung mit der Hinwendung zum Tier in den Wissenschaften (Animal Turn) zu einer weiteren Kolonisierung aber vor allem zu einem perpetuierten Herrschaftsverhältnis des Menschen über alle anderen führt.
Die Hinwendung zum Tier — 383
Henriette Baron Ich denke auch, dass wir dem Anthropozentrismus nicht
entkommen können. Ich befürchte, dass es, wenn überhaupt, nur sehr
begrenzt möglich ist, die Wahrnehmungen von Tieren in historischen
Situationen nachzuvollziehen. Meines Erachtens ist es schon schwierig
genug, es für heutige Tiere zu tun oder eine annähernd emische Perspektive von Menschen aus vergangenen Zeiten einzunehmen. Ich sehe eine
Rekonstruktion der Erfahrungsräume unterschiedlicher Arten in der Vergangenheit auch nicht unbedingt als ein Hauptziel der Archäozoologie
oder der HAS an.
Was räumliche Fragestellungen anbelangt, ist es wesentlich, sich zu
vergegenwärtigen, wie die Aktivitätszonen und Lebensräume von Menschen und Tieren sich überlappten und gegenseitig beeinflussten, nicht
nur in eine Richtung! In der Biologie, Geologie und Paläontologie gibt
es das sog. Aktualitätsprinzip, demzufolge für die Rekonstruktion historischer Prozesse nur solche Faktoren berücksichtigt werden, die heute
noch nachweisbar sind. Beispielsweise bedeutet dies, dass Ansprüche einer Art an Futter und Habitat auf vergangene Zeiten übertragen werden,
um umweltgeschichtliche Prozesse nachzuvollziehen. So kann man z. B.
die Besiedlung einer antiken Stadt durch archäozoologisch nachgewiesene Wildtierarten, z. B. Kleinsäuger, Reptilien und Vögel, rekonstruieren
und damit Lebenswelten vergangener Tiere rekonstruieren.
Es kann versucht werden, Aspekte wie die Wahrnehmung von Zeit
oder das Sterben quellenkritisch auf vergangene Zeiten zu übertragen,
auf der Basis von Erkenntnissen aus Studien an heutigen Tieren. Das sind
durchaus Forschungsideen, die aus einer Öffnung der Altertumswissenschaften hin zu aktuellen Strömungen der HAS resultieren können. In
einer hermeneutisch arbeitenden Geisteswissenschaft, die Thesen auf Basis ihrer Faktengrundlage prüft und ihre Fragestellungen auf Basis der
Ergebnisse sukzessiv verfeinert, können solche Studien klar einen Mehrwert für die Auseinandersetzung mit Mensch-Tier-Beziehungen in der
Vergangenheit erzielen.
Herausgeber Inwieweit ist für Sie die Trennung von Mensch und Tier immer bereits eine machtdurchzogene Ausgrenzung oder Einbeziehung von
Wesenheiten? Treffen Praktiken der Dehumanisierung, Animalisierung
und die Produktion von Subalternität menschlicher Akteur*innen auf jene
der Anthropomorphisierung, Humanisierung und Fetischisierung nichtmenschlicher Akteur*innen? Sind dies aus Ihrer Sicht eher gegenläufige
Prozesse, die sich an einer wie auch immer gearteten Grenze zwischen
384 — Henriette Baron u. a.
menschlichen und nichtmenschlichen Tieren treffen? Oder bewegen wir
uns in einem Kontinuum, dessen Grenzziehung biopolitischer Natur ist
und die Zugehörigkeiten jeweils diskursiv und performativ erzeugt?
Daniel Lau Wie ich eingangs zu den CAS bereits ausführte, betrachte
ich die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen als ein Geflecht aus
asymmetrischen Machtverhältnissen. Menschen nehmen sich das Recht
heraus, Nicht-Menschen aus ihren Familienverbänden zu reißen, die
Sexualpartner*innen und die Nahrung vorzugeben, Zuchtprogramme
durchzuführen und nach einem mehr oder weniger kurzen Leben in
Gefangenschaft die Nicht-Menschen (teilweise noch im Kleinkind- oder
Kindesalter) zu töten, um sie dann zu verzehren und zu verwerten. Man
stelle sich vor, dass Menschen andere Menschen so behandeln würden –
da ginge ein Aufschrei durch die Medien. Aber dass diese Form der Ausbeutung seit Jahrtausenden stattfindet – unhinterfragt und völlig normal – das ist der eigentliche Skandal. Wenn Menschen dehumanisiert
werden und Tiere vergöttert – ist das dann ein Gegensatz? Oder ist es
nicht vielmehr so, dass es ganz wunderbar in die politische Propaganda
passt? Der Löwe, der als König der Tiere herrscht, ist in vielen Gesellschaften ein Paradebeispiel dafür, dass Tiersymbolik die Gegebenheiten
der Humangesellschaft verschleiern und als natürliche Ordnung wiedergeben soll. Die Schafe, die dem Hirten folgen, finden eine schöne
Analogie im Pfarrer und seiner Gemeinde. Oder um ein Beispiel aus der
Gegenwart zu nehmen: bei den Nazis hatte der Wolf eine identitätsstiftende Bedeutung, ebenso der seinem Herren treue und loyale Hund, allen voran der Deutsche Schäferhund. Diese Wolf-/Hund-Symbolik lässt
sich auf Soldaten der Wehrmacht und die Bürger*innen im Dritten Reich
übertragen, während Randgruppen, vor allem aber Menschen jüdischen
Glaubens als Ratten oder Ungeziefer betrachtet wurden. Diese Animalisierung, bis hin zur Dehumanisierung und totalen Objektifizierung als
Nummer, verdeutlicht, was der absolute Herrschaftsanspruch ist. Die
Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch ist ein fließendes Konstrukt und je nach gesellschaftlichem Konsens in die eine oder andere
Richtung zu verschieben. Die Zugehörigkeit zum ‚Menschen‘ oder zum
‚Tier‘ bestimmt nicht die Biologie, sondern die herrschende Klasse (die
natürlich lehrt, was Biologie ist) – in der Gegenwart und in den letzten
hundert Jahren also der heterosexuelle, weiße, wohlhabende und gesunde Mann. Frauen, Kinder, people of colour, Fremde, Menschen mit Behinderungen und andere Randgruppen wurden jeher in den Nahbereich
zum Tiere gestellt, über die ‚Mann‘ dann nach seinem Willen verfügen
kann.
Die Hinwendung zum Tier — 385
Auf der anderen Seite wird Menschen, die im Bereich der HAS / CAS
forschen, vorgeworfen, dass sie ‚Tiere‘ anthropomorphisieren. Allein aus
epistemologischen Gründen ist dies, wie oben schon gesagt, kaum unumgänglich, denn wir können nur aus der Erfahrungswelt der Menschen
schöpfen, dennoch ist der Versuch erstrebenwert, uns den Lebenswelten
der Nicht-Menschen anzunähern. Das ganze Projekt wegen eines Anthropomorphismus-Vorwurfs aufzugeben, hieße, den Befreiungskampf zu
begraben, denn am Speziesismus hängen, wie gezeigt, andere -ismen, die
es aufzudecken und zu bekämpfen gilt, wenn das Ziel eine befreite Welt
sein soll. Die Dehumanisierung und die Anthropomorphisierung hängen miteinander zusammen. Es geht um Macht und Herrschaft – über
Nicht-Menschen und diese können, wie gesagt, auch der Spezies homo
sapiens angehören, wenn es das gegenwärtige Gesellschaftsbild der Elite
diktiert.
Henriette Baron Die Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren ist
meinerseits ein natürlicher Prozess – die Produktion von Alterität muss
nicht grundsätzlich machtdurchzogen sein, sondern dient meines Erachtens im Ursprung unserem tiefen Bedürfnis, die Welt ontologisch zu ordnen und sich über eine Charakterisierung des anderen über das Selbst
klar zu werden. Eine solche Ordnung muss zwar nicht zwangsläufig hierarchisch sein, war es aber gewiss in der Regel. Wenn man sich nun über
Abgrenzung zu anderen Wesen selbst charakterisiert, kann man dies im
Umgang mit Tieren auf sehr unterschiedliche Weise leben. Das ist aber
nur ein Faktor in dem großen Komplex an Faktoren, die den Umgang miteinander beeinflussen; und es ist vermutlich nicht unbedingt der für die
Altertumsforschung am besten nachzuvollziehende. Setzt man voraus,
dass die Beziehung zu Tieren in früheren Zeiten ähnlich instinktiv, komplex und schwer ergründlich war wie sie es heute ist, können wir davon
ausgehen, dass diesem sich daraus ergebenden Umgang meist ein großes
Moment der Irrationalität und des Unbewussten innewohnte.
Ich bin aber überzeugt, dass Menschen ihre Verhaltensweisen schon
immer in Tieren wiedererkannt haben und deshalb eine gewisse Verwandtschaft, insbesondere mit Wirbeltieren bzw. Säugetieren, anerkannt
haben. Betrachtet man die Frage, in Bezug auf welche Eigenschaften
sich Menschen von Tieren abgrenzten (oder auch nicht) und in welchen
Praktiken im Umgang mit Tieren sich dies manifestierte, sollte man das
gesamte kulturelle Amalgam der betrachteten Gesellschaften berücksichtigen: Hier spielen Religion, Mythen, Aberglauben und andere Vorstellungen, Alltagspraxis, Kenntnis und Unkenntnis sowie menschliche
Gesellschaftsstrukturen eine gewaltige Rolle.
386 — Henriette Baron u. a.
Herausgeber Wie bewerten Sie das empirische Potenzial (kritischer) archäologischer Tierstudien? Was sind die Untersuchungseinheiten der
Human-Animal Studies, was die für Sie zentralen und spannenden Fragestellungen? Handelt es sich um eine forschungspraktische Richtung oder
geht es eher um eine grundsätzliche theoretische und ethische Reflexion?
Wie sieht Ihrer Meinung nach eine Methodologie aus, die sich an den
Human-Animal Studies orientiert und worin unterscheidet sich eine solche von bisherigen Ansätzen in der Forschung? Welche Folgen sehen Sie
für die wissenschaftliche Arbeit, müsste sich z. B. der Umgang mit tierischen Überresten ändern, wird er per se problematisch?
Daniel Lau Bislang stecken die AS / HAS / CAS wissenschaftlich betrachtet
in den Kinderschuhen – eine allgemein anerkannte Methodik hat sich
noch nicht etabliert. Es sind multi- und interdisziplinäre Ansätze, die hier
verfolgt werden und die wenigen Protagonist*innen haben ihre jeweils
eigenen Ideen, Forschungsinteressen und politischen Hintergründe. Eines
kann meiner Meinung nach aber die Archäologie von den CAS lernen:
Sich klar und eindeutig zu positionieren. Jeder guten wissenschaftlichen
Praxis geht eine Verortung im geopolitischen Gefüge voran. Objektivität
zu behaupten, ist Heuchelei oder Unverstand. Wir können stets nur von
unserem jeweiligen Kenntnisstand aus operieren, der in hundert Jahren,
oder vielleicht auch schon morgen, völlig überholt sein kann.
Im Umgang mit Nicht-Menschen steht die Archäologie ganz am Anfang – aber das ist sie im Umgang mit menschlichen Hinterlassenschaften
offenbar auch, wie ich persönlich auf internationalen Grabungen erleben
musste. Der Umgang mit tierlichen Resten ist demnach nicht weniger
problembehaftet als der Umgang mit Menschenknochen. Beides wird bei
einer Ausgrabung mehr oder weniger pietätlos als Forschungsobjekt behandelt, das dekontextualisiert in die Gegenwart und Sterilität des wissenschaftlichen Sehens gerückt wird, um dabei auszublenden, welche
Schicksale hinter dem Individuum stecken.
Henriette Baron Da Tiere in vormodernen Gesellschaften massiv mit allen Sphären menschlicher Existenz verwoben waren, haben sie ein großes empirisches Potenzial. Tiere sind auf vielfältigste Weise mit einem
ganzen Kosmos archäologischer Fragestellungen der Wirtschafts-, Technik-, Umwelt-, Religions- und Sozialgeschichte verknüpft und über die
Auseinandersetzung mit ihnen können für all diese Bereiche relevante
Erkenntnisse gewonnen werden.
Die Archäozoologie hat ihren Ursprung in einem interdisziplinären Bereich zwischen der Archäologie, der Zoologie, der Veterinärmedizin sowie
Die Hinwendung zum Tier — 387
der Agrarforschung und diente in ihrem Ursprung dazu, eine auf archäologischen Ausgrabungen in großen Mengen anfallende Fundkategorie angemessen erforschen zu können. Die meisten Archäozoolog*innen stammen
aus dem genannten Disziplinenfeld und betrachten ihr Fundgut unter Gesichtspunkten, die im Rahmen ihrer Disziplinen relevant sind. Die wissenschaftlichen Fragestellungen werden dabei in der Archäologie in der Regel aus dem Material und seinem Kontext generiert, wobei es aber auch an
übergeordneten Fragestellungen orientierte archäozoologische Metastudien
gibt. Die HAS sind hingegen in einem weiter gefassten Feld aus Disziplinen
entstanden, die nicht nur Tieren, sondern auch den Material Culture Studies
ferner sind, wie der Psychologie, Soziologie, Philosophie oder allgemein den
Kultur- und Religionswissenschaften. Sie sind meiner Empfindung nach dadurch in der Wahl ihrer Fragestellungen und Quellen freier. Insofern erlaubt
eine stärkere Hinwendung der Archäozoologie zu den HAS einerseits neue
Perspektiven und Deutungsrahmen für das Fundmaterial, andererseits gibt
es den HAS eine größere Verankerung in den Material Culture Studies.
Die Grundlage einer in den HAS basierten Archäozoologie könnte das
Fundament eines semiotischen Kulturbegriffs sein, wie Clifford Geertz
ihn für seine ethnologischen Forschungen propagiert hat. Das bedeutet,
dass die kulturelle und soziale Praxis sprachliche und materielle Zeichensysteme hervorbringt, die aus dem Gesamtkomplex an Bedeutungen, Vorstellungen, Wahrnehmungen sowie Werten der Gesellschaft entstehen
und die wiederum auf diesen Komplex zurückwirken.
Daraus könnte folgendes methodisches Vorgehen resultieren: Für die
Untersuchung der Tierreste auf ihre Semantik für die Menschen und allgemein ihre Beziehungen zum Menschen kommen, je nach Fragestellung,
verschiedene gängige Methoden aus den Geistes- und den Naturwissenschaften zum Einsatz. Die Funde werden dabei doppelt kontextualisiert:
Ihr unmittelbarer Deutungsrahmen liegt zunächst in der sozialen Praxis,
in der sie zur Anwendung kamen (Bestattung, Tracht, Krieg, etc.). Die
hieraus gewonnenen Erkenntnisse müssen im Sinne einer Dichten Beschreibung (wieder Clifford Geertz) in einem zweiten Schritt in Bezug
gesetzt werden zu dem für diesen Zusammenhang relevanten Gesamtkomplex gesellschaftlicher Anschauungen und Wertesysteme. Erst dann
offenbart sich nicht nur die Rolle der Tiere als Bedeutungsträger, sondern
sie selbst und der praktische Umgang mit ihnen kann als ein kultur- und
identitätsstiftender ‚sozialer Tatbestand‘ verstanden werden.
Ethische Problemstellungen ergeben sich m. E. aus einer solchen Herangehensweise nicht. Sie ist im Gegenteil kultursensibel und wird den
vielfach ambivalenten Rollen der Tiere eher gerecht als traditionelle Deutungsrahmen.
388 — Henriette Baron u. a.
Herausgeber Einer der Grundsätze der Critical Human-Animal Studies ist
es, sich den nicht-menschlichen oder mehr-als-menschlichen Anderen
zu ihren jeweils eigenen Bedingungen zu nähern, sie zu verstehen und
die entsprechenden Verhältnisse zu erklären. Dadurch schließen sie an
posthumanistische Ansätze wie den Neuen Materialismus oder die Akteur-Netzwerk-Theorie an. Wie lässt sich eine solche Annäherung methodologisch für die Archäologie umsetzen? Welchen Stellenwert würden Sie dem Begriff der agency bei nicht-menschlichen Akteur*innen
wie Tieren in Ihrer Forschung einräumen? Wo sehen Sie Unterschiede
zu anderen posthumanistischen Strömungen?
Daniel Lau Wenn in der Archäologie eine agency von Dingen thematisiert
wird, wäre es widersinnig, Nicht-Menschen eine agency abzusprechen.
Insofern ist der Begriff agency in der Archäologie zu einer hohlen Phrase
geworden: Wenn alles Handlungsmacht hat, hat nichts Handlungsmacht.
Viel wichtiger als abstrakte Begriffe ist es jedoch, biografisch zu arbeiten.
Ob eine Objektbiografie oder die Biografie eines Nicht-Menschen oder
Menschen – diese zu erzeugen, zu rekonstruieren, ist eine der Hauptaufgaben der Archäologie und zugleich aufgrund des fragmentarischen
Quellenstandes in ihrer Vollständigkeit unmöglich zu erreichen.
Henriette Baron Die agency von Tieren ist nicht negierbar und unterscheidet sie in dieser Klarheit maßgeblich von unbelebten Objekten. Die Disposition von Tieren, sich von Menschen nutzen oder gar domestizieren zu
lassen, hat den Verlauf der Menschheitsgeschichte seit dem Paläolithikum
massiv geprägt. Reinhart Koselleck (2003, Anm. d. Herausgeber) hat sie
beispielsweise in ein Vorpferde-, Pferde- und Nachpferdezeitalter gegliedert, und diese Gliederung lässt sich gut mit archäologischen Erkenntnissen rechtfertigen. Ein weiteres Beispiel ist die agency des Rattenflohs und
der Ratte, die furchterregende Pestepidemien zur Folge hatte. Also: ja, das
Konzept der agency ist unabdingbar, um Mensch-Tier-Beziehungen in der
Vergangenheit zu verstehen. Ein Schlüssel, sich den Tieren im Rahmen
einer Methodologie wie oben dargelegt zu ihren Bedingungen zu nähern,
liegt entsprechend in der Verhaltensbiologie, da das Verhalten von Tieren
diese nicht nur leitet (und damit ihre agency rekonstruierbar wird), sondern es auch maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung und Nutzung
von Tieren durch den Menschen hat.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie schließt die Zusammenhänge von
Mensch-Tier-Beziehungen auf sehr geeignete Art auf, da sie bereits semiotische Ansätze vorsieht, die besonders fruchtbar sind für die Erforschung von Beziehungen.
Die Hinwendung zum Tier — 389
Herausgeber Als einer der Kritikpunkte an den Animal Studies könnte angeführt werden, dass mit dem Fokus auf die Mensch-Tier-Unterschiede
und den durch diese Kategorisierungen hervorgerufenen Ungleichheiten
die Ungerechtigkeiten zwischen Menschen marginalisiert oder unsichtbar
gemacht werden. Lässt sich dieses Dilemma auflösen, dass jede kategoriale Differenzierung und Entdifferenzierung Dinge sichtbar und unsichtbar
werden lässt? Produziert der spezifische Fokus der Human-Animal Studies
also auch ethische Probleme? Oder bietet gerade der Fokus auf (Critical)
Animal Studies auch besondere Chancen?
Daniel Lau Wie bereits gesagt, verfolgen die CAS einen total liberationAnsatz. Dieser geht von intersektioneller Oppression aus. Speziesismus,
Sexismus, Rassismus und andere -ismen sind eng miteinander verknüpft
und bedingen sich gegenseitig. Wer auch immer behauptet, dass durch
die Fokussierung auf ‚die Tiere‘ menschliche Subalternität in den Hintergrund gerückt wird, hat den Kern der CAS nicht verstanden. Oder anders:
Wer im Bereich der CAS forscht und arbeitet, stellt sich nicht die Frage,
ob Menschen zu berücksichtigen sind. Eine ‚Hauptsache-für-die-Tiere‘Mentalität, auch als ‚animals first‘-Ideologie bekannt, steht den Grundbegriffen der CAS entgegen. Es geht den CAS also nicht darum sich ‚dem
Tier‘ zuzuwenden, sondern allen Spezies und das asymmetrische Machtgefälle zwischen ‚Mensch‘ und ‚Tier‘ auszugleichen. Das bedeutet aber
nicht die Nivellierung menschlicher Unterdrückung, sondern bietet geradezu die Chance, durch das Aufdecken von Praktiken der Dehumanisierung oder Animalisierung auf diese Unterdrückungsformen hinzuweisen.
Henriette Baron Ich würde den Fokus bei den HAS gar nicht auf die Unterschiede legen, da sie ja grundsätzlich untersuchen, wie die Leben von
Tieren und Menschen miteinander verwoben sind. Wenn ich mich frage,
wie mein Leben mit dem meines Mannes oder meiner Freundinnen verwoben ist, frage ich ja auch eher nach den Berührungspunkten und Gemeinsamkeiten sowie den Spezifika unserer Beziehungen und nicht nach
dem, was uns unterscheidet. Aber auch wenn die weiter oben thematisierte Grenze zwischen Menschen und Tieren in den historischen HAS eine
prominentere Rolle spielen würde als sie es meiner Beobachtung nach tut,
würde ich immer noch denken, dass die Forschungen mit Ungleichheiten
zwischen Menschen nicht wirklich zu tun haben. Die sonstigen Kategorisierungen jenseits dieser Grenze sind fluide Mittel zum Zweck; sie schaffen (im Fall der zoologischen Nomenklatur) ein unmissverständliches
Vokabular, geben (im Fall der zoologischen Systematik) ein anerkanntes Gliederungsprinzip vor, helfen (z. B. im Fall ökologischer Gruppen)
390 — Henriette Baron u. a.
Tierknochenspektren in Bezug auf umwelthistorische Fragestellungen
aussagekräftig zu machen oder (im Fall kognitiver Gruppen) Tiere so zu
untergliedern, wie Kulturen vergangener Zeiten sie gesehen haben mögen. Die Liste ließe sich, nach Foucaults Ordnung der Dinge, beliebig erweitern, zum Beispiel um die Kategorien von Tieren, die von weitem wie
Fliegen aussehen oder dem Kaiser gehören – Kategorisierungen, die ihre
Daseinsberechtigung haben und anderen Phänomenen gerade angesichts
ihrer Fluidität und ihres situativen Charakters nicht den Rang ablaufen.
Herausgeber Die Human-Animal Studies können als Zwischenschritt einer Bewegung von einer anthropozentrischen Ontologie der dichotomen
Trennung in Natur und Kultur hin zu einer völligen Auflösung bisheriger
Kategorien in der sogenannten ontologischen Wende verstanden werden. Inwiefern ist der Animal Turn nur eine Ausdehnung der Kategorie
Mensch auf Tiere und damit das Festhalten an kategorialen Trennungen
bestehender Ontologien? Oder müssten für ein Konzept des Miteinander-Werdens nicht jegliche (lebendige) Wesenheit – Critter, wie es Donna
Haraway (2018) ausdrückt – einbezogen werden, von Pilzen, Pflanzen,
Viren bis hin zu Mikroorganismen und der Erde (Gaia) im Gesamten?
Daniel Lau Wie zuvor angedeutet, bedeutet die Auflösung der Mensch-TierGrenze nicht, dass alles gleichgemacht und homogenisiert wird. Vielmehr
bedeutet die Auflösung einer Dichotomie aus Mensch-Tier die Hinwendung
zur Kategorie Lebewesen und des Erkennens, dass ein Regenwurm ebenso
eine Berechtigung hat wie ein Spatz, ein Mensch oder ein Tintenfisch. Es
eröffnet den Weg für eine herrschaftsfreie Welt, eines Miteinanders. Letztlich kann es so sein, wie Harraway und andere es vertreten, dass ohnehin
eine komplexe Durchmischung herrscht, doch das ist keine Homogenität,
sondern vielmehr eine explizite und bis ins äußerste getriebene Heterogenität. Alles ist anders, alles ist einzigartig. Hier würde eine Sichtweise vertreten wie in der analogistischen Ontologie nach Descola. Um Ordnung in
dieser scheinbar chaotischen kaleidoskopartigen und fragmentierten Welt
zu finden, wird es aber nach wie vor Kategorien geben. Beispielsweise die
Speziesbezeichnungen. Dass einer Spezies dann aber nicht mehr ‚Wert‘ als
einer anderen zugewiesen wird, ist unumgänglich, ansonsten dreht sich
das Rad der Geschichte nur erneut und alles bleibt, wie es war.
Henriette Baron Als Archäologin / Archäozoologin habe ich mich der Erforschung menschlicher Aktivitäten in der Vergangenheit auf Basis ihrer
Die Hinwendung zum Tier — 391
(mit Tieren zusammenhängenden) materiellen Kultur verschrieben. Archäologischer Arbeit liegt immer eines zugrunde: Ordnungen. Es wird
typologisiert, in Zeit und Raum geordnet, zugeordnet, alles sind Ordnungen. Ich sehe einen großen Mehrwert darin, bestehende Ordnungen zu
hinterfragen und Kategorisierungen zu suchen und zu schaffen, die neue
Perspektiven auf den Forschungsgegenstand eröffnen, aber ich wüsste
nicht, wie ich ohne Kategorisierungen zu Erkenntnissen kommen könnte und vor allem, wie ich meine Erkenntnisse ohne Kategorisierungen
kommunizieren sollte. Ein solches Hinterfragen und Neudenken alter
Ordnungen sehe ich dabei durchaus in der Auflösung der Dichotomie
von Kultur und Natur, die aber meines Erachtens schon lange überholt
und einem Erkenntnisgewinn aufgrund ihrer Unschärfe ohnehin eher abträglich als zuträglich ist. Eine Einbeziehung anderer Wesen ist durchaus
wünschenswert, wenngleich es bereits bei einem einfachen Beziehungsgeflecht zwischen zwei Einheiten noch an Grundlagenforschung fehlt.
Herausgeber Inwiefern ist eine archäologische Perspektive auf Human-Animal Studies als interdisziplinäres Forschungsfeld sinnvoll oder braucht es
eine völlig neue postdisziplinäre Wissenschaft? In welcher Art verändern
animalozentrische und postanthropozentrische Perspektiven die Zielsetzung der Archäologie? Wie würden Sie die Aufgaben einer zukünftigen
Archäologie unter Einbeziehung von Creature Studies, Hybridwesen, Animalismen, Multi-Species-Ethnografien und Cyborg Studies beschreiben?
Ist es nur die Veränderung der Forschungsagenda, das Verfassen einer
Animal und Animate History oder könnten Sie sich gar vorstellen, ähnlich wie z. B. die Einbeziehung indigenen Wissens mittlerweile praktiziert
wird, auch tierisches Wissen und tierische Akteur*innen selbst in die Forschungsarbeit einfließen zu lassen? Und wenn ja, wie?
Daniel Lau Von einem archäologischen Standpunkt aus betrachtet ist es
völlig unmöglich, tierliches Wissen zu rekonstruieren. Die heute lebenden Spezies sind mitunter völlig unterschiedlich zu denen, die vor hundert, tausend oder hunderttausend Jahren gelebt haben. Dies liegt nicht
allein daran, dass sie sich mitunter genetisch verändert haben, sondern
auch daran, dass sich Menschen und Nicht-Menschen fortwährend gegenseitig beeinflussen. Selbst wenn wir in Mitteleuropa nur wenige hundert Jahre in die Geschichte zurückgehen, werden wir krasse Unterschiede in den Lebenswelten und -empfindungen der Mitteleuropäer*innen zu
unseren heutigen Anschauungen bemerken. Es wäre naiv zu behaupten,
392 — Henriette Baron u. a.
dass wir mit unserem heutigen Wissen die damaligen Verhältnisse verstehen könnten. Auf der anderen Seite sollte Tiergeschichtsschreibung
unter den oben bereits genannten kritischen Aspekten unbedingt Bestandteil der Forschungsagenda werden, da zum einen der jeweils epochenspezifische menschliche Standpunkt durch seine Ausbeutungsverhältnisse gegenüber den Nicht-Menschen maßgeblich bestimmt wird und
eine Erforschung der Mensch-Tier-Verhältnisse neue Erkenntnisse über
die Humangesellschaft verspricht, auf der anderen Seite hieße dies aber
wiederum, ‚das Tier‘ als Mittel zum Zweck für die eigene Erkenntnis über
den Menschen zu nutzen, so dass durch eine kritische Geschichtsschreibung, die das Tier nicht nur berücksichtigt, unbedingt die verschleierten
Machtverhältnisse aufgedeckt werden müssen. Der Menschheit muss die
Schamesröte ins Gesicht steigen, wenn sie diese um die Kategorie ‚Tier‘
erweiterte Geschichte liest. Sie muss sich fragen, wie sie so lange wegsehen konnte. Sie muss anerkennen, dass sie gegenüber den Nicht-Menschen versagt hat. Erst das wäre eine ehrliche Tiergeschichtsschreibung.
Erst das wäre eine ehrliche Wissenschaft.
Herausgeber Welches Feedback bekommen Sie auf Ihre Forschungen?
Wie stark ist das Thema emotional besetzt? Ist es schwerer, Forschungsgelder für (kritische) Tierstudien einzuwerben als in anderen Bereichen?
Welche Rolle spielen Human-Animal Studies Ihrer Wahrnehmung nach
heute in den altertumswissenschaftlichen Forschungsstrukturen, wird
dieses Feld wahrgenommen, sogar gefördert? Wie gut sind Forscher*innen hier vernetzt, gibt es ein Bewusstsein als Forschungsrichtung, oder
sind die spezifischen Perspektiven doch zu unterschiedlich?
Daniel Lau Alle möchten ein Stückchen vom Kuchen des sogenannten
Animal Turn abbekommen, das ist mein gegenwärtiger Eindruck – doch
die wenigsten verstehen, dass ‚Tiere‘ keine Forschungsobjekte sind, sondern, dass sie Subjekte sind. Von meinen Kolleg*innen wünsche ich mir
daher eigentlich etwas mehr Sensibilität und kritische Reflexion. Wer
beispielsweise über Tierethik spricht, in der Mittagspause aber genüsslich in die Schweinewurst beißt, dem*der werfe ich Kurzsichtigkeit und
Heuchelei vor. Den gleichen Vorwurf dürfen sich Kolleg*innen gefallen
lassen, die Tierstudien nachgehen, dabei aber die Gewalt verschweigen,
die Nicht-Menschen widerfährt und widerfahren ist.
Vernetzungen unter Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen der
‚Tiersstudien-Szene‘ gibt es, wenngleich der Beschäftigung mit ‚dem Tier‘
Die Hinwendung zum Tier — 393
nach wie vor etwas anzuhaften scheint, dass in weiten Teilen der konservativen akademischen Welt belächelt wird. Ein Professor äußerte sich
beispielsweise recht abfällig über eines meiner Seminare zum ‚MenschTier-Verhältnis in Mesopotamien‘ mit den Worten: „Wir haben sie domestiziert, mit ihnen gearbeitet und sie dann gegessen, mehr muss man nicht
wissen“. Das Thema polarisiert, denn Menschen, die nicht vegan leben
und selbst speziesistisch handeln, fühlen sich schnell in eine Rechtfertigungsposition gedrängt, wenn sie mit den Themen der CAS konfrontiert
werden. Dabei ist es nicht Sache der CAS anzuklagen, sondern aufzuklären. Jeder Mensch hat es in der Hand, den größten Teil der Ausbeutungsgeschichte, in der er*sie aktiv teilnimmt, sofort und konsequent zu
beenden. Dass das unbequem ist, dass das daher gern auch ins Lächerliche gezogen wird, zeigt einmal mehr, das der Gegenseite die Argumente
fehlen. Wenn man die Leute darauf stößt, dass sie tagtäglich Gewalt ausüben und dass sie diese Gewalt beenden, zumindest aber deutlich minimieren können, wenn sie vegan leben und sich auch anderen Kämpfen
gegen Unterdrückung anschließen, dann reagieren sie empfindlich, denn
dann müssten sie ihre Komfortzone verlassen und realisieren, dass sie ihr
ganzes bisheriges Leben lang Fehler gemacht haben…
Henriette Baron Forschungen zu Tieren stoßen in der Öffentlichkeit eigentlich auf ganz gute Resonanz: Tiere triggern emotional und machen
neugierig, das stelle ich immer wieder fest. Gleichwohl gab es einen richtigen Aufschrei in den britischen Medien, als das Projekt „Cultural and
Scientific Perceptions of Human-Chicken Interactions“ 2013 vom Arts
and Humanities Research Council mit fast 2 Millionen Pfund Steuergeldern gefördert wurde – eine irrationale Reaktion, wenn man den Stellenwert dieses Tieres für die Welternährung und -wirtschaft bedenkt.
Das Feedback aus dem Kollegium ist aber nochmal besonders bitter.
Ich glaube, dass meine Aufsätze oder Bücher allenfalls vereinzelt von Kolleg*innen gelesen werden, die nicht selbst zu eng mit meinen Forschungen zusammenhängenden Themen – also Tieren – forschen. Ich denke,
dass vielfach wirklich in den Köpfen drin ist, dass es ja „ganz hübsch“
ist, sich auch mal mit den Tieren auseinanderzusetzen, dass aber der Beitrag zu den großen Forschungsfragen der Archäologie eher marginal ist.
Das resultiert zum einen aus dem oben angesprochenen Problem, dass
Tiere heute so sehr aus unseren Leben verschwunden sind, zum anderen aber auch daran, dass die Archäozoologie sich nicht gut positioniert:
Viele Untersuchungen – selbst Doktorarbeiten – sind wenig mehr als
Materialvorlagen: immer wieder Rind, Schaf, Ziege, Schwein; Schlachtalter, Geschlechterverhältnis, Zerlegungsspuren; immer wieder nach dem
394 — Henriette Baron u. a.
gleichen Schema gedeutet. Klar, das sind die Basics, die dazugehören,
aber spannend wird es erst, wenn man darüber hinausgeht, sich die Ergebnisse anderer Disziplinen anschaut und überlegt, was in dem speziellen Fall vielleicht noch alles an Aussagen möglich ist, von welchen Seiten
her und mit welchen wilden Ideen man sich dem Material noch nähern
kann. Es war für mich eine große Freude, als die britische Archäozoologin Naomi Sykes im Jahr 2014 ihr Buch Beastly Questions mit den Worten
„Zooarchaeology has begun to bore me“ begann, weil ich feststellte, dass
es nicht nur mir so geht. Der Untertitel des Buches ist: Animal Answers to
Archaeological Issues – und da müssen wir hin! Dass auch im nicht über
Tiere arbeitenden Kolleg*innenkreis festgestellt wird, dass wir Antworten haben – in allen Bereichen altertumswissenschaftlicher Forschungen.
