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Rezension über:

Markus Börner / Anja Jungfer / Jakob Stürmann (Hgg.): Judentum und Arbeiterbewegung. Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge; Bd. 30), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, XIV + 397 S., ISBN 978-3-11-052149-8, EUR 119,95
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Rezension von:
Angelika Timm
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Angelika Timm: Rezension von: Markus Börner / Anja Jungfer / Jakob Stürmann (Hgg.): Judentum und Arbeiterbewegung. Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10 [15.10.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/10/31842.html


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Markus Börner / Anja Jungfer / Jakob Stürmann (Hgg.): Judentum und Arbeiterbewegung

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Gemessen am Bevölkerungsanteil waren Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überproportional in den revolutionären Bewegungen sowohl Ost- und Westeuropas als auch der Vereinigten Staaten von Amerika und Kanadas aktiv. Die jüdische Herkunft spielte für sie zumeist jedoch eine untergeordnete Rolle. Als Sozialisten oder Kommunisten verstanden sie sich in der Regel als Weltbürger bzw. Internationalisten, angetreten, für die Befreiung aller Menschen von wirtschaftlicher, politischer und geistiger Knechtung zu kämpfen. Antisemitismus galt ihnen als Symptom des Kapitalismus, das mit dessen Überwindung verschwinden würde. Häufig dem Bildungsbürgertum entstammend und mehrerer Sprachen mächtig wurden jüdische Revolutionäre wie Rosa Luxemburg, Eduard Bernstein, Leo Trotzki und Otto Bauer zu Schlüsselfiguren linker, zumeist marxistischer Parteien. Mitunter waren Jüdinnen und Juden jedoch nicht nur in revolutionären Organisationen ihrer Heimatländer verankert, sondern gehörten linken zionistischen Verbänden oder dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund an. Diese proklamierten neben sozialer Befreiung die Lösung der nationalen jüdischen Frage, sei es durch Auswanderung nach Palästina oder national-jüdische Autonomie im jeweiligen Heimatland.

Der vorliegende Sammelband fasst Ergebnisse einer internationalen Tagung zusammen, die das von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierte Ludwig Rosenberg Kolleg am Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam am 31. Januar 2016 in Berlin ausrichtete. Zu Recht stellen die Herausgeber in der Einleitung fest, dass zum Thema "Judentum und Arbeiterbewegung" bereits "eine längere, interdisziplinäre Forschungstradition" existiert. Ihr Anliegen, "Verbindendes und Trennendes in der historisch komplexen Verflechtung von Judentum und Arbeiterbewegung zu analysieren" (1), impliziert in der Tat ein äußerst breites historisches Spektrum, das den Autoren nur durch verschiedene Forschungsperspektiven bzw. unterschiedliche methodische und disziplinäre Ansätze erfassbar schien. Die Publikation zeichnet sich zudem dadurch aus, dass nicht vorrangig bekannte Erkenntnisse rekapituliert, sondern bisher weitgehend unbekannte Facetten des großen Themas vorgestellt werden.

Im vollständig nachgedruckten Eröffnungsvortrag geht der renommierte Politologe Jack Jacobs (City University of New York) über die primär historische Fragestellung der Konferenz hinaus. Unter der Überschrift "Auf ein Neues: Juden und die Linke" sucht der durch zahlreiche Publikationen zur Thematik ausgewiesene Spezialist die Frage zu beantworten, warum derart viele Jüdinnen und Juden mit sozialistischen Ideen sympathisierten und Führungspositionen in revolutionären Bewegungen erlangten. Gleichermaßen sucht er eine Antwort darauf, weshalb jüdische Revolutionäre seit Mitte des 20. Jahrhunderts keine herausragende Rolle mehr spielten. Die "einstige enge Verbindung zwischen Juden und der Linken", so Jacobs, könne auf "die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen [...], die im 19. Jahrhundert entstanden und im 20. Jahrhundert wieder verschwanden" (30) zurückgeführt werden. In Europa sei die jüdische Linke zudem im Holocaust nahezu vollständig vernichtet worden. In den USA dagegen hätten die mit sozio-ökonomischen Wandlungen einhergehende Assimilation sowie staatliche Repressionen während des Kalten Kriegs und nicht zuletzt linker Antizionismus das einst enge Verhältnis zwischen Juden und Sozialisten stark belastet. Sollte das linke Projekt, gerichtet auf "das Streben nach einer emanzipierten Gesellschaft, egalitäre Ideale und die Ausdehnung der Demokratie von den politischen auf die wirtschaftlichen Institutionen", im 21. Jahrhundert fortgeführt werden, würden sich Juden zweifellos an ihm beteiligen (31).

