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Ute Neumann-Gorsolke Response auf Johannes F. Diehl: Präpositionen als Indikatoren aspektiven Denkens? Abstract: Die Response problematisiert grundlegend das Verhältnis von hebräischer Sprachform und hebräischem Denken und fragt nach der Bedeutung der aus ägyptischer Flachbildkunst gewonnenen Kategorie der Aspekte für die Analyse hebräischer Sprache und Weltsicht This response fundamentally problematizes the relationship between the Hebrew language form and Hebraic thought and inquires into the significance of the aspective category taken from Egyptian relief art for analyses of the Hebrew language and worldview. Der Vortrag von Johannes Diehl nähert sich der „Andersartigkeit“ des Hebräischen/hebräischen Denkens von einem sehr konkreten Ausschnitt der biblischen Sprache her und wagt sich dabei in einer Art „Tiefenbohrung“ in das „Minenfeld“ der Präpositionen – „Minenfeld“ aus dem Grunde, weil sich antike wie moderne Sprachen hier signifikant unterscheiden und für einen „Nicht-Native-Speaker“ kaum ableitbar sind. Es steht also nicht ein Lexem und dessen spezielle Semantik im Zentrum, sondern grammatische Konstruktionen und deren Erfassung räumlicher Verhältnisbestimmungen. Das ist neu und anregend, birgt aber in dieser Beschränkung m. E. durchaus hermeneutische Risiken. Und so haben sich mir bei der Lektüre einige Fragen gestellt, die einer näheren Erläuterung und Diskussion bedürfen. Sie liegen auf unterschiedlichen Ebenen, die zum einen grundlegende hermeneutische Aspekte, zum anderen den Umgang/die Einschätzung der hier vorgeführten Beispiele und die sich daran anschließende Schlussfolgerung hinsichtlich der „Aspektive“ als Spezifikum hebräischen Denkens betreffen. 1 Hermeneutische Anfragen 1.1 Meine erste Frage richtet sich an den verwendeten Begriff „Andersartigkeit“ des Hebräischen Denkens. Was ist damit gemeint oder zumindest mitgedacht? Von woher ist die Andersartigkeit gesehen? Vom Gegensatz zum Griechisch-LateiOpen Access. © 2023 Ute Neumann-Gorsolke, published by De Gruyter. under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License. https://doi.org/10.1515/9783110742428-013 This work is licensed 240 Ute Neumann-Gorsolke nischen oder – wie die gewählten Beispiele suggerieren – von der Sprachgestalt des Deutschen als Repräsentant einer lebendigen Sprache des 21. Jh.s? Dass das 2500 Jahre alte Biblisch-Hebräische als Teil der altsemitischen Sprachfamilie anders strukturiert ist als eine moderne Sprache der indogermanischer Sprachfamilie, ist zu erwarten. Verstellen nicht die implizit als Maßstab gesetzten grammatischen Muster unserer Sprache vielleicht den Blick auf das Eigensystem dieser Sprachen? Vielleicht gerade auch in Hinblick auf die hier thematisierte räumliche Verhältnisbestimmung? Kurz und bündig: Andersartigkeit – wem oder was gegenüber? Und: Ist diese vergleichende Betrachtung hilfreich? 1.2 Bei der Suche nach dem „hebräischen Denken“ wird die enge Korrelation von Sprache und Denken vorausgesetzt. Dass beides zusammengehört und sie einander bedingen, ist einsichtig und kaum bestritten. Die Frage ist nur: in welchem Maße? Begrenzt die Sprache das Denken? Bildet sich das Denken in der Sprache genau ab? Und konkret auf den Vortrag von J. Diehl bezogen: Können aus einem grammatischen Phänomen einer nicht mehr gesprochenen Sprache, die uns nur in einem kleinen Umfang textlich vorliegt und deren historische Genese wir nicht nachzeichnen können, Schlussfolgerungen über eine „hebräische Weltsicht“ oder „hebräisches Denken“ destilliert werden? Diese Frage gewinnt in Folge der Ansicht von R. Bartelmus an Bedeutung, dass der Tenak in der Zeit von 6. – 4. Jh. v. Chr. von Priesterkreisen zu religiösen Zwecken formalisiert wurde, aber nicht die Sprach- und Denkgewohnheiten der Judäer/Juden zu dieser Zeit widerspiegelt1. 