Und dazu müssen wir raus aus unseren disziplinären Blasen und uns stärker vernetzen mit Leuten, die mit anderen Quellen forschen. Wir müssen
weg davon, unsere im Rahmen interdisziplinärer Archäologieprojekte
gewonnenen Ergebnisse ausschließlich in einem eigenen Artikel oder einem Zusatzband „Die naturwissenschaftlichen Analysen“ zu publizieren,
und hin zu einer genuin interdisziplinären Arbeit, wo Fragestellungen im
Licht aller Ergebnisse der beteiligten Disziplinen von allen gemeinsam
beantwortet werden – wie in den HAS üblicher. Es ist mühsam, aber es
lohnt sich.
Fazit
Herausgeber Nachdem Sie nun beide auch die Antworten der*des anderen
kennen, möchten wir Sie noch um ein abschließendes Fazit bitten.
Daniel Lau Ich denke, dass die Antworten auf die Interviewfragen, die Frau
Baron und ich gegeben haben, sehr schön die Bandbreite der Möglichkeiten abbildet, die die HAS und CAS für die archäologischen Fächer bieten.
Sie bilden auch ab, wie weit die Meinungen auseinandergehen und damit
einen Raum schaffen, in dem andere Forscher*innen sich einfinden können, um dieses faszinierende Forschungsfeld mit ihren jeweiligen eigenen
Fragen und Methoden zu fruchtbar zu machen. Meine eigenen Forschungen sollen diejenigen sichtbar machen, ÜBER die sonst nur geschrieben
wird, ohne dass jemals MIT ihnen argumentiert wird.
Ja, die HAS und CAS sind noch ein junges Pflänzchen, der Acker ist
auch sicher steinig, aber ich möchte Frau Baron voll und ganz zustimmen:
Es ist mühsam, so ein junges Forschungsfeld in den Archäologien zu etablieren, aber es lohnt sich.
Die Hinwendung zum Tier — 395
Henriette Baron Ich muss gestehen, dass ich bisher – unabsichtlich – keine Berührungspunkte mit den Critical Animal Studies hatte und dass
mich Daniel Laus Antworten zunächst erschreckt und im Nachgang sehr
nachdenklich gemacht haben. Es spricht große Emotion aus ihnen: Wut
und Leidenschaft gleichermaßen, entstanden aus einem durchaus ehrenwerten Anliegen, und tief verzahnt mit seiner Persönlichkeit und seiner
Art zu leben. Solche Emotionen und eine so offensive Untrennbarkeit von
Forschendem und Forschung begegnen einem im akademischen Betrieb
normalerweise nicht. Ich respektiere das, ich finde die Themen der CAS
wichtig und ich denke, diese Art politischer Agitation befeuert Diskurse –
was grundsätzlich gut ist. Das Spannungsfeld zwischen meiner eher forschungspraktischen und Daniel Laus politischer Argumentation zeigt die
Pole einer hochaktuellen Frage auf, für die ein fachlicher Theoriediskurs
(wie er mit diesem Band Abbildung finden soll) unabdingbar ist: Die Frage,
wie politisch Forschung sein darf, soll oder muss.
Ich für mich selbst habe keine für alle Situationen gültige Antwort
auf sie, allenfalls einen Bausatz an Prämissen:
• Forschung darf sich positionieren.
• Forschung soll dazu beitragen, diese Welt zu einer besseren Welt zu
machen.
• Forschung muss ein gewisses Maß an Neutralität wahren, um den
Menschen zu ermöglichen, sich auf Basis ihrer Erkenntnisse ein eigenes Urteil zu bilden – ob dieses einem gefällt oder nicht.
Bibliografie
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Haraway 2018: Donna J. Haraway, Unruhig bleiben. Verwandtschaft der Arten im
Chthuluzän (Frankfurt a. M. 2018)
Koselleck 2003: Reinhart Koselleck, Der Aufbruch in die Moderne oder das Ende des
Pferdezeitalters, in: Berthold Tillmann (Hrsg.), Der Historikerpreis der Stadt
Münster. Die Preisträger und Laudatoren von 1981 bis 2003 (Münster 2005)
159–174
von Uexküll – Kriszat 1934: Jakob von Uexküll – Georg Kriszat, Streifzüge durch
die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten
(Berlin 1934)
Sykes 2014: Naomi Sykes, Beastly Questions. Animal Answers to Archaeological
Issues (London / New York 2014)
Kontakt
Henriette Baron | Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA) | Ludwig-LindenschmitForum 1 | 55116 Mainz | henriette.baron@leiza.de | https://orcid.org/0000-00034338-3681
Daniel Lau | Schaumburger Landschaft | Kommunalarchäologie | Schloßplatz 5 |
31675 Bückeburg | Lau@schaumburgerlandschaft.de
Martin Renger | Universität Heidelberg | heiQUALITY-Büro | Fischmarkt 2 | 69117
Heidelberg | martin.renger@heiquality.uni-heidelberg.de
& Freie Universität Berlin | Institut für Vorderasiatische Archäologie | Fabeckstraße
23–25 | 14195 Berlin | martin.renger@fu-berlin.de | https://orcid.org/0000-00027019-7043
Stefan Schreiber | Leibniz-Zentrum für Archäologie | Ludwig-LindenschmitForum 1 | 55116 Mainz | stefan.schreiber@leiza.de | http://orcid.org/0000-00031065-5003
Alexander Veling | Freie Universität Berlin | Institut für Prähistorische Archäologie |
14195 Berlin | Fabeckstraße 23–25 | Alexander.Veling@fu-berlin.de | https://orcid.
org/0000-0001-7246-8380
Die Toten sind unter uns! Entfremdung,
(Ent-)Subjektivierung und Othering der
Vergangenheit als ethisches Problem
Stefan Schreiber
, Sabine Neumann , Vera Egbers
Als Archäolog*innen setzen wir uns ständig mit
den Toten der Vergangenheit auseinander. Und wir halten unsere Archäologie gerne (für) tot, wie David Clarke einmal sagte. Einerseits erscheint
aus erkenntnistheoretischer Sicht eine epistemologische Entfremdung von
den Toten fast unvermeidlich, da wir sonst lediglich die heutigen Bedingungen mit all ihren Problemen rückprojizieren würden. Deshalb muss die
Vergangenheit ein ,foreign country‘ sein und bleiben (können). Andererseits
hat aber Entfremdung ethische Implikationen durch das Othering der Vergangenheit, besonders wenn es um das Studium ‚menschlicher Überreste‘
geht. In unserem Beitrag analysieren wir, welche Entfremdungsmechanismen, (Ent-)Subjektivierungsprozesse und Praktiken des Othering unserem
Umgang mit ‚menschlichen Überresten‘ während der Ausgrabung und der
Präsentation von Skeletten in Museen zugrunde liegen. Wir sind der Meinung, dass wir als Archäolog*innen eine ethische Verantwortung gegenüber
früheren Subjekten haben und wollen eine Debatte über alternative Strategien im Umgang mit den Toten der Vergangenheit eröffnen.
Zusammenfassung
Schlüsselbegriffe Epistemologie; Menschliche Überreste; Subjektivierung;
Entfremdung; Othering; Ethik
Abstract As archaeologists, we have to deal with the dead, and as David
Clarke once said, we like to keep our archaeology dead. From an epistemological perspective, alienation from the dead seems almost inevitable; otherwise,
we would only retroject today’s conditions onto the past. Therefore, the past
must be, and remain, a foreign country. These alienating processes have ethical implications, however, especially when it comes to the study of ‘human
remains’. In this article, we analyse which alienation practices, de-subjectivation processes, and practices of othering underlie our archaeological handling
Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers, Die Toten sind unter uns! Entfremdung,
(Ent-)Subjektivierung und Othering der Vergangenheit als ethisches Problem, in: Martin Renger, Stefan
Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im
deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 397–421. DOI: https://
doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15032
397
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of ‘human remains’ during excavation and the presentation of skeletons in
museums. We argue that we as archaeologists have an – often rejected – ethical responsibility toward subjects of the past. Therefore, we seek to open
a debate concerning alternative strategies for the treatment of the dead.
Keywords Epistemology; Human Remains; Subjectification; Alienation;
Othering; Ethics
Einleitung
„I like to keep my archaeology dead.“
David Clarke (zitiert nach David – Kramer 2001, 31)
Als Archäolog*innen beschäftigen wir uns mit dem Tod und den Toten. Und
wir halten unsere Archäologie gerne (für) tot, wie David Clarke einst treffend sagte. In der archäologischen Praxis werden sogenannte menschliche
Überreste oft wie alle anderen Funde behandelt. Eine weitergehende Reflexion über den Umgang mit ihnen findet nur selten statt.1 Die Knochen werden
nummeriert und gekennzeichnet, und nach der wissenschaftlichen Analyse
werden sie im Archiv aufbewahrt. Einige ‚menschliche Überreste‘ werden in
Museen in Vitrinen ausgestellt. Aus epistemologischer Sicht scheint die Entfremdung von den Toten eine zwingende Notwendigkeit zu sein. Es gibt eine
Vielzahl von Strategien und Praktiken der Entfremdung, die an Universitäten
gelehrt und dadurch in der archäologischen Ausbildung wissenschaftlich sozialisiert werden.
Im November 2015 traf sich eine Gruppe Archäolog*innen zu einem
Workshop in Kassel, in dem Praktiken der Entfremdung in der Archäologie
und ihre oft subtilen ethischen Bedeutungen diskutiert wurden (Schreiber
u. a. 2018).2 So fragten wir uns: Wem gegenüber tragen wir eigentlich eine
1
2
Vgl. aber DGUF 2013; Dietrich 2013; DMB 2013; Quast 2021.
Dieser Beitrag war Teil der Forschungen von Sabine Neumann an der PhilippsUniversität Marburg sowie der Post-/Doktorarbeiten von Vera Egbers und Stefan
Schreiber im Exzellenzcluster Topoi. The Formation and Transformation of Space
and Knowledge in Ancient Civilization Berlin, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), sowie der PostDoc-Tätigkeit von Stefan Schreiber
am Römisch-Germanischen Zentralmuseum. Leibniz Forschungsinstitut für
Archäologie (RGZM) und am Profilbereich 40,000 Years of Human Challenges
der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Die Idee zu diesem Artikel entstand in der inspirierenden Atmosphäre des Workshops Ethik und Archäologie
Die Toten sind unter uns! — 399
ethische Verantwortung? Gilt diese Verantwortung den Subjekten aus der
Vergangenheit – wie wir sicherlich gerne glauben möchten – oder geht es
mehr um uns (vgl. Bernbeck – Pollock 2018a; 2018b)? Welche moralischen
und religiösen Ideale sollten wir berücksichtigen? Die der Toten oder die
der Lebenden, die sich mit den Toten verbunden fühlen oder sogar die zukünftiger Generationen (vgl. Kaliff – Oestigaard 2008, 55–56)? Kann es ein
Mitgefühl für das Leiden der Menschen in der Vergangenheit geben (Pollock
2016)? Oder ist das Verantwortungsbewusstsein gegenüber Subjekten der
Vergangenheit eine Illusion, da sie bereits tot sind und nicht mehr diskriminiert werden können (vgl. Scarre 2006; Tarlow 2006)?
Die Rechtslage in Deutschland ist allgemein geregelt: Nach der Verwesung des Leichnams endet der Rechtsschutz.3 Verstorbene werden zur ‚Sache‘, wenn durch Verwesung oder Brand der sogenannte Rückstand der Persönlichkeit vergangen ist.4 Verstorbene, die in archäologischen Kontexten
gefunden werden, haben daher keine Rechte im juristischen Sinne und sind
nicht gesetzlich geschützt (Dippel 2010, Rdnr. 35; Miebach 2012, Rdnr. 8;
Dietrich 2013, 114). In der Regel gibt es keine lebenden Familienmitglieder
mehr, die sich für den Schutz der*s Verstorbenen und des Grabes einsetzen.
Es gibt jedoch einige Ausnahmen, welche die oben genannten Voraussetzungen in Frage stellen.
So wurde in Marburg 2006/2007 in der Umgebung der Elisabethkirche
ein Friedhof ausgegraben, der spätestens 1809 aufgegeben wurde (Dietrich
2013, 113). Nach Abschluss der archäologischen Untersuchungen leiteten
3
4
im November 2015 in Kassel, der vom Forum Kritische Archäologie (FKA), der
AG Theorien in der Archäologie (TidA) und dem Forum Archäologie in der Gesellschaft (FAiG) organisiert wurde. Wir möchten allen Organisator*innen, Moderator*innen und Teilnehmer*innen dieses Workshops danken. Zudem wurde
der Beitrag auf Vorträgen der Autor*innen auf dem Colloque Archéo-Ethique,
organisiert von Béline Pasquini und Ségolène Vandevelde, im Mai 2018 in Paris
sowie auf der gemeinsamen Sektion der AG Theorien in der Archäologie (AG
TidA) und der AG Neolithikum zum Thema Mensch – Körper – Tod. Der Umgang
mit menschlichen Überresten im Neolithikum im April 2019 in Würzburg vorgestellt. Eine leicht anders gewichtete und kürzere englischsprachige Fassung deckt
sich in großen argumentativen und sprachlichen Teilen mit der hier vorliegenden
deutschsprachigen Version, s. Schreiber u. a. 2019. Wir danken den Herausgebern
sowie der Reviewerin Marlies Heinz für die hilfreichen Kommentare, welche uns
sehr geholfen haben, den Artikel zu schärfen.
Ausnahmen finden sich im Persönlichkeitsrecht z. B. das Urheberrecht, welches
erst nach 70 Jahren endet.
Vgl. zur Rechtslage und zum Begriff des Rückstands der Persönlichkeit Roth 2009,
125–128.
400 — Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers
Mitglieder der evangelischen Kirche eine christliche Wiederbestattung der
ausgegrabenen Skelette ein (Grönke 2012). Die Kontinuität des Kirchengebäudes seit dem 13. Jahrhundert und die Existenz des dazugehörigen Friedhofs wurden als Argumente dafür herangezogen.
Ein anderes Beispiel sind die jüngst geborgenen Knochenreste in der
Nähe des Campus der Freien Universität in Berlin (Pollock 2016; Bernbeck
2017, 160–174). Während der Bauarbeiten im Juli 2014 wurden ‚menschliche
Überreste‘, vor allem zersägte Knochen, von mindestens 15 Personen gefunden. Schnell kam der Verdacht auf, dass es sich möglicherweise um Opfer
des Nationalsozialismus handelte, weil in den nahegelegenen Universitätsgebäuden von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie,
menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) untergebracht war. Hier war
u. a. der berüchtigte SS-Offizier und Arzt des KZ Auschwitz, Josef Mengele,
aktiv. Er schickte regelmäßig Körperteile von den Opfern seiner ‚menschlichen Experimente‘ zur ‚weiteren Untersuchung‘ an das Institut. Zugleich
war auch eine Kolonialsammlung Felix von Luschans mit ‚menschlichen
Überresten‘ im KWI-A untergebracht. Trotz des Verdachts auf die mögliche
Herkunft aus Auschwitz wurden die Knochen kurz nach der Bergung eingeäschert und anonym begraben (zu den Hintergründen dieses Vorgehens
s. Pollock – Bernbeck 2021). Nach der Einäscherung wuchs die öffentliche
Kritik an der Vorgehensweise, die die Opfer erneut zu Objekten degradierte.
Schließlich wurde eine archäologische Nachgrabung durch das Institut für
Vorderasiatische Archäologie der Freien Universität Berlin und das zuständige Landesdenkmalamt (Grabung Harnackstraße) eingeleitet, in deren Anschluss ein Gedenkgottesdienst abgehalten und eine Gedenktafel für diese
anonymen Personen angebracht wurde.
In den genannten Beispielen waren es jeweils einzelne Gruppen, die
sich für die bei den Ausgrabungen gefundenen Toten eingesetzt haben.
Der Umgang mit Verstorbenen aus archäologischen Kontexten ist indessen
in Deutschland unter anderem aufgrund der föderalen Organisation der
Denkmalschutzgesetze nicht übergreifend geregelt. Die derzeit geltenden
Ethischen Grundsätze für archäologische Fächer des West- und Süddeutschen
Verbands für Altertumsforschung und der Deutschen Gesellschaft für Urund Frühgeschichte klammern das Thema aus (WSVA – DGUF 2011). Auch
innerhalb des Ethikkodex’ der European Association of Archaeologists wird
das Thema nur sehr rudimentär in der Publication Ethics Policy des European
Journal of Archaeology angesprochen:
„Work dealing with human remains must have been undertaken according to national legislation and informed by professional standards. In line with BABAO’s Code of Ethics (6), we request that ‘Where
Die Toten sind unter uns! — 401
applicable, images of human remains should not be published without
consideration to the views of any demonstrated genealogical descendants or affiliated cultural communities’.“ (EAA 2019)
Die einzige relevante Richtlinie für die Behandlung von Toten aus archäologischen Kontexten im deutschsprachigen Raum sind unseres Wissens die
Empfehlungen des Deutschen Museumsbundes e. V. (DMB 2013).5 Hier wird
im Umgang mit ‚menschlichen Überresten‘ in Museen unter anderem folgendes empfohlen:
„Der Leichnam muss in einer Weise behandelt werden, die mit dem
durch das Grundgesetz garantierten Schutz der Menschenwürde in
Einklang steht, insbesondere darf er nicht zum Objekt degradiert werden. Das bedeutet, dass der Leichnam nicht einfach wie tote Materie
behandelt, also zum Beispiel nicht industriell verwertet oder kommerzialisiert werden darf.“ (DMB 2013, §3.4.A.1.a)
Dem Mangel an ethisch aufgeklärten Diskussionen, wie er sich in dem Fehlen von Richtlinien und wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema
äußert, steht die Bedeutung des Studiums von Verstorbenen in der archäologischen Forschung gegenüber (s. zuletzt Bradbury – Scarre 2017 zur Bedeutung von ‚death studies‘). Gräber und ‚menschliche Überreste‘ werden
mit invasiven oder nichtinvasiven Methoden (z. B. Oberflächen-Scanning,
Computertomographie und Magnetresonanztomographie) untersucht, um
Daten über Lebensbedingungen, Bevölkerungsdichte, paläodemographische
Bevölkerung und Bestattungssitten (DMB 2013, §3.2) zu sammeln. Die im
Rahmen archäologischer Untersuchungen analysierten Grabbefunde stammen in der Regel aus professionell durchgeführten Ausgrabungen und die
Untersuchungen folgen wissenschaftlichen Standards.6 Dennoch darf nicht
vergessen werden, dass die Erforschung mit den religiösen Ansichten und
Wertesystemen der untersuchten Personen in Konflikt stehen kann. Es muss
in der Regel davon ausgegangen werden, dass die archäologisch untersuchten Verstorbenen Kulturen und religiösen Gruppen angehörten, für die ein
Totenkult oder Jenseitsvorstellungen eine Rolle spielten. Zumindest kann
eine lebenszeitliche Einbindung der Toten in entsprechende Jenseitsvorstellungen nicht ohne weiteres abgesprochen werden (Herrmann 2005, 6), so
5
6
Kürzlich aktualisierte und erweiterte der DMB seinen Leitfaden (DMB 2021).
Der zitierte Abschnitt ist dort weiterhin so enthalten. Derzeit diskutiert auch die
DGUF, sich an den Richtlinien des DMB zu orientieren.
Ausnahmen sind Befunde aus Raubgrabungen, die insbesondere Gräber betreffen.
402 — Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers
dass die wissenschaftlichen Untersuchungen in Konflikt mit den Glaubensvorstellungen der Verstorbenen gestanden haben könnten. Darüber hinaus
stellt sich die Frage, ob Menschen, deren verstorbene Körper bereits einmal
einer invasiven Untersuchung in kolonialen, nationalsozialistischen oder anderen menschenverachtenden Zusammenhängen unterzogen wurden, mit
ähnlichen Methoden heute nochmals untersucht werden dürfen, ohne damaliges Unrecht zu wiederholen.
Daran schließt sich generell die Frage nach der Ungleichbehandlung von
Verstorbenen an: Warum behandeln wir Archäolog*innen längst verstorbene Personen oft anders als kürzlich verstorbene? Gehen wir pietätloser
mit ihnen um (vgl. Quast 2021 mit Beispielen)? Ist dies nur auf ihren Status
zurückzuführen, weil sie bereits lange tot sind und keine lebenden Angehörigen mehr haben, die sich für sie einsetzen? Wie können wir die Toten
der Vergangenheit respektvoll behandeln? Können und sollten Verstorbene
moralische Rechte haben, und wie ließe sich das wissenschaftliche Streben
nach Erkenntnisgewinn in Einklang damit bringen? Und wem gehören die
Toten und die in diesem Zusammenhang erzeugten Daten?
In diesem Sinne stellt sich die Frage, wer für den Schutz der moralischen
Rechte der Verstorbenen verantwortlich ist, die keine Lobby haben, die sich
für ihre Interessen einsetzen. Wir meinen, dass wir als Wissenschaftler*innen verpflichtet sind, uns mit diesem sensiblen Thema zu beschäftigen. In
diesem Artikel befassen wir uns daher mit dem aktuellen Stand der ethischen Diskussion im deutschsprachigen Raum.7 Zu Beginn thematisieren
wir unter philosophischen Gesichtspunkten die aktuellen wissenschaftlichen
Praktiken der Wissenserzeugung. Dazu dienen uns die Begriffe ,epistemologische Entfremdung‘, ,(Ent-)Subjektivierung‘ und ,Othering‘, um verschiedene Aspekte vorzustellen, die u. E. für eine ethische Betrachtung wichtig
sind. Daran schließen wir verschiedene Perspektiven an, um die Diskussion
fortzusetzen und wissenschaftlich zu begründen. Wir bieten bewusst keine
7
Während in anderen Teilen der Welt, insbesondere im nordamerikanischen
Raum, von indigenen und anderen Aktivist*innen eine Politik der Anerkennung
und Rückführung initiiert wurde (z. B. im Native American Graves Protection
and Repatriation Act [NAGPRA] oder in Albertas First Nations Sacred Ceremonial Objects Repatriation Act in Nordamerika; National Park Service 1990; First
Nations Sacred Ceremonial Objects Repatriation Act 2016; vgl. Fine-Dare 2002),
finden sich in Deutschland historisch bedingt gänzlich anders geartete Strukturen. Eine direkte Übernahme der in der nordamerikanischen Forschung praktizierten Ethikrichtlinien erscheint daher nicht erfolgreich. Aus diesem Grund
konzentrieren wir uns in diesem Beitrag in erster Linie auf eine philosophische
Perspektive zu diesem Thema.
Die Toten sind unter uns! — 403
abschließenden Lösungen, sondern lediglich Diskussionspunkte an, weil wir
an einem zukünftigen Diskurs interessiert sind.
Epistemologische Entfremdung
Unsere ersten Überlegungen betreffen die Wissensgewinnung in der westlichen Wissenschaft. Die moderne westliche Wissenschaft basiert weitgehend
auf analytischem, also untergliederndem Denken. Unabhängig davon, ob ein
deduktiver, induktiver oder interpretatorischer Ansatz gewählt wird, unterliegt sie einer grundlegenden Logik, die Realität durch Aufspaltung erfassen
zu können. Dieses Prinzip geht bereits auf Aristoteles zurück (Aristot. an. pr.;
Aristot. an. post.). Ziel des analytischen Denkens ist in der Regel die Identifizierung einzelner Elemente, um Zusammenhänge verstehen oder erklären zu
können. Daher ist die Analyse immer eine Zerlegung in Einzelkomponenten.
Emergente Effekte sind daher unsichtbar; Spekulationen und metaphysische
Annahmen gelten als unangemessene Denkweisen (s. aber Whitehead 1979
[1929]).
Der erste, meist unbewusste, analytische Schritt ist die Trennung des
Subjekts, das die Forschung betreibt (d. h. der bzw. die Forscher*in), vom dem
zu untersuchenden Forschungsobjekt (vgl. Jaspers 1919). Diese Trennung
dient als Grundlage für jede weitere Kategorisierung oder Unterteilung. Wir
nennen diese anfängliche Trennung daher ‚epistemologische Entfremdung‘.
Sie ist in fast jeder wissenschaftlichen Tradition enthalten, die in der westlichen akademischen Welt entwickelt wurde (Chakrabarty 2000, 108). Einfach
ausgedrückt bedeutet dies, dass es einen Abstand zwischen dem forschenden Subjekt (uns als Wissenschaftler*innen) und dem Forschungsobjekt gibt
und immer geben muss (vgl. Hahn 2015/2016, 76–77; Pollock u. a. 2020). So
schreibt Paul Graves-Brown:
„The job of archaeologists and anthropologists, then, is to make the
familiar unfamiliar, to break with the subsidiary frame of experience
and find otherness in the ordinary. […] In most archaeological practice, temporal distance seems to offer a guarantee of otherness, that
the remote past is necessarily outside the frame of the everyday. Hence
it might appear that in the quotidian world we must make our own
distance.“ (Graves-Brown 2011, 131–132)
In der westlichen Tradition archäologischer Forschung – anders als in der
Ethnologie bzw. Kultur- / Sozial-Anthropologie – ist diese Entfremdung
zwischen uns als Forscher*innen und dem Forschungsobjekt in der Regel
404 — Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers
zweifach. Wenn die Ethnologie die Wissenschaft des kulturell Fremden ist
(Kohl 2012), so kann die Archäologie als die Wissenschaft des zeitlichen und
kulturellen Fremden gelten, wie David Lowenthal (1995) in seinem Buch The
Past is a Foreign Country bereits treffend feststellte (vgl. Fischer 1998). Wir betrachten diese Entfremdung als erkenntnistheoretisch, nicht ontologisch, da
sie (angeblich) nur für den Erwerb von Wissen erzeugt wird (vgl. Veit 1998).
Deutlicher wird es, wenn wir an archäologische Ausgrabungen denken
(Edgeworth 1992; 2003; Holtorf 2002). Durch die Untersuchung eines Ortes
bringen wir unser Forschungsobjekt überhaupt erst hervor. Als Archäolog*innen ,installieren‘ wir uns als die Subjekte, die die archäologische Stätte
ausgraben und untersuchen. Jede Entscheidung, die wir danach treffen, ist
eine weitere Unterteilung der Forschungsobjekte. Wir definieren, was Abraum und was archäologisch untersuchungswürdig ist. Wir halten beim Ausgraben mit der Kelle inne für Keramikscherben und verwenden Pinsel für
Knochenmaterial. Wir fotografieren, zeichnen, messen und beschriften üblicherweise auf jeder Grabung und erzeugen letztlich Daten für die weitere
Forschung. Die Praxis der Ausgrabung produziert daher immer eine analytische Zerlegung und somit eine epistemologische Entfremdung. Implizit lernen wir also bereits im Studium, wie wir uns von unserem Untersuchungsobjekt distanzieren. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, sondern wird erst
durch eine umfassende Praxis eingeübt.
(Ent-)Subjektivierung
Die epistemologische Entfremdung ist dabei aber nur ein Bestandteil genereller Entfremdungsprozesse. Der Entfremdungsbegriff geht auf die Konzepte der ,Entäußerung‘ bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1980 [1807])
und der ,Entfremdung‘ bei Karl Marx (1962 [1867]; 1983 [1857/1858]) zurück.
Entfremdung ist die Erfahrung, dass etwas fremd wird, sich vom Subjekt
entfernt oder entfernt wird und damit zum Objekt gemacht werden kann.
Entfremdungsprozesse sind also eng mit Prozessen der Subjektivierung und
Verdinglichung verbunden (vgl. Graves-Brown 2011, 132–135; Jaeggi 2005).
Unter Subjekt verstehen wir dynamische Erzeugnisse von Subjektivierungsprozessen, die Positionen des Selbst schaffen, ermöglichen oder (un)denkbar
machen. Subjekte sind kulturell erzeugte Formen, in welchen „der Einzelne
als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praktiken und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen wird“ (Reckwitz 2012, 17). Dieses
Verständnis grenzt sich von einem vormodernen, cartesianischen und kantianischen Subjektverständnis ab, dass Subjekte als abgeschlossene, autarke
und autonome Einheiten der Person, des Selbst oder des Menschen versteht.
Die Toten sind unter uns! — 405
Objekte wiederum sind in unserem Verständnis daher die in den Subjektivierungsprozessen ausgeschlossenen Entitäten, die keine Subjektpositionen
ausfüllen können. Das heißt, Subjekte und Objekte selbst sind nie stabile,
klar definierte Einheiten, sondern befinden sich in ständiger Aushandlung.
Was also genau als Subjekt und was als Objekt gilt ist, hängt vom jeweiligen
kulturellen und gesellschaftlichen Kontext ab.
Laut Michel Foucault findet diese Aushandlung dialektisch mittels ‚Technologien der Macht‘ und ,Technologien des Selbst‘ statt.8 Technologien der
Macht prägen das Verhalten von Subjekten; sie disziplinieren und unterwerfen Subjekte bestimmten Zwecken oder einer Herrschaft. Dadurch werden
sie objektifiziert. Einzelpersonen werden diszipliniert, bestimmte Subjektpositionen durch ,Anrufung‘ (interpellation) und Unterwerfung einzunehmen
und zu akzeptieren (Althusser 1977, 140–145).9 Dadurch werden Subjekte in
spezifische Subjektpositionen gezwungen und können diese Positionen akzeptieren oder sich auch widersetzen. Normen, Verbote, Strafen sowie strukturelle und körperliche Gewalt regeln, wer als Subjekt angesehen wird und
welche Subjektpositionen abgelehnt werden. Technologien der Macht gehen
Hand in Hand mit Entfremdungsprozessen. Verstorbene können leicht in
Subjekt- oder Objektpositionen gezwungen werden, weil ihnen Widerständigkeit nicht im menschlichen Sinne zu eigen ist. Sie sind also den Zwecken
bzw. der Herrschaft im Besonderen unterworfen.
Unter den Technologien des Selbst versteht Foucault dagegen Praktiken
der Selbstermächtigung. Diese ermöglichen Subjekten durch Technologien
der Macht geschaffene Subjektpositionen zu verändern, neu zu definieren
oder zu untergraben. Gleichzeitig verändern, definieren oder untergraben
Technologien des Selbst aber auch die verfügbaren Subjektpositionen. Das
Subjekt reagiert nicht nur auf Disziplin, sondern der / die Einzelne beherrscht
sich selbst, indem er / sie sich in eine bestimmte Beziehung zu sich selbst und
seinem / ihrem sozialen Umfeld stellt. Macht setzt Subjekte überhaupt erst in
Gang (Wiede 2014, 3).
8
9
Foucault 2005. Foucault unterscheidet noch zwei weitere Technologien: Die
Technologien der Produktion und die Technologien von Zeichensystemen. Beide
untersucht er jedoch nicht näher.
Althusser erläutert den Begriff so: „Man kann sich diese Anrufung nach dem
Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: ‚He, Sie da!‘ Wenn wir einmal annehmen, daß die vorgestellte theoretische
Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um.
Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, daß der Anruf ‚genau‘ ihm galt und daß es ‚gerade
es war, das angerufen wurde‘ (und niemand anderes)“ (Althusser 1977, 142–143).
406 — Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers
Dieser kontinuierliche Prozess der dialektischen Aushandlung definiert
nicht nur, wer und was das Subjekt ist, sondern auch das Objekt. Er legt also
den Unterschied zwischen den Menschen und den Nicht-Menschen fest. In
anderen Worten ist es ein Machtkampf darum, wer (oder was) als eine gesellschaftlich relevante Existenz gilt (das Subjekt) und was als ,reine Materie‘ gänzlich anders ethisch-moralisch als Objekt betrachtet wird (vgl. Miller
1987, 3–82).
Die ethischen Auswirkungen dieser (Ent-)Subjektivierungsprozesse werden deutlich, wenn wir über Tote sprechen. Tatsächlich trennt oft nur ein
schmaler Grat ein totes Objekt von einem lebenden Subjekt, und die Verschiebung dieses Grates hat große ethische Folgen. Dieser schmale Grat war
und wird immer wieder (neu) verhandelt. In verschiedenen Zeiten und Kontexten werden z. B. auch Sklav*innen, Frauen oder Haustieren der Subjektstatus verweigert und sie damit teilweise aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
Durch die Ablehnung ihres Subjektstatus werden sie in Subjektivierungsprozessen demnach zum ‚Abjekt‘ (das Verworfene). Unter dem Begriff des
‚Abjekts‘ versteht Julia Kristeva alle verworfenen bzw. ausgesonderten Entitäten, denen der Subjektstatus abgesprochen wurde oder die sogar Ekel hervorrufen können (Kristeva 1982). Abjekte sind weder Subjekte noch Objekte,
sondern haben einen Zwischenstatus als subjects-in-between oder objects-inbetween. Laut Judith Butler (1997, 23) existieren Zonen des gesellschaftlichen
Lebens, die „nicht lebbar“ und „unbewohnbar“ sind, die aber dennoch von all
jenen Wesenheiten dicht besiedelt werden. Ihr Zweck sei es, durch ihre Existenz die Subjekte in ihrer Autonomie zu bestätigen. Butler führt weiter aus:
„Diese Zone der Unbewohnbarkeit wird die definitorische Grenze für
den Bereich des Subjekts abgeben; sie wird jenen Ort gefürchteter
Identifizierung bilden, gegen den – und kraft dessen – der Bereich des
Subjekts seinen eigenen Anspruch auf Autonomie und Leben eingrenzen wird. In diesem Sinne ist also das Subjekt durch die Kraft des Ausschlusses und Verwerflichmachens konstituiert, durch etwas, was dem
Subjekt ein konstitutives Außen verschafft, ein verwerfliches Außen,
das im Grunde genommen ‚innerhalb‘ des Subjekts liegt, als dessen
eigene fundierende Zurückweisung.“ (Butler 1997, 23)
In unserer westlichen Gesellschaft ist das Verhältnis gegenüber Toten komplex. Sie können einerseits als Verstorbene noch eine gewisse Nachwirkung
auf Lebende haben (z. B. durch Urheberrechte, Testament oder Reliquienkulte).