Im Sammelband werden weitere 18 Beiträge vier Kapiteln zugeordnet: Das erste ist mit "Jüdische Arbeiterbewegungen" überschrieben und jüdischer Selbstbestimmung gewidmet, so u.a. der Entstehung der neuen, jiddischen Volksschule in Polen, die "statt religiöser Erziehung [...] eine ethische und humanistische Erziehung im Geiste der Freiheitsliebe" (47) anbot und zugleich weltliche sozialistische Ideale propagierte (Ania Szyba), oder der Entstehung einer jiddischen Subkultur in Wien (Gabriele Kohlbauer-Fritz). Das zweite Kapitel, betitelt mit "Juden in der Arbeiterbewegung", stellt fünf Fallbeispiele, angereichert durch biographische Notizen, vor. Aufsätze über die Kommunisten August Thalheimer und Rudolf Bernstein bzw. den Sozialdemokraten Ernst Fraenkel stehen neben Studien über den Korrespondenten des jiddisch-sprachigen New Yorker Forverts in Berlin, Raphael Abramovitch, und einem Beitrag über "Rote Assimilation", der dem Schriftsteller Louis Fürnberg gewidmet ist. Der dritte Abschnitt "Intellektuelles Engagement" setzt sich in fünf Beiträgen kritisch mit dem Verhältnis jüdischer Intellektueller zur Arbeiterbewegung auseinander. Im Fokus stehen Georg Lukács, Walter Benjamin, Karl Mannheim, Egon Erwin Kisch, Leo Löwenthal und Hannah Arendt. Im abschließenden vierten Teil geht es um "Antisemitismusdebatten" in verschiedenen Kontexten der Arbeiterbewegung. Verwiesen sei insbesondere auf die "Ostjudendebatte" des Preußischen Landtages vom 29. November 1922 (Ralf Hoffrogge) sowie auf die Dispute über die "Judenfrage" in der kommunistischen Prager Exilzeitung Der Gegen-Angriff 1933-1936 (Anja Jungfer).

Eine Konferenz und der ihr gewidmete Tagungsband können nicht den Anspruch befriedigen, das selbst gesetzte Rahmenthema allseitig abzuhandeln. Dennoch seien einige Leerstellen benannt. So wird in mehreren Wortmeldungen zwar auf den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund und dessen Wirken in Russland, Polen und den USA verwiesen. Es fehlen jedoch eine umfassendere Darstellung dieser wichtigen Partei wie auch detailliertere Ausführungen über das Verhältnis von Bund und Sozialdemokratischer Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). Bereichernd gewesen wären zudem Beiträge über wichtige Theoretiker des Arbeiterzionismus (Nachman Syrkin, Ber Borochov, Chaim Arlosoroff, Jizchak Katzenelson, Aaron David Gordon u.a.) sowie über die sowohl in Palästina als auch in Europa und in den USA tätigen linken zionistischen Parteien (Poale Zion, Ha-Poel Ha-Zair oder Ha-Schomer Ha-Zair).

Viele der 19 Autoren haben sich bereits ausführlich zum Thema geäußert. Positiv angemerkt sei zugleich, dass mehrere Nachwuchswissenschaftler - zehn Promovenden - neue Forschungsergebnisse vorstellen. Da sie zumeist des Hebräischen oder Jiddischen mächtig sind, vermochten sie es, entsprechende Originaltexte auszuwerten und in ihre Darstellungen einzubeziehen. Einzelne Übersetzungs- bzw. Transkriptionsfehler hinsichtlich hebräischer Begriffe seien am Rande vermerkt und sollten bei einer zweiten Auflage korrigiert werden: das jüdische Jeschuw (86), das Galuth (85), die Hapoel Hatzair (82, 83, 85), BeTzäläm (93).

Als Fazit sei betont, dass sich der Band durch viele Aspekte auszeichnet, die bisher wissenschaftlich nicht oder nur unzureichend untersucht wurden. Er ist zweifellos eine Bereicherung und Fundgrube für alle Interessierten. Hinsichtlich einzelner Wertungen scheinen unterschiedliche Deutungsansätze möglich. War die Tatsache, dass jüdische DDR-Bürger nicht in größerer Zahl zu Hauptfiguren der stalinistischen Säuberungskampagne im Zusammenhang mit dem Slánský-Prozess 1952/53 stilisiert wurden, tatsächlich - wie Jan Gerber darstellt - der "Erinnerung an den Holocaust" (201) geschuldet oder spielte letztlich der Tod Stalins im März 1953 die entscheidende Rolle? Ist das besondere Engagement von Jüdinnen und Juden in linken Bewegungen während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach primär nicht vor allem aus ihrer antifaschistischen Grundhaltung erklärbar? Diese wird weder im Beitrag über Louis Fürnberg noch im Zusammenhang mit der Bewegung Freies Deutschland um Paul Merker und André Simone erwähnt.

Abschließend sei angemerkt, dass das Thema des vorliegenden Sammelbandes nicht nur in Deutschland, sondern aktuell auch in Österreich eine Rolle spielte (und spielt). Verwiesen sei beispielsweise auf die aussagekräftige Ausstellung im Jüdischen Museum Wien ("Genosse. Jude. Wir wollten nur das Paradies auf Erden") mit ihrem anspruchsvollen Begleitband.

Angelika Timm