2 Der Komparativ und die Präposition min 2.1 Ausgangspunkt der Überlegungen stellt die Beobachtung dar, dass im Ugaritischen, Phönizischen und Hebräischen ein Komparativ nicht – wie z. B. im Deutschen2 – morphologisch ausgewiesen ist. Es könnten noch andere semitische Sprachen ergänzt werden: a) Das Akkadische kennt keine besonderen Formen für 1 Vgl. Bartelmus, 2007, 412f.: „Dass das Regelsystem, nach dem die heute in der Bibel vorfindlichen Texte in der Perser- und frühen Seleukiden- bzw. Ptolemäerzeit durchredigiert wurden, in irgendeiner Form die Sprache repräsentiert, in der die Judenheit in ihrer Entstehungsphase kommunizierte, ist positiv nicht zu belegen. Ja, man kann mit guten Gründen die Frage stellen, ob hier nicht für religiöse Zwecke eine Sondersprache entwickelt wurde.“ 2 Auch im Urindogermanischen ist diese Art der Steigerung und Komparation sprachgeschichtlich spät anzusehen, vgl. Zeilfelder, 1998, 476. Zeilfelder weist darauf hin, dass in vielen Sprachen Präpositionen als Indikatoren aspektiven Denkens? 241 Komparativ und Superlativ, sondern drückt den Komparativ mit der Präposition eli mit der Grundbedeutung „auf, über, zu Lasten von, gegen“ (mehr als) „über hinaus“ aus: aB: ša elî-šu rabū „der über ihn groß ist“ = der größer ist als er3. b) Auch das Mittelägyptische kennt keine morphologischen Veränderungen des Adjektivs zum Ausdruck des Vergleichs, sondern indiziert den Komparativ mit der – vielschichtigen – Präposition r, „literally relatively to“ nach Gardiner4, wobei als die Grundbedeutung von „r“ die Richtungsangabe „towards, to“, aber auch „at, concerning, from“5 anzusehen ist. c) Auch im Altäthiopischen ist, wie ich mir angelesen habe, eine verwandte Konstruktion wie im Hebräischen anzutreffen, hier mit der Präposition ᾿әm, ᾿әmәnna, dem äthiopischen Äquivalent zu min6. Das bedeutet zunächst, dass sich die Frage von J. Diehl, „warum … die betreffenden Sprachen … keinen morphologisch ausgewiesenen Komparativ (ausbilden)“ [Manuskript S. 2], beantworten lässt: Warum sollten sie, wenn sie den Komparativ syntaktisch ausdrücken konnten7? Und das heißt auch, dass der Gedanke der Komparation der hebräischen Sprache resp. dem hebräischen Denken inhärent war, auch wenn er nicht durch bestimmte Morpheme indiziert wurde! 2.2 Doch das allein stellt natürlich nicht die zentrale Idee dar, sondern die Frage, ob „die Komparation wirklich eine Sonderfunktion von ‫ מן‬ist“ [S. 2], oder ob hier nicht, wie in dem Beispiel Gen 12,8, von einer besonderen perspektivischen Bestimmung ausgegangen werden muss, der, wie der Ausgangspunkt des Vergleichs mit min, als „von…aus gesehen“ (E. Jenni)8 umschrieben werden kann. Die Betonung, dass min im Hebräischen sowohl bei den lokalen Angaben wie auch bei den Beispielen, die wir als Vergleiche begreifen, den Ausgangspunkt der Betrachtung markiert und damit einen Perspektivwechsel innerhalb des Satzes vollzieht, ist mir nachvollziehbar und scheint auch im Vergleich mit den oben erwähnten Beispielen aus anderen Sprachen erhellend. Vorausgesetzt wird dabei aber, dass diese Betonung des Ausgangspunktes den Sprechenden/Schreibenden des Biblisch-Hebräischen immer noch deutlich war. Möglich ist doch auf jeden der Komparativ nicht morphologisch, sondern lexikalisch oder syntaktisch ausgedrückt wird (ebd., 475.481). 3 Vgl. Von Soden, 1969, 90. 4 Gardiner, 1988, § 50 und § 163. 