Andererseits wird dem Leichnam als Abjekt der Subjektstatus abgesprochen.
Im archäologischen Kontext haben die Toten in der Regel ihren Subjektstatus verloren. Dadurch tendieren wir als Archäolog*innen dazu, auch ihren
Die Toten sind unter uns! — 407
einstmals gehaltenen Subjektstatus nicht in Betracht zu ziehen oder zumindest mit weniger Aufmerksamkeit zu bedenken. Zwar gibt es immer wieder
auch mahnende Worte wie „Das waren auch mal Menschen!“; zumeist werden
solche Mahnungen aber wieder beiseitegelegt oder sogar unreflektiert abgelehnt, so dass sie nicht als vergangene Subjekte, sondern wie andere Dinge aus
archäologischen Kontexten wahrgenommen und behandelt werden.
Othering der Vergangenheit
Ein dritter Aspekt, der unseren Umgang mit den Toten beeinflusst, ist das
Othering der Vergangenheit. Das Konzept des Othering wurde in erster Linie von postkolonialen Theoretiker*innen wie Edward Said (2009 [1978]),
Gayatri Chakravorty Spivak (1985) und Johannes Fabian (2002) entwickelt.
Wie bereits erwähnt, rufen Subjektivierungsprozesse oft die Produktion eines ‚Fremden‘ durch die Verwerfung als Abjekte hervor. Fremdheit ist dabei
immer ein relatives Konzept. Es steht immer in Beziehung zu etwas Eigenem.
Dabei unterliegen Fremd und Eigen einer fortgesetzten Neubestimmung
(vgl. Kienlin 2015, 1). Davon zu unterscheiden ist das ‚Andere‘. ‚Anderes‘
ist immer konstitutiv aus dem Eigenen ausgegrenzt, es ist letztlich der dualistisch gedachte Gegenbegriff zum Eigenen. Fremdheit vermittelt – ebenso
wie Vertrautheit – zwischen den Polen Anders und Eigen, indem Differenzen
betont oder verwischt werden. Etwas kann als eigen und zugleich fremd und
dennoch vertraut gelten. Fremdheit / Vertrautheit ist daher eine relationale
Bewertung des Eigenen in der Welt.
Als ein ‚Anderes‘ kann dagegen etwas oder jemand verstanden werden,
der oder die im Gegensatz zum ‚Selbst‘ steht und grundsätzlich ausgeschlossen werden muss. Der Ausschluss der ‚Anderen‘ dient dazu, den Wert und
die Bedeutung des ‚Selbst‘ zu stärken (vgl. Fanon 1985 [1967]; Lacan 1997
[1955/1956], 322; Butler 1997, 23). Daher ist Othering ein politischer Prozess
und stellt eine spezifische Form der Entfremdung dar. Bestimmten Subjekten
werden durch Trennungs- und Abwertungsprozesse jede Beteiligung und
Autonomie verweigert und sie werden bewusst von der hegemonialen Ordnung ausgeschlossen. Laut Spivak bilden diese Individuen die Subalternen.10
Archäologie als Wissenschaft generiert Wissen über die Vergangenheit. Diese Generierung gleicht einer ökonomischen Ausbeutung kolonialer
Ressourcen, denn wie in den historischen (und heutigen) Kolonien ist die
Ausbeutung der Vergangenheit ein unidirektionales Unterfangen: von den
10 Spivak 2008 [1988]; vgl. für die Archäologie Zuchtriegel 2018; Bernbeck – Egbers
2019; Merten – Renger 2019; Rees – Schreiber 2019.
408 — Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers
Kolonien (der Vergangenheit) zu den Zentren der (modernen) Zivilisationen.
Wir beanspruchen einen unbegrenzten Zugang zu den Daten der ‚Vergangenheitskolonie‘. Diese werden importiert und durch Artikel, Bücher und
Doktorarbeiten in prestigeträchtige Güter veredelt (Nicholas – Hollowell
2007, 61; vgl. Bernbeck 2010b, 51).
Die Phänomene der Vergangenheit, die Archäolog*innen untersuchen,
sind gleichzeitig tot und fremd, sie bilden somit das ‚Andere‘, das ausgegrenzt wird und zugleich konstitutiv für die Gegenwart ist. Unabhängig von
ihrem früheren Status werden sie als Forschungsobjekte in eine kulturelle
und akademische Ressource umgewandelt. Während die heutigen Verstorbenen immer noch ein gewisses Maß an postmortaler Macht über ihre Behandlung besitzen (z. B. durch ihr Testament oder ihre Religion), haben dies
potenzielle Subjekte der weiter zurückliegenden Vergangenheit nicht.
Der Umgang mit dem Tod ist immer Teil heutiger Biopolitik (Foucault
1977; Agamben 2002; Esposito 2008). Biopolitik meint „den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und
die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des
menschlichen Lebens“ (Foucault 1977, 170). Diese bezieht sich auf die
„emergence of a specific political knowledge and new disciplines such
as statistics, demography, epidemiology, and biology to analyze processes of life on the level of populations and to ‘govern’ individuals
and collectives by practices of correction, exclusion, normalization,
disciplining, therapeutics, and optimization.“ (Lemke 2011, 5)
Gerade in Bezug auf die Verstorbenen kann man statt von Biopolitik daher
auch von Nekropolitik sprechen (Mbembe 2003), weil nicht mehr nur über
deren Leben verfügt wird, sondern auch über ihren Status als Verstorbene.
Nekropolitik stellt, um auf Foucault zurückzukommen, einen Bestandteil der
Technologien der Macht dar, durch die Subjektpositionen geschaffen, zugewiesen oder versagt werden. Entscheidende Grundlage der Nekropolitik ist
„the power and the capacity to dictate who may live and who must die“
(Mbembe 2003, 11). Den Toten der Gegenwart und Vergangenheit wird dabei
meist keine Subjektposition zugewiesen, sie wird ihnen quasi verweigert.
In der ethnologischen Forschungspraxis, so der Kulturanthropologe
Johannes Fabian, wird den ‚Anderen‘ ein Zusammenleben mit uns in unserer
heutigen Zeitlichkeit verwehrt. Er bezeichnete dies als „denial of coevalness“
(Fabian 2002; 2006) – also als Verweigerung der Gleichzeitigkeit. Überträgt
man dies auf die Archäologie, so stellt man fest, dass sie sich dahingehend
von der Ethnologie unterscheidet, dass die ‚Anderen‘ nicht nur kulturell, sozial oder gar evolutionär anders sind. Die Andersartigkeit beruht auch auf
Die Toten sind unter uns! — 409
einer ontologischen Differenzierung: Die ‚Anderen‘ der Vergangenheit sind
tot und nicht wie wir lebendig; daher können sie keine gleichwertigen Subjekte sein. Wir möchten daher von einer ‚denial of subjectness‘ – der Verweigerung des Subjektstatus – sprechen.
Eine solche subjektverweigernde Sichtweise ignoriert jedoch die MultiTemporalität vergangener Subjekte. Diese waren nicht lediglich lebende
Subjekte in der Vergangenheit und sind heute tote „Sachen ohne Rückstände von Persönlichkeit“, sondern sie entfalten und inszenieren ihre Wirkungen in vielen verschiedenen Zeiträumen (Hamilakis 2012, 53). Sie sind somit
multi-temporär in dem Sinne, dass sie Entitäten (nicht immer Subjekte oder
immer Objekte) der Vergangenheit, der Gegenwart und auch der Zukunft
sind. Mit anderen Worten, es gibt keine definitive Zeit, in der (Subjekt-)Entitäten existieren, sondern nur spezifische Transformationen, die die Zeit als
Effekt solcher Transformationen und Verflechtungen mit anderen Entitäten
in Kraft setzen (Barad 2012, 89–92; Schreiber 2018, 119). Ihre Multi-Temporalität kann sie dabei heute sogar ‚präsenter‘ machen als zu anderen Zeiten.
So genießt ,der Mann aus dem Eis‘ (,Ötzi‘) heute vermutlich deutlich mehr
Aufmerksamkeit als zu seiner Lebenszeit, oder anders: Die heutige Zeit wird
in ihrer Einzigartigkeit und Spezifität erst so wie sie sich darstellt, weil u. a.
,der Mann aus dem Eis‘ eine solch große Präsenz in der Öffentlichkeit erhält.
Des Weiteren ist die Aushandlung der Grenze zwischen Leben und Tod
selbst Teil der (modernen) Biopolitik (Agamben 2002). Diese Grenze basiert
auf dem antiken Verständnis von Leben als ,qualifiziertem Leben‘ (bíos), das
taxonomisch nach Aktivitäten und Eigenschaften unterteilt ist. Bíos nimmt
somit regulierte, definierbare Formen an und zieht eine Grenze zwischen
Leben und Tod. Es gibt aber auch Lebensformen, die als ,bares oder nacktes
Leben‘ (zoe) verstanden werden können. Diese sind wild, vital, unvorhersehbar, verstrickt und kreativ:
„Zoe ist geistlose Materie und die Vorstellung, dass das Leben unabhängig von Handlungsfähigkeit und ungeachtet rationaler Kontrolle
fortbesteht, wird als fragwürdiges Privileg den Nichtmenschen zugeschrieben. Diese umfassen alle klassischen ‚Anderen‘ aller klassischen
Auffassungen vom Subjekt: das vergeschlechtlichte Andere (Frau), das
ethnisierte Andere (Indigene) und das naturalisierte Andere (Erde,
Pflanzen und Tiere). Zoe ist unpersönlich und unmenschlich im monströsen, animalischen Sinne radikaler Alterität, wohingegen die klassische Philosophie logozentrisch ist.“ (Braidotti 2018, 29–30)
Zoe schafft keine ontologische Trennung in ‚Leben‘ und ‚Tod‘, ‚Subjekt‘ und
‚Objekt‘, ‚Wir‘ und die ‚Anderen‘; zoe basiert auf einer konstanten Ko-Existenz
410 — Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers
und der stetigen Transformation aller beteiligten und begleitenden Spezies
(companion species), unabhängig davon, ob sie tot oder lebendig sind (Haraway
2008; 2018; Braidotti 2009). Othering ist nach diesem Verständnis immer ein
Bezug auf den taxonomischen Status des bíos der Toten, also Biopolitik im
wörtlichen Sinne.
Diskussion
Wann aber beginnt Othering in archäologischen Praktiken und Theorien?
Ist die Umwandlung antiker Grabbefunde in wissenschaftliche Daten eine
epistemologische Entfremdung oder bereits ein Othering vergangener Subjekte? Haben wir die gleiche Verantwortung für die Verwendung wissenschaftlicher Daten (z. B. 3D-Daten, Fotos und aDNA-Daten) als immaterielle
‚menschliche Überreste‘, wie für materielle (Knochen, Haare, Nägel etc.)?
Oder können wir sie ohne zu zögern publizieren und sie dadurch mit der
Öffentlichkeit teilen? Was bedeutet eine solche Veröffentlichung, wie z. B.
in einer Ausstellung, das Teilen eines Fotos auf Facebook oder der Verkauf
von Postkarten mit Mumienmotiven in Museumsshops? Sind epistemologische Entfremdung, (Ent-)Subjektivierung und Othering der Vergangenheit
notwendige, unvermeidliche Prozesse, die uns helfen, unseren eigenen Tod
zu verstehen und damit umzugehen? In Anbetracht der drei diskutierten
Phänomene, die unseren Umgang mit den Toten in der archäologischen Forschung prägen, wollen wir nun einige Ideen vorstellen, wie wir unsere Gewohnheiten ändern könnten, um zu einer ethisch reflektierteren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu gelangen.
1) Eine Möglichkeit ist, mit verschiedenen Formen der Auseinandersetzung
mit vergangenen Subjekten zu experimentieren. Epistemologische Entfremdung ist nur eine mögliche Form der Erkenntnisgewinnung. Graves-Brown
argumentierte, dass die Forschung nicht zwingend eine epistemologische
Distanzierung erfordere (Graves-Brown 2011). Wir sollten uns daher stärker positionieren, statt eine distanzierte, „entkörperte wissenschaftliche
Objektivität“ zu verfolgen (Haraway 1995, 74). Dies erfordert nicht nur ein
ständiges Experimentieren mit Nähe und Distanz, mit Emotionen und Affekten, sondern auch eine kontinuierliche Reflexion über unsere eigene verkörperte epistemologische, ontologische und ethische Position. Anstatt unser
„archäologisches Material“ zu typisieren und zu klassifizieren, es weiter zu
unterteilen und damit hegemoniale Wissenssysteme top-down zu produzieren, können wir vielfältigere Heransgehensweisen etablieren. Beispielsweise
können wir anti-analytische Formen der Auseinandersetzung verwenden,
Die Toten sind unter uns! — 411
welche Wissen zusammenführen, anstelle es immer weiter zu unterteilen.
Eine in den Kulturwissenschaften verbreitete Form ist die Anwendung metaphorischer Sprache, statt den im archäologischen Kontext üblichen Definitionen. So sprach sich Stefan Schreiber für die Verwendung von Figuren
und Figurationen statt Begriffen aus, da diese immer bedeutungsoffen bleiben und anschlussfähig statt ausgrenzend sind. Angeregt durch die der Figur
der ‚Wanderin‘ für Dinge in Bewegung verwies er auf den Mehrwert solcher
Figur(ation)en (Schreiber 2018, 207–232). Zudem sollten wir auch Emotionen
zulassen, anstatt sie während des Studiums abzutrainieren, indem ironisches
aber auch routiniertes Verhalten gegenüber vergangenen Subjekten sichtbar
gemacht und diskutiert wird. Wir sollten uns erlauben, auch unangenehme
und ungewohnte Gefühle anzuerkennen, und so eine Reflexion anzuregen.
Weitere Möglichkeiten liegen in alternativen Schreibweisen archäologischer Texte. Die traditionell im wissenschaftlichen Diskurs verwendete Schriftsprache ist in jüngeren Studien wiederholt kritisiert worden (vgl.
Tringham 1991; Spector 1993). So wird die gängige passive und distanzierte Erzählform in Frage gestellt, in der sich eine scheinbar neutrale, allwissende, in der Regel männlich dominierte Perspektive verbirgt. Alternative
Schreibformen können uns hingegen erlauben, den Orten und Epochen, die
wir untersuchen, ein Gesicht zu verleihen, indem wir uns stärker emotional mit möglichen vergangenen Subjekten auseinandersetzen. Ein Beispiel
hierfür wäre der Versuch eines „subjektlosen Erzählens“ (Bernbeck 2010a)
oder umgekehrt eine Imagination vergangener Subjekte in ihrer jeweiligen
Lebenswelt (Egbers 2019). Vorstellbar wäre auch die Integration alternativer
Schreibformen bereits im Ausgrabungsprozess. Während der Ausgrabung
eines Zwangsarbeitslagers aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem ehemaligen
Berliner Flugplatz Tempelhof unter Leitung des Landesdenkmalamtes und
des Instituts für Vorderasiatische Archäologie der Freien Universität Berlin
wurden die Studierenden angeregt, Tagebuch zu schreiben, um ihre Emotionen und Gedanken zu dokumentieren und zu reflektieren, während sie an
einem tragischen Ort wie diesem arbeiteten.
2) Statt die Toten durch unsere (wissenschaftlichen) Praktiken zu objektifizieren oder als Abjekte gänzlich auszuschließen und ihnen jeglichen Status
abzusprechen, sollten wir über die komplexen Prozesse der Subjektivierung
nachdenken. Dazu gehört auch die Reflexion, wie wir selbst zu Subjekten
werden und Subjekte erschaffen. So könnten wir fragen, welche Strategien es
in der Vergangenheit gegeben hat oder gegeben haben könnte, welche Entitäten subjektiviert, welche marginalisiert und welche verdinglicht wurden.
Da es sich jedoch bei Subjektivierungen um Prozesse und nicht um Zustände handelt, ist es nicht notwendig und auch gar nicht möglich, eindeutige
412 — Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers
Identifikationen vergangener Subjekte oder Objekte vorzunehmen. Vielmehr
sollten Unsicherheiten und Spannungen, wer oder was jeweils als Subjekt
galt, erhalten bleiben, um damalige und heutige Subjektivierungsprozesse
sichtbar zu machen. Die vergangenen Subjektivierungen sind nicht vergangen, sondern sind wie oben angeführt multi-temporal und Teil unserer aktuellen Nekropolitik. Dies bedeutet nicht, dass wir alle vergangenen Subjekte
wie heutige Subjekte behandeln müssen / sollten. Eine solche Praxis würde
nur die heutigen Logiken des bíos – die Biologie im wörtlichen Sinne – in
die Nekropolitik erweitern, fortsetzen und reproduzieren. Hingegen könnten
wir diskutieren, ob es jeweils nötig ist, geplant Nekropolen auszugraben und
darüber nachdenken, im Zuge von Rettungsgrabungen oder zufällig zutage
gekommenen Gräbern (z. B. bei Raubgrabungen), die Verstorbenen (nach abschließender Untersuchung) wiederzubestatten, wie dies gelegentlich bereits
praktiziert wird. Dabei ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu bewahren,
dass Wiederbestattungen möglicherweise Ungleichheitsverhältnisse der Vergangenheit reproduzieren oder sogar neue erschaffen könnten, so beispielsweise, wenn die Gebeine von Mitgliedern der elitären Oberschicht aufwendigere Wiederbestattungen erfahren als Verstorbene aus einfachen Gräbern
(vgl. z. B. die pompösen Zeremonien, die mit der Wiederbestattung von King
Richard III von England 2012 einhergingen: Hobson 2016).
Ferner möchten wir anregen, in einem weiteren Schritt ‚Zweitverwertungen‘, wie die in Museumsvitrinen ausgestellten Skelette, Moorleichen oder
Mumien zu überdenken. Sie in ihrem jetzigen Kontext zu belassen, sagt mehr
über die als ‚Mumien-Pornografie‘11 zu bezeichnende Ethik der Archäologie
als über die verstorbenen Personen selbst aus. In diesem Sinne wäre ferner
zu diskutieren, ob nicht auch aDNA-Daten, Fotos, 3D-Scans etc. vergangener
Subjekte Teil heutiger (Ent)Subjektivierungsprozesse sind.
Zusätzlich zu den genannten Aspekten sollten wir unterschiedliche Ontologien des Todes und der Toten betrachten, um Alternativen kennenzulernen (vgl. Domańska 2017). Ein Vorschlag wäre, sich die vielen Entwicklungen und Transformationen des ,baren oder nackten Lebens‘ (zoe) anzusehen,
um die zahlreichen Umwandlungen und Verflechtungen zu erkennen. Die
Ko-Verwandtschaft bzw. das ‚Miteinander-Werden von Art-Genoss*innen‘,
11 Der Begriff geht auf den ehemaligen Direktor des Ägyptischen Museums in Berlin,
Dietrich Wildung, zurück, der ihn zuerst in Bezug zur Ausstellung Mumien – der
Traum vom ewigen Leben in den Reiss-Engelhorn Museen in Mannheim 2007 in
einem Interview mit Deutschlandfunk verwendete. In der anschließenden Diskussion wurde der Begriff auch in Bezug zur Ausstellung Körperwelten und der
musealen Präsentation des ,Mannes aus dem Eis‘ verwendet; vgl. dazu Samida
2012, 126–133.
Die Toten sind unter uns! — 413
wie Donna J. Haraway (2018) dies bezeichnet, könnte zu einer neuen Art von
Ethik führen, die auch das ‚verstorbene Leben‘ nicht als abgeschlossen ausgrenzt, sondern affirmativ einschließt (Braidotti 2009; 2010; 2018).
3) Wir könnten mit vergangenen Subjekten bzw. multi-temporalen Subjektivierungen (die sie ja heute sind) in Dialog treten, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir es in unserer wissenschaftlichen Forschung mit
subjektivierten Menschen zu tun haben, die von uns weiterhin subjektiviert
werden. Gleichzeitig beeinflussen diese vergangenen Subjekte unsere eigene
Subjektivierung, indem wir uns mit ihren Subjektivierungsweisen auseinandersetzen und sie damit denkbar werden. Mit diesem Ansatz könnten wir
den bisherigen Subjektivierungen (idealerweise) gleichberechtigt begegnen.
Statt eines kolonialen Blicks sollten wir uns mit den Worten von Haraway
fragen: „Wessen Blut wurde vergossen, damit meine Augen sehen können“
(Haraway 1995, 85). Die Vergangenheit und ihre Subjektivierungen dienen
nicht als Ressource für die Selbstproduktion unserer eigenen Überlegenheit.
Multi-temporale Subjektivierungen werden nie abgeschlossen sein, d. h.,
dass die Subjekte nicht nur in der Vergangenheit welche waren, sondern die
Subjektivierungen in verschiedene Zeiten und so auch in das Heute hineinwirken. Die heutige Verweigerung des Subjektstatus (‚denial of subjectness‘)
könnte überwunden werden, indem wir mit den Subjektivierten in ein Gespräch oder einen Dialog treten.
Bernbeck skizzierte kürzlich eine Theorie der „diachronen Anerkennung“
(Bernbeck 2017, 431–435; vgl. Honneth 2005; Gadamer 2010 [1960]), in der
er für eine radikale Öffnung zur Vergangenheit plädiert. Sein Ziel ist es, mit
den Subjekten der Vergangenheit eine Beziehung der diachronen Anerkennung einzugehen, die er als Schlüssel zur historischen Verantwortung sieht.
Eine wesentliche Voraussetzung für diese Beziehung ist die Annahme der
‚Anderen‘ als ‚wesensgleich‘, aber gleichzeitig ‚fremd‘ mit den gleichen Ansprüchen auf Gerechtigkeit (Bernbeck 2017, 23).
In ähnlicher Weise argumentiert Haraway (2018) für einen Dialog, wenn
auch von einem anderen Ausgangspunkt (der Verflechtung des zoe) aus. Sie
versteht Verantwortung als Ethik der ‚Ver-antwort-barkeit‘ bzw. als Ethik der
,Responsabilität‘ (response-ability) und plädiert dafür, mit anderen Art-Genoss*innen (companion species) gemeinsame Geschichten zu erzählen:
„Meine Erzählungen sind artenübergreifende Geschichten, in denen es
um die Rückgewinnung als Teil einer komplexen Geschichte geht, Geschichte(n) voller Sterben und Leben, voller Enden, sogar Genozide,
und Anfänge. Angesichts des unablässigen, historisch spezifischen,
mehrwertproduzierenden Leidens in Art-Genossen-Verknotungen bin
414 — Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers
ich nicht an Aussöhnung oder Restaurierung interessiert, aber ich fühle mich zutiefst den bescheideneren Möglichkeiten einer teilweisen Erholung und dem gemeinsamen Weitermachen verpflichtet. Das kann
man unruhig bleiben nennen. Also suche ich nach wahren Geschichten, die gleichzeitig spekulative Fabulationen und spekulative Realismen sind. Es sind Geschichten, in denen Multispezies-SpielerInnen
durch partielle und beschädigte Übersetzungen quer zu Differenzen
verstrickt sind, SpielerInnen, die noch einmal versuchen, gemeinsam
zu leben und zu sterben; und zwar auf eine Art und Weise, die auf
immer noch mögliches, endliches Gedeihen und auf Rückgewinnung
eingestimmt ist.“ (Haraway 2018, 21)
Beide Ansätze – Bernbecks menschlich-exzeptioneller Ansatz und Haraways
Miteinander-Werden von Art-Genoss*innen – betonen, trotz gegensätzlicher
Ausgangspunkte, dass der Dialog nie klar, vollständig, unschuldig und völlig
konfliktfrei ist. Es geht um die Fähigkeit, die „Heterogenität des dialogischen
Moments“ (Chakrabarty 2000, 108) der Begegnung zwischen den gegenwärtigen Personen und den Subjekten der Vergangenheit auszuhalten. Diese Begegnung kann immer nur spekulativ und von Machtstrukturen durchdrungen verstanden werden. Dennoch schafft sie Raum für Irritation, Widerstand,
Überraschungen und Humor (vgl. Haraway 1995, 94). Vielleicht könnten wir
selbst (für einen Moment) die Anderen, die Subalternen der Gegenwart sein,
die von den Subjekten der Vergangenheit verfolgt werden und ihnen ‚Rede
und Antwort‘ stehen müssen. Oder wir könnten den Dialog als Interview
konzipieren, in dem wir uns den Fragen vergangener Themen stellen und
unser Interesse bekunden. Wie genau ein solcher Dialog im Falle der Archäologie aussehen könnte, ist noch unklar, aber wir halten es für sinnvoll, darüber zu diskutieren (vgl. z. B. Van Dyke – Bernbeck 2015; Egbers 2019).
4) Ethische Fragen sind nicht unabhängig von unseren epistemologischen
und ontologischen Vorstellungen von der Welt. Eine Veränderung eines der
drei Felder bedingt auch immer einen Wandel in den anderen beiden Feldern.
Eine Festschreibung z. B. ethischer Richtlinien kann daher auch als konservativer Schritt zu unhinterfragten, systemerhaltenden Praktiken führen. Unserer
Meinung nach sollten daher epistemologische Entfremdung, (Ent-)Subjektivierungsprozesse und Othering der Vergangenheit als drei Aspekte desselben
komplexen Feldes verstanden werden. Die Wissenschaftstheoretikerin Karen
Barad betont daher:
„[W]ir brauchen so etwas wie eine Ethico-onto-epistemo-logie – das Ernstnehmen der Verflechtung von Ethik, Erkenntnis und Sein – da jede
Die Toten sind unter uns! — 415
Intraaktion wichtig ist, da die Möglichkeiten dafür, was die Welt werden
mag, in der Pause ausgerufen wird, die jedem Atemzug vorangeht, bevor
ein Augenblick ins Sein tritt und die Welt neu gemacht wird, weil das
Werden der Welt etwas zutiefst Ethisches ist.“ (Barad 2012, 100–101)
Keiner der drei Aspekte funktioniert unabhängig von den anderen. Eine
Festschreibung in einem dieser drei Aspekte würde nachhaltig die Dynamik
beeinflussen. Deshalb sollten wir immer das gesamte Feld der ‚Ethico-ontoepistemo-logie‘ diskutieren.
Fazit
In einer Archäologie, die ethische Herausforderungen ernst nimmt, sollte
uns die Tatsache bewusst sein, dass wir uns mit vergangenen Subjekten und
nicht nur mit toten Objekten beschäftigen. Wir denken, dass die ethischen
Dilemmata der aufgezeigten Entfremdung und des Othering nicht vollständig
gelöst werden können. Nur durch die Anerkennung ihrer Vielfalt und ihrer
Transformationen können vergangene Subjekte angemessen eingebunden
werden. Zu diesem Zweck ist es jedoch notwendig, die Diskussion um ethische Fragen beständig weiterzuführen. Mit unserem Beitrag möchten wir
die Diskussion um dieses Thema anregen und auf Desiderate in bestehenden
ethischen Richtlinien hinweisen. Es bleibt zu diskutieren, ob die Festlegung
zum Umgang mit ‚menschlichen Überresten‘ in ethischen Codices sinnvoll
wäre, wie sie in anderen Teilen der Welt bereits bestehen. Die Möglichkeit
der Schaffung globaler ethischer Richtlinien birgt jedoch das Risiko, eine allzu pragmatische Umgangsweise zu etablieren und somit im schlimmsten Fall
Machtstrukturen auf ethischer Ebene zu verfestigen. Wir sind hingegen der
Ansicht, dass die Notwendigkeit besteht, ethische Fragen beständig weiterzuführen und lebendig zu halten. Um auf Clarkes Eingangszitat zurückzukommen: „We would like to keep our archaeology alive“.
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Kontakt
Stefan Schreiber | Leibniz-Zentrum für Archäologie | Ludwig-LindenschmitForum 1 | 55116 Mainz | stefan.schreiber@leiza.de | http://orcid.org/00000003-1065-5003
Sabine Neumann | Philipps-Universität Marburg | Marburger Centrum Antike
Welt (MCAW) | Deutschhausstraße 12 | 35032 Marburg | sabine.neumann@unimarburg.de | http://orcid.org/0000-0002-6376-8661
Vera Egbers | Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg |
DFG-Graduiertenkolleg 1913 „Kulturelle und technische Werte historischer Bauten“ |
Lehrgebäude 2D Raum 120 | 03046 Cottbus | http://orcid.org/0000-0001-8290-6006
Sollen wir den Knochen einen Namen
geben? (De-)Personalisierung und
Objektifizierung prähistorischer
Menschen
Kerstin P. Hofmann , Christina Sanchez-Stockhammer ,
Philipp W. Stockhammer
Zusammenfassung „Wie heißt Du?“ ist keine Frage, die Prähistorische Archäolog_innen einem von ihnen ausgegrabenen Menschen stellen können.
Vielmehr werden die ‚menschlichen Überreste‘ sorgsam als Objekte dokumentiert, nummeriert, bestimmt und verpackt. In seltenen Fällen tritt uns
aber im archäologischen Befund ein Individuum entgegen, das uns aufgrund
seiner besonderen Erhaltung – zum Beispiel als Moor- oder Eisleiche – quasi
aus der Vergangenheit entgegenblickt. Dann neigen Finder_innen dazu, ihm
einen Namen zu geben – einen neuen Namen in Ermangelung des Wissens
des ursprünglichen Namens, so es einen gab. Letztlich sind und bleiben die
meisten Verstorbenen für die gegenwärtigen Forscher_innen jedoch Objekte,
entpersonalisierte Überreste, die im Rahmen archäologischer Dokumentationspraktiken noch mehr entsubjektiviert werden.
Seit wenigen Jahren ermöglichen nun bioarchäologische Herangehensweisen, ein ganz neues Licht auf das Leben dieser anonymen Knochen zu
werfen, die uns das Individuum auf ganz einzigartige Weise entgegentreten
lassen: Aus den Knochen tritt ein Mensch mit all seinen individuellen Facetten hervor – ein Mensch, den wir aber weiterhin unter einer Katalognummer aufführen und in der zugehörigen Publikation versachlicht als ‚Fundort, Grabnummer‘ (oder auf ähnliche Weise) bezeichnen. Wird dies der / dem
Verstorbenen gerecht? Sollten uns die neuartigen Erkenntnispotenziale in
vergangene, individuelle Leben nicht zwingen, zu hinterfragen, ob wir nicht
auch diesen Individuen einen Namen geben sollten? Oder werden dadurch
die Anderen aus einer fernen / fremden Vergangenheit zu sehr die Unseren
(Stichwort: Nostrifikation)? Wo beginnt die Wertschätzung der Überreste als
Mensch und wo wird die Grenze zur Vereinnahmung überschritten? In unserem Beitrag möchten wir die aktuellen Benennungspraktiken, die aus ihnen
Kerstin P. Hofmann, Christina Sanchez-Stockhammer, Philipp W. Stockhammer, Sollen wir den Knochen
einen Namen geben? (De-)Personalisierung und Objektifizierung prähistorischer Menschen, in: Martin
Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und
Ansätze im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 423–452.
DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092.c15033
423
424 — Kerstin P. Hofmann u. a.
resultierenden Konsequenzen der Wahrnehmung menschlicher Überreste, die
Ergebnisse einer Online-Umfrage und zukünftige Entwicklungen infolge neuartiger Erkenntnismöglichkeiten diskutieren. Wir möchten ein Bewusstsein
für einen reflektierten Umgang mit archäologischen Benennungspraktiken
und damit oft einhergehenden Beschreibungen und Erzählungen erzeugen.
Schlüsselbegriffe Benennungspraktiken; (De-)Personalisierung;
sprachwissenschaftliche Umfrage; Menschenfunde
Abstract “What is your name?” is not a question that prehistoric archae-
ologists can ask a person they have excavated. Rather, the ‘human remains’
are carefully documented, numbered, identified, and archived as objects. In
rare cases, however, the archaeological context confronts us with an individual who seems to be looking at us from the past, because of his or her
special preservation (e.g. as a bog or an ice corpse). In such cases, the finders
sometimes feel compelled to give that individual a name – a new name due
to their lack of knowledge of the original name, if there ever was one. Ultimately, however, most of the deceased are and remain objects for the current
researchers, depersonalised remains that are desubjectivised even further in
the context of archaeological documentation practices.
For a few years now, bioarchaeological approaches have made it possible to shed a completely new light on the lives of these anonymous bones,
allowing us to learn about the lives of these individuals in an unprecedented
way. A human being with individual traits begins to emerge from the bones –
a human being, however, whom we continue to list under a catalogue number
and objectively refer to in the accompanying publication as “find site, grave
number” (or using similar codes). But does this do justice to the deceased?
Shouldn’t the new potential for gaining knowledge about past individual lives
force us to consider giving a name to these individuals? Or would that pose
the danger of nostrification (i.e. of making the other from a distant and alien
past too much our own)? Where does the appreciation of the remains as human beings begin and where do we cross the thin line to appropriation? In
our contribution we discuss current naming practices, their consequences on
the perception of human remains, the results of an online survey, and future
developments resulting from novel approaches to gaining knowledge. We
hope to raise awareness for a reflective approach toward naming practices in
archaeology and the descriptions and narratives that commonly accompany
these naming practices.
Keywords Naming Practices; (De-)Personalisation; Linguistic Survey;
Human Remains
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 425
Status quo
Die urgeschichtlichen Menschen sind uns genuin fremd. Über diese Aussage
besteht heute zumindest in der mitteleuropäischen Urgeschichtsforschung
große Einigkeit (vgl. Eggert 1998; Veit 1998; s. a. Kienlin 2015). Auch wenn
diese Erkenntnis die wissenschaftliche Herangehensweise bestimmt, so werden bei der Kommunikation von deren Ergebnissen oft Begriffe wie „unsere
Vergangenheit“ bemüht, um potenziell Interessierten die Möglichkeit einer
individuellen Bezugnahme zu erleichtern und aus der Urgeschichte noch
stärker einen Teil der eigenen Geschichte zu machen. Die Betonung der
Fremdheit des prähistorischen Menschen im Kontext des Erkenntnisprozesses wandelt sich zur Nostrifikation1 der Öffentlichkeitsarbeit.
