Philipp Deeg: Der Kaiser und die Katastrophe. Untersuchungen zum politischen Umgang mit Umweltkatastrophen im Prinzipat (31 v. Chr. bis 192 n. Chr.) (= Geographica Historica; Bd. 41), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019, 317 S., ISBN 978-3-515-12374-7, EUR 55,00
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Die Beschäftigung mit Naturkatastrophen hat sich seit den 1980er Jahren in den Geschichtswissenschaften zunehmend etabliert. Schon der Mediävist Arno Borst konnte in seinem vielbeachteten Aufsatz von 1981 zeigen, welchen Erkenntniswert etwa die Analyse eines Erdbebenereignisses für die Erforschung historischer Gesellschaften haben kann. [1] Auch für die Alte Geschichte hat sich dieser Ansatz als äußerst erkenntniserweiternd erwiesen, obschon - oder gerade weil - er zugleich neue Forschungskontroversen evoziert hat. So wird die Bedeutung von Naturkatastrophen für das politische System des römischen Prinzipats seit einigen Jahren kontrovers diskutiert: Während viele Arbeiten sich tendenziell für eine gewisse Verpflichtung des Kaisers zur Intervention im Katastrophenfall aussprechen [2], gibt es auch Stimmen, die in der kaiserlichen Katastrophenhilfe eher Ausnahmefälle sehen wollen . [3]
In diese Diskussion reiht sich die Dissertationsschrift des Althistorikers und Politikwissenschaftlers Philipp Deeg. Darin wird der politische Umgang der römischen Kaiser von Augustus bis Commodus mit Naturkatastrophen in den Blick genommen mit dem Ziel, 'Handlungsmuster und typische Abläufe zu identifizieren' (14). Letztlich soll damit die Frage geklärt werden, ob der Kaiser im Katastrophenfall zur Hilfe verpflichtet war. Zu den zu untersuchenden Ereignissen, die der Autor in Anlehnung an den englischen Begriff 'environmental disaster' als 'Umweltkatastrophe' bezeichnet (19), zählen neben Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Hochwässern etwa auch Brände, Dürren und kosmische Ereignisse wie Mond- und Sonnenfinsternisse. Die Betonung der 'Umwelt' scheint ob ihrer natürlichen wie menschlichen Prägung insgesamt schlüssig. Die Gemeinsamkeiten belaufen sich darauf, dass es sich um natürlich induzierte Katastrophen mit 'Ereignischarakter' (21) handeln soll.
Um den Prinzipat konzeptionell zu fassen, nutzt Deeg Egon Flaigs Modell des 'Akzeptanzsystems' [4], welches er einleuchtend mit der Politiktheorie des Politologen David Easton [5] verbindet. Auf diese Weise entwickelt er eine eigene Konzeption des politischen Regimes der römischen Kaiserzeit, die den Fokus auf die Interaktion der Akzeptanzgruppen mit dem Prinzeps legt: Welche Erwartungen hegten die von Umweltkatastrophen betroffenen Gruppen an den Kaiser, inwieweit kam der Kaiser ihren Bitten nach und wie gestaltete sich wiederum der Dank für die kaiserliche Hilfe?
Die Analyse der Katastrophenereignisse gliedert sich in zwei Teile: der erste behandelt die Umweltkatastrophen chronologisch, der zweite strukturhistorisch. Zunächst werden alle überlieferten Ereignisse Kaiser für Kaiser aufgearbeitet. Einem dezidiert praxeologischen Ansatz folgend, möchte Deeg dazu 'möglichst jedes aussagekräftige Quellenmaterial berücksichtigen' (198), womit er insbesondere Münzen und Inschriften meint. Dankesbezeugungen etwa, die nach erfolgter Hilfe von den betroffenen Gemeinden ausgingen, schlugen sich zu einem Gutteil in Provinzialprägungen und Ehreninschriften an den Kaiser nieder. Deren grundsätzliche Ähnlichkeit zeugt zudem von einer Kontinuität der politischen Kommunikationsmuster während des gesamten Untersuchungszeitraums von immerhin gut zwei Jahrhunderten. Die chronologische Analyse deckt jedoch auch Unterschiede auf. So fällt beispielsweise auf, dass Nero sich im Vergleich zu allen anderen Kaisern nahezu vollständig aus der Katastrophenhilfe heraushielt, während Antoninus Pius sich trotz seiner allgemein als ereignislos charakterisierten Regierungszeit in einer ganzen Reihe von Katastrophen, hauptsächlich Erdbeben, als Wohltäter gerierte.
In der strukturhistorischen Analyse nimmt Deeg die Erkenntnisse aus Teil eins unter drei Teilaspekten in den Blick: Maßnahmen, Kommunikation und politische Funktion. Zu den üblichen Hilfsmaßnahmen zählten Steuererlasse, Geldspenden und Sondergesandtschaften sowie religiöse Rituale. Letztere klassifiziert Deeg provokant als präventive Maßnahmen (205), was aus vormoderner Perspektive aber durchaus schlüssig ist. Daneben konnten Ortsbesuche durch den Prinzeps in besonderem Maße dazu dienen, dessen Anteilnahme zu demonstrieren. Auch Edikte oder Briefe, die gezielt zum Trost und zur Entschädigung der Betroffenen beitragen sollten, scheinen Teil einer geradezu ritualisierten Kommunikation zwischen Prinzeps und Betroffenen gewesen zu sein. Ähnlich folgten nach Deegs Urteil die Gesandtschaften, die aus den Katastrophengebieten an den Kaiser entsendet wurden, einem gewissen ritualisierten Kommunikationsmuster (242).