5 Gardiner, 1988, 577. 6 Vgl. Procháska, 2004, 101. 7 Jenni, 2007, 423, konstatiert als „Überschuss“ der Konstruktion mit min, „dass auch Eigenschaftsverben in der gleichen Funktion gebraucht werden“, d. h. sich diese Konstruktion als adäquat für die hebräische Sprache erweist. 8 Jenni, 2007, 423. 242 Ute Neumann-Gorsolke Fall, dass im Sprachgebrauch die Verwendung von min in der Komparation im Sinne von „im Vergleich zu“ verstanden wurde, d. h., dass sich eine evtl. ursprüngliche Bedeutung als „von … aus gesehen“ nur noch verblasst vorfindet und min von den Sprechern und Schreibern direkt als Komparationsmarker erkannt wurde9. Gleiches könnte auch für die lokalen Bezeichnungen zutreffen, so dass die Übersetzung von ‫מים‬, „nach Westen, im Westen“, die Gesenius bietet, durchaus gerechtfertigt wäre. Ausgehend davon, dass die Bedeutung von min in den unterschiedlichen Beispielen semantisch präsent ist, also mit dem min der Ausgangspunkt der Betrachtung gesetzt wird und dadurch ein satzinterner Perspektivwechsel erfolgt, so ist damit m. E. eine Eigenart der Verhältnisbestimmung von Menschen/Orten/anderen Größen zueinander im Hebräischen fassbar10 und wird sehr treffend in der genannten Übersetzung von Zerweck aufgezeigt: „Abram schlug sein Zelt auf, so dass Beth-El von Westen, Ai von Osten auf sein Zeltlager gleichsam herüberschauten…“. Wie ist diese Eigenart aber zu beurteilen? 3 „Aspektive“ als Spezifikum hebräischen Denkens ? 3.1 Um die Besonderheit dieses satzinternen Perspektivwechsels zu profilieren, hat J. Diehl Skizzen erstellt, die die Unterschiede zwischen deutscher und hebräischer sprachlicher Darstellung veranschaulichen sollen, und die der Zuordnung zum perspektivischem und aspektivem „Denken“(?)/Wahrnehmen dienen. Diese haben mir Schwierigkeiten bereitet, insbesondere der „Betrachtungsrahmen“ und die Figur des/der Betrachters/in, die beide ja der Kunstbetrachtung entlehnt und auf den Vergleich mit der Bildkunst angelegt sind. Bezieht sich der „Betrachtungsrahmen“ auf das jeweils evozierte Bild? Bleibt der Betrachter tatsächlich entweder außerhalb oder innerhalb des Bildes? Kommt es nicht auf die Erzählperspektive an, d. h. befindet sich der auktoriale Erzähler nicht immer, in jeder Sprache, „über“/ „jenseits“ des ausgesagten Sachverhalten? Wäre daher nicht eine Unterscheidung zwischen linearer Gedankenstruktur im Deutschen und einer bipolaren oder auch, was dem aspektiven Gedanken sogar nahekommt, einer para- 9 Im heutigen Arabischen wird nach der Komparativform des Adjektivs die zu vergleichende Bezugsgröße mit min eingeführt. 10 Die auch für die Präposition bēn angenommene, vergleichbare Struktur – als Ausgangspunkt des Betrachteten zu fungieren – ist m. E. nicht überzeugend. Präpositionen als Indikatoren aspektiven Denkens? 243 taktischen im Hebräischen sinnvoller, um den satzinternen Perspektivwechsel zu beschreiben? 3.2 Lassen wir uns auf den Vergleich mit der Aspektive-Klassifizierung ägyptischer Flachbildkunst ein – wobei der Schritt von der Darstellungsart in der Kunst zur Analyse der Syntax an sich noch stärker zu bedenken wäre, – und das bedeutet parataktische Darstellung der Einzelelemente ohne erkennbaren funktionalen Zusammenhang zueinander, ohne vom Menschen bestimmte Perspektive, dann stellt sich die Frage, was gewonnen wird mit dieser Klassifizierung für das Verstehen des „hebräischen Denkens“? Dazu möchte ich zwei signifikante Punkte von E. Brunner-Traut anführen. Einerseits schreibt sie: „Seine (= des Menschen, Verf.in) Kenntnis von der Welt befähigt den Beschauer, das aspektivisch gewonnene Bild als Organismus