Auch wenn die Vergangenheit uns durch eine Vielzahl von Überresten,
die aus der Tiefe der Zeit in die Gegenwart hineinragen, zu einer Auseinandersetzung mit ihr auffordert, bleibt es letztlich uns überlassen, den Bedeutungsgehalt dieser Überreste zu konstituieren und sie durch archäologische
Praktiken von der Bergung bis zur Archivierung bzw. musealen Präsentation
zu einem Sinnträger im gegenwärtigen Geschichtsdiskurs zu machen. Im
Kontext dieser archäologischen Bedeutungskonstruktion spielt der Prozess
oder gar Moment der Ansprache des Überrestes eine ganz zentrale Rolle.
Bei der Bezeichnung von Dingen stellt sich letztlich vor allem die Frage, inwiefern unsere Klassifikationen und Bezeichnungen erkenntnistheoretisch
sinnvoll sind oder nicht – weil sie etwa mögliche Funktionen eines Dings
fixieren und damit die Offenheit der Bedeutungs- und Funktionskonstruktion unnötig einengen (Hofmann 2004; Stockhammer 2015). Noch herausfordernder ist für uns jedoch die Benennung von ‚menschlichen Überresten‘:
„Wie heißt Du?“ ist in aller Regel keine Frage, die Archäolog_innen einem
von ihnen ausgegrabenen Menschen stellen können. Fragen der Klassifikation sind wesentlich auf physisch-anthropologische Analysen der Knochen
beschränkt. Der Mensch als menschliches Ganzes wird damit jedoch nur ausschnitthaft erfasst. Der Prozess der Benennung wird abgeschlossen, indem
die Knochen als ‚menschliche Überreste‘ verstanden und wie alle übrigen,
nicht-menschlichen Reste sorgsam dokumentiert, nummeriert, beschriftet,
verpackt und bestimmt werden. Die Knochen transformieren zu Erkenntnisobjekten wie so viele andere Dinge oder Spuren, die während einer Ausgrabung als materialisierte Vergangenheit dokumentiert und geborgen werden.
Diese Praxis ist sinnhaft und notwendig und eine Form der Objektivierung,
1
Abgeleitet von dem lateinischen Pronomen noster – „uns“ und dem Affix fikation,
bedeutet Nostrifikation in diesem Zusammenhang „Zu unserem machen“, Aneignung von Fremdem zum Eigenen.
426 — Kerstin P. Hofmann u. a.
die die Grundlage für die weitere Strukturierung der Funde (in Datenbanken,
Archiven etc.) bildet und als Referenz für die analytische Forschung dient.
Gerade in den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass die Praxis der
Benennung menschlicher Überreste nicht bei diesem scheinbar objektiven
Punkt ein vorläufiges Ende findet. Zusammen mit der stark angewachsenen
Bedeutung einer aktiven Öffentlichkeitsarbeit der Wissenschaftler_innen
und der damit verbundenen Aufbereitung urgeschichtlicher Überreste und
Einbettung in attraktive Narrative für ein möglichst breites Publikum sind
immer wieder urgeschichtliche Menschenfunde mit einem fiktiven Namen
versehen worden, der mehr oder weniger klar Bezug auf gegenwärtige Vorstellungen möglicher Vornamen und / oder den Fundort nimmt. Eine ganz
wesentliche Rolle spielte hierbei lange Zeit die Exzeptionalität und / oder Erhaltung des prähistorischen Menschenfundes. Für einige ägyptische Mumien
war seit der Entzifferung der Hieroglyphen sogar die tatsächliche Bestimmung
des jeweiligen Namens möglich geworden und vergangene Persönlichkeiten
wie Ramses II. oder Tut-anch-Amun wurden in Form ihrer Mumien noch
gegenwärtiger. Vielleicht auch inspiriert durch die Namensrekonstruktion
von Mumien ist es ebenso archäologische Praxis, den herausragend erhaltenen Menschenfunden aus nordeuropäischen Mooren einen Namen zu geben.
Ebenso wie die ägyptischen Mumien schienen sie aufgrund ihrer Erhaltung
auf besondere Weise gegenwärtig und immer noch zu sehr menschlich, um
sie allein mit einer Fund- bzw. Objektnummer versehen der Öffentlichkeit zu
präsentieren. Lange Zeit blieb aber auch hier diese Benennung vermeintlich
relativ neutral und entsprechende Individuen wurden ‚Grauballe-Mann‘ oder
‚Frau von Borremose‘ genannt. Eine Ausnahme bildete hier die Moorleiche
eines im Jahr 1900 bei Neu Versen gefundenen Mannes, der aufgrund seiner
noch deutlich erkennbaren roten Haare schon sehr früh ‚Roter Franz‘ genannt wurde und unter diesem Namen seitdem in der lokalen Bevölkerung
und Wissenschaft bekannt ist (s. a. Pieper 2001).
Der erste Menschenfund, der medial unter einem neuen menschlichen
Namen weltweit bekannt wurde, war das 1974 in Äthiopien gefundene weibliche Teilskelett eines Australopithecus afarensis. Dies bedeutet nicht, dass es
nicht schon zuvor immer wieder Praxis gewesen sein dürfte, den bei Ausgrabungen geborgenen menschlichen Skeletten menschliche (Spitz-)Namen
zu geben, aber ‚Lucy‘ war der erste urgeschichtliche Menschenfund, dessen
namentliche Benennung weltweite Bekanntheit und Akzeptanz erlangte und
der zugleich nicht vom Fundort bzw. optischen Charakteristika des Individuums abgeleitet wurde. Die Berühmtheit ihres Namens verdankt das Individuum vor allem auch dem besonderen Umstand der Namensgebung, da das
Skelett seinen Namen dem damals aktuellen und bis heute bekannten Lied
Lucy in the Sky with Diamonds der legendären Band The Beatles verdankt:
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 427
Während der Bearbeitung des Knochenmaterials lief dieses Lied im Kassettenrekorder und entsprechend wurde das Skelett zunächst erst spaßhaft
Lucy genannt – ein Name, der sich kurze Zeit später im Camp der Ausgräber_innen und schließlich in der weltweiten Berichterstattung wie auch der
wissenschaftlichen Diskussion zu ‚AL 288-1‘, der eigentlichen wissenschaftlichen Bezeichnung im Sinne der Fund- / Inventarnummer des Individuums,
durchsetzte (Johanson – Edey 1992, 17–18). ‚Lucy‘ blieb lange Zeit die prominenteste Ausnahme einer modernen Namensgebung, die außerhalb von
Grabungsteams, Forschungsgruppen etc. bekannt wurde und sich dann rückwirkend auch in der wissenschaftlichen Forschung durchsetzen konnte. Der
entscheidende Schritt war nicht die Praxis der an sich auch vorher bereits
mitunter spitznamenartigen Benennung von Menschen im Kontext archäologischer Ausgrabung oder Detailanalysen im Labor. Bis auf ‚Roter Franz‘
und ‚Lucy‘ hatte zuvor aber kaum einer dieser Namen den Weg aus den abgeschlossenen Gruppen der Ausgräber_innen bzw. Forschenden in die Öffentlichkeit gefunden. Analog zu ‚Lucy‘ wurde das 1974 gefundene, jungpaläolithische Frauenskelett aus der brasilianischen Fundstätte Lapa Vermelha
mit dem Spitznamen ‚Luzia‘ benannt, der dann ebenfalls in die Öffentlichkeit
kommuniziert und dort sehr beliebt wurde (Azevedo 2018).
Ein wirklicher Wendepunkt in der Benennungspraxis dürfte die 1991 in
den Ötztaler Alpen gefundene Gletschermumie sein, die infolge des enormen Medieninteresses im Kontext ihrer Auffindung und Präsentation schon
bald den Spitznamen ‚Ötzi‘ bekam (Ortner 1993)2. Diese Benennung des urgeschichtlichen Toten erwies sich als medialer Glücksgriff. Das Individuum
wird seitdem in der Öffentlichkeit wie in der wissenschaftlichen Diskussion
unter diesem Namen geführt und es wurden kaum ethische Bedenken zu
dieser Praxis geäußert, obwohl insbesondere hinsichtlich der (möglichen)
musealen Präsentation der Gletschermumie durchaus eine sehr intensive
Diskussion über ethische Fragen des Umgangs mit prähistorischen Menschenfunden geführt wurde, die sich bis heute in der Praxis der Ausstellung
der Gletschermumie im Museum von Bozen widerspiegelt (Südtiroler Archäologiemuseum o. J.). Der mediale (und damit zugleich finanzielle) Erfolg
des Namens ‚Ötzi‘ beflügelte die zuvor eher seltene Praxis, urgeschichtlichen
Menschenfunden einen Namen zu geben.
Als 2005 weitere Reste einer bereits 2000 in Teilen aufgefundenen Mädchenleiche aus dem Großen Moor bei Uchte zutage traten, entschied man sich,
2
Wie Ortner (1993, 315–316) darlegt, stammt der Name ‚Ötzi‘ von einem Leser
der Münchner Abendzeitung, der der Zeitung telefonisch vorschlug, für ihre Berichterstattung doch diese Benennung zu wählen und damit offensichtlich Erfolg
hatte.
428 — Kerstin P. Hofmann u. a.
nicht bei dem üblichen Schema der Benennung von Moorleichen zu bleiben
(etwa ‚Mädchen von Uchte‘ oder ‚Uchte-Mädchen‘), sondern im Rahmen einer Publikumsbefragung des Norddeutschen Rundfunks aus ca. 900 Namensvorschlägen den Namen ‚Moora‘ für den prähistorischen Menschenfund auszuwählen (Bauerochse u. a. 2008). Auch hier dürften vor allem Überlegungen
hinsichtlich einer möglichst breiten und erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit
zugrunde gelegen haben.
Als 2008 an der Universität Freiburg das Gesicht der männlichen Moorleiche aus dem Moor Hogehahn bei Bernuthsfeld rekonstruiert wurde, wurde dieser bereits 1907 gefundene Tote als ‚Bernie‘ bezeichnet und bei den
Science Days der Universität 2009 entsprechend der Öffentlichkeit bekannt
gemacht (Braun u. a. o. J.). Die umfassende Publikation der jüngsten wissenschaftlichen Forschungen zu dem Fund wurde dann 2019 unter dem Titel
‚Bernie‘ – die Moorleiche von Bernuthsfeld vorgelegt (Püschel u. a. 2019). Ähnlich wie schon bei ‚Ötzi‘ setzte sich die zunächst für die mediale Vermarktung entwickelte Benennung auch in der wissenschaftlichen Arbeit mit dem
Menschenfund durch.
Von urgeschichtlichen Skelettfunden mit besonderer Erhaltung (und ‚Lucy‘
als frühem Sonderfall) abgesehen, war es bis vor kurzem jedoch keineswegs
Praxis, ‚einfache‘ Skelettfunde mit einem Namen zu versehen. Analog zu den
Moorleichen wurden exzeptionelle Grabfunde – insbesondere aufgrund besonders auffälliger Ausstattung – etwa als ‚Mädchen von Egtved‘ (Hofmann
2014; Rotermund 2018), ‚Dame / Prinzessin / Priesterin von Vix‘ (Verger 2003),
der ‚Herr von Morken‘ (Nieveler 2018) oder der ‚(edle) Herr von Boilstädt‘
(Tannhäuser 2018) bezeichnet. Relevant dürfte auch hier vor allem das Motiv
gewesen sein, die mögliche Lebensgeschichte dieser anscheinend wichtigen
ur- und frühgeschichtlichen Persönlichkeiten angemessen medial erzählen
zu können. Im Jahr 2019 wurde dann im Rahmen einer vollplastischen Rekonstruktion für die museale Präsentation ein Frauenskelett aus Landau an
der Isar zu ‚Lisar‘, die seitdem als plastische Nachbildung die Besucher_innen
der Ausstellung in Landau empfängt. 2021 kam ‚Ippsi‘ als Bezeichnung für
ein Frauenskelett aus einer neolithischen Kreisgrabenanlage von Ippesheim
hinzu (Krämer 2021). Wie schon bei der Gesichtsrekonstruktion von ‚Bernie‘
scheint die vollplastische Rekonstruktion, die für die breite Öffentlichkeit angefertigt wurde, das Bedürfnis einer Benennung evoziert zu haben, um den
nun optisch uns sehr viel deutlicher entgegentretenden urgeschichtlichen
Menschen aus der anonymen Objekthaftigkeit zu lösen. Vielleicht mag gerade der Blick aus den nun rekonstruierten Augen dabei eine besondere Rolle
gespielt haben.
‚Ötzi‘, ‚Moora‘, ‚Bernie‘ und ‚Lisar‘ lassen keinen Zweifel, dass hier eine
Praxis an Popularität gewinnt, deren ethische Dimensionen noch gar nicht
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 429
hinreichend reflektiert sind. Wir möchten mit unserem Beitrag eine solche
Reflexion initiieren und zeigen, welche verschiedenen Denk- und Betrachtungsweisen zu berücksichtigen sind, um diese Aspekte für zukünftige Namensgebungen bewusst zu machen.
Urgeschichtsschreibung
Ziel einer jeden Geschichtsschreibung ist es nach Johann Gustav Droysen,
die „Geschichte über den Geschichten“ zu schreiben (Droysen 1977 [1882],
441), sich also zu lösen von den Banalitäten individueller Lebensgeschichten
und etwas aufzuzeigen, das quasi auf einer höheren Ebene diese einzelnen
Lebensgeschichten verbindet und lenkt, und so den ‚Lauf der Geschichte‘
zu verstehen. Während einige Geschichtswissenschaftler_innen erkannt haben, dass eben jene Mikrogeschichten3 uns auf oft viel unmittelbarere und
aussagekräftigere Weise über die Vergangenheit informieren als eine letztlich oft weniger eng an Quellen und Menschen rückgebundene und damit
vielleicht sogar eher Fiktion bleibende ‚Geschichte über den Geschichten‘,
wird zumindest die mitteleuropäische Urgeschichtsforschung immer noch
von dem Verdikt dominiert, dass ihre Aufgabe und letztlich ihr Potenzial
die Strukturgeschichte und nicht die Ereignisgeschichte (vgl. Brather 2004,
323–577; Müller-Scheeßel 2011) bzw. die Geschichte von Kollektiven und
nicht der Individuen sei. Häufig wird dies damit begründet, dass uns der einzelne Mensch in seiner individuellen Lebenswelt weitestgehend verborgen
bleibt, weil auch das Grab, in dem uns dieser Mensch entgegentritt, überwiegend nicht von der / dem Verstorbenen selbst, sondern von den Hinterbliebenen gestaltet wurde. Spuren individueller Praxis – Handwerk, Ernährung, Wirtschaftsweise – sind allenthalben aus den archäologischen Quellen
abzulesen, aber in kaum einem Fall mit einem bestimmten Individuum zu
verbinden. Historische Akteur_innen und individuelle Lebenswelten sowie
3
Unter dem Begriff Mikrogeschichte wird eine geschichtswissenschaftliche Forschungsrichtung verstanden, deren Erkenntnisse durch eine dichte Beschreibung
und detaillierte Analyse von relativ kleinen beziehungsweise überschaubaren
Entitäten erzielt wird, die von der Ereignis- und Strukturgeschichte üblicherweise vernachlässigt wurden. Sie entstand in Italien als Reaktion auf die französische Annales-Schule, die bei der Sichtbarmachung der einfachen und vergessenen Menschen auf quantitative Methoden setzte. Anstelle der großen Kollektive
stehen bei der Mikrogeschichte die kleinen Akteur_innen im Fokus, was letztlich
zu einer Subjektivierung der Akteur_innen führte. Wegweisend: Ginzburg 1979;
Zemon Davis 1983; s. a. Revel 1998 [1995]; Kroll 2013.
430 — Kerstin P. Hofmann u. a.
-entscheidungen blieben bislang weitestgehend anonym, und auch in unseren Erzählungen wurden die historiographischen Handlungstragenden
meist nicht individualisierend benannt.4 Nur in jenen seltenen Fällen, wo
etwa durch die Besonderheit der Befundentstehung ein Individuum inmitten seines / ihres Lebensumfelds gegenwärtig blieb – etwa in situ-Befunde
infolge eines Vulkanausbruchs, Erdbebens o. ä. – war es möglich, vom Allgemeinen der archäologischen Analyse in das Besondere des Individuums hineinzuzoomen. In Ermangelung solcher Befunde hat sich die ur- und frühgeschichtliche Archäologie oft darauf konzentriert, mehr oder weniger fiktive
Lebensgeschichten und Rollen jener Individuen zu erzählen, die in herausragend reichen Grabfunden angetroffen wurden. Der ‚Fürst von Hochdorf‘,
die ‚Dame von Vix‘ oder das ‚Mädchen von Egtved‘ wurden zum Mittelpunkt
von Bildern und Geschichten, die in aller Regel eine mehr oder weniger reflektierte Projektion aktueller bzw. im Bildungsbürger_innentum idealisierter Welt- und Geschlechterbilder auf die Urgeschichte waren (z. B. Hofmann
2014; Röder 2015). Wirkliche Mikrogeschichte war auch hier letztlich nicht
möglich, weil eben nur vermutet werden kann, dass die ‚Dame von Vix‘ den
Krater, der ihr zugeordnet wird, tatsächlich zu Lebzeiten nutzte.
In den letzten Jahrzehnten gab es jedoch durch die zunehmende Berücksichtigung von Alter als sozialer Kategorie in ihren vielfältigen Wechselspielen z. B. zu gender, Status und Lebensstadien ein gesteigertes Interesse an
der Darstellung von Lebensläufen (Gilchrist 2000; Koch 2017). Seit einigen
Jahren wächst ferner das Interesse an Individuen und ihren Biographien, und
Rekonstruktionen ermunterten zu Experimenten mit einem bewusst stärker
erzählerischen Schreibstil in der Archäologie (z. B. Meskell 2000) – allerdings hier zunächst bevorzugt für Akteur_innen schriftführender Kulturen
wie dem pharaonischen Ägypten. Insbesondere aktuelle naturwissenschaftliche Verfahren haben es in den letzten Jahren nun ermöglicht, Einblicke in
individuelle Lebensgeschichten zu erlangen, die weit über das Erhoffbare
hinausgingen. Isotopenchemische und archäogenetische Analysen haben
die Rekonstruktion individueller Mobilität insbesondere in der Kindheit,
Aspekte der Ernährung (z. B. Anteil eiweißhaltiger Nahrung), biologischer
Verwandtschaften und sogar ganzer Stammbäume ermöglicht (z. B. Knipper
u. a. 2015; Mittnik u. a. 2019; Cassidy u. a. 2020). Die Analyse von Spuren von
Krankheitserregern im Dentin und von Nahrungsrückständen im Zahnstein
erlaubt seit einigen Jahren ganz neuartige Einblicke in die individuelle Ernährungspraxis und den Gesundheitszustand bzw. die Todesursachen (z. B.
4
Zur Unterscheidung zwischen historischen Akteur_innen und historiographischen
Handlungstragenden siehe Wiedemann u. a. 2017, 16 Anm. 28; Wiedemann –
Cancik-Kirschbaum 2017.
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 431
Bos u. a. 2019; Spyrou u. a. 2019). Auf Basis der Integration archäologischer
und naturwissenschaftlicher Datensätze gelingt es nun zunehmend, ganz
neuartige Einblicke in individuelle Lebenspraktiken in der Urgeschichte zu
erlangen und sich einer echten Mikrogeschichte zumindest etwas anzunähern. Diese neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten müssen jedoch auch in
die gerade lebhafte Diskussion um Narration in der Urgeschichtsforschung
einfließen (siehe z. B. Veit 2006; Rieckhoff u. a. 2010; Van Dyke – Bernbeck
2015). Das neue Potenzial mikrogeschichtlicher Perspektive in der Urgeschichtsforschung verbunden mit der von archäologischer Öffentlichkeitsarbeit vorangetriebenen Praxis der Benennung urgeschichtlicher Individuen
mit einem neuen Namen zwingt uns, aus ethischer wie pragmatischer Perspektive zu fragen: Sollen wir den Knochen einen Namen geben? Und wenn
ja, welchen?
Reduziert auf Nummern
Als im Jahr 2020 Abba Naor, einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen und
Überlebenden des Holocausts, zu seinen Erfahrungen und Erinnerungen aus
seiner Zeit in den Konzentrationslagern von Stutthof und Dachau befragt
wurde, antwortete er auf die Frage, was er während seiner Inhaftierung am
meisten vermisst habe: „Mensch sein, wir waren ja nur eine Nummer“ (Federl
2020, R4). Für Naor war die Reduktion auf eine Nummer eine Verleugnung
seiner Existenz und seiner Rechte als Mensch. Eine Nummer zu sein, war für
ihn gleichbedeutend mit einer Entmenschlichung. Und in der Tat wurden
Menschen in der NS-Vernichtungsmaschinerie vorsätzlich verdinglicht: lebend und / oder ermordet wurden sie als wirtschaftliche Ressource genutzt.
Bereits viele Jahre zuvor hatte sich Hannah Arendt mit der Degradierung
von Menschen in Konzentrationslagern und mit der Bedeutung von Namen
im Zuge von Anerkennung beschäftigt. So führt sie z. B. in ihrem Hauptwerk
Vita activa oder Vom tätigen Leben aus: „Handeln, das in der Anonymität verbleibt, eine Tat, für die kein Täter namhaft gemacht werden kann, ist sinnlos
und verfällt der Vergessenheit“ (Arendt 1997 [1958], 222); oder in einem Beitrag für die Deutsche Zeitschrift für Philosophie: „Handeln ohne einen Namen,
ohne ein dazugehöriges Wer, ist bedeutungslos“ (Arendt 1998, 1008). Und
auch der österreichische Schriftsteller Martin Pollack (2014, 46–47) schreibt
in Bezug auf Massenmorde und Holocaust: „Wichtiger als Zahlen sind die
Namen der Opfer, weil wir nur auf diese Weise einzelne Schicksale erzählen
können, eine unabdingbare Voraussetzung, um diese Menschen dem Vergessen zu entreißen und den Überlebenden und Nachkommen ihre Geschichte
zu überliefern.“
432 — Kerstin P. Hofmann u. a.
Folgt man diesen und anderen Überlegungen zur NS-Vernichtungsmaschinerie, ihren Täter_innen und ihrer gewaltsamen Ent-Subjektivierung,
sind Namen wichtig, um dem Vergessen entgegenzuwirken, um Individuen
(oder Gruppen) sichtbar zu machen. Sie sind damit Teil der Anerkennung,
dass es sich bei meinem Gegenüber um einen Menschen und nicht um ein
Ding handelt.
Bedeutet dies aber nun zugleich zwingend, dass wir urgeschichtlichen
Menschenfunden einen Namen geben sollen, wo wir doch ihren Namen
nicht kennen und ihnen zwangsläufig einen neuen geben würden? Reinhard
Bernbeck (2017, 147) vermutet, dass die Relevanz von Namen für Erinnerung aufgrund ihrer heutigen Verknüpfung mit Individualität von unseren
westlichen Gesellschaften überbewertet wird und Anonymität nicht einfach
mit Vergessen gleichzusetzen ist. Zugleich wird inzwischen die Annahme
bezweifelt, dass Personen- und Subjektkonzepte keiner Veränderung unterlägen (Fowler 2004; Smith 2004). Namen sind in vielen Gesellschaften nichts
Statisches, wenn nicht wie etwa in Deutschland das Personenrecht Benennungspraktiken festlegt. Mehr oder weniger komplexe Namensgebungs- und
Umbenennungspraktiken sind ein fundamentaler Aspekt sozialer Beziehungen in vielen Gemeinschaften und von ganz unterschiedlichen Faktoren (politisch, religiös, Dynamiken von Alter und Geschlecht etc.) abhängig.
In der Archäologie wird meist nur für Zeiten des kommunikativen Gedächtnisses im Sinne einer aktiven mündlichen Weitergabe von Erlebtem und Erfahrungen über vielleicht 80 bis 100 Jahre (vgl. Assmann 2013
[1992], 48–56; vgl. auch Hofmann u. a. 2017), im Falle des Vorhandenseins
von Sterberegistern sowie Begleitfunden mit Namensnennung und vereinzelt für berühmte und / oder in Schriftquellen erwähnte Personen – wie z. B.
Richard III. (Buckley u. a. 2013) oder Luther (Meller 2008) – versucht, die
Namen der Toten bzw. der ihnen zuzuordnenden materiellen Hinterlassenschaften zu finden; ohne in der Regel die Dynamik von Namensgebungen
mitzudenken. Die Mehrzahl der Menschen und vor allem der Menschen der
Prähistorie wird in archäologischen Publikationen hingegen – sieht man von
historiographischen Variablen für aufgrund verschiedener Merkmale bestimmten Gruppen (siehe Hofmann 2016; Wiedemann – Cancik-Kirschbaum
2017; Eisenmann u. a. 2018) ab – so namenlos belassen, wie sie uns durch die
Anonymität der materiellen Überreste überliefert sind, und nur für die ReIdentifikation mit Nummern versehen. Laut rechtlicher Normen bestünde für
die Vergabe von Personennamen in der Bundesrepublik Deutschland allerdings keine Veranlassung, denn urgeschichtliche Knochenfunde werden in
Denkmalschutz- und Bestattungsgesetzen je nach (Bundes-)Land als Sachen
bezeichnet oder gar nicht thematisiert (für Hessen z. B. Dietrich 2013). Auch
§ 168 des Strafgesetzbuches (StGB), der in Deutschland den Schutz vor der
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 433
Störung der Totenruhe regelt, trifft in diesem Fall nicht zu und urgeschichtliche Menschenfunde sind eben keine ‚Berechtigten‘ im Sinne des StGB. Eine
wie auch immer geartete Namensgebung würde also das Ding bzw. Objekt
(wieder) vermenschlichen und einen rechtlichen Status vorgeben, den der
urgeschichtliche Menschenfund gar nicht besitzt.
Doch wie können wir ethisch hinreichend korrekt5 bzw. reflektiert mit
urgeschichtlichen Menschenfunden umgehen? Eine reflektierte Nummerierung sehen wir nicht als ausreichenden Schritt hin zu einem ethisch reflektierten Umgang mit diesen Funden an und stellen daher folgende Fragen:
Wie können wir jene (prä-)historischen „Existenzen“ und „infamen Menschen“ (Foucault 2001) – also Menschen ohne fama, Menschen, die keine
Berühmtheit erlangt haben – sichtbar machen? Können Tote überhaupt diskriminiert werden (vgl. Scarre – Scarre 2006) oder ist dies letztlich nur eine
Pseudo-Diskussion, um z. B. aktuelle Identitätspolitiken auszutragen? Und
was haben bei alldem Namen mit Anerkennung und Sichtbarmachung zu
tun?
What’s in a name?
Das vieldiskutierte Thema der Bedeutung von Namen hat bereits William
Shakespeare in seinem Drama Romeo und Julia aufgegriffen. Er lässt Julia in
ihrer Klage darüber, dass ihr geliebter Romeo Träger des ‚feindlichen‘ Namens Montague ist, die rhetorische Frage stellen: „What’s in a name?“. Ihre
Antwort bezieht sich jedoch nicht auf einen Personennamen, sondern auf
einen Gattungsbegriff: Sie selbst antwortet, dass eine Rose auch lieblich duften würde, wenn man sie ganz anders nennen würde. Dennoch wissen wir,
dass der Name Montague im Stück eben doch hochbedeutsam ist. Julia vertritt hier – wider eigener Erfahrung – eine klassische Position der Sprachphilosophie (Haubrichs 1987, 7; s. a. de Saussure 1916): Namen seien nicht
mit dem Wesen des Bezeichneten identisch, vielmehr seien sie willkürliche,
5
Uns ist bewusst, dass es vielfältige ethische Perspektiven gibt – bedingt durch
die Vielzahl unterschiedlicher, individueller Weltbilder und trotz der zahlreichen
Versuche, im Rahmen von Religionen oder Gesetzgebungen überindividuelle
ethische Richtlinien zu treffen. Eine ‚hinreichend korrekte‘ ethische Umgangsweise ist angesichts unserer eigenen wissenschaftlichen Verortung klar von einer christlich-jüdisch-‚abendländischen‘ Perspektive sowie durch das deutsche
Grundgesetz und die Richtlinien der Vereinten Nationen geprägt. Letztlich bleibt
es in jedem konkreten Fall dann jedoch eine Frage der Auslegung, ob ethischen
Überlegungen hinreichend Rechnung getragen wurde.
434 — Kerstin P. Hofmann u. a.
Identifikatoren
Gattungsbezeichnungen
Mensch
Schneider
Roboter
Namen
Identifikationszeichen /
Zahlencodes
Abba Naor
Herbert Schneider
35 461
R2-D2
Abb. 1: Beispiele für unterschiedliche Arten von Identifikatoren: Eigennamen, Gattungsbezeichnungen und Identfikationszeichen bzw. Zahlencodes (Grafik: Kerstin P. Hofmann
in Anlehnung an Müller – Kutas 1997, 149 Abb. 1).
von der Sprachkonvention festgelegte Bezeichnungen ohne Bedeutung. Und
doch scheint diese Auffassung gerade für die Gruppe der Eigennamen, die
sich mehr oder minder gut abgrenzen lassen von Gattungsbezeichnungen
und Identifikationszeichen bzw. Zahlencodes, nicht so ganz zu stimmen
(Haubrichs 1987, 7; Abb. 1). Hier ist die assoziierte Verbindung vom Namen
zur Person besonders eng, ihnen kommt über die Referenz zusätzlich eine
bestimmte Bedeutung zu.
Diese sogenannte Namensbedeutsamkeit entsteht dabei aus einem Geflecht von Eindrücken und Assoziationen, welche 1) durch den Namen, seine
Lautgestalt, Form und Expressivität ausgelöst werden, 2) mit der Namensträgerschaft durch gemachte Vorstellungen und Erfahrungen mit dem Referenzsubjekt verbunden werden und 3) durch den Namensgebrauch der
Sprechenden bzw. der Sprachgemeinschaft gemacht werden (Sonderegger
1987; Debus 2002, 24–33). Eigennamen erfahren dabei eine besonders hohe
soziale Aufmerksamkeit (Kalverkämper 1994, 209). Obwohl Namen zunächst
willkürlich erscheinen, ist der Akt der Namensgebung meist gesellschaftlich
reglementiert und im Einzelfall mitunter lang reflektiert (s. a. Debus 2012).
Der Name verrät daher viel über die Namensgeber_innen und ihre soziale
Herkunft, Konzeptionen von Geschlecht, religiöse, politische und andere soziale Weltbilder, in seiner Variabilität auch etwas über den Lebenslauf, Dynamiken von Alter, Geschlecht. Er kann aber auch das Leben – oder in unserem
Fall vielleicht sogar das Nachleben – der Namensträger_innen beeinflussen,
wie dies so treffend durch die vieldiskutierte Aussage einer Grundschullehrerin, „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose!“, deutlich wird. Der
angloamerikanische Vorname wurde nach Erscheinen des erfolgreichen Filmes Kevin allein zu Hause im Jahr 1990 häufig von Eltern, die vermeintlich
überwiegend den unteren sozialen Schichten angehören, für ihre Kinder in
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 435
Deutschland gewählt. Der Vorname Kevin hat sich dann zum Stereotypen für
einen ‚frechen, verhaltensauffälligen‘ Schüler entwickelt, der von Lehrer_innen oft auch schlechter benotet würde (Trenkamp 2009).
Benennungsmacht und Benennungspraktiken
Mit Benennungsmacht wird nach Pierre Bourdieu (1991, 23–39) der Akt
der symbolischen Durchsetzung von Klassifikationen und Taxonomien
verstanden:
„Im Kampf um die Produktion des common sense oder, genauer, um
das Monopol auf legitime Benennung als offizielle Durchsetzung einer
legitimen Sicht von sozialer Welt, setzen die Akteure jeweils das in
den vorausgegangenen Kämpfen erworbene Kapital ein, nicht zuletzt
ihre Verfügungsmacht über die in den Köpfen der Menschen bzw. in
der Objektivität festgeschriebenen, institutionalisierten Taxonomien.“
(Bourdieu 1991, 23)
Was wir dabei als Subjekte oder Objekte benennen, befindet sich im Wandel
und so auch die Namen, die eng mit Identitäten verknüpft sind (Brendler
2012). Diese Aushandlungen finden laut Michel Foucault (2005) dialektisch
mittels sogenannter ,Technologien des Selbst‘ und ‚Technologien der Macht‘
statt, wobei letztere das Verhalten von Subjekten prägen; Namen und Benennungspraktiken disziplinieren, unterwerfen, objektifizieren dadurch und
letztlich verdinglichen sie sogar gegebenenfalls. Allein durch Namensgebung wird es uns also nicht gelingen, Subjekte der Vergangenheit aus ihrer
Anonymität und Verdinglichung zu einer Anerkennung zu verhelfen. Doch
der Sozialphilosoph Axel Honneth (2005, 62–77) hat zwischen die Anerkennung des Gegenübers als gleichwertiges Subjekt und die komplette Verdinglichung der Person auf der anderen Seite die Objektivierung als Mittlerposition gesetzt (s. a. Bernbeck 2017, 148). Wir müssen vor allem aufpassen, dass
wir im Zuge von Identitätspolitiken und Kommerzialisierung unsere durch
Analysen und Interpretationen individualisierten Erkenntnisobjekte nicht
wieder erneut verdinglichen.
Wer hat und / oder soll jedoch die Benennungsmacht bei Menschenknochenfunden haben? Schon in den Wissenschaften, die sich mit prähistorischen Menschenfunden auseinandersetzen, gibt es unterschiedliche Forschungstraditionen und Benennungspraktiken. In der Paläoanthropologie,
die Taxonomien nach Klassen und Arten erstellt, ist es durchaus üblich, dass
relevante Menschenfunde mitunter von und nach den Erstentdecker_innen
436 — Kerstin P. Hofmann u. a.
bzw. den damit verknüpften Orten und Situationen festgelegt werden. In
der Physischen Anthropologie besteht aufgrund der Nähe zur Medizin und
ihrer Anonymisierung von Daten im Zuge des Personenschutzes wiederum
eine gewisse Tendenz, Namensgebungen in Publikationen zu vermeiden.