Ihnen sowie den Dankesbezeugungen widmet Deeg die meiste Aufmerksamkeit im letzten Teil seiner Analyse, wo er der politischen Funktion des kaiserlichen Umgangs mit Umweltkatastrohen auf den Grund geht. So hat es sich in der chronologischen Quellenanalyse gezeigt, dass der Prinzeps in einigen Fällen schon vor Eintreffen der Gesandtschaften über das Geschehene informiert war, bisweilen sogar schon erste Hilfsmaßnahmen angeordnet hatte. Daraus ließe sich erkennen, dass die Legationen nicht in erster Linie informieren sollten. Vielmehr gehe daraus hervor, dass die Provinzialen - neben Militär, Senat und stadtrömischer Plebs - als vierte Akzeptanzgruppe im Flaig'schen Akzeptanzsystem fungierten (244). So gelingt es Deeg in seiner Zusammenschau überzeugend, den aktiven Umgang der römischen Kaiser mit Umweltkatastrophen nicht nur als Herrschaftsverpflichtung zu identifizieren (andernfalls hätte der Prinzeps die Erwartungen der Betroffenen im Sinne der Politiktheorie Eastons enttäuscht), sondern Katastrophenhilfe auch als Möglichkeit zur Profilierung der Kaiser zu verstehen, mit der zugleich die Herrschaft über die Provinzen durch beiderseitiges Einvernehmen rituell legitimiert wurde. Die Ritualhaftigkeit zeige sich auch darin, dass Ausmaß und Art der Hilfsleistungen nicht weiter von Belang gewesen zu sein scheinen (246).
Bezüglich präventiver Maßnahmen kommt Deeg zu dem Schluss, dass sie - zugunsten eines stark ausgeprägten Vertrauens auf die Fürsorge des Kaisers im Katastrophenfall - eher wenig ins Gewicht gefallen seien (245). Ob dies nicht ein zu pauschales Urteil ist, werden künftige Studien zeigen müssen. Möglicherweise bedarf es einer gesonderten Betrachtung der hier summarisch unter 'Umweltkatastrophen' gefassten Phänomene. So sind Hochwässer durch ihr saisonales Auftreten und ihre topographische Begrenztheit weitaus vorhersehbarer als beispielsweise Vulkanausbrüche. Ihre möglichen Auswirkungen waren daher auch in römischer Zeit planbarer. [6] Eine Beschränkung auf die Katastrophenhilfe im Nachgang an ein Extremereignis hätte für die Bearbeitung der übergeordneten Fragestellung ausgereicht. Generell ist die systematische Erforschung antiker Vorsorgemaßnahmen aber ohne Frage wünschenswert.
Insgesamt zeichnet sich die Studie Deegs zum einen durch detaillierte Diskussionen einzelner Umweltkatstrophen aus, in denen sowohl die bisweilen disparaten Quellen als auch die jeweilige Forschungsliteratur zusammengestellt und eingehend analysiert werden. Diese Zusammenstellung kann, gemeinsam mit der chronologischen Übersichtstabelle im Anhang, kommenden Studien als Materialgrundlage dienen. Zum anderen tragen die Erkenntnisse bezüglich der politischen Funktion von Umweltkatastrophen in der Kaiserzeit substanziell wie theoretisch zur Erforschung des politischen Systems des römischen Prinzipats bei. Daher ist von einer breiten Rezeption in der althistorischen Forschung auszugehen, die diese stringente Arbeit unbedingt verdient.
Anmerkungen:
[1] A. Borst: Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), 529-569.
[2] Vgl. etwa M. Meier: Roman Emperors and 'Natural Disasters' in the First Century AD, in: Historical Disasters in Context. Science, Religion, and Politics, ed. by A. Janku et al., New York / London 2012 (= Routledge Studies in Cultural History; 15), 15-30; E. Winter: Strukturelle Mechanismen kaiserlicher Hilfsmaßnahmen nach Naturkatastrophen, in: Naturkatastrophen in der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 6, 1996, hgg. von E. Olshausen / H. Sonnabend, Stuttgart 1998 (= Geographica Historica; 10), 147-155; G. Waldherr: 'Der Kaiser wird's schon richten' - Kaiserliche Fürsorge und Schadensregulierung nach Erdbeben in der römischen Kaiserzeit, in Archäologie - Naturwissenschaften - Umwelt. Beiträge der Arbeitsgemeinschaft 'Römische Archäologie' auf dem 3. Deutschen Archäologenkongress in Heidelberg 25.5. - 30.5.1999, hgg. von M. Fey / N. Hanel, Oxford 2001 (= BAR International Series; 929), 1-7.
[3] Vgl. dazu insbesondere Chr. P. Jones: Earthquakes and Emperors, in: Infrastruktur und Herrschaftsorganisation im Imperium Romanum. Herrschaftsstrukturen und Herrschaftspraxis III. Akten der Tagung in Zürich 19. - 20.10.2012, hg. von Anne Kolb, Berlin 2014, 52-65.
[4] E. Flaig: Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich, Frankfurt am Main / New York 1992 (= Historische Studien; 7).
[5] D. Easton: A Re-Assessment of the Concept of Political Support, in: British Journal of Political Sciences 5 (1975), 435-457.
[6] Zu nennen sei hier z.B. der vorausschauende Umgang mit Flusshochwässern auf dem Gebiet der römischen Landvermessung, vgl. dazu etwa J. Hettinger: Neues zum Kataster von Lacimurga. Die Darstellung der subesciva entlang des Ana, in: Chiron 47 (2017), 189-212.
Jasmin Hettinger