zu erkennen, wie sie analog perspektivisch gezeichnete Gegenstände entzerren muss“11, d. h. dass die Darstellungsweise eine Bedeutungsdarstellung, aber nicht die real erfahrene Welt repräsentiert. Welchen Aufschluss vermag uns diese Darstellungsweise aber dann vom Denken der Ägypter zu geben resp. die syntaktische Darstellung vom hebräischen Denken, wenn deutlich ist, dass es eine Darstellungsweise bezeichnet?12 Zum anderen ist für E. Brunner-Traut deutlich, dass Aspektive wie auch perspektivische Darstellung einer bestimmten Wahrnehmungsweise und diese einer bestimmten mentalen Lage entsprechen13. In der ägyptischen Flachbildkunst, die als raum- und zeitstumm gilt, „erscheint das Ding dem Fluss der Zeit entrissen, aus seiner Vergänglichkeit hinübergerettet in die Zustandsform ewigen Seins, wobei ‚Ewigkeit‘ verstanden sein will im Sinne dauernder Zeit. … Er (= der Ägypter, Verf.in) hat Anschein und Zufall, persönliche Willkür und Abhängigkeit vom jeweiligen Standpunkt als ichbezogene Werte abgelehnt und die Dinge (objektiv) sein lassen, ohne sie beeinflussen zu wollen, weil er, um es mit seinen eigenen Worten zusagen, ‚angesichts der göttlichen Wahrheit schweigt‘. So kommt es, daß keine andere so wie die ägyptische Kunst Transzendentes aufleuchten läßt“14. Wenn die ägyptische Kunstform die religiöse Verfasstheit der Welt tatsächlich widerzuspiegeln vermag, welche Deutungen wären dann für ein aspektivisches hebräisches Denken anzunehmen, welche Korrelation von Ausdrucksform und 11 Brunner-Traut, 1978, 202. 12 Der Vortrag von J. Diehl beschränkt sich allein auf die Frage der Position des/der Betrachters/ in und der formalen Parallelität zu ägyptischen Flachbildkunst. 13 Vgl. Brunner, 1978, 202. 14 Brunner-Traut, 1978, 203. 244 Ute Neumann-Gorsolke mentaler Lage wären sinnhaft und überzeugend? Ist auf diese Weise eine umfassende spezifische „hebräische“ Weltsicht greifbar? Noch bin ich jedoch – trotz der anregenden Ausführungen von J. Diehl – der Klassifizierung des hebräischen Denkens als Aspektive und weitergehenden Folgerungen gegenüber skeptisch. Literatur Bartelmus, R., 2007, ‚Revitalisierung des Althebräischen‘ oder: Kann man ein Konstrukt neu beleben, indem am ein neues Konstrukt schafft?, in: Männchen, J. (Hg.) in Zus. mit Reiprich, T., Mein Haus wird ein Bethaus für alle Völker genannt werden (Jes 56,7). Judentum seit der Zeit des Zweiten Tempels in Geschichte, Literatur und Kult. FS für Th. Willi zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn, 405–422. Brunner-Traut, E., 1978, Ägypten. Kunst- und Reiseführer mit Landeskunde. Mit einem Beitrag von R. Jacobi, dritte, erweiterte und verbesserte Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz Gardiner, A., 1988, Egyptian Grammer. Being an Introduction to the Study of Hieroglyphs, 3. revised Edition, Oxford Jenni, E., 2007, Untersuchungen zur Komparation im hebräischen Alten Testament, in Männchen, J. (Hg.) in Zus. mit Reiprech, T., Mein Haus wird ein Bethaus für alle Völker genannt werden (Jes 56,7). Judentum seit der Zeit des Zweiten Tempels in Geschichte, Literatur und Kult. FS für Th. Willi zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn,423–434 Procházka, St., 2004, Altäthiopische Studiengrammatik (OBO Subsidia linguistica 2), Göttingen/ Freiburg(CH) Von Soden, W., 1969, Grundriss der akkadischen Grammatik (Analecta Orientalia 33/47), Rom Zeilfeder, S., 1998, Steigern und Vergleichen im Hethitischen, in: Prosecký, J. (Hg.) Intellectual life in the Ancient Near East. Papers presented at the 43rd Rencontre Assyriologique Internationale in Prag 1996, Prag, 475–482