In der Prähistorischen Archäologie mit ihren zahlreichen Menschenfunden
herrscht üblicherweise eine Bezeichnung vor, die auf Fundort und Befundnummer rekurriert. Wie zuvor ausgeführt, zeigt die Praxis, dass insbesondere im Zuge der Wissenschaftskommunikation jedoch eingängige Namen
wie ‚Ötzi‘ und ‚Moora‘ oder aber im Journalismus verwendete mehrgliedrige
Beschreibungen wie ‚der Keltenfürst von Hochdorf‘ oder ‚das Mädchen von
Egtved‘ bevorzugt werden und diese dann auch auf die Forschung zurückwirken. Dies wirft wiederum die Frage auf, ob man mit einer Benennung,
die gegenwärtigen Sprachgewohnheiten folgt, den einst lebenden Individuen
wirklich weniger gerecht wird als mit der Zuweisung einer nur vermeintlich
objektiven sozialen Identität wie z. B. im Falle des ‚Mädchen von Egtved‘.
Vielleicht ist die Verwendung eines Namens wie ‚Moora‘, der an Künstleroder Spitznamen erinnert, weniger bedenklich als die doch sehr unübliche
(und in manchen sozialen Gruppen möglicherweise als beleidigend empfundene) Klassifikation einer im Moor von Egtved gefundenen Mutter als
‚Mädchen‘.
Pro und Contra einer Namensgebung
Aus den von uns aufgeführten Aspekten wird schnell klar, dass wir weder
in der Lage sind, mit unseren Überlegungen auf einem bereits existierenden Diskurs in der Prähistorischen Archäologie aufzubauen noch ethische
Überlegungen aus anderen Disziplinen einfach auf die Urgeschichte zu übertragen, weil diese uns eben doch genuin fremd bleibt und stets die Gefahr
einer Nostrifikation des Anderen besteht. Es liegt auf der Hand, dass die
Komplexität der Situation eine klare, eindeutige Lösung des Dilemmas unmöglich macht, weil letztlich verschiedene ethische Bedenken, u. a. bezüglich
der (Un-)Sichtbarmachung, Entmenschlichung und Nostrifikation des Anderen, sich gegenüberstehen und die verschiedenen Herangehensweisen sogar
als entwürdigend empfunden werden können – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise: Entwürdigung durch Fremdbezeichnung (vgl. ähnliche
Diskurse zu ‚Eskimo‘ vs. ‚Inuit‘ oder ‚Zigeuner‘ vs. ‚Sinti und Roma‘) bzw.
Entwürdigung durch Entmenschlichung (vgl. „Die Würde des Menschen ist
unantastbar.“).
Um zu einer generell reflektierteren Praxis des Bezeichnens oder Benennens urgeschichtlicher Menschenfunde zu gelangen, haben wir uns für eine
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 437
so weit wie möglich demokratische Herangehensweise und die umfassende Einbeziehung weiterer Meinungen zu dieser Angelegenheit entschieden.
Uns ist hierbei bewusst, dass wir die wichtigste(n) Stimme(n), nämlich die
des prähistorischen Menschen aber gerade nicht miteinbeziehen können –
demokratisch ist hier also rein synchron gedacht. Hierfür schien uns das
Mittel einer – wenn auch nicht repräsentativen – Umfrage besonders geeignet, die über zahlreiche wissenschaftliche, universitäre und private Verteiler im Februar 2020 zirkuliert wurde. Im Rahmen dieser Umfrage haben wir
einerseits Meinungen zur bisherigen bzw. einer idealen Form der Benennung
urgeschichtlicher Menschenfunde abgefragt. Zugleich war es uns wichtig,
nicht bei einem ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ stehen zu bleiben, sondern das ‚Ja‘ für eine
Benennung weiter zu reflektieren, eben weil sich nicht nur die Frage nach
dem ‚ob‘, sondern auch nach dem ‚wie‘ einer potenziellen Namensgebung
stellt.
Die Umfrage
Die Umfrage wurde vom 22.01. bis 03.03.2020 unter Verwendung des OnlineUmfragetools SoSci Survey (www.soscisurvey.de) durchgeführt. Insgesamt
enthielt der Fragebogen elf Inhaltsfragen mit zum Teil sehr umfassenden
Akzeptanztests sowie fünf soziodemographische Fragen.6 Der Link zum Online-Fragebogen wurde nach dem Schneeballprinzip über private und berufliche Mailinglisten und über Social Media (Twitter, Facebook) verbreitet mit
der Bitte um Weiterleitung an weitere potenzielle Teilnehmer_innen. Das
Ziel war ein opportunistisches Sampling mit möglichst großer Reichweite,
sowohl was die Anzahl der Teilnehmenden als auch deren Hintergrund betrifft. Wenngleich die Umfrage keine umfassende Repräsentativität für sich
in Anspruch nehmen kann, erreichten wir auf diese Weise doch einen sehr
großen und sehr diversen Personenkreis: Insgesamt füllten 462 Personen
den Fragebogen aus; davon 319 komplett.7 Die im Folgenden vorgestellten
Ergebnisse beschränken sich auf die 319 komplett ausgefüllten Fragebögen,
für die soziodemographische Daten vorliegen. Die überwiegende Mehrzahl
6
7
Eine umfassende Publikation mit der detaillierten Besprechung der linguistischen Fragestellungen ist in Vorbereitung.
Die relativ hohe Abbruchquote ist unter anderem einer sehr hohen Anzahl an
Einschätzungsfragen zur Akzeptanz spezifischer Namensvorschläge geschuldet.
Darüber hinaus entschieden sich einige Teilnehmer_innen, den Fragebogen aus
Protest nicht weiter auszufüllen und teilten uns ihre Gründe hierfür per E-Mail
mit, wodurch wir interessante zusätzliche Informationen erhielten.
438 — Kerstin P. Hofmann u. a.
(n = 215) der komplett ausgefüllten Fragebögen stammt von sich selbst als
weiblich bezeichnenden Teilnehmenden (67 %). 97 Teilnehmende haben ihre
Druckansicht base (Benennung2020) 02.08.2020, 17:51
Geschlechtszugehörigkeit als männlichhttps://www.soscisurvey.de/admin/preview.php?questionnaire=base&...
und 7 als ‚andere‘ angegeben. Der
Kreis der Teilnehmer_innen umfasst ein sehr breites Altersspektrum, von
18 bis über 70 Jahren. Am stärksten vertreten ist die Gruppe der 20–29-jährigen (37 %), gefolgt von der Gruppe der 30–39-jährigen (24 %). Jeweils 99 Personen gaben an, sich in ihrem Studium oder Beruf mit Archäologie bzw.
Sprachwissenschaft
zu befassen. Hierdurch ergibt sich ein sehr ausgewogeBenennung2020 → base
02.08.2020, 17:51
Seite 01
nes Verhältnis zwischen archäologischen Expert_innen (31 %), linguistischen
EL
Expert_innen (31 %) und weiteren Teilnehmer_innen (38 %).
ZuTeilnehmerin,
Beginn derlieber
Studie
wurde zunächst das bestehende System zur KataLiebe
Teilnehmer,
logisierung ur- und frühgeschichtlicher menschlicher Funde vorgestellt:
vielen Dank, dass Sie an unserer Umfrage teilnehmen! Egal, ob Sie sich mit Archäologie
auskennen
oder nicht: Wir
interessieren
uns für
Ihre ganz persönliche
Meinung zur
Archäolog_innen
haben
immer wieder
mit archäologischen
MenschenBenennung archäologischer Menschenfunde (wie z.B. Ötzi). Außerdem bitten wir Sie um
einige funden
allgemeine
sich selbst. Alle zu
Angaben
werdenwerden
anonymnach
gesammelt
ausInformationen
der Ur- undzuFrühgeschichte
tun. Diese
und nur für wissenschaftliche Forschung verwendet. Mit ca. 10 Minuten Ihrer Zeit helfen Sie
ihrem
Fundort
benannt
und
zur
Unterscheidung
voneinander
numuns, wichtige neue Erkenntnisse zu gewinnen. Vielen Dank dafür!
meriert (z. B. Haunstetten – Unterer Talweg, Grab 34/I oder Barchel
58/18c).
Seite 02
Anschließend wurden die Teilnehmer_innen nach ihrer Einschätzung (zufriedenstellend
vs. nicht
zufriedenstellend)
gefragt
und hatten
Möglichkeit,
Archäolog_innen haben
immer wieder
mit archäologischen
Menschenfunden
aus der die
Ur- und
Frühgeschichte zu tun. Diese werden nach ihrem Fundort benannt und zur Unterscheidung voneinander
sich
in
einem
Textfeld
frei
dazu
zu
äußern
(s.
Abb.
2).
nummeriert (z.B. Haunstetten – Unterer Talweg, Grab 34/I oder Barchel 58/18c).
Wie finden Sie das bisherige System zur Benennung archäologischer Menschenfunde?
Zufriedenstellend. Die Identifikation durch Fundort und Nummer genügt.
Nicht zufriedenstellend, weil...
Bitte bewerten Sie die folgenden Aussagen, indem Sie die Regler durch Anklicken aktivieren und an die entsprechenden Stellen
Abb.
2: Frage nach der Zufriedenheit mit dem bisherigen System zur Benennung
schieben.
archäologischer Menschenfunde.
STIMME ÜBERHAUPT
NICHT ZU
STIMME VÖLLIG ZU
Ich fände es gut, archäologischen Menschenfunden zusätzlich zur
Nummerierung einen Namen zu geben.
Ich fände es problematisch, archäologischen Menschenfunden zusätzlich
Beinahe
zwei Drittel der Befragten (209 Teilnehmer_innen = 65,5 %) gaben
zur Nummerierung einen Namen zu geben.
an,
System
zu sein. Die 110 Teilnehmer_inHier mit
könnendem
Sie Ihrebisherigen
Einschätzung begründen,
wennzufrieden
Sie möchten:
nen, die mit dem bisherigen System unzufrieden waren, nannten hierfür eine
Vielzahl von Gründen. Um die Kategorisierung dieser Gründe zu objektivieren,
eine
Frequenzanalyse
für alle
Teilnehmer_innenbeiträge
Fallenwurde
Ihnen neben
Ötzi spontan
noch andere archäologische
Menschenfunde
ein? Falls ja, tragen Sie diese bittedurchhier ein.
geführt,
um
besonders
häufig
genannte
Wörter
zu ermitteln (z. B. unperNein.
sönlich
9-mal; schwer 14-mal). Das Kategorisierungssystem in Abbildung 3
Ja, nämlich
wurde auf dieser Grundlage schrittweise verfeinert, und einige besonders
umfassende Beiträge wurden zwei Kategorien zugeordnet.
1 von 14
02.08.2020, 17:53
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 439
Gründe für die Unzufriedenheit mit dem bisherigen System zur Benennung
von archäologischen Menschenfunden
Ich bin mit dem bisherigen System zur Benennung archäologischer Menschenfunde unzufrieden, weil...
objektivierend/unpersönlich
36
schwer zu merken/zu abstrakt
30
mangelhaftes Benennungssystem
24
persönliche Namen fehlen
20
uninteressant
Auftretenshäufigkeit der Kategorie
14
0
5
10
15
20
25
30
35
40
N = 124 (Ausschluss 3-mal N/A)
Zuordnung eines Teilnehmerbeitrags zu 2 Kategorien in 17 Fällen.
Abb. 3: Gründe für die Unzufriedenheit mit dem bisherigen System zur Benennung
archäologischer Menschenfunde.
Im Folgenden einige Originalzitate zur Verdeutlichung der einzelnen
Kategorien:
1) Objektivierend / unpersönlich: „das auch menschen waren mit eigener Persönlichkeit, die sollten nciht nur eine Nummer sein“ [sic]
2) Schwer zu merken / zu abstrakt: „Nummern sind schwer zu merken
und noch schwerer mit einer Assoziation zu verbinden“
3) Mangelhaftes Benennungssystem: „Geschlecht oder Alter (Kind oder
Erwachsene) nicht klar“
4) Persönliche Namen fehlen: „Es schöner ist einen richtigen Namen
für diese Skelette zu haben, da es ja auch einmal richtige Menschen
waren“ [sic]
5) Uninteressant: „‚unspektakulär‘ für eine eigentlich sehr interessante
Art von Funden“
Im weiteren Verlauf der Untersuchung wurden die Teilnehmer_innen gebeten, eine Vielzahl auf sprachwissenschaftlicher Grundlage erarbeiteter
Benennungsvorschläge zu bewerten. Um die Akzeptanz dieser systematisch
generierten Namen zu messen, musste zuvor der generelle Grad der Befürwortung einer Namensgebung für archäologische Menschenfunde erfragt
Liebe Teilnehmerin, lieber Teilnehmer,
vielen Dank, dass Sie an unserer Umfrage teilnehmen! Egal, ob Sie sich mit Archäologie
auskennen oder nicht: Wir interessieren uns für Ihre ganz persönliche Meinung zur
Benennung archäologischer Menschenfunde (wie z.B. Ötzi). Außerdem bitten wir Sie um
440
— Kerstin
P. Hofmann
u. a.zu sich selbst. Alle Angaben werden anonym gesammelt
einige
allgemeine
Informationen
und nur für wissenschaftliche Forschung verwendet. Mit ca. 10 Minuten Ihrer Zeit helfen Sie
uns, wichtige neue Erkenntnisse zu gewinnen. Vielen Dank dafür!
werden, denn nur so konnte die Ablehnung spezifischer Namen von der
generellen Ablehnung einer Namensgebung getrennt werden. Abbildung 4
verdeutlicht, dass die Namensgebung lediglich als zusätzliche Möglichkeit
Seite 02
zur bestehenden Nummerierung vorgeschlagen wurde. Außerdem wollten
wir
den Teilnehmer_innen ermöglichen, zwischen einer grundsätzlich posiArchäolog_innen haben immer wieder mit archäologischen Menschenfunden aus der Ur- und
Frühgeschichte
zu tun. Einschätzung
Diese werden nach ihrem
benannt und zurgenerell
Unterscheidung
tiven
/ negativen
der Fundort
Namensgebung
undvoneinander
einer Einnummeriert (z.B. Haunstetten – Unterer Talweg, Grab 34/I oder Barchel 58/18c).
schätzung möglicher Schwierigkeiten zu differenzieren. Von besonderem
Interesse war daher die offen gestellte Frage nach der Begründung der EinWie finden Sie das bisherige System zur Benennung archäologischer Menschenfunde?
schätzung (Abb. 4), bei der ein Regler frei verschoben werden konnte auf
Zufriedenstellend. Die Identifikation durch Fundort und Nummer genügt.
einer
Skala von stimme überhaupt nicht zu (entspricht in SoSci Survey
Nicht zufriedenstellend, weil...
dem Zahlenwert 1) bis stimme völlig zu (entspricht dem Zahlenwert 101).
Bitte bewerten Sie die folgenden Aussagen, indem Sie die Regler durch Anklicken aktivieren und an die entsprechenden Stellen
schieben.
STIMME ÜBERHAUPT
NICHT ZU
STIMME VÖLLIG ZU
Ich fände es gut, archäologischen Menschenfunden zusätzlich zur
Nummerierung einen Namen zu geben.
Ich fände es problematisch, archäologischen Menschenfunden zusätzlich
zur Nummerierung einen Namen zu geben.
Hier können Sie Ihre Einschätzung begründen, wenn Sie möchten:
Fallen4:
Ihnen
neben
Ötzi spontan
noch andere archäologische
Menschenfunde
ein? Falls ja, tragen
Sie diese bitte hier ein.
Abb.
Frage
nach
der Akzeptanz
des Vorschlags
einer zusätzlichen
Namensgebung.
Nein.
Ja, nämlich
Die Abbildungen 5 und 6 verdeutlichen, dass jeweils etwa zwei Drittel der
Umfrageteilnehmer_innen die zusätzliche Namensgebung befürworten. Der
Vorschlag wird generell positiv bewertet (von 58,3 % in Abb. 5) und auch als
1 von 14
02.08.2020, 17:53
unproblematisch eingeschätzt (von 66,8 % der Befragten in Abb. 6).
Für die Abbildungen 5 und 6 wurden die Daten aufgrund ihrer Lage vor
oder nach der Skalenmitte ausgewertet. Zudem gab es die Möglichkeit einer
Stimmenthaltung in der Skalenmitte. Berücksichtigt man die Streuung, so
fällt auf, dass die Maximalwerte besonders häufig gewählt wurden – insbesondere die positiv bewertenden. So gab es 27-mal die Einschätzung maximal schlecht und 68-mal maximal gut (s. Abb. 7) sowie 81-mal maximal
unproblematisch und 21-mal maximal problematisch (s. Abb. 8), während die
Enthaltung je 29-mal und 24-mal gewählt wurde.
Abbildung 9 verdeutlicht die Gründe für die Befürwortung oder Ablehnung des Vorschlags. Für die Kategorisierung wurde analog zu Abbildung 3
verfahren.
Im Folgenden einige Originalzitate zur Verdeutlichung der Unterkategorien im Hinblick auf die Frage nach den Problemen, die sich bei der Einführung eines zusätzlichen Benennungssystems ergeben:
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 441
Einstellung zur Namensgebung von Menschenfunden
Ich fände die Benennung archäologischer Menschenfunde...
58,3%
gut
186
9,1%
29
Enthaltung
32,6%
schlecht
104
0
Teilnehmerzahl
20
40
60
80
100
120
140
160
180
200
220
N = 319
Abb. 5: Bewertung des Vorschlags einer Namensgebung zusätzlich zur Nummerierung
bei archäologischen Menschenfunden: Zustimmung / Ablehnung.
Einstellung zur Namensgebung von Menschenfunden
Ich fände die Benennung archäologischer Menschenfunde...
66,8%
unproblematisch
213
7,5%
24
Enthaltung
25,7%
problematisch
82
0
Teilnehmerzahl
20
40
60
80
100
120
140
160
180
200
220
N = 319
Abb. 6: Bewertung des Vorschlags einer Namensgebung zusätzlich zur Nummerierung
bei archäologischen Menschenfunden: (Un)Problematizität.
85
75
68
Anzahl der Fragebögen
65
55
45
35
29
27
25
15
5
1
3
5
7
9
11
13
15
17
19
21
23
25
27
29
31
33
35
37
39
41
43
45
47
49
51
53
55
57
59
61
63
65
67
69
71
73
75
77
79
81
83
85
87
89
91
93
95
97
99 101
Bewertung der Benennung archäologischer Menschenfunde auf einer Skala von 1 (völlig schlecht) bis 101 (extrem gut) mit Stimmenthaltung bei 51
Abb. 7: Streuung der Werte zur Einschätzung der Benennung archäologischer Menschenfunde als schlecht (1–50) vs. Enthaltung (51) vs. gut
(52–101).
442 — Kerstin P. Hofmann u. a.
Streuung der Werte zur Einschätzung der Benennung archäologischer Menschenfunde als
schlecht (1–50) vs. Enthaltung (51) vs. gut (52–101)
Streuung der Werte zur Einschätzung der Benennung archäologischer Menschenfunde als
unproblematisch (1–50) vs. Enthaltung (51) vs. problematisch (52–101)
85
Anzahl der Fragebögen
65
55
45
35
25
24
21
15
5
1
3
5
7
9
11
13
15
17
19
21
23
25
27
29
31
33
35
37
39
41
43
45
47
49
51
53
55
57
59
61
63
65
67
69
71
73
75
77
79
81
83
85
87
89
91
93
95
97
99 101
Bewertung der Benennung archäologischer Menschenfunde auf einer Skala von 1 (völlig schlecht) bis 101 (extrem gut) mit Stimmenthaltung bei 51
Abb. 8: Streuung der Werte zur Einschätzung der Benennung archäologischer Menschenfunde als unproblematisch (1–50) vs. Enthaltung (51)
vs. problematisch (52–101).
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 443
81
75
444 — Kerstin P. Hofmann u. a.
Gründe für Einstellung zur Namensgebung von Menschenfunden
Ich finde es problematisch/gut, archäologischen Menschenfunden Namen zu geben, weil...
problematisch
ethisch fragwürdig
34
nicht praktikabel
27
irreführend/suggestiv
23
unsachlich
13
emotionalisierend/sensationalisierend
8
gut
leichtere Kommunikation/öffentlichkeitstauglich
36
leichter zu merken
26
personalisierend/respektvoll
20
informationsträchtig
2
Benennung nur in Ausnahmefällen gut
Auftretenshäufigkeit der Kategorie
15
0
5
10
15
20
25
30
35
40
N = 204 (Ausschluss 21 anderweitige Kommentare).
Zuordnung eines Teilnehmerbeitrags zu 2 bis 4 Kategorien in 56 Fällen.
Abb. 9: Gründe für die Einstellung zur Namensgebung bei archäologischen
Menschenfunden.
1) Ethisch fragwürdig: „Andererseits hat das Skelett als Mensch möglicherweise bereits einen Namen gehabt, der ihm eine Identität
verliehen hat und ich finde wir haben nicht das Recht diesen einfach
umzubenennen.“ [sic]
2) Nicht praktikabel: „Mir ist die Tragweite nicht bewusst und fürchte
unnötigen Bürokratischen Mehraufwand.“ [sic]
3) Irreführend / suggestiv: „Eine Name erweckt subjektive Assoziationen, die irrefuehrend sein koennen.“ [sic]
4) Unsachlich: „grade Namen die verniedlichend wirken oder den Ernst
der Forschung/Funde ins Lächerliche ziehen, kann man skeptisch betrachten“ [sic]
5) Emotionalisierend/sensationalisierend: „Mit der Namensgabe schaffen wir eine Vertrautheit und gefühlte Nähe zum Fund, die so nicht
richtig ist.“
Die folgenden Originalzitate verdeutlichen die Unterkategorien im Hinblick
auf die globale Bewertung der Einführung eines zusätzlichen Benennungssystems:
6) Leichtere Kommunikation / öffentlichkeitstauglich: „Weckt Interesse
beim Laien, fördert positive Haltung zur Archäologie“
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 445
7) Leichter zu merken: „leichterer Wiedererkennungswert“
8) Personalisierend / respektvoll: „alle Menschen verdienen einen Namen;
es ist Merkmal eines Menschen, einen Namen zu haben“
9) Informationsträchtig: „Vielleicht wäre eine Unterscheidung ob männlich oder weiblich möglich“
10) Benennung nur in Ausnahmefällen gut: „Ein Name hat mit der Identität zu tun, die wir als Archäologen eventuell einem exceptionellen
Fund, nicht aber jedem Individuum eines großen Gräberfeldes zuschreiben können“ [sic]
Die äußerst emotionalen Reaktionen in den Freitexten und in persönlichen
E-Mails an die Autor_innen der Umfrage zeigen aber in jedem Fall, dass das
Thema die Befragten bewegt. Dabei bestehen deutliche Unterschiede zwischen den Archäolog_innen und den anderen Befragten.
Die gruppenspezifische Analyse in Abbildung 10 verdeutlicht eine größere
Skepsis und Zurückhaltung der archäologischen Expert_innen, die das bisherige System in ihrem beruflichen Kontext verwenden und somit stärker als
die anderen Befragten von potenziellen Veränderungen betroffen wären, im
Vergleich zur Gesamtheit der Befragten (bei denen es sich zum Teil auch um
Expert_innen aus angrenzenden Bereichen wie der Anthropologie handeln
könnte) und insbesondere zu Sprachwissenschaftler_innen, die das vorgeschlagene Benennungssystem noch positiver als die Gesamtheit der Befragten bewerten.
Gruppenspezifische Einstellung zur Benennung
archäologischer Menschenfunde
100%
78%
80%
60%
68%
67%
58%
58%
49%
42%
40%
33%
31%
20%
26%
25%
16%
9% 11% 7%
8% 8% 6%
0%
gut
Enthaltung
schlecht
Gesamt
n = 319
Archäolog_innen
n = 99 (31%)
unproblematisch
Enthaltung
Sprachwissenschaftler_innen
n = 99 (31%)
Abb. 10: Gruppenspezifische Einstellung zur Benennung archäologischer
Menschenfunde.
problematisch
446 — Kerstin P. Hofmann u. a.
Abschließend lässt sich feststellen, dass die Mehrheit der Befragten (65,5 %)
mit dem bisherigen Bezeichnungssystem für archäologische Menschenfunde
zwar zufrieden ist. Zugleich fände eine Mehrheit der Befragten aber ebenso
die Vergabe zusätzlicher Namen gut (58,3 %) und unproblematisch (66,8 %). Es
gibt also keinen klaren Auftrag in die eine oder andere Richtung.
Fazit: Namen machen einen Unterschied!
Es besteht kein Zweifel an der allgemein anerkannten Aussage: Namen machen einen Unterschied! Dies bestätigt auch unsere Studie erneut. Namensgebung ist zudem ein emotional aufgeladenes Thema, wie wir vielen ausführlichen E-Mails und persönlichen Rückmeldungen entnehmen konnten,
die uns Teilnehmer_innen der Umfrage zukommen ließen. Weniger klar ist
jedoch, welche Handlungsanweisungen wir aus der Studie ableiten können:
Die Mehrheit der Befragten (66 %) ist mit dem bisherigen System zufrieden,
aber wiederum die Mehrheit fände die Vergabe zusätzlicher Namen gut (58 %)
und unproblematisch (67 %). Skeptisch sind die archäologischen Expert_innen und laut persönlicher Mitteilungen in an uns adressierten E-Mails vor
allem die physischen Anthropolog_innen. Auch wenn die Umfrage keinen
klaren Auftrag in die eine oder andere Richtung gibt, müssen wir uns dessen bewusst sein, dass der Trend zur Namensgebung insbesondere im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit wohl nicht aufzuhalten ist, weil er zu einem
erheblichen Teil von der interessierten Öffentlichkeit und den Medienvertreter_innen selbst vorangetrieben wird, deren eigene Benennungspraktiken
sich nicht bzw. nur bedingt durch Richtlinien z. B. wissenschaftlicher Fachgemeinschaften regulieren lassen. Daraus und aufgrund der in diesem Beitrag angesprochenen Fragen und Aspekte leitet sich klar die Notwendigkeit
einer kritisch-reflektierten Auseinandersetzung mit aktuellen Praktiken der
Benennung bzw. Bezeichnung ab. Aufhalten können wir den Trend nicht,
weil die entsprechenden Benennungen eben nicht allein in der Hand der
Archäolog_innen liegen. Es ist deshalb unseres Erachtens unbedingt notwendig, dass Benennungsvorhaben von Wissenschaftler_innen in einem
offenen Dialog konstruktiv begleitet werden, um ethische Aspekte aus verschiedenen Perspektiven hinreichend zu berücksichtigen, die Konsequenzen
verschiedener Benennungspraktiken bewusst zu machen und unhinterfragte
Praktiken zu reflektieren. Neue bioarchäologische Einblicke in individuelle
Lebenszusammenhänge und -verläufe auch nicht-elitärer Individuen sowie
neue Formen der Geschichtsschreibung und Erzählpraktiken werden hier
weitere Herausforderungen mit sich bringen, aber auch spannende Perspektiven eröffnen.
Sollen wir den Knochen einen Namen geben? — 447
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Kontakt
Dr. Kerstin P. Hofmann | Römisch-Germanische Kommission | Deutsches Archäologisches Institut | Palmengartenstr. 10–12 | 60325 Frankfurt am Main | kerstin.
hofmann@dainst.de | https://orcid.org/0000-0003-4405-5751
Prof. Dr. Christina Sanchez-Stockhammer | Technische Universität Chemnitz |
Institut für Anglistik und Amerikanistik | Reichenhainer Str. 39 | 09107 Chemnitz |
christina.sanchez@phil.tu-chemnitz.de | https://orcid.org/0000-0002-6294-3579
Prof. Dr. Philipp W. Stockhammer | Ludwig-Maximilians-Universität München |
Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie und Provinzialrömische
Archäologie | Geschwister-Scholl-Platz 1 | 80539 München
& Co-Direktor | Max-Planck-Harvard Research Center for the Archaeoscience of
the Ancient Mediterranean | Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie |
Deutscher Platz 6 | 04103 Leipzig | philipp.stockhammer@lmu.de | https://orcid.
org/0000-0003-4702-9372
Materielle Spuren der rezenten Migration
nach Europa. Ein archäologischer Blick
auf die türkische Westküste, Lesbos und
Athen im Jahr 2017 1
Anonym
Zusammenfassung Während des Sommers und Herbsts 2015 nahm
die undokumentierte Migration und Fluchtmigration aus Ländern Westasiens, Zentralasiens und Afrikas nach Europa ein in der jüngeren Geschichte ungekanntes Ausmaß an. Bis zum Ende des Jahres hatten mehr als
850.000 Menschen, vor allem Syrer*innen, die Grenze zwischen der Türkei
und Griechenland auf dem Land- oder Seeweg überquert. In vielen Fällen versuchten die Menschen, weiter nach Mitteleuropa zu gelangen. Auf ihrem Weg
nach Norden machten die Flüchtenden von verschiedenen Dingen Gebrauch,
die von persönlichen Objekten und Alltagsgegenständen über Lebensmittel
bis hin zu Schlauchbooten sowie Schwimmwesten reichten. Versehentlich
zurückgelassen oder absichtlich entsorgt, bilden diese Dinge die materiellen
Hinterlassenschaften der Flucht nach Europa. Im zeitlichen Abstand zu den
unmittelbaren Geschehnissen eröffnen diese Spuren der jüngsten Vergangenheit Einblicke in die unterschiedlichen Stationen der Flucht. Darüber hinaus
geben diese Funde Aufschluss über die Tätigkeit der Schleuser*innen und die
Konsequenzen des europäischen Grenzregimes auf das Leben der Flüchtenden. Da einige Stationen der Flucht sich in Bereichen abspielen, die vor der
Medienberichterstattung verborgen bleiben, erscheint uns die archäologische Dokumentation ihrer materiellen Spuren als wichtiges Unterfangen. Im
Rahmen dieses Artikels präsentieren und evaluieren wir daher verschiedene
materielle Hinterlassenschaften der Geflüchteten an Orten in der Türkei und
Griechenland wie Izmir, Lesbos und Athen, die im Mittelpunkt der Migrationsprozesse von 2015 und 2016 standen.
1
Für die Anmerkungen und Anregungen des*der anonymen Reviewer*in und der
Herausgeber möchten wir uns herzlich bedanken.
Anonym, Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa. Ein archäologischer Blick auf die
türkische Westküste, Lesbos und Athen im Jahr 2017, in: Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander
Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie | Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen
Diskurs, Theoriedenken in der Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 453–490. DOI: https://doi.org/10.11588/
propylaeum.1092.c15034
453
454 — Anonym
Schlüsselbegriffe Türkei; Griechenland; Grenzüberquerung; Undokumen-
tierte Migration; Fluchtmigration; Archäologie der Gegenwart; Materielle
Hinterlassenschaften der Migration; Kulturerbe
Abstract During the summer and autumn of 2015, undocumented and
forced migration from West Asia, Central Asia, and Africa to Europe reached
unprecedented levels. More than 850,000 people, mostly from Syria, crossed
the land and maritime borders between Turkey and Greece by the end of that
year. In many cases, refugees attempted to travel farther north, to Central
Europe. On their route, refugees used and relied on different objects: personal possessions, day-to-day things, provisions, and essential water-crossing
equipment such as rubber dinghies and personal flotation devices. Sometimes
unintentionally left behind, sometimes purposefully discarded, these objects
formed the material remnants of the refugees’ flight to Europe. In an ethically sensitive temporal distance from the actual events, these residues may
provide insight into the various episodes of the migratory journey during the
crossing process. Moreover, the findings offer information about the workings of the migration processes and the consequences of the European border
regime on transient lives. Archaeological documentation of the material traces left by border crossers seems all the more important, since some crossing
episodes occurred in the ‘backstage worlds’ of the borderlands, frequently
hidden from media coverage. Following this agenda, this paper presents and
evaluates the material evidence of refugees’ lives at different sites in Turkey
and Greece, such as Izmir, Lesbos, and Athens, which were the ‘center stages’
of the migration movement in 2015 and 2016.
Keywords Turkey; Greece; Border crossing; Undocumented and Forced
Migration; Contemporary Archaeology; Migrant Artefacts; Migrant Heritage
Einführung
Die rezente undokumentierte Migration und kriegsbedingte Zwangsmigration2 von Menschen aus Westasien, Zentralasien und Afrika nach Europa, die
2
Unter undokumentierter Migration sind mehr oder minder freiwillige Wanderbewegungen von Menschen zu verstehen, die außerhalb geltender Grenzregularien
und -gesetze der Ausgangs-, Transit- und Zielländer stattfinden. Von jenem Begriff
nicht trennscharf abzugrenzen, ist die unfreiwillige Migration oder Zwangsmigration, die Elemente wie die Gefährdung des eigenen Lebens infolge ‚natürlicher‘ oder
auch anthropogener Ursachen beinhaltet (Perruchoud – Redpath-Cross 2011, 5. 39.
54; vgl. auch Schulze Wessel 2017, 81–86). Daneben sind für die undokumentierte
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 455
ihren bisherigen Höchststand im Sommer und Herbst 2015 erreichte, wurde
in der damaligen medialen Berichterstattung von emotional aufgeladenen
ikonischen Bildern genau wie auch dramatischen Videomitschnitten geprägt: die Rettung und Ankunft überfüllter Schlauchboote an der Nordküste
von Lesbos, kampierende Menschen in den Transitstationen ihrer Flucht wie
dem Hafen von Piräus oder dem griechischen Grenzort Idomeni, zu Fuß laufende Menschen auf den Autobahnen in Ungarn und schließlich die Ankunft
an mitteleuropäischen Bahnhöfen. Angesichts dieses dichten medialen Informationsangebots scheinen die Kenntnisse über die einzelnen Stationen der
Flucht – von der Meerespassage zwischen türkischem Festland und griechischen Inseln bis zur Asylbeantragung in Mitteleuropa – auf den ersten Blick
umfassend zu sein. Und doch kann die selektive schlaglichtartige mediale Beleuchtung von bestimmten Aspekten der vielschichtigen Migrationsprozesse
mit der Verschattung von anderen einhergehen, worauf beispielsweise der
Ethnologe Ruben Andersson in seiner Studie zur undokumentierten Migration von Afrika nach Spanien aufmerksam machte. Die ‚Dunkelstellen‘ in
der medialen Inszenierung, so Andersson, korrespondieren nicht selten mit
gewalttätigen Abschnitten der Migration, in denen die Flüchtenden tragische
Geschehnisse durchleben und Traumata erleiden (Andersson 2014, 152–155).
Abgeschirmt durch die Klandestinität der ‚Schleusungskriminalität‘3 oder
die strategische Bildpolitik staatlicher Akteure, bleiben die „backroom[s] of
violence“ (Andersson 2014, 153) der Öffentlichkeit oftmals verborgen.
In der Regel beschränken sich Wanderungsbewegungen wie diejenigen
in den Jahren 2015 und 2016 nicht nur auf Menschen, sondern gehen mit der
Zirkulation, dem Gebrauch, der Entsorgung und dem Zurücklassen von vielfältigen Dingen einher. So merkte der Ethnologe Evthymios Papataxiarchis
3
Migration weitere Bezeichnungen wie irreguläre oder illegale Migration gebräuchlich, die die Wanderungsbewegung außerhalb dessen verorten, was als legal gilt
(Hamilakis 2016a, 122–123; Schulze Wessel 2017, 84). Aufgrund ihrer negativen
Aufladung lehnen wir diese und ähnliche Begriffe ab. Tatsächlich bestehen nämlich, wie Julia Schulze Wessel argumentierte, für Migrant*innen kaum Möglichkeiten der legalen Einreise in mitteleuropäische Länder wie Deutschland. Infolge der
Dublin-II-Verordnung sind Migrant*innen dazu verpflichtet, in demjenigen europäischen Land einen Asylantrag zu stellen, in dem sie als Erstes die Europäische
Union betreten (Schulze Wessel 2017, 84).
Schleusung ist in Artikel 3a des Zusatzprotokolls gegen die Schleusung von Migrant*innen auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten
Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität als „[…] die
Herbeiführung der illegalen Einreise einer Person in einen Vertragsstaat, dessen
Staatsangehörigkeit sie nicht besitzt oder in dem sie keine Berechtigung zum
ständigen Aufenthalt hat […]“ definiert (Luft 2017, 38–39).
456 — Anonym
an, dass im Herbst 2015 einerseits zahlreiche Hilfsgüter wie Kleidung, Medizin und Lebensmittel aus Griechenland und anderen Ländern der Migrationsrichtung entgegen nach Lesbos strebten. Andererseits begleiteten verschiedene Objekte, darunter persönliche Gegenstände sowie Schlauchboote
oder Rettungsmittel, die lebensnotwendig auf der Flucht über das Mittelmeer
waren, die Flüchtenden auf ihrem Weg in die Zielländer (Papataxiarchis
2016a, 6–7). Absichtsvoll entsorgt, unbemerkt zurückgelassen oder unter
Zwang aufgegeben, bilden die Objekte die materiellen Hinterlassenschaften
der rezenten Migration nach Europa.
Mit ihren spezifischen physischen Eigenschaften können ebenjene Gegenstände einen Ausgangspunkt für die archäologischen Wissenschaften darstellen, Stationen der rezenten Migration zu untersuchen. Das spezialisierte
objektfokussierte Methodenrepertoire der Archäologien kann hierbei dazu
beitragen, etwaige materielle Spuren der Ereignisse zu dokumentieren, letztere zu rekonstruieren sowie im weiteren sozialen und politischen Kontext
zu verorten (McGuire 2020, 179–180). Das erscheint insbesondere dann von
Relevanz, wenn nur wenige Informationen über bestimmte Abschnitte der
Migration wie bei den angesprochenen ‚backrooms of violence‘ bekannt sind
oder diese jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit liegen. Eine derartige archäologische Untersuchung der materiellen Hinterlassenschaften der rezenten Migration kann somit nicht nur der Wissensgenerierung bezüglich der
Wanderungsbewegung dienen, sondern zugleich der aktivistischen Evidenzproduktion ähnlich der investigativen Vorgehensweise der Forscher*innengruppe Forensic Architecture am Goldsmiths College der Universität London
(Weizman 2014; 2017).4 In der unmittelbaren archäologischen Arbeit stehen
unserer Meinung nach zunächst weniger die gelebten Erfahrungen während
der Flucht im Fokus. Denn die Geflüchteten können ebenjene, falls sie sich
überhaupt an die traumatischen Erlebnisse erinnern und über sie sprechen
möchten,5 mit eigener Stimme in Interviews schildern, über Fotografien und
4
5
In der programmatischen Vorstellung des Methodenrepertoires von Forensic Architecture machte der Gründer dieser Forschungsagentur Eyal Weizman auf die
grundsätzliche Nähe zu anderen forensischen Wissenschaften und der Archäologie aufmerksam (Weizman 2014, 18–21). Darüber hinaus entspricht eine derartige Archäologie der rezenten undokumentierten Migration einer weiter gefassten
forensischen Archäologie, wie sie Alfredo González-Ruibal vorschlug (GonzálezRuibal 2008, 249).
Jason De León führte zum Beispiel an, dass diejenigen, die den lebensgefährlichen Fußweg durch die unwirtliche Sonora-Wüste beim klandestinen Überqueren
der Grenze zwischen Sonora, Mexiko und Arizona, USA überlebt hatten, häufig
nicht über ihre dortigen Erfahrungen sprechen wollten (De León 2015, 168). In
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 457
Videos vermitteln oder in künstlerischen Formen zum Ausdruck bringen.6
Vielmehr geht es an diesem Punkt primär darum, die materiellen Spuren der
Flucht zu sichern und damit etwaige Aussagen der Geflüchteten mit materiellen Belegen zu untermauern.
Aus mehreren Gründen ist es unserer Ansicht nach in bestimmten Stationen der Flucht geboten, etwaige materielle Hinterlassenschaften im zeitlichen Abstand zu den direkten Geschehnissen zu dokumentieren. Vor dem
Überqueren der Grenze stehen die Menschen unmittelbar davor, strafrechtlich
relevante Handlungen zu vollziehen, wobei sie sich oftmals in den Händen
von Schleuser*innen befinden.7 Die gegebenenfalls auffällige archäologische
6
7
ähnlicher Weise vermutete Yannis Hamilakis, dass Geflüchtete womöglich die Erinnerungen an die gefährliche Mittelmeerpassage vergessen möchten (Hamilakis
2016a, 133). In ihrer ethnologischen Arbeit zur Migration von Libyen nach Europa
kam Silja Klepp zu dem Ergebnis, dass die Migrant*innen einerseits aufgrund
traumatischer Erlebnisse vor und während der Passage des zentralen Mittelmeers
und andererseits aus Angst vor den teils kriminellen Schleuser*innen-Organisationen in Interviews nur wenige Informationen über die Überfahrt preisgaben
(Klepp 2011, 217–223).
In der Untersuchung der undokumentierten Migration aus mittel- und südamerikanischen Ländern in die Vereinigten Staaten von Amerika ergänzten verschiedene Forscher*innen wie De León und andere Mitglieder des von ihm initiierten
Undocumented Migration Project (UMP) genau wie auch Randall H. McGuire
ihr archäologisches Methodenrepertoire um ethnografische Interviews mit geflüchteten Menschen (McGuire 2013; De León 2015; Grabowska – Doering-White
2016). Außerdem dokumentierten zwei Flüchtende, nachdem sie von De León
Einwegkameras erhalten hatten, ihren Weg durch die Sonora-Wüste in die USA
(De León 2015, 18. 167–168). In Hinsicht auf die rezente Migration nach Europa
interviewte Rachael Kiddey im Zuge ihrer archäologischen Untersuchung von
inoffiziellen Unterkünften für geflüchtete Menschen in Athen neben lokalen
Freiwilligen und Aktivist*innen auch Geflüchtete, um Einblicke in ihr dortiges
Leben zu gewinnen (Kiddey 2019). Darüber hinaus wandte Hamilakis eine analoge Vorgehensweise wie De León an, indem er Geflüchtete Ausschnitte aus ihrem
Leben auf Lesbos fotografisch mit Sofortbildkameras festhalten ließ (Hamilakis
2021, 676–678).
Der Terminus ‚Schleuser*in‘ bezieht sich auf sehr heterogene Gruppen von
Menschen, die unterschiedliche Motivationen und Interessen besitzen. Beispielsweise können Schleuser*innen in privaten Netzwerken organisiert sein, die den
Flüchtenden lediglich die Kosten berechnen, die beim illegalen Grenzübertritt
entstehen. Allerdings werden mit demselben Begriff auch vernetzte, international
agierende, kriminelle Organisationen bezeichnet, die ihre asymmetrische Machtposition gegenüber Flüchtenden zur Profitmaximierung ausnutzen (Luft 2017,
38–43).
458 — Anonym
Arbeitsweise zöge unter Umständen öffentliche Aufmerksamkeit nach sich, die
nicht nur die klandestine Flucht der Menschen gefährden, sondern schlimmstenfalls Gewalt seitens staatlicher Akteur*innen oder auch der Schleuser*innen bedingen könnte. Da staatliche Exekutivorgane auch in zeitlicher Distanz
zu den Ereignissen von Informationen über die Abläufe vor und während des
Grenzübertritts Gebrauch machen könnten, ist es zum Schutz von Geflüchteten und Informant*innen notwendig, konkrete geografische Angaben stellenweise zurückzuhalten (vgl. hierzu Stewart u. a. 2016, 165).
Der Grenzübertritt nach Europa geht sowohl auf dem Landweg über den
griechisch-türkischen Grenzfluss Evros / Meriç als auch auf dem Seeweg über
das Mittelmeer in vielen Fällen mit Leid und Schmerz einher. Angesichts der
akuten Not der Flüchtenden, die in der medialen Berichterstattung ohnehin
häufig sensationalisiert wird,8 ist es unserer Meinung nach ausgeschlossen,
in diesen Situationen archäologisch zu arbeiten (vgl. auch Hamilakis 2016a,
134; 2016b, 681).9 Aufgrund dessen kommt eine teilnehmende archäologische
Untersuchung, wie sie teilweise in der Archäologie der Gegenwart praktiziert
wird (vgl. z. B. White 2013; Äikäs u. a. 2016), während derartiger Stationen der
Flucht für uns nicht infrage.10 Anders verhält es sich indes für ethnologische
und ethnoarchäologische Untersuchungen, die im Einvernehmen mit den
Migrant*innen Stationen der Flucht außerhalb lebensbedrohlicher Situationen in den Blick nehmen und damit sogar bis dahin unbeachtete Missstände
aufzeigen können (vgl. z. B. Hicks – Mallet 2019; Kiddey 2019; Agier 2020).
8 De León kommentierte die journalistische Berichterstattung über die undokumentierte Migration in den USA scharfzüngig als ‚Einwanderungspornografie‘,
die sich nicht nur dank der häufig verwendeten Kriegsmetaphern außerordentlich gut verkaufe, sondern zugleich Angst und Faszination der US-amerikanischen Öffentlichkeit bediene (De León 2015, 5).
9 Demgegenüber betonte Hamilakis, dass es gerade für Wissenschaftler*innen
bzw. Aktivist*innen einer ‚archäologischen Ethnografie‘ wichtig sei, während
der unmittelbaren Geschehnisse der Flucht vor Ort zu sein, um dasjenige zu bezeugen, was normalerweise unbemerkt bliebe oder absichtlich verborgen werde
(Hamilakis 2016b, 681). Obwohl Hamilakis in vielerlei Hinsicht Recht hat, dürfte
dies unserer Meinung nach nicht für jedwede Station der Migration gleichermaßen gelten, da die Flüchtenden, wie oben geschildert, in manchen Abschnitten
durch die physische Präsenz von Wissenschaftler*innen gefährdet werden könnten oder sogar ihre Rettung behindert werden könnte.
10 In diesem Zusammenhang sind zudem De Leóns Bedenken gegenüber einer
teilnehmenden Beobachtung von Interesse, die er in Bezug auf das klandestine
Überqueren der Grenze zwischen Mexiko und den USA von Migrant*innen aus
Mittel- und Südamerika in Begleitung von westlichen, d. h. durch ihre Staatsangehörigkeit geschützte Wissenschaftler*innen äußerte (De León 2015, 11–13).
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 459
Vorgehensweise
Um genauer zu klären, welche Hinterlassenschaften durch die rezente freiwillige und unfreiwillige Migration nach Europa in den Jahren 2015 und 2016
entstanden waren, führten wir im Sommer 2017 ein archäologisches Pilotprojekt für zentrale Abschnitte der Flucht jener Zeit durch. Ein wichtiges
Ziel war die grundsätzliche Evaluation der Frage, ob eine archäologische
Dokumentation der materiellen Überreste im spezifischen Kontext der Migration im Mittelmeerraum der weitreichenden journalistischen Begleitung
und anderweitigen wissenschaftlichen Untersuchung des damaligen Migrationsphänomens etwas hinzufügen könnte. Hierzu erfolgte eine surveyartige
Begehung11 ausgewählter Orte entlang der türkischen Westküste, auf Lesbos
und in Athen. Das Augenmerk lag dabei auf einer ersten archäologischen
Identifizierung und Beschreibung von materiellen Spuren, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Migration zu sehen sind. Neben Objekten
wie Seenotrettungsmitteln, Booten sowie temporären Architekturen, die
gewissermaßen die ‚Infrastruktur‘ der Wanderbewegung bildeten, standen
Alltagsgegenstände und persönliche Dinge der Flüchtenden im Fokus des
Interesses. Aufgrund der unterschiedlichen Situationen in den untersuchten
Regionen fanden verschiedene Methoden unterschiedlicher Skalen Anwendung. Die türkische Westküste wurde anhand der Begehung der Großstadt
Izmir sowie mehrerer Strand- und Küstenabschnitte erschlossen. Infolge der
bereits weit fortgeschrittenen Reinigungsarbeiten auf Lesbos beschränkte sich unsere Arbeit auf zwei mehr oder minder gesäuberte, kurze Uferabschnitte sowie eine Abfallhalde im Norden der Insel. Letztere diente als
Deponierungsort der materiellen Hinterlassenschaften, die während und
nach der Flucht bei der Reinigung der Küstenlinie aufgesammelt worden
waren. In Athen konzentrierten sich die Arbeiten auf den Besuch von unterschiedlichen Stadtvierteln, in denen Geflüchtete zu dieser Zeit schwerpunktmäßig lebten, und die Begehung sowie fotografische Dokumentation eines
11 Die Möglichkeit, einen Fundort zu begehen, ergab sich zumeist ad hoc in einem
engen zeitlichen Rahmen. Infolgedessen war ein systematischer archäologischer Survey unter Anlage und Verwendung eines georeferenzierten Netzes
nicht durchführbar. Stattdessen richteten wir uns nach den geografischen oder
architektonischen Gegebenheiten der Fundstätten und gingen ungefähr abgegrenzte räumliche Abschnitte ab. Manche der Fundstätten zeichneten sich
durch eine sehr große Menge an Materialien aus, sodass wir lediglich die Objekte zuvor festgelegter, bestimmter Kategorien stichprobenartig aufsammelten. Besonders relevant erscheinende Funde und Befunde verorteten wir hierbei per GPS.
460 — Anonym
wenige Wochen zuvor geräumten Geflüchteten-Camps im Westterminal des
ehemaligen Flughafens Elliniko.
Im Folgenden sollen Einblicke in die dokumentierten materiellen Hinterlassenschaften gegeben werden, wobei ihre Vorstellung den räumlichen
Zwischenstationen der Wanderbewegung von der Türkei nach Griechenland
folgt. Zu Interpretationszwecken erfahren die archäologischen Evidenzen
teilweise eine Korrelation mit anderen Quellen wie Interviews migrationswissenschaftlicher Studien, teilnehmenden Beobachtungen aus ethnologischen Untersuchungen und journalistischen Berichten sowie Datenveröffentlichungen seitens Nichtregierungsorganisationen (Non-governmental
organizations / NGOs) und des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (Office of the United Nations High Commissioner for Refugees / UNHCR oder UN
Refugee Agency).
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa
Izmir
In mehreren journalistischen Reportagen beschrieben Autor*innen wie
Nermin Ismail, Navid Kermani und Patrick Kingsley Izmir als zentralen
Transitort der freiwilligen und unfreiwilligen kriegsbedingten Migrationsbewegung auf der östlichen Mittelmeer- und Westbalkanroute12 von Westund Zentralasien nach Europa während des Jahres 2015. Der Stadtbereich
um den Bahnhof Basmane Garı diente in dieser Periode einerseits zur Beherbergung der Flüchtenden in der Zeit vor der Meerespassage nach Europa
und andererseits zur Kontaktaufnahme mit Schleuser*innen oder ihren Helfer*innen13 und zur Vermittlung von Überfahrtsplätzen in den Schlauch- oder
Holzbooten. Darüber hinaus erweiterten zahlreiche (Mode-)Geschäfte
12 Die östliche Mittelmeerroute bezeichnet sowohl die undokumentierte Einreise
nach Europa über die griechisch-türkische See- oder Landgrenze als auch diejenige über die bulgarisch-türkische Landgrenze. Die Westbalkanroute bezieht
sich indes auf die Weiterreise von Griechenland und Bulgarien über verschiedene
Balkanstaaten, beispielsweise Albanien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina
sowie Serbien oder Nordmazedonien und Serbien, nach Ungarn oder Kroatien
(Luft 2017, 36).
13 Sowohl Kermani als auch Ismail stellten fest, dass die Kontaktaufnahme häufig
über Helfer*innen geschah, die der Sprache der Flüchtenden mächtig waren oder
aus demselben Land stammten (Ismail 2016, 28–29; Kermani 2016, 71. 78–80).
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 461
Abb. 1: Haushaltswarenladen mit Seenotrettungsmitteln, Izmir, Türkei. © Autor*innen.
beiderseits des zentralen Fevzi Paşa Bulvarı ihr Sortiment an Kleidungsstücken
um Seenotausstattung, überwiegend Schwimmwesten und Rettungsreifen.14
Rund zwei Jahre nach dem folgenreichen Herbst 2015 war das orangefarbene und rote Neonleuchten der Rettungswesten fast vollständig aus den
Auslagen der Geschäfte verschwunden. Bei der Begehung eines Stadtviertels
westlich des Bahnhofs konnte lediglich ein Gemischtwarenladen lokalisiert
werden, der weiterhin Wasserrettungsmittel führte (Abb. 1). Zusätzlich zu
verschiedenen Arten von Rettungswesten und Schwimmreifen gehörten
einzelne Überlebensanzüge und Schutzbeutel aus Kunststoff für Dokumente
sowie Mobiltelefone zum Warenangebot. Das Repertoire an Schwimmwesten lässt sich grob in drei Kategorien gliedern, die Unterschiede in Bezug
auf Qualität und Erhaltungszustand aufwiesen. Unter den angebotenen Exemplaren fanden sich außer originalen Neuwaren auch recycelte Stücke, die
augenscheinlich aus verschrotteten Schiffen stammten. Anhand der aufgedruckten Namen war eine Identifizierung der Boote möglich, auf denen die
Rettungsmittel ursprünglich im Einsatz waren. Im Abgleich mit den Schiffen,
14 Kingsley 2015; 2016a, 191–195; Ismail 2016, 25–63; Kermani 2016, 71–83.
462 — Anonym
die in den Jahren von 2014 bis 2017 auf der ganzen Welt abgewrackt wurden,
stellte sich heraus, dass die gesichteten wiederverwendeten Rettungsmittel
ausschließlich zu Schiffen gehörten, die in der 50 km nördlich von Izmir gelegenen Abwrackwerft von Aliağa zerlegt worden waren.15 Außerdem waren nachgemachte Rettungswesten im Bestand des Haushaltswarenladens
vorhanden, die der Händler im Gespräch mit uns offen von den Originalen
unterschied. Aufgrund der Fehlschreibung des Herstellernamens (‚Yamaxa‘
anstatt ‚Yamaha‘) waren einige dieser Fälschungen für uns sogleich als
solche erkennbar (vgl. auch Hamilakis 2021, 664). Verschiedene Autor*innen berichteten jedoch, dass sich manche Exemplare der nachgemachten
Rettungswesten erst anhand der Begutachtung des verwendeten Füllmaterials im Inneren als funktionslose Attrappen identifizieren ließen. Daher
ist davon auszugehen, dass die Flüchtenden einen Teil der nachgemachten Rettungswesten nicht als Fälschungen erkennen konnten. Als Füllung
wurden in solchen Fällen Materialien ohne Auftrieb wie Karton, Kunststoff,
Schwämme und Textilien verwendet. Die Fabrikant*innen nahmen somit
bewusst in Kauf, dass sich im Ernstfall des Kenterns die Überlebenschancen
der Menschen infolge der mit Wasser vollgesogenen Füllmaterialien weiter verringerten (Ismail 2016, 85; Kingsley 2016a, 193; Puktalović – Csekö
2016). Die Produktion der Fälschungen erfolgte zum Teil vor Ort in Izmir
(Kingsley 2016b).16 Abhängig von Funktionalität und Qualität wurden die
Schwimmwesten zu unterschiedlichen Preisen angeboten.17 Die heterogene
Zusammensetzung an Seenotrettungsmitteln des erwähnten Händlers kann
hierbei als Relikt des Anstiegs an Flüchtenden während der zweiten Hälfte
des Jahres 2015 verstanden werden. Um die unerwartete Nachfrage bedienen
zu können, kam es einerseits zur lokalen Produktion von nachgemachter
15 Es handelte sich um die Schiffe oder Ölbohrplattformen Paralos / Piräus (Abwrackung ab 26.06.2014; Shipbreaking Platform 2014), Scarabeo 3 / Madeira (Abwrackung ab Januar 2017; Shipbreaking Platform 2017) und Scarabeo 4 / Madeira (Abwrackung ab 20.07.2015; Shipbreaking Platform 2015). Zum Abgleich wurden die
Auflistungen abgewrackter Schiffe der NGO Shipbreaking Platform verwendet.
16 Im Januar 2016 ging die türkische Polizei gegen die lokale Herstellung nachgemachter Rettungswesten vor und schloss in der Folge eine Produktionsstätte
in Izmir, in der zuvor auch geflüchtete Kinder aus Syrien arbeiteten (Kingsley
2016b).
17 Im Juni 2017 betrug der Preis für eine nachgemachte Schwimmweste 20 türkische
Lira (rund fünf Euro beim damaligen Umrechnungskurs), wohingegen ein Original 50 türkische Lira kostete (rund 12,50 Euro). An dieser Stelle sei angemerkt,
dass die Preise für Wasserrettungsmittel sich wahrscheinlich nach der Nachfrage
richteten. Entsprechende nachfragebedingte Preisschwankungen galten vor allem für den Handel mit Meeresüberfahrten (Kingsley 2015).
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 463
Abb. 2: Arabischsprachige Werbeanzeige als Graffito, Izmir, Türkei. © Autor*innen.
Billigware und andererseits zur Akquisition von Altmaterialien aus der nahegelegenen Abwrackwerft von Aliağa.
In demselben Stadtviertel, in dem sich auch das beschriebene Geschäft
befand, hatten sich Syrer*innen augenscheinlich niedergelassen. Zusätzlich
zu arabischen Graffiti an Gebäudefassaden deuteten hierauf auch Lebensmittelläden mit arabischen Beschriftungen und Cafés, deren Namen auf syrische
Betreiber*innen verwiesen. Bei einem der gesichteten Graffiti handelte es
sich beispielsweise um eine Werbeanzeige für ein Unternehmen, das sich
offenbar auf Dienstleistungen wie die Installation und Reparatur technischer
Geräte spezialisiert hatte (Abb. 2).18 Darüber hinaus existierten zum Zeitpunkt unserer Begehung mehrere ruinenhafte, aber bewohnte Gebäude in
diesem Viertel, die möglicherweise geflohenen Menschen als Unterkunft
dienten.19 Die organisierte Anmietung ganzer Hotels durch Schleuser*innen,
um Übernachtungsmöglichkeiten für die Flüchtenden unmittelbar vor der
18 Arabisch: „halab lil ettisalat, Tarkib dishat, Format computer, Taslih ghassalat,
Barradat, Mukaiyfat“; Deutsch: „Aleppo Telekommunikation: Installation von
Satellitenschüsseln, Formatierung von Computern, Reparatur von Waschmaschinen, Kühlschränken und Klimaanlagen“.
19 Ähnliches stellte Ismail im Dezember 2015 fest, als sie Syrer*innen in einem baufälligen Gebäude Izmirs interviewte (Ismail 2016, 43–46).
464 — Anonym
Meerespassage nach Griechenland zu schaffen, die Ismail in den Wintermonaten 2015 beobachtet hatte (Ismail 2016, 26), schien in den von uns besuchten Herbergen nicht mehr stattzufinden.
Türkische Westküste
Im Gegensatz zur ausführlichen Berichterstattung über andere Etappen
der Flucht erfuhr das Leben der Flüchtenden bevor sie die Überfahrt nach
Europa antraten kaum Erwähnung in den journalistischen Medien. Diese Phase ihrer Flucht verbrachten die Menschen teilweise in temporären
Transitlagern, die Schleuser*innen an der türkischen Küste eingerichtet
hatten.20 Jene Orte gehören aus mehreren Gründen zu den anfänglich genannten ‚Dunkelstellen‘ medialer Berichterstattung. Kermani beschrieb ein
solches Lager während der Herbst- und Wintermonate 2015 andeutungsweise als „müllübersäte Höllenlandschaft inmitten paradiesischer Natur“,
in der „Dutzende oder Hunderte Menschen unter Bäumen“ lagen (Kermani
2016, 66). Die geringfügige journalistische Beschäftigung mit diesem Thema
könnte einerseits auf die affektive Reichweite emotionaler Ankunftsbilder
und andererseits auf die Gefährdungslage der Reporter*innen zurückgehen,
die sich aus der Gleichzeitigkeit von Recherchearbeiten und unmittelbarem
Geschehen ergab. So führte Kermani im angesprochenen Bericht aus, dass
Flüchtende ihn auf dem Weg zu dem aktiven Transitcamp vor dem Weitergehen warnten, da Aufpasser*innen, mit Messern und Pistolen bewaffnet, das
Lager bewachten. Von einem Besuch der Lagerstätte musste er in der Folge
absehen (Kermani 2016, 67).
Eine grundsätzlich andere Situation lag jedoch im zeitlichen Abstand zu
den damaligen Geschehnissen vor. Aufgrund der sukzessiv erfolgten Schließung der Route über den westlichen Balkan im Zeitraum vom Herbst 2015
bis Frühjahr 2016 sowie des Inkrafttretens des EU-Türkei-Abkommens am
20. März 2016, das mit der verstärkten Überwachung der Ägäis seitens der
Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex), des Nordatlantikpakts (NATO) sowie der griechischen und türkischen Küstenwache
einherging, verringerte sich die Anzahl an Menschen, die von der türkischen
Westküste über die griechischen Inseln nach Europa flohen (Cremer 2017;
20 In Kingsleys Reportage, in der der Autor mehrere Stationen der Flucht mittels
Interviews und Eigenbeobachtungen beschrieb, fehlt beispielsweise genau jener
Aufenthalt der Flüchtenden in Transitlagern (Kingsley 2016a, 196–198).
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 465
Luft 2017, 37. 122).21 Wegen der hohen Anpassungsfähigkeit von Schleusungsorganisationen an die Kontrollintensität von Grenzen (Luft 2017, 41)
war demnach anzunehmen, dass die temporären Transitcamps entlang der
türkischen Westküste genauso schnell wieder verlassen wurden, wie sie zuvor als Reaktion auf die große Anzahl an Flüchtenden entstanden waren.
Folglich eröffnete sich die Möglichkeit, diejenigen Stationen des rezenten
Wanderungsphänomens aus archäologischer Perspektive zu untersuchen,
die der Öffentlichkeit nur geringfügig bekannt waren.
Während unseres Aufenthalts in der Türkei gelang es uns, ein derartiges
verlassenes Lager an der türkischen Westküste auszumachen. Seine topografische Lage zeichnete sich durch eine geschützte Position innerhalb einer
kesselartigen Senke aus. Lediglich auf einer Seite öffneten sich die ansteigenden Hänge zu einem schmalen Meereszugang, der sich in unmittelbarer Wassernähe zu einer von Felsenklippen umrahmten Bucht mit einem
schmalen Kiesstrand verbreiterte. Infolge dieser natürlichen Topografie war
die Lagerstätte weder von Land noch von See direkt einsehbar und bot damit
Schutz vor einer schnellen Entdeckung. Eine unwegsame Piste, die selbst
mit einem geländegängigen Fahrzeug nur teilweise befahrbar war, gewährte
den landwärtigen Zugang zur Senke. Über diesen Weg erreichten vermutlich
auch die Flüchtenden das Lager.
Entlang der abfallenden Seiten der Senke erstreckten sich mehrere übereinander angeordnete künstliche Terrassenmauern, deren Bewuchs sich aus
verschiedenen Baumarten und Gestrüpp zusammensetzte. Im Bereich der
Bäume befanden sich die Überreste von zahlreichen Unterständen, die den
Menschen während ihres temporären Aufenthalts Schutz vor der herbstlichen und winterlichen Witterung geboten hatten (Abb. 3). Noch größer in
ihrer Anzahl waren die Feuerstellen, die sich über das gesamte Transitcamp
verteilten (Abb. 4). Zur Anlage der Feuerstätten dienten aus dem Boden hervorragende Felsblöcke und herangetragene Steine. Als Feuermaterial wurden mitunter hölzerne Bauteile von Schlauchbooten verwendet. Auch die
Unterstände zeichneten sich durch einen provisorischen Charakter aus. Bei
einem Großteil handelte es sich um ad hoc errichtete Notunterstände aus
Materialien wie Kartons und Tragetaschen zur Aufbewahrung aufblasbarer Gummiboote, die sich wahrscheinlich erst infolge der Vorbereitungen
auf die Meerespassage in der Senke akkumuliert hatten und daher gerade
verfügbar waren. Zusätzlich kamen bei der Errichtung der Zufluchtsstätten
vor allem Schläuche und andere Teile der Schlauchboote zum Einsatz. Die
21 Während 2015 insgesamt 856.723 Menschen auf den griechischen Inseln ankamen, nahmen 2016 173.450 Personen, 2017 29.718, 2018 32.494, 2019 59.726 und
2020 9.714 die Meerespassage auf sich (UNHCR 2018; UNHCR 2021).
466 — Anonym
Abb. 3: Improvisierter Unterstand, Transitlager, türkische Westküste. © Autor*innen.
Abb. 4: Feuerstelle, Transitlager, türkische Westküste. © Autor*innen.
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 467
Kartons dienten häufig als Unterlage zum Abdecken des Bodens. Die Aufbewahrungstaschen und die aufgeschnittenen Schläuche fungierten indes
als Planen, die vermutlich die Flüchtenden mit Hilfe von Textilresten und
Schnüren zwischen den Bäumen zu provisorischen Zelten aufgespannt hatten (Abb. 3). Obwohl auch vereinzelt Kuppelzelte innerhalb des Lagers anzutreffen waren, die auf ein gewisses Maß an Vorbereitung hindeuten, war
diese Form der Unterkunft gegenüber den provisorischen Konstruktionen
in der Minderheit.22 Die vorhandenen Exemplare der Campingzelte zeigten
dabei gelegentlich Spuren von Reparaturarbeiten; so wurden beispielsweise
Risse in der Außenhülle vernäht.
Das zahlreiche Vorkommen von Schlauchbootteilen innerhalb der materiellen Hinterlassenschaften des Camps erschien zunächst merkwürdig, zumal entsprechende Überreste gemäß der Fluchtrichtung vor allem auf griechischer Seite zu erwarten gewesen wären. Mögliche Erklärungen für dieses
Phänomen könnten einerseits in fehlerhaften oder beschädigten und daher
unbrauchbaren Schlauchbooten oder andererseits in angeschwemmten
Trümmern gesunkener Boote liegen. Das Kentern der Boote ereignete sich
hierbei wahrscheinlich nicht nur aufgrund der rauen, winterlichen See, sondern auch als Konsequenz der fatalen Wechselwirkung zwischen den Grenzsicherungsmaßnahmen der Europäischen Union und den Strategien der
Schleuser*innenorganisationen, diesen entgegenzuwirken. Die Vorgehensweise der Schleuser*innen ist vor allem vom Streben nach Gewinnmaximierung und der Reduzierung der eigenen Risiken geprägt, weshalb die Meerespassage mittels überbelegter, teils untauglicher Boote ohne ausreichend
geschultes Personal erfolgte (Kingsley 2016a, 196–198; Luft 2017, 40). Wie
Anna Triandafyllidou und Thanos Maroukis bereits 2012 für den Menschenschmuggel von der Türkei nach Griechenland herausarbeiteten, steuerten
die Schleuser*innen in der Regel die kleinen Holz- oder Schlauchboote nicht
selbst. Stattdessen erhielten zwei Flüchtende vor der Abfahrt kurze Instruktionen im Gebrauch des Wasserfahrzeugs. Während eine Person das Boot
steuerte, half die andere bei der Navigation. Wegen der Überbelegung konnte
bereits eine abrupte Richtungsänderung der unerfahrenen Steuerleute zur
Havarie führen. Gleichzeitig verfügte der*die Navigator*in über ein Messer,
mit dem er*sie nach Anweisung der Schleuser*innen im Falle des Beidrehens
von Patrouillenbooten oder Kriegsschiffen der griechischen Küstenwache
22 Allerdings wäre es prinzipiell möglich, dass Zelte ursprünglich einen größeren
Anteil ausmachten. Da Trekkingzelte leicht, zerlegbar und transportabel sind,
könnten sie nach dem Auflassen des Transitlagers abgebaut und entfernt worden
sein.
468 — Anonym
das Schlauchboot zerstechen und zum Kentern bringen sollte.23 Mit einem
solchen riskanten Manöver sollte die Seenotrettung und der nachfolgende
Transport nach Griechenland erwirkt werden, da andernfalls die Schiffe des
Grenzschutzes versuchen würden, die Schlauchboote mit den Flüchtenden
in türkische Gewässer abzudrängen (Triandafyllidou – Maroukis 2012, 97.
102).24 Die wiederverwendeten Schläuche und anderweitigen Schlauchbootteile innerhalb des Transitlagers an der türkischen Westküste könnten demnach die angeschwemmten Überreste havarierter Boote darstellen, die nachfolgend als Baumaterial für die Unterstände dienten.
Nach Ausweis der provisorischen Notunterkünfte ist anzunehmen, dass
viele der Flüchtenden nicht auf den Aufenthalt in der am Meer gelegenen Senke vorbereitet waren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die
neue Situation reagierten. Zum Schutz vor der Witterung, besonders in den
Herbst- und Wintermonaten 2015/2016, widmeten sie Abfallmaterialien wie
Verpackungen sowie Überreste zerstörter Schlauchboote um und errichteten
aus ihnen improvisierte Unterstände. In der Folge entstand in der Senke ein
provisorisches Transitcamp.
Jenseits dieser temporären, informellen Strukturen formten vor allem Gegenstände des alltäglichen Lebens die materiellen Hinterlassenschaften der
Stätte, die Einblicke in die Lebensumstände der Menschen während des Wartens auf das Übersetzen auf die griechischen Inseln geben. Die Bandbreite
der Gegenstände reichte von verschiedenen zumeist leeren Gepäckstücken
wie Reisekoffern, Taschen und Rucksäcken über Bekleidungsmaterialien,
Spielzeug, Hygieneartikel, Kosmetika, Medikamente und Lebensmittelverpackungen bis hin zu Dokumenten und persönlichen Gegenständen.
In diesem Zusammenhang fielen insbesondere Kosmetikprodukte wie
Lippenstifte, Mascara, Pinzetten, Spiegel, Parfumflaschen und Haarfärbemittel auf. Im ersten Moment wirkten diese Funde aus unserer Sicht in der
23 Auch nach der Ankunft an den Stränden von Lesbos stachen die Geflüchteten
Löcher in die Schlauchboote, wie beispielsweise Kingsley schilderte. Der Autor führte diese Beobachtung darauf zurück, dass sich die Geflüchteten davor
fürchteten, wieder in die Türkei zurückgeschickt zu werden, falls ihre Boote
noch seetüchtig waren (Kingsley 2016a, 176). In den Wintermonaten 2015/2016,
als an manchen Tagen zahlreiche Schlauchboote gleichzeitig oder in kurzer Folge Lesbos erreichten, dürfte das Zerstechen der Schlauchboote darüber hinaus
schlicht notwendig gewesen sein, damit aufgrund der schmalen Strände weitere
Boote landen konnten.
24 Die Ausführungen von Triandafyllidou und Maroukis decken sich mit der Auskunft eines 2015/2016 geflüchteten Syrers und besitzen somit auch für diesen
Zeitraum Gültigkeit.
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 469
Fluchtsituation deplatziert, da uns, einem gängigen Klischee folgend, Äußerlichkeiten in der Not schlicht unwichtig erschienen. Für die prominente Präsenz innerhalb des Fundkorpus könnten jedoch mehrere Faktoren entscheidend gewesen sein, die das Bedürfnis und die Notwendigkeit einer gewissen
Konzentration auf das äußere Erscheinungsbild verständlich machen. Der
bewussten oder unterbewussten Aufrechterhaltung alltäglicher Handlungen
wie der dekorativen Körperpflege könnte gewissermaßen eine Schutzfunktion zugekommen sein. Die Menschen erlangten dadurch ein Stück ihrer früheren Normalität, wodurch sie möglicherweise Halt in der Ausnahmesituation der Flucht fanden. Von entscheidender Bedeutung könnte das Bestreben
gewesen sein, trotz der widrigen Umstände Würde und Selbstwertgefühl zu
bewahren, was die Menschen sich selbst und auch anderen zu kommunizieren versuchten (Schroeder 2017).
Von den Kosmetika nicht scharf abzugrenzen sind Hygieneartikel, die in
Form von diversen Rasierutensilien – darunter Rasiermesser, Einweg- und
Systemrasierer (auch für Frauen), elektrische Rasierapparate, Rasierschaum,
Rasiercreme und Rasierwasser – Feuchttüchern, Zahnpflegeinstrumenten,
Windeln und Monatsbinden vorlagen.
Sehr häufig vertreten waren des Weiteren unterschiedliche Transportbehältnisse wie Rucksäcke in verschiedensten Formen, Farben und Größen,
Handtaschen, Kindertaschen und Reisekoffer. Bei den meisten Rucksäcken
handelte es sich um Alltagsmodelle handelsüblicher Größen, wobei unter
ihnen viele Exemplare mit Logos bekannter Sportmarken zu finden waren.
Die Kategorie der Medikamente beinhaltete aufgrund der mit Aufschriften versehenen Etiketten zahlreiche Informationen in Bezug auf Hersteller,
Herstellungsort, Wirkstoff und Anwendungsgebiet. In der Durchsicht der
Herstellerangaben zeigte sich eine Mischung von Medikamenten aus türkischer, syrischer, iranischer, pakistanischer und indischer Produktion. Die
türkischen Arzneimittel beschränkten sich in ihrem Anwendungsgebiet auf
die Behandlung häufig vorkommender, unspezifischer Erkrankungen. Auf
Basis der Etikettangaben lassen sich folglich grobe Rückschlüsse auf die
Krankheiten ziehen, die die Menschen mit Hilfe der Arzneimittel behandelten. Neben entzündungshemmenden Schmerzmitteln (nichtsteroidale Antirheumatika) gehörten Mittel zur Behandlung von Atemwegserkrankungen,
Antibiotika sowie in einem Fall Antidepressiva zum Repertoire an Medikamenten. Einige Ampullen besaßen keine Beschriftungen, sodass sie keinen
bestimmten Beschwerden oder Erkrankungen zugeordnet werden konnten.
Die Haltbarkeitsangaben auf den Medikamentenverpackungen fielen in den
Zeitraum zwischen Dezember 2014 und Juni 2017. Mit großer Wahrscheinlichkeit besteht folglich ein direkter Zusammenhang zwischen der verstärkten Migration ab Sommer 2015 und der Nutzung der Senke als Transitcamp.
470 — Anonym
Verpackungsmaterialien von Lebensmitteln bildeten einen weiteren
Bestandteil der materiellen Hinterlassenschaft des Lagers. Während ihres
Aufenthalts aßen die Menschen abgepacktes Brot, in Dosen konservierte
Nahrungsmittel wie Thunfisch, weiße Bohnen, Saubohnen (Ful), haltbaren
Schmelzkäse sowie verschiedene Arten von süßem und salzigem Gebäck.
Im Hinblick auf die konsumierten Getränke fiel neben zahlreichen Plastikwasserflaschen besonders eine große Menge an Dosen und Flaschen von
Energydrinks und trinkfertigen Kaffeegetränken verschiedener Hersteller
auf (Abb. 5). Da derartige Getränke nicht nur wegen ihres Geschmacks,
sondern häufig auch wegen der leistungssteigernden Wirkung auf Reaktionsfähigkeit, Kraft und Ausdauer konsumiert werden, wäre im Kontext
des Lagers grundsätzlich denkbar, dass die Flüchtenden diese in der Vorbereitung auf die Meerespassage nach Griechenland tranken. In den Jahren vor 2015 erfolgten die Überfahrten vorzugsweise im Schutz der Nacht
(Triandafyllidou – Maroukis 2012, 102). Folglich könnten die Personen mit
dem Konsum dieser Getränke ihre Müdigkeit während der Überfahrt unterdrückt und zugleich ihr Aufmerksamkeitsvermögen sowie ihre körperliche
Leistungsfähigkeit gesteigert haben. Nicht auszuschließen ist zudem, dass
die Flüchtenden mit Hilfe der Aufputschmittel ihren Ängsten vor der Überfahrt entgegentraten. Unterstützung findet diese These in Interviews von
Triandafyllidou und Maroukis mit verschiedenen Geflüchteten. Ihren Angaben zufolge mussten die Menschen vor ihrer Abfahrt nachts an der türkischen Küste ausharren und litten in der Folge unter Übermüdung und Kälte.
Angesichts des in der Dunkelheit liegenden Meeres und der alten, überfüllten Boote stellte sich bei vielen Betroffenen Angst um das eigene Leben und
dasjenige von Kindern sowie Angehörigen ein (Triandafyllidou – Maroukis
2012, 96–97).25
Unter den Hinterlassenschaften waren auch Behältnisse alkoholhaltiger
Getränke. Gemäß ihren Aufschriften stammten diese ausschließlich aus der
Türkei. Abgesehen von handelsüblichen Biersorten lagen Starkbiere und verschiedene hochprozentige Rakı- und Wodkasorten vor. Im Kontext der unmittelbaren Gefährdung durch die unwägbare Meeresüberfahrt ist auch hier
zu vermuten, dass die Alkoholika als Mittel zur Beruhigung und Betäubung
25 Zudem darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass viele der Flüchtenden aus Regionen stammten, in denen der direkte Zugang zu großen Gewässern
nicht selbstverständlich ist. Dementsprechend ist zu vermuten, dass viele der
Menschen keine Schwimmfähigkeiten besaßen, was in der Wahrnehmung des
dunklen Meeres umso größere Ängste evoziert haben könnte.
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 471
Abb. 5: Repertoire an Energydrinks, Transitlager, türkische Westküste. © Autor*innen.
dienen sollten, sogar dann, wenn ihr Konsum gegebenenfalls gegen religiöse
Vorschriften verstieß.26
Die vor Ort gefundenen Spielsachen liefern zusammen mit Windeln,
Feuchttüchern für Säuglinge, Babyflaschen, Kinderarzneimitteln, Kinderkleidung und Kinderschuhen Belege für die Anwesenheit von Kindern an diesem
Ort.27 Karten- oder Brettspiele verwendeten vermutlich auch Erwachsene zu
ihrem Zeitvertreib.
Den größten Anteil an vorgefundenen Gegenständen machten Bekleidungsstücke aus. Im Allgemeinen waren für jedes Geschlecht jedweden
Alters Kleidungsstücke vorhanden, die von Unterwäsche über Oberbekleidung bis hin zu verschiedenen modischen Accessoires reichten. Exemplarisch lässt sich die große Varianz am Beispiel der Schuhbekleidung illustrieren. Hier gab es eine sehr hohe Anzahl an geschlossenen Schuhen in Form
von Sportschuhen, Stiefeln, Slippern, Ballerinas, Stoff- und Wanderschuhen. Daneben waren Stöckelschuhe, Flipflops, Sandalen oder andere offene
Schuhe vorhanden, die für längere Laufdistanzen über unwegsames Terrain
wenig geeignet waren. Dabei ist unklar, ob manche Menschen eventuell
unvorbereitet auf einem Fußmarsch waren, keine anderen Schuhe besaßen
oder vor Ort ihre untauglichen Schuhe entsorgten. Im Hinblick auf unsere
Beobachtungen auf Lesbos und die Bilder von ankommenden Flüchtenden
auf den griechischen Inseln lässt sich jedoch erahnen, dass die Menschen
alles, was sie entbehren konnten, auf der türkischen Seite zurückließen.
26 Hier soll keine Verallgemeinerung der religiösen Zugehörigkeit der Flüchtenden
getroffen werden.
27 Spielsachen könnten jedoch desgleichen von Erwachsenen, beispielsweise als Erinnerungsstücke, mitgeführt worden sein.
472 — Anonym
Wahrscheinlich stand dieses Deponierungsverhalten unmittelbar mit der
gewinnorientierten Überbelegung der Boote durch die Schleuser*innen in
Verbindung, in deren Folge die Anzahl an flüchtenden Menschen die Kapazität der Schlauchboote bei weitem überstieg und schlicht kein Raum
für das Gepäck zur Verfügung stand (Kermani 2016, 46). Im Interview mit
Kingsley berichtete beispielsweise ein syrischer Schleuser bzw. Mittelsmann, der selbst als Flüchtender nach Izmir gelangt war, dass sich 50 Menschen in Schlauchboote zwängen mussten, die für 40 Personen ausgelegt
waren (Kingsley 2016a, 197).28 Mehreren Schilderungen zufolge drohten die
Schleuser*innen in manchen Fällen verängstigten Flüchtenden physische
Gewalt an oder übten diese sogar aus, um sie zum Einsteigen in die Boote
zu zwingen und die Überfahrt zu gewährleisten (Ismail 2016, 40; Kingsley
2016a, 197). Die Hintergründe für die Gewalt liegen in der Zahlungspraxis:
Die Flüchtenden deponierten in der Regel die ausgehandelte Summe für die
Meerespassage bei einer dritten Person im Ausgangsland. Erst bei erfolgreicher Ankunft auf den griechischen Inseln leitete letztere die Bezahlung
an die Schleuser*innenorganisationen weiter (Triandafyllidou – Maroukis
2012, 99; Kermani 2016, 64). Die hinterlassenen Kleidungs- und Gepäckstücke könnten folglich indirekt jene Situation des Zwangs und der Gewalt
im archäologischen Befund widerspiegeln.
Mit Hilfe der archäologischen Untersuchung der materiellen Hinterlassenschaften innerhalb des Transitcamps lassen sich zudem die logistischen
Vorbereitungen der Schleuser*innen auf die Meeresüberfahrt rekonstruieren (Abb. 6). Nach Auskunft der bereits erwähnten Verpackungsmaterialien
wurden Schlauchboote und Außenbordmotoren in den Originalkartons zum
Lager transportiert. Erhaltene Bootsteile wie die beschrifteten, hölzernen
Heckplatten verwiesen fast ausnahmslos auf chinesische Fabrikate. Im Anschluss an das Entpacken wurden die Schlauchboote aus den mitgelieferten
Bootstaschen entfernt und mittels verschiedener Arten von Luftpumpen aufgeblasen. Zudem wiesen Styroporverpackungen, in denen die Verbrennungsmotoren angeliefert wurden, wie auch leere Motorölkanister und Schmiermitteltuben auf die anschließende Bestückung der Schlauchboote mit den
28 Im selben Interview brachte Kingsley in Erfahrung, dass die Schleuser*innen zu
diesem Zeitpunkt im Frühsommer 2015 bei einer Überfahrt mit 40 Passagieren
in etwa 48.000 Dollar einnahmen. Nach Abzug aller Kosten, beispielsweise für
Mittelsmänner oder -frauen, Mechaniker*innen und Land- bzw. Strandbesitzer*innen, von deren Eigentum die Boote ablegten, verblieben 12.000 Dollar bei
den Schleuser*innen. Dieser Gewinn ließ sich bei einem damaligen Preis von
1.200 Dollar für die Überfahrt mit zehn zusätzlichen Personen verdoppeln (Kingsley
2016a, 196–197).
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 473
Abb. 6: Materielle Überreste der Vorbereitungen auf die Überfahrt, Transitlager, türkische
Westküste. © Autor*innen.
Außenbordmotoren hin. Im Anschluss wurden die Verpackungsmaterialien,
wie oben geschildert, beim Bau der provisorischen Unterkünfte recycelt.
Lesbos
In mehreren Reportagen und ethnologischen Beobachtungen versuchten
verschiedene Autor*innen Einblicke in die Geschehnisse auf Lesbos im Jahr
2015 zu geben, als in den Monaten zwischen Spätsommer und Winter rund
500.000 Menschen an den Küstenstreifen der griechischen Insel ankamen
(UNHCR 2016). Die vor Ort agierenden Nichtregierungsorganisationen, die
teilweise erst im Laufe des Jahres 2015 auf Lesbos entstanden, gelegentlich
aber schon zuvor dort tätig waren, widmeten sich in jener Notlage der Rettung und Erstversorgung der Geflüchteten sowie der Organisation, Lagerung
und Verteilung von Hilfsgütern (Kermani 2016, 31–38. 51–62; Papataxiarchis
2016a; 2016b). Mit der sinkenden Anzahl von Flüchtenden, die ab 2016 die
Überfahrt wagten, änderte sich die Situation jedoch und viele der internationalen NGOs verlagerten ihr Tätigkeitsfeld auf andere Bereiche. Beispielsweise boten sie Sprach- und Computerkurse für Geflüchtete und lokale Einwohner*innen an, engagierten sich in kulturellen Aktivitäten und reinigten
474 — Anonym
die Küstenlinien.29 An den Stränden und Felsklippen von Lesbos hatten sich
im Zuge der Ankunft der flüchtenden Menschen große Ablagerungen entsorgter und zurückgelassener Materialien und Dinge gebildet, die einen unmittelbaren infrastrukturellen Zusammenhang mit der Meeresüberquerung
nach Griechenland besaßen (Papataxiarchis 2016a, 6). In den anschaulichen
Worten Kermanis geschrieben, war an den Stränden „kein einziger Kiesel zu
sehen, weil […] [sie] vollständig von Schwimmwesten, Schwimmreifen und
den Überbleibseln der Schlauchboote bedeckt“ waren (Kermani 2016, 37). Ob
der negativen Auswirkungen auf die lokale Umwelt30 führten verschiedene
NGOs Reinigungsmaßnahmen zur Entfernung dieser Materialien von den
Küstenlinien durch, was in geringem Umfang bereits während des Winters
2015/2016, verstärkt allerdings ab dem Sommer 2016 stattfand. Die Objekte
wurden dabei auf verschiedenen Mülldeponien der Insel entsorgt. Andere
Gegenstände wie Außenbordmotoren und Kunststoffböden der Schlauchboote, die über einen gewissen Wert verfügten, verblieben hingegen nur
kurze Zeit an den Stränden. Fast gleichzeitig zur Ankunft der Flüchtenden
erfolgte aus vermutlich größtenteils kommerziellen Motiven der Abtransport dieser Überreste. Die Außenbordmotoren wurden nachfolgend wieder
in die ‚Schleusungsindustrie‘ eingespeist, wodurch die wiederverwendeten
Motoren gleich mehrfach für Überfahrten dienen konnten (Kermani 2016,
37. 58; Papataxiarchis 2016a, 6). Auf jenen Handel reagierten die griechischen
Behörden mit der Beschlagnahmung und zentralen Sammlung der Außenbordmotoren auf dem Gelände eines Bootshändlers bei Mytilini.31
29 Exemplarisch sei hierbei auf die Tätigkeiten des Mosaik Support Center in Mytilini
und der schwedischen NGO Lighthouse Relief verwiesen.
30 De León hat im Kontext der archäologischen Untersuchung der Migration von
Mittel- und Südamerika in die USA darauf aufmerksam gemacht, dass die materiellen Hinterlassenschaften rezenter Wanderungsbewegungen grundsätzlich
wichtige Quellen zur Rekonstruktion von Migrationsprozessen darstellen und
sich unter ihnen auch geschätzte persönliche Objekte befinden (De León 2015,
170). Wenngleich wir diese Einschätzung teilen, bilden die großen Akkumulationen von Plastikmaterialien an den Küstenlinien von Lesbos eine tatsächliche
Bedrohung für die lokale Umwelt. Da die Reinigungsmaßnahmen sich bislang
lediglich auf die Uferbereiche der Küste beschränkten, geht von den samt Batterien, Motoren und Kraftstoff gekenterten Schlauch- und Holzbooten im Meer
eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Flora und Fauna des Meeres aus.
31 Diese Schilderung basiert auf Interviews mit zwei Aktivist*innen und dem angesprochenen Bootshändler, die uns dankenswerterweise bereitwillig Auskunft
gaben. Für eine Sichtung der beschlagnahmten Motoren wäre eine Genehmigung
des örtlichen Hafenamts (Λιμεναρχείο Μυτιλήνης) notwendig gewesen, die uns
jedoch verweigert wurde.
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 475
Im Sommer 2017 erschienen die einstigen Ankunftszonen der Boote, die
aus der Türkei nach Lesbos kamen, auf den ersten Blick als relativ saubere Strände. An einem Kieselstrand östlich des Badeorts Eftalou, der sich an
der Nordküste von Lesbos befindet, verwies lediglich ein großes rostfarbenes Metallboot auf das rezente Migrationsphänomen. Wie uns Aktivist*innen berichteten, war der Abtransport des Schiffs nach seiner Landung oder
die Zerstörung vor Ort wegen Größe und Herstellungsmaterial unmöglich.32
Erst auf den zweiten Blick im Zuge des systematischen Abgehens eines
Strandabschnitts von rund 700 m Länge zeichneten sich einige Details ab, die
möglicherweise im Zusammenhang mit der Flucht standen. Währenddessen
fanden wir Trümmer von Holzbooten, Schläuche und Griffe von Gummibooten, die das Meer mit Sand, Kieseln und Seegras überspült hatte, zerbrochene
Paddel, vereinzelte Benzinkanister und unterschiedlich große, teilweise in
türkischer Sprache beschriftete Plastikeimer. Letztere waren eventuell lediglich als Strandgut dorthin gelangt, hätten sich allerdings auch zum Schöpfen
von Wasser aus den Booten geeignet. Darüber hinaus fanden sich auch vereinzelte Rettungswesten, aufblasbare Gummireifen, Schwimmflügel und die
Batterie eines Ortungslichts, die offenbar die Reinigungsmaßnahmen überdauert hatten, erst später dort angeschwemmt oder deponiert worden waren.
An einer Stelle, wo der Kieselstrand in die Macchia-Vegetation der dahinterliegenden, leicht ansteigenden Hügel überging, kamen im Gebüsch sechs
Rettungswesten, eine Kinderschwimmweste sowie diverse Kleidungsstücke
zum Vorschein. Das Repertoire der Kleidung umfasste Schuhe, Unterwäsche,
Bein- und Oberbekleidung sowie einen Mantel (Abb. 7 und 8). Zudem fanden
sich in der unmittelbaren Umgebung der Fundstätte verschiedene Hygieneartikel wie Lippenbalsam, Lipgloss und Haar-Aufheller sowie einige Kämme.
Aufgrund des gemeinsamen Auffindungskontextes könnte es sich bei dem
Fundensemble um die materiellen Hinterlassenschaften eines ehemaligen
Ankunftsortes handeln, an dem mehrere Personen ihre von der Fahrt nassen
Kleidungsstücke gegen trockene eintauschten und erstere zurückließen.
Der Großteil der materiellen Hinterlassenschaften, die sich 2015 und 2016
an den Stränden von Lesbos akkumuliert hatten, war im Sommer 2017 bereits
auf unterschiedlichen Müllhalden entsorgt worden. Eine dieser Deponien, die
im östlichen Hinterland von Molyvos lag, spielte in der journalistischen Berichterstattung eine prominente Rolle. Die dort zusammengetragenen Materialien stammten vor allem von den Stränden um den Ort Eftalou. Auf einem
benachbarten Hügel der Halde arrangierten Freiwillige und Angehörige der
NGOs Greenpeace und Ärzte ohne Grenzen zum Jahreswechsel 2015/2016 rund
32 Nach den Angaben zweier Aktivist*innen wurden hölzerne Boote zum Teil direkt
am Strand verbrannt. Vgl. auch Ismail 2016, 85.
476 — Anonym
Abb. 7 (oben) und 8 (unten): Fundensemble einer Ankunft von Geflüchteten (?),
Nordküste, Lesbos. © Autor*innen.
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 477
3.000 Rettungswesten zu einem riesigen Peace-Zeichen, um auf die Situation
der Flüchtenden aufmerksam zu machen. Die Aktion der beiden NGOs erzeugte ein großes mediales Echo, wodurch die Deponie mit ihren meterhoch
aufgetürmten Rettungswesten und Schiffswracks schlagartig einem größeren
Publikum bekannt wurde. Unter dem Namen ‚lifevest cemetery‘ erlangte die
Halde sogar eine gewisse touristische Attraktivität als eine Art Dark HeritageStätte (Gray-Block 2016; Tyrikos-Ergas 2016; Hamilakis 2018, 519 mit Abb. 1).33
Jenseits der symbolischen Aufladung besaß die materielle Kultur der Deponie zudem archäologische Relevanz, beispielsweise um die Hinterlassenschaften der Flüchtenden vor und nach der Überfahrt vergleichen zu können.
Aus diesem Grund erfolgte im Sommer 2017 eine Begehung der Stätte samt
Sichtung der dort vorhandenen Materialien. Oberhalb der Deponie lagerten
innerhalb eines umzäunten Gebiets mehrere entkernte Fischer- und Motorboote, die mit türkischen Schiffsnamen beschriftet waren. Die Halde selbst
umfasste ebenfalls einige stark zerstörte Holzboote. Den Hauptbestandteil
machten auf den ersten Blick jedoch Seenotrettungsmittel und Überreste von
Schlauchbooten aus. Bei den Rettungswesten handelte es sich um originale (?) türkische Produkte, Fälschungen bekannter Hersteller sowie wiederverwendete Rettungswesten abgewrackter Schiffe aus Aliağa.34 Die dortigen
Funde deckten sich somit weitgehend mit dem Angebot des Gemischtwarenhändlers in Izmir. Manche der Rettungswesten zeigten ferner sekundäre Bearbeitungen in Form von ausgeschnittenen Hersteller-Logos, die auf
die Aktivitäten von NGOs und sozialen Projekten zurückgingen. In verschiedenen Werkstätten auf Lesbos, aber auch in Athen verarbeiteten Geflüchtete,
häufig in Zusammenarbeit mit auswärtigen oder griechischen Freiwilligen
und Aktivist*innen, Bestandteile der Rettungswesten zu Taschen, Portemonnaies, Etuis und Schmuck, die im Anschluss zum Verkauf angeboten wurden
(Hamilakis 2016a, Abb. 2. 135; Papataxiarchis 2016a, 6; Tyrikos-Ergas 2016,
229). Unter den Gegenständen, die als Seenotrettungsmittel gedient hatten,
befanden sich außerdem aufblasbare Schwimmflügel und Schwimmwesten
33 2017 existierte in Google Maps unter der Bezeichnung ‚lifejacket graveyard‘ ein
eigener Eintrag für die Deponie. Ähnlich wie bei touristischen Zielen waren neben den Koordinatenangaben der Stätte auch Fotos, Bewertungen und Kommentare der Nutzer*innen zu finden.
34 Auf den Rettungswesten fanden sich die Namen folgender Ölbohrplattformen und
Schiffe: Baska (Abwrackung ab 27.06.2014; Shipbreaking Platform 2014), Isabel del
Mar (Abwrackung ab 24.09.2014; Shipbreaking Platform 2014), GSF Arctic I / Panama (Abwrackung ab 07.07.2015; Shipbreaking Platform 2015), Al Mansour / Tanger
(Abwrackung ab 02.08.2015; Shipbreaking Platform 2015) und Boughaz / Tanger
(Abwrackung ab 21.08.2015; Shipbreaking Platform 2015).
478 — Anonym
für Kleinkinder sowie Freizeit-Schwimmreifen, die in der Türkei hergestellt worden waren. Des Weiteren wurden offenbar in Vietnam gefertigte
Schläuche von Motorradreifen zu Rettungsreifen umfunktionalisiert. Die
vorgefundenen Teile von Schlauchbooten, darunter die aufblasbaren Seitenwülste und die hölzernen Heckplatten zur Motorenbefestigung, verwiesen
gemäß ihren Beschriftungen auf chinesische Unternehmen. Analog zu diesem Befund trugen die auf der Müllhalde gesichteten Motorenabdeckungen
häufig chinesische Herstellernamen.35 Zusammen mit entsprechenden Funden von der türkischen Westküste implizieren die materiellen Überreste der
Schlauchboote folglich, dass während 2015 und 2016 die große Nachfrage
nach Schlauchbooten vor allem durch chinesische Exporte in die Türkei gedeckt wurde.36 Außer den angeführten Objekten wurden auf der Deponie
auch Kleidungsstücke, türkische Lebensmittelverpackungen sowie Rettungsdecken entsorgt, die sich vermutlich im Zuge der Erstversorgung der geflüchteten Menschen an den Stränden angesammelt hatten. Zudem komplettierten
manche Gegenstände in der Deponie die Beobachtungen bezüglich der Logistik der Überfahrt. So fanden sich vereinzelte Kanister und externe Tanks, die
der Kraftstoffversorgung der Motoren während der Fahrt dienten und daher
folgerichtig in der materiellen Kultur des Transitlagers in der Türkei fehlten.
Die geringe Anzahl an Tanks und Kanistern könnte darauf zurückgehen, dass
entweder originale Stücke nach der Ankunft der Boote ähnlich wie andere
brauchbare Bootsteile wiederverwendet wurden oder einfache Getränkeflaschen unterschiedlichen Fassungsvermögens zur Aufbewahrung des Kraftstoffs dienten. Trotz der Vorhersehbarkeit mancher Funde zeichneten sich
in der oberflächlichen Begehung der Müllhalde interessante Details ab, die
Einblicke in die mehr oder minder legale wirtschaftliche Ausnutzung der
35 Das Fehlen tatsächlicher Motorenteile im Material der Deponie ist auf die Wiederverwendung und die behördliche Beschlagnahme der Motoren zurückzuführen.
36 Mit der Verringerung der Anzahl an Flüchtenden, die die östliche Mittelmeerund Westbalkanroute nutzten, verschob sich dieser Handel in Richtung Libyen,
worauf ein internes, auf WikiLeaks veröffentlichtes Dokument der EUNAVFOR
MED Operation Sophia (European Union Naval Force – Mediterranean) im Januar
2016 hinwies. Demnach konnte auf Malta, das als weiterer Umschlagsplatz für
den Handel mit Schlauchbooten diente, eine Ladung chinesischer Schlauchboote sichergestellt werden, die für die Ausfuhr nach Misratah in Libyen bestimmt
war (Credendino 2016, 7). Zudem wurden im Sommer 2017 über einen kurzen
Zeitraum ‚Inflatable High Quality Refugee Boats‘ chinesischer Unternehmen auf
der asiatischen Handelsplattform alibaba.com angeboten (Reisinger 2017). Die
Europäische Union erwirkte am 17.07.2017 eine Beschränkung der Ausfuhr von
Schlauchbooten und Außenbordmotoren nach Libyen.
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 479
Migrationsbewegung durch verschiedene lokale und auswärtige Akteur*innen im globalisierten Kapitalismus geben.
Athen
In Athen spielte sich 2017 das Leben der geflüchteten Menschen in mehreren
offiziellen Unterbringungsstätten ab, die der griechische Staat ab dem Sommer 2015 und verstärkt im Winter 2015/2016 in verschiedenen Stadtteilen
anlegen ließ. Anfänglich dienten häufig provisorische Zeltdörfer zur Beherbergung der Geflüchteten. Diese wurden sukzessiv durch Containersiedlungen ersetzt. Außer staatlichen Einrichtungen, deren Aufnahmekapazitäten
in manchen Perioden nicht ausreichten, existierten auch informelle Unterkünfte, beispielsweise das besetzte Hotel City Plaza in der Nähe des ViktoriaPlatzes und das NGO betriebene Soho Hotel unweit des Omonia-Platzes
(Papataxiarchis 2016b, 7; Kiddey 2019, 608–611). Weitere dieser Zufluchtsorte, darunter auch nur am Tag geöffnete Treffpunkte wie Khora (Kiddey
2019, 611–613), lagen in dem anarchistisch und kommunistisch geprägten
Viertel Exarcheia im Zentrum Athens. Häufig wurden diese Zufluchtsstätten
von politisch links stehenden Aktivist*innen gemeinschaftlich organisiert
und betrieben. Im Frühjahr 2017 interviewte die Archäologin Rachael Kiddey
Freiwillige, Aktivist*innen und Geflüchtete, die im Hotel City Plaza, im Soho
Hotel und in Khora arbeiteten oder lebten. Zugleich versuchte sie, am Alltag
der Geflüchteten beobachtend teilzunehmen, um auf diese Weise Einblicke in
ihr Leben in der neuen Umgebung Athens zu gewinnen (Kiddey 2019).
In Reaktion auf die anwachsende Zahl geflüchteter Menschen, die ab
dem Winter 2015/2016 infolge der Schließung der westlichen Balkanroute in
Griechenland festsaßen, entstanden außerdem auf dem Gebiet des bereits 2001
geschlossenen Flughafens Elliniko im Süden Athens drei informelle Unterkünfte. Hierfür wurden Teile des auf dem Flughafenareal gelegenen Elliniko
Olympic Complex wieder in Gebrauch genommen, der für die Olympischen
Sommerspiele 2004 als Austragungsstätte verschiedener Sportarten errichtet worden war. Die Unterbringung der Menschen erfolgte unter anderem in
UNHCR-Zelten, die auf der offenen Spielfläche des olympischen Baseballstadions aufgebaut wurden. Zusätzlich dienten die Innenräume des ehemaligen
Hockey- und Baseballstadions genau wie auch der südliche Gebäudeabschnitt
des einstigen Westterminals des Flughafens der Beherbergung von schätzungsweise 2.000 bis 3.000 Menschen.37 Nach eineinhalbjähriger Nutzung
37 Für die Anzahl der Menschen, die auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens untergebracht waren, finden sich unterschiedliche Angaben. Gemäß der damaligen
480 — Anonym
räumten Beamt*innen der griechischen Polizei und Bereitschaftspolizei am
02.06.2017 die Unterkünfte auf dem Flughafengelände. Die letzten der dort
verbliebenen Menschen38 wurden auf Unterbringungen in Athen und neu geschaffene Aufnahmelager, beispielsweise im nördlich von Athen gelegenen
Theben, verteilt (Al Jazeera 2017; ANSA 2017; AthensLive 2017). Nach offizieller Begründung mussten die Menschen das provisorische Lager wegen der
prekären Lebensbedingungen und schlechten hygienischen Zustände verlassen (Ekathimerini 2016). Die zeitliche Koinzidenz mit der ab 2017 angedachten
Privatisierung des staatlichen Flughafengeländes deutet allerdings darauf hin,
dass ein wichtiger Grund für die Räumung in der anstehenden kommerziellen
Erschließung des Areals durch die griechische Immobiliengesellschaft Lamda
Development lag (Dalakoglou 2018, 79).39 Die Gebäude des Westterminals wurden schließlich im Juli 2020 abgerissen, um den Weg für die Neuerrichtung
eines Komplexes aus Luxusappartements, Hotels, Bürogebäuden, einem Kasino, Parkanlagen und einem Jachthafen zu ebnen (Koutantou 2020).
Während unseres Aufenthalts auf dem ehemaligen Flughafengelände rund
zwei Wochen nach der Räumung eröffnete sich ein kleines Zeitfenster, in dem
ein kurzer Survey des ansonsten unter Bewachung stehenden Westterminals
möglich war. Aufgrund dieser zeitlichen Einschränkung und der großen
Menge an vielfältigen Materialien geben die nachfolgenden Beobachtungen
nur einen oberflächlichen Einblick in die materiellen Hinterlassenschaften
des Elliniko-Lagers. Die Freifläche vor der westlichen Fassade des Flughafengebäudes, die Fotografien zufolge teilweise als Zeltfläche fungiert hatte, wies
nur noch vereinzelte Hinweise auf die Unterbringung von Geflüchteten auf,
beispielsweise in Form von Graffiti in arabischer Schrift. Ein anderes Bild
zeichnete sich hingegen für das Innere des südlichen Westterminals ab. Das
erste Stockwerk dieses Gebäudes, das innerhalb des einstigen Flughafenbetriebs als Abfertigungshalle und Flugsteig fungiert hatte, stellte in den eineinhalb Jahren vor der Räumung die Hauptwohnfläche der Geflüchteten dar.
Die offene Hallenarchitektur des Westterminals war zur Unterbringung von
griechischen Regierung lebten dort im Herbst 2016 2.147 Personen (AthensLive
2016), wohingegen im Sommer 2017 mehrere Nachrichtenagenturen von bis zu
3.000 Personen berichteten (ANSA 2017).
38 In Abhängigkeit von den jeweiligen Internetquellen schwankt die Anzahl der Menschen, die bis zuletzt auf dem Flughafengelände lebten, zwischen rund 100 und
374 Personen (ANSA 2017; AthensLive 2017).
39 Die Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und
EU-Kommission vereinbarte mit der griechischen Regierung die Privatisierung
des Flughafengeländes als Sparauflagen des zweiten Rettungspakets (Europäische
Kommission 2012, 33 Tab. 1).
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 481
Abb. 9: Übersichtskarte der Geflüchtetenunterkunft im südlichen Westterminal des
Elliniko-Flughafens. © Autor*innen.
Menschen nur schlecht geeignet. Zwei von Norden nach Süden verlaufende
(Backstein-)Mauern und einige quer zu diesen angeordnete Zwischenwände
unterteilten die Gebäudegrundfläche in zwei große, pfeilergestützte Hallen
sowie einige wenige abgeschlossene Raumeinheiten. Während unserer Begehung des Terminals waren im Gebäudeinneren noch rund 160 dicht gedrängte
Campingzelte verschiedener Größen und Typen aufgebaut (Abb. 9). Die Zelte
verteilten sich hierbei auf nahezu alle von uns gesichteten Räumlichkeiten.
Lediglich die nach Geschlechtern getrennten Toiletten- und Waschräume im
Zentrum des Bauwerks und die Schulräumlichkeiten im südwestlichen Gebäudeabschnitt wurden nicht als Zeltfläche verwendet. Die beschriebene offene Hallenarchitektur des ehemaligen Terminalgebäudes bot den Menschen
keinerlei Privatsphäre.40 Deshalb versuchten die Geflüchteten mit Hilfe von
40 Angesichts fehlender abgeschlossener Wohneinheiten im Elliniko-Lager, die
Rückzugsmöglichkeiten und ein Mindestmaß an Privatsphäre geboten hätten,
482 — Anonym
Abb. 10: Abgegrenzte ‚Haushaltseinheit‘ mit zwei Zelten und Kühlschrank, Westterminal,
Elliniko-Flughafen. © Autor*innen.
Zelten und der Konstruktion improvisierter ‚Trennwände‘ abgegrenzte Bereiche zu schaffen. Die letztgenannten Raumteiler bestanden aus Decken und
anderen großflächigen Textilien, die von waagerecht aufgespannten Schnüren herabhingen (Abb. 10). Zur Befestigung von letzteren dienten entweder
an der Decke angebrachte Schnüre oder Holzstangen sowie einfache Äste,
die in mit Schutt aufgefüllten UNHCR-Eimern eingelassen waren. Die spezifische räumliche Gruppierung mancher Zelte könnte in der Korrelation mit
der Anordnung der beschriebenen Raumteiler auf einzelne ‚Haushaltseinheiten‘ hindeuten, in denen Angehörige einer Familie oder miteinander bekannte Menschen wohnten (Abb. 10). Bestätigung fand diese These in Form von
Graffiti an den Gebäudewänden und -pfeilern, in denen verschiedene Personennamen zu lesen waren. Die Namen bezogen sich häufig auf bestimmte
Personengruppen, beispielsweise einen Freundeskreis, und stimmten partiell
mit Besitz markierenden Namensangaben auf Zelten in der unmittelbaren
Nachbarschaft überein. Manche der ‚Haushaltseinheiten‘ verfügten über
äußerten weibliche Geflüchtete in Interviews erhebliche Sicherheitsbedenken
und Ängste vor dem unfreiwilligen Zusammenleben mit zahlreichen unbekannten Männern auf engstem Raum (Amnesty International 2016, 21; Tsavdaroglou
u. a. 2019, 122–123).
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 483
eigene Küchenbereiche, die mit Kühlschränken, mobilen Kochplatten sowie
Backöfen ausgestattet waren. Ferner gehörten Vorratszelte und andere Einrichtungsgegenstände wie Schränke, Stühle und Tische zu ihrer Ausstattung.
Darüber hinaus waren in den materiellen Hinterlassenschaften des Terminals
neben den bereits erwähnten Sanitäranlagen und Schulräumlichkeiten weitere Aktivitätszonen wie Ladepunkte für Mobiltelefone, Gebetsbereiche und
Spielareale für Kinder erkennbar. Anhand der zahlreichen zurückgelassenen
Objekte, die von Hygieneartikeln und Medikamenten über Spielsachen, Kleidungsstücke, Dokumente sowie persönliche Gegenstände bis hin zu Lebensmitteln reichten, lässt sich ein plötzliches Verlassen ablesen, das vermutlich
auf die polizeiliche Intervention zurückging.
Schlussfolgerungen
Die Fluchtmigration aus Westasien, Zentralasien und Afrika nach Europa in
den Jahren 2015 und 2016 spiegelte sich in umfangreichen und vielfältigen
materiellen Relikten wider. Auch eineinhalb Jahre nach dem medialen Höhepunkt der ‚europäischen Flüchtlingskrise‘ während 2015/2016 waren diese
Fragmente der Flucht in unterschiedlicher Ausprägung an mehreren Orten
entlang der türkischen Westküste, auf den griechischen Inseln und dem griechischen Festland anzutreffen. Ungeachtet der wichtigen journalistischen,
ethnologischen und politik- sowie sozialwissenschaftlichen Beschäftigung
mit diesem Thema wohnt einer archäologischen Untersuchung dieser materiellen Hinterlassenschaften unseres Erachtens nach das Potenzial inne, diese
Beiträge um weitere Details zu ergänzen und zugleich neue Perspektiven auf
die rezente undokumentierte Migration und Zwangsmigration zu eröffnen.
In Izmir, einem wichtigen Transitort der östlichen Mittelmeerroute, führte die große Anzahl an Flüchtenden im Jahr 2015 dazu, dass zahlreiche lokale
Händler*innen ihr Warensortiment temporär an die neue Nachfrage nach
Seenotrettungsmittel und anderweitige spezialisierte Ausrüstungsgegenstände für die Meeresüberfahrt anpassten. Im Sommer 2017 existierten indes
nur noch vereinzelte Händler*innen, die derartige Güter anboten. Erwähnenswert ist hierbei, dass abgesehen von originalen Seenotrettungsmitteln
namhafter Hersteller auch lokal gefertigte minderwertige Imitate und recycelte Seenotrettungsmittel aus einer Abwrackwerft im benachbarten Aliağa
verkauft wurden. Außerdem wiesen von uns beobachtete arabische Graffiti, Anzeigen und Schilder in einem Stadtbereich westlich des Bahnhofs von
Izmir darauf hin, dass undokumentierte Migrant*innen in diesem Viertel
längerfristig lebten, anstatt wie 2015 und 2016 den Zeitraum unmittelbar vor
der Meeresüberfahrt kurzfristig in Hotels zu verbringen. Aus der diachronen
484 — Anonym
Beobachtung von Veränderungen in der materiellen Kultur Izmirs geht somit
hervor, wie sich lokale Akteur*innen in ihrem wirtschaftlichen Handeln am
jeweiligen Migrationsgeschehen ausrichten, um hiervon finanziell zu profitieren. Da die Migrant*innen durch die Schließung der Grenzen und das
EU-Türkei-Abkommen gezwungen waren, längerfristig in Izmir zu bleiben,
veränderten sie mit ihrem dortigen Leben das Stadtbild in merklicher Weise.
In mehreren mexikanischen Städten an der Grenze zu den USA beobachtete
De León übrigens die Entstehung einer ähnlichen lokalen Schattenwirtschaft
in Reaktion auf die dortige undokumentierte Migration. Diese ist auf den
Handel mit verschiedenen Ausrüstungsgegenständen für den klandestinen
Grenzübertritt spezialisiert (De León 2015, 160–163).
Manche Etappen der Flucht wie das illegale Transitlager auf türkischer
Seite waren und sind während der unmittelbaren Ereignisse für Journalist*innen und Wissenschaftler*innen ob der persönlichen Gefährdungslage wie auch derjenigen der Flüchtenden weitgehend verschlossen. Im Fall
derartiger ‚Dunkelstellen‘ ermöglicht eine archäologische Beschäftigung im
zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen letztere anhand ihres materiellen
Niederschlags zu erschließen und damit sichtbar zu machen. Die archäologische Untersuchung jenes Fundorts zeigte, wie Schleusungsorganisationen
die natürliche Topografie der Küste nutzten, um die große Anzahl ausharrender Menschen in der Zeit vor der Meeresüberfahrt vor einer schnellen Entdeckung zu verbergen. In den Funden und Befunden der Stätte zeichneten sich
die widrigen Verhältnisse dieses Abschnitts der Flucht ab, vor allem aber, wie
die undokumentierten Migrant*innen alltäglich, pragmatisch und kreativ auf
die jeweiligen Bedingungen antworteten. Der rauen winterlichen Witterung
an der Küste trotzten sie beispielsweise, indem sie aus dem, was gerade zur
Verfügung stand – Verpackungsmaterialien und Schlauchbootteile – temporäre Unterstände errichteten und Feuerstellen anlegten. Darüber hinaus
wiesen Lebensmittel, Hygieneprodukte, Kosmetika und Alltagsgegenstände
darauf hin, wie die flüchtenden Menschen – selbst in der Ausnahmesituation
dieses Lagers – eine Art Alltag aufrecht erhielten. Daneben gingen aus den
materiellen Überresten logistische Aspekte der Fluchtorganisation hervor,
die von involvierten wirtschaftlichen Akteuren bis hin zu konkreten Handlungen wie dem Aufbau der Schlauchboote reichen. Und zuletzt vermittelten
die teils untauglichen Seenotrettungsmittel, die Schwimmreifen und -flügel,
die Überreste angeschwemmter Schlauchboote und die enorme Menge an
zurückgelassenen Gegenständen wie Gepäckstücke, Kleidung, Spielsachen
etc. in ihrer physischen Präsenz einen ausschnitthaften Eindruck der Materialität der lebensgefährlichen Flucht über das Ägäische Meer.
Während die archäologische Untersuchung der Ankunftszonen auf
Lesbos die Beobachtungen entlang der türkischen Westküste ergänzte, gab
Materielle Spuren der rezenten Migration nach Europa — 485
die Begehung einer geräumten informellen Unterkunft für Geflüchtete im
südlichen Westterminal des ehemaligen Athener Flughafens Elliniko Aufschluss darüber, unter welchen Bedingungen manche Geflüchtete nach ihrer
Ankunft auf dem griechischen Festland leben mussten. In der offenen Flugsteig- und Abfertigungshalle des seit 2001 nicht mehr genutzten Flughafenterminals waren zahlreiche Zelte auf engstem Raum aufgeschlagen, sodass
trotz provisorisch aufgespannter Textilien keine Privatsphäre existierte.
Die in der Türkei und Griechenland dokumentierten Relikte der Migration – seien es Rettungsmittel, gestrandete Boote, improvisierte Zelte oder
persönliche Objekte – vermitteln ohne die emotionale Aufladung oder rhetorische Verkürzung medialer Berichterstattung durch ihre Materialität konkrete Einblicke in die Auswirkungen der europäischen Grenzpolitik auf die
einzelnen Leben der flüchtenden Menschen. So sind die materiellen Hinterlassenschaften der rezenten undokumentierten Migration in der Türkei, auf
Lesbos und in Athen im Zusammenhang mit der Schließung der Grenzen
und der Errichtung von permanenten sowie ‚temporären‘ physischen Barrieren wie Mauern und NATO-Draht bewehrten Zäunen entlang der Grenzen
Europas zu sehen.41 Obgleich die Grenzbefestigungen keine durchgängigen
Sperranlagen bilden, lenken sie Wanderungsbewegungen zu bestimmten
bewachten Grenzübergängen und erschweren somit als irregulär geltende
Einreisen nach Europa (Luft 2017, 53). Infolgedessen verlagern sich Migrationsrouten vom direkten Landweg auf riskantere Routen wie den Seeweg
über das Ägäische Meer, der ob der dort vorherrschenden Naturgewalten
lebensbedrohlich sein kann (vgl. hierzu Vaughan-Williams 2015, 63).42 Die
Kanalisierung von Migrationsrouten in eine unwirtliche, raue natürliche
Umgebung ähnelt dabei der geostrategischen Einbindung der menschenfeindlichen Wüstenlandschaft zwischen Mexiko und den USA durch die USamerikanische ‚Prevention Through Deterrence‘-Grenzpolitik.43
41 Für die Grenzbefestigungsanlagen der Europäischen Union, s. Luft 2017, 53;
UNHCR 2017.
42 Zwischen Januar 2014 und September 2017 starb ein Mensch von 900 Menschen,
die eine Überfahrt über das östliche Ägäische Meer riskierten (Urquijo Sánchez –
Black 2017, 102). Zugleich entstanden neue gleichfalls riskante Überlandrouten
infolge der Grenzsperren. Um die Meeresüberfahrt zu vermeiden, versuchten
rund 2.000 Asylsuchende in den Herbst- und Wintermonaten 2015/2016 über
Russland das finnische Lappland zu erreichen. Dabei durchquerten die Flüchtenden zunächst mit Fahrrädern und später mit alten Autos die Wildnis des russischfinnischen Grenzgebiets, und zwar während des beginnenden arktischen Winters
(Seitsonen u. a. 2016).
43 Vgl. hierzu z. B. McGuire 2013; Gokee – De León 2014; 2015; Soto 2018.
486 — Anonym
Aus einer solchen Perspektive erscheinen die materiellen Hinterlassenschaften der rezenten Fluchtmigration als wichtige Evidenzen, anhand derer die direkten Konsequenzen des europäischen Grenzregimes auf eine
gegenwärtige ‚soziale Bewegung‘ (Hamilakis 2016a, 125) sichtbar werden.
Angesichts ihrer Flüchtigkeit müssen diese materiellen Spuren durch akute
archäologische Interventionen für künftige Generationen, aber allen voran
für aktuelle gesellschaftliche Debatten dokumentiert, erhalten und vermittelt
werden. In Zeiten, in denen politische Akteure, getrieben vom öffentlichen
‚Stimmungswechsel‘ in Deutschland (Borneman – Ghassem-Fachandi 2017),
Asylsuchende in rhetorischer Verrohung zunehmend kriminalisieren und
die gesellschaftliche sowie politische Vorstellung einer ‚Festung Europa‘, im
scharfen Kontrast zur enthusiastischen ‚Willkommenskultur‘ von 2015, positive Konnotationen und sogar gesetzliche Umsetzung erfährt, erscheint es
uns umso virulenter, dass die archäologischen Wissenschaften aus der Vergangenheit in die Gegenwart heraustreten. In diesem Sinne verstanden kann
sich eine Archäologie der rezenten Migration als Instrument der Kritik aktiv
an der Transformation der flüchtigen materiellen Spuren in ein Kulturerbe der
Flucht beteiligen und alternative, bislang verborgene Erzählungen der Öffentlichkeit anbieten.
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Vaughan-Williams 2015: Nick Vaughan-Williams, Europe’s Border Crisis. Biopolitical
Security and Beyond (Oxford 2015)
Weizman 2014: Eyal Weizman, Introduction. Forensis, in: Forensic Architecture
(Hrsg.), Forensis. The Architecture of Public Truth (Berlin 2014) 9–32
Weizman 2017: Eyal Weizman, Forensic Architecture. Violence at the Threshold of
Detectability (New York 2017)
White 2013: Carolyn L. White, The Burning Man Festival and the Archaeology
of Ephemeral and Temporary Gatherings, in: Paul Graves-Brown – Rodney
Harrison – Angela Piccini (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Archaeology
of the Contemporary World (Oxford 2013) 595–609
Kontakt
Auf Wunsch wurden die Autor*innen des Beitrags anonym belassen. Anmerkungen
oder Kontaktwünsche können jedoch an die Herausgeber zur Weiterleitung gesendet
werden.
Über die Autor*innen
Henriette Baron https://orcid.org/0000-0003-4338-3681
Nach Stationen in der Denkmalpflege erforschte die Archäozoologin von 2009
bis 2018 am Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA), vormals Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Mensch-Tier-Beziehungen der byzantinischen und
awarischen Zeit. Heute leitet sie am LEIZA den Arbeitsbereich Ausstellungen.
Georg Cyrus https://orcid.org/0000-0003-4990-5321
studierte von 2009 bis 2016 prähistorische Archäologie an der Freien Universität Berlin. Anschließend schrieb er meine Dissertation bis 2022 am Institut
für Vorderasiatische Archäologie ebenfalls an der FU-Berlin. 2022 arbeitete
er als Museums-Guide im Vorderasiatischen Museum Berlin. Seit September
2022 ist er als Post-Doc an der Universtiät Leiden, Niederlande, angestellt.
Während seines Studiums schon interessierte er sich stark für archäologische Theorie, wobei ihm vor allem eine humanistische Sichtweise wichtig
ist. Aus dem Interesse heraus, das Leben der Subalternen zu untersuchen und
in den Mittelpunkt zu stellen, beschäftigt er sich im Moment mit häuslichen
Strukturen in der Eisenzeit Südwestasiens, wie Squattersiedlungen und einfachen Häusern der Stadt- und Landbevölkerung.
Aleksander Dzbyński wurde 1972 in Warschau geboren und studierte Prähistorische Archäologie, Anthropologie und Klassische Archäologie an den
Universitäten in Warschau, Basel und Freiburg. Im Jahr 2004 promovierte er
an der Universität Basel. Er arbeitete als Dozent in der Archäologie an der
Universität Rzeszów und an der Universität Zürich. Seit 2017 ist er als Privatdozent an der Universität Zürich tätig und seit 2020 als außerordentlicher Professor an der Universität Warschau angestellt, wo er Prähistorische Archäologie und archäologische Methoden und Theorien lehrt. Sein methodologischer
Ansatz stützt sich auf archäologische Theorie, Anthropologie und Philosophie und sein Forschungsgebiet sind materielle Quellen der Mathematisierung des menschlichen Geistes in der Vorgeschichte, was das Thema seiner
drei bisherigen Bücher war: Metrologische Strukturen in der Kultur mit Schnurkeramik und ihre Bedeutung für die Kulturentwicklung des mitteleuropäischen
Publiziert in: Martin Renger, Stefan Schreiber, Alexander Veling (Hrsg.), Theorie | Archäologie |
Reflexion 1. Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen Diskurs, Theoriedenken in der
Archäologie 1 (Heidelberg 2023) 491–497. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.1092
491
492 — Über die Autor*innen
Raumes (2004); Ritual and Understanding. Rational Bases of Communication
and Exchange in Prehistoric Europe (2008), und The Power of the Line. Metaphor,
Number and Material Culture in European Prehistory (2013). Er schrieb auch
ein populärwissenschaftliches Buch: Mr. Blademan and the World-Machine.
Man vs. Technology – from the Stone to the Computer (2010).
Vera Egbers https://orcid.org/0000-0001-8290-6006
ist Westasiatische Archäologin und Post-Doc am DFG-Graduiertenkolleg 1913
an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, wo
sie zusammen mit der Architektin Dr. Özge Sezer über die Bedeutung der
ländlichen Türkei des 20. Jahrhunderts (u. Z.) in Zeiten des politischen und
sozialen Wandels arbeitet. Während ihres Studiums in Berlin, Istanbul, Paris
und Boston nahm sie an Ausgrabungen in der Türkei, Turkmenistan, Irakisch-Kurdistan und Deutschland teil. In ihrer Dissertation an der Freien Universität Berlin wandte Vera das theoretische Konzept des Thirdspace an, das
von Henri Lefebvre und Edward Soja entwickelt wurde, um die Beziehung
zwischen dem Assyrischen Reich und Urartu während der ersten Hälfte des
1. Jts. v. u .Z. mit besonderem Fokus auf Subalternität zu untersuchen. 2021/22
bereiste sie mit dem Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts archäologische Stätten weltweit.
Ralf Gleser https://orcid.org/0000-0003-4990-7714
geb. 1964 in Saarbrücken, studierte Vor- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie, Geologie und Philosophie in Saarbrücken und Heidelberg. Promotion 1992, Habilitation 2003. 2004–2008 Hochschuldozent in Saarbrücken.
Seit 2008 Professor für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: u. a.
Neolithikum, Kupferzeit, soziale Differenzierung, frühe Metallurgie, Kelten
und Romanisierung, Wissenschaftstheorie der Prähistorischen Archäologie.
Sarah Gonschorek studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische und frühchristliche Archäologie sowie Geschichte in Münster. In der Zeit von 2017
bis 2021 arbeitete sie bei Archäologie am Hellweg eG. Bei FemArc – Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen e. V. ist sie Mitfrau seit 2017. Sarah
Gonschorek arbeitet zurzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Büroleitung einer Abgeordneten im Landtag NRW.
Susanne Grunwald https://orcid.org/0000-0003-2990-839X
studierte Prähistorische Archäologie, Alte Geschichte und Mittelalterliche Geschichte in Jena und Leipzig. Sie wurde 2012 mit einer forschungsgeschichtlichen Arbeit zur archäologischen Burgwallforschung in Sachsen
Über die Autor*innen — 493
zwischen 1900 und 1961 in Leipzig promoviert. Seit 2013 arbeitet sie in verschiedenen institutionellen Konstellationen und mit unterschiedlichen Förderungen zu methodischen und strukturellen Aspekten der Archäologiegeschichte. 2016/2017 hat sie mit einem Stipendium der RGK des DAI zu
Gerhard Bersu und der Reorganisation der Prähistorischen Archäologie in
Deutschland nach 1945 geforscht, was die Grundlage für den vorliegenden
Beitrag lieferte. Derzeit stehen Fragen zur Geschichte der archäologischen
Publizistik, der Rezeption von sozialwissenschaftlichen Forschungen in den
verschiedenen Archäologien und die museale Vermittlung von Ideen zu
Herrschaft und Macht im Mittelpunkt ihrer Arbeiten, u. a. gefördert von der
Universität Mainz. Susanne Grunwald lebt in Berlin.
Doris Gutsmiedl-Schümann https://orcid.org/0000-0002-8470-1298
studierte Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie, Vorderasiatische Archäologie, Ethnologie, Vegetationsgeschichte und Informatik an der LMU
München und promovierte 2010 in Vor- und Frühgeschichtlicher Archäologie an der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms-Universität Bonn. 2018 schloss
sie die Habilitation in Prähistorischer Archäologie an der Freien Universität
Berlin ab. Sie ist seit 2001 Mitfrau bei FemArc – Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen e. V., war 2004–2007 Mitfrau im Vorstand, und ist seit 2005
Mitfrau der FemArcEdition. Doris Gutsmiedl-Schümann ist derzeit Privatdozentin am Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität
Berlin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Akteurinnen archäologischer Forschung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften: Im Feld,
im Labor, am Schreibtisch (AktArcha)“ am Historischen Institut der Universität der Bundeswehr München..
Caroline Heitz
https://orcid.org/0000-0001-7188-6775
ist Archäologin sowie ausgebildete Ethnologin und Historikerin, die in ihren Arbeiten systematisch Theoriebildung sowie Inter- und Transdisziplinarität integriert. Ihre 2018 eingereichte Promotionsschrift Keramik jenseits
von ‚Kulturen‘. Ein praxeologischer Zugang zu Mobilität, Verflechtung und
Transformationen im nördlichen Alpenvorland (3950–3800 v. Chr.) wurde mit
dem Preis der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Bern für
die beste Dissertation ausgezeichnet. Für die Jahre 2021 bis 2022 erhielt
sie ein SNSF Postdoc-Mobility Fellowship für die School of Archaeology,
Universität Oxford und den Sonderforschungsbereich 1266 Transformations-Dimensionen – Mensch-Umwelt Wechselwirkungen in Prähistorischen
und Archaischen Gesellschaften am Institut für Ur- und Frühgeschichte
der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihr aktuelles SNF-AmbizioneForschungsprojekt Climate Change Resilience and Vulnerabilities in Bronze
494 — Über die Autor*innen
Age Waterfront Communities (2200–800 BC) mit einer Laufzeit von 2023 bis
2026 ist am Institut für Archäologische Wissenschaften und am Oeschger
Center for Climate Change Research (OCCR) der Universität Bern angesiedelt. In ihrer Forschung untersucht sie Mensch-Ding- und Mensch-UmweltBeziehungen, Transformationen, Mobilität, Vulnerabilität und Resilienz in
frühen prähistorischen Gesellschaften im alpinen Raum. Darüber hinaus ist
sie Beirätin in der AG TidA sowie Gründungsmitglied der Swiss TAG und
Mitherausgeberin der Open Access / Open Data-Schriftenreihe Open Series
in Prehistoric Archaeology (OSPA).
Kerstin P. Hofmann https://orcid.org/0000-0003-4405-5751
Dr. phil (Kiel 2006), ist Direktorin der Römisch-Germanischen Kommission
in Frankfurt a. M. Zuvor war sie Auslandsstipendiatin des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom und arbeitete zu Raum und Identitäten beim
Berliner Exzellenzcluster Topoi. Ihre Forschungsschwerpunkte sind kultureller Wandel, Identitäten sowie Mensch-Ding-Beziehungen in den Metallzeiten und der Frühgeschichte Europas. Ferner arbeitet sie zu Wissenspraktiken
in der Archäologie.
Daniel Lau promovierte 2010 an der Westfälischen Wilhelms-Universität
Münster in Westasiatischer Archäologie über die altassyrischen und älteren
Gräber und Grüfte aus Assur und er nahm an Grabungsprojekten in Jordanien,
der Türkei und Azerbeycan teil. Seit 2009 leitete er mehrere Ausgrabungen
im niedersächsischen Raum und ist seit 2019 der Kommunalarchäologe der
Schaumburger Landschaft. Sein hauptamtliches Arbeitsgebiet erstreckt sich
zwischen Hameln und Hoya entlang der Mittelweser. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozialarchäologie, Keramikstudien und der antiken Mensch-Tier-Beziehungen.
José Eduardo M. de Medeiros studierte Archäologische Wissenschaften
(Promotion: Urgeschichtliche Archäologie), Philosophie, physische und kulturelle Anthropologie sowie Informatik an der Universität Freiburg, University
of Texas at Austin und PUC Universität Rio de Janeiro. Er ist Post-Doc-Partner
an der Fakultät für Geschichte der Universidade Federal Fluminense, Niterói
(NEREIDA). Zurzeit arbeitet er als Requirements Engineer in der e-Learning
Abteilung des Rechenzentrums der Universität Freiburg. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die historisch-genetische Theorie der Kultur, die
Hortfunde der Spätbronze- und Früheisenzeit, der Einsatz von Informationstechnologie in der Archäologie (z. B. Portable Antiquities Scheme), Heiratspraktiken in prähistorischen Gesellschaften, die Bilderwelten der Früheisenzeit und die Symbolik der Kupferzeit.
Über die Autor*innen — 495
Sabine Neumann http://orcid.org/0000-0002-6376-8661
leitet eine Nachwuchsgruppe am Marburger Centrum Antike Welt (MCAW)
mit Schwerpunkt auf Religion im antiken Mittelmeerraum. Von 2020 bis 2022
war sie Associate Professor an der Universität Kopenhagen in dem Projekt
Migrants and Membership regimes in the ancient Greek World. Zuvor war
sie als akademische Rätin an der Philipps-Universität Marburg beschäftigt.
Sie studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Klassische
Archäologie, Alte Geschichte und Kunstgeschichte. In ihrer Dissertation
befasste sie sich mit der Rezeption von Natur in der Antike. Ihre Interessenschwerpunkte sind antike griechische Religion, antike Migration und
Mobilität von Kulturen. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit Fragen zur
ethischen Verantwortung in der Archäologie.
Ulrike Rambuscheck studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Ethnologie in Köln und Göttingen. Nach verschiedenen beruflichen Stationen arbeitet sie heute freiberuflich als Lektorin. Seit 1995 ist sie
Mitfrau bei FemArc – Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen e. V., seit
2000 gehört sie der FemArcEdition und seit 2004 dem Vorstand von FemArc
an.
Martin Renger https://orcid.org/0000-0002-7019-7043
studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische und Vorderasiatische Archäologie sowie Altorientalistik, Geo- und Religionswissenschaften an den Universitäten Leipzig und Freiburg. Er war Assistent an den Universitäten Freiburg
und Heidelberg und arbeitet derzeit im Qualitätsmanagement der Universität
Heidelberg. Seit 2015 ist er zudem als Lehrbeauftragter tätig und außerdem
im Beirat der AG Theorien in der Archäologie aktiv. In seiner Dissertation an
der Freien Universität Berlin untersucht er Transformationsprozesse sozialer
Ordnungen während der Sesshaftwerdung in Südwestasien. Darüber hinaus
beschäftigt er sich mit Formaten von Subjektivierungen und Kollektivierungen in der Vergangenheit, Gesellschaftstheorien, Subalternität, Postkolonialität sowie Raum- und Architekturtheorien.
Sophie-Marie Rotermund studierte Prähistorische Archäologie an der
Freien Universität Berlin sowie Vor- und Frühgeschichte, Kunstgeschichte, Geschichtswissenschaften und Museumsmanagement an der Universität Hamburg. Ihre Abschlussarbeiten beinhalteten sozialtheoretische und
ideengeschichtliche Auseinandersetzungen zu gender und Alter, Kollektivund Einzelidentitäten. Neben diesen Schwerpunkten arbeitet sie in der Vermittlung von archäologischen, historischen und gesellschaftspolitischen
Themen.
496 — Über die Autor*innen
Christina Sanchez-Stockhammer https://orcid.org/0000-0002-6294-3579
ist Professorin für Englische und Digitale Sprachwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz. Ihre Forschungsbereiche sind sehr vielseitig
und umfassen beispielsweise die Getrennt- / Zusammenschreibung englischer
Komposita, Sprache in Comics, Zeichensetzung als Textsortenindikator, die
Korrelation von Tageszeit und Uhrzeit und die Frage nach der Vorhersagbarkeit sprachlichen Wandels.
Stefan Schreiber https://orcid.org/0000-0003-1065-5003
ist derzeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Schwerpunkt Theoretische Archäologie am Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA) und der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz tätig. Am LEIZA ist er Sprecher des
Forschungsfeldes Zusammenleben in komplexer werdenden sozialen Gefügen,
während er an der JGU im Profilbereich 40,000 Years of Human Challenges die
Thematic Area Umsorgtes Leben betreut. Seine Dissertation Wandernde Dinge
als Assemblagen. Neo-materialistische Perspektiven zum ‚römischen Import‘ im
‚mitteldeutschen Barbaricum‘ hat er am Exzellenzcluster TOPOI eingereicht
und publiziert. Derzeit ist er als Mitherausgeber des Forum Kritische Archäologie (FKA), Mitorganisator des VARM-Theorie-Lesezirkels und seit 2014 im
Vorstand der AG Theorien in der Archäologie tätig. Sein Interesse gilt posthumanistischen und neomaterialistischen Ansätzen in der Archäologie.
Philipp W. Stockhammer https://orcid.org/0000-0003-4702-9372
ist Professor für Prähistorische Archäologie (Schwerpunkt: Ostmittelmeerraum) an der LMU München und Co-Direktor des Max-Planck-HarvardForschungszentrums für die archäologisch-naturwissenschaftliche Erforschung des antiken Mittelmeerraums am Max-Planck-Institut für evolutionäre
Anthropologie, Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Bronzezeit
im östlichen Mittelmeerraum, transkulturelle Theorien und bioarchäologische
Forschungen zu Mobilität, Ernährung, Krankheiten und sozialer Ungleichheit.
Ulrich Veit https://orcid.org/0000-0002-4060-1199
ist Professor für Ur- und Frühgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der jüngeren
europäischen Ur- und Frühgeschichte (Neolithikum bis Eisenzeit) mit Spezialisierungen in der Gräber-, Siedlungs- und Sozialarchäologie. Daneben
hat er zahlreiche Beiträge zur Archäologiegeschichte sowie zur Theorie der
Archäologie verfasst.
Über die Autor*innen — 497
Alexander Veling https://orcid.org/0000-0001-7246-8380
hat Archäologie, Soziologie und Geschichte in München, Bamberg, Frankfurt
(Oder) und Berlin studiert und ist derzeit Doktorand in der Berlin Graduate
School of Ancient Studies (BerGSAS). Er forscht zu Sozial- und Kulturtheorien, Spätantike und Frühmittelalter, Gräberarchäologie, Sozialarchäologie
und Methoden der Archäologien. Sein besonderer Schwerpunkt sind Praxistheorien in transdisziplinärer Perspektive und Fragen nach der Forschungsperspektive der Archäologien.
Katja Winger https://orcid.org/0000-0002-3984-0635
studierte Klassische Archäologie und Alte Geschichte an der Martin-LutherUnversität Halle / Wittenberg und wurde an der Goethe-Universität Frankfurt
a. M. im Fach Vor- und Frühgeschichte promoviert. Sie ist seit 2017 Mitfrau
bei FemArc – Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen e. V. und seit 2020
Editionärin der FemArcEdition. Seit 2021 leitet sie die Heinrich SchliemannGedenkstätte der Schliemannstadt Neubukow.
TidA · Theoriedenken in der Archäologie · Band 1
Der Doppelband „Theorie | Archäologie | Reflexion.
Kontroversen und Ansätze im deutschsprachigen
Diskurs“ widmet sich der Diversität an Zugängen, die
den archäologischen Theoriediskurs heute und in
naher Zukunft prägen. Dazu versammelt er wegweisende Beiträge, spannende Gedankenexperimente
und erste theoretische Annäherungen quer durch
das archäologische Fächerspektrum. Dabei kommen
sowohl etablierte als auch Nachwuchswissenschaftler*innen zu Wort, um neue Impulse und Ansätze in
den Diskurs einzuspeisen oder bestehende Zugänge
zu diskutieren. Die Beiträge in Band 1 fokussieren
auf die Fachbestimmungen und disziplinären Verortungen, auf die Standpunkte und Positionierungen
sowie auf Fragen der Ethik und Verantwortung der
Archäologien.
ISBN 978-3-96929-182-5
9 783969 291825