Hermann Arnhold (Hg.): Orte der Sehnsucht: Mit Künstlern auf Reisen, Regensburg: Schnell & Steiner 2008, 493 S., ISBN 978-3-7954-2088-8, EUR 39,90
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Das LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster hat sich im vergangenen Jahr zum 100. Geburtstag eine große kunsthistorische Sonderausstellung geleistet. Ihr Thema war das in Künstlerbiografien seit dem Spätmittelalter verbreitete Reisen mit seinen verschiedenen Beweggründen. Die Auswahl der präsentierten "Sehnsuchtsorte" war mit einer breit gestreuten, auffälligen Reklame - u.a. mit den Slogans "I love Tahiti in Münster" oder "I love Oslo in Münster" - beworben. In Erinnerung bleiben wird die Ausstellung aber vor allem wegen ihrer opulenten Bestückung, von der der knapp fünfhundertseitige Begleitkatalog ein eindrucksvolles Zeugnis abgibt. Er folgt der Gliederung der Ausstellung nach ausgewählten Reisezielen und enthält zudem eine Reihe von Aufsätzen, die übergreifende Fragestellungen aufwerfen, aber auch viele Fragen offen lassen.
Die Einleitung des Herausgebers stellt zunächst einige zentrale Motivationen für Künstlerreisen zusammen, die in späteren Abschnitten genauer thematisiert werden. Dazu gehören mittelalterliche Pilgerreisen, die mancher Künstler durch den Verkauf seiner Arbeiten finanzierte. Ein anderes Beispiel sind Auftragsreisen, wie es sie seit dem 15./16. Jahrhundert gab, etwa als Begleitung von Expeditionen oder der reisenden Aristokratie. (Hier wäre übrigens ein Querverweis auf die Marinemaler um 1900 denkbar gewesen, die mit Kaiser Wilhelm II. unterwegs waren.) Martin Warnke differenziert später in seinem Aufsatz den Begriff der Künstlerreise entsprechend: Selbstbestimmte Reisen sieht er erst im 18. Jahrhundert, etwa bei Karl Friedrich Schinkel.
Michael Maurer eröffnet den Aufsatzteil mit einer theoretisch-programmatischen Hinführung zum "besonders deutschen" Begriff der Sehnsucht (22) - womit der schwerpunktmäßig deutsche Blickwinkel des Projekts eingeführt ist. Maurer stellt aber insbesondere die grundlegenden Fragen, ob sich die "Vorstellung, [Sehnsucht] lasse sich [...] räumlich fixieren", auf "lokalisierbare Begebenheiten beziehen" lässt, und ob die Sehnsucht denn stillbar ist und sein soll (19). Ebenso wesentlich für das Thema ist sein Hinweis auf die Säkularisierung und ansatzweise Verräumlichung der entsprechenden Sehnsüchte mit den Entdeckungsreisen und der Aufklärung.
Viktoria Schmidt-Linsenhoff und Birgit Haehnel bringen mit ihren Beiträgen die Kritik der Postcolonial Studies am Exotismus in der Kunst ein - eine sinnvolle Warnung an die heutigen Rezipientinnen und Rezipienten etwa der aktuell sehr beliebten Orientmalerei. Edward Saids Kritik am Orientalismus mag in der Kunstgeschichte wohlbekannt sein, für manche "Laien", die den Katalog lesen, wird Haehnel hier eine wichtige neue Perspektive eröffnen.
Bei der Auswahl der "Orte der Sehnsucht" liegt der Start- und zugleich Schwerpunkt auf Italien. Als nächstes reist man mit ausgewählten Künstlern nach Griechenland, geht auf Pilgerfahrt oder mit Kolonialtruppen in den Orient, bevor es über Entdeckerreisen nach Lateinamerika mit den Entdeckern nach Norwegen geht. Über die Südsee geht es dann in die Alpen (warum erst jetzt?) und nach Asien. Den Abschluss bilden Nordamerika, Paris und New York. Am Beispiel des Norwegenabschnitts fällt auf, dass Querverbindungen zwischen den Sehnsuchtsorten im Konzept wenig berücksichtigt sind: Es waren doch häufig dieselben Maler, die zunächst am Mittelmeer, dann in den Alpen und in Norwegen gemalt haben - diese Zusammenhänge hätten mehr Beachtung verdient.
Der Schwerpunkt von Ausstellung und Katalog ist die Malerei. Des Weiteren wurden besonders die Architektur, Bildhauerei und Fotografie berücksichtigt. Es erstaunt ein wenig, dass die Plakatkunst kaum eine Rolle spielt, Reiseplakate wären ein dankbares Thema gewesen. Völlig aus dem Rahmen fällt ein Modell von James Cooks "Endeavor" von 2005/2006 (317). Die Gegenwart ist mit einem Aufsatz von Peter J. Schneemann und einer großen Installation vertreten, die die Besucher zu aktiven Rezipienten von Reisebildern im Zeitalter der Globalisierung machen soll (67).
"Orte der Sehnsucht" kann mit wunderbaren Exponaten aufwarten (wobei hier auf das Auflisten prominenter Namen verzichtet werden soll) und eine Vielzahl anregender Geschichten erzählen. Es gibt allerdings zwei Schwachstellen im Konzept: Die Ausstellung und der Katalog sind zum einen sehr umfangreich und verstellen dadurch etwas den Blick auf das, was die Eigenleistungen, die kunsthistorischen Entdeckungen und neuen Thesen, der vielen beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind. Zum anderen bleiben manche eher kulturgeschichtlichen, zugleich aber grundsätzlichen Fragen an das Thema unbeantwortet. Das Hamburger Projekt "Expedition Kunst" von 2002/2003 war mit seiner Verbindung von Kunst- und Wissenschaftsgeschichte diesbezüglich couragierter vorgegangen. [1] Die einleitend formulierte Fragestellung, was die Ziele der europäischen Künstler waren und wie sich ihre Reisen in den Werken niederschlugen (12), ist daher nicht viel mehr als eine Klammer für die vielen Aspekte des Themas. Weniger werkimmanente und/oder ästhetische Perspektiven und mehr Verbindung zur historischen Reise- und Tourismusforschung wären daher wünschenswert gewesen. Hier hebt sich der Beitrag von Volker Plagemann über die freilich bereits gut erforschten Italienreisen positiv ab, indem er auch über Routen, Infrastruktur, Migration und Ansiedelung in Italien schreibt. Christoph Otterbeck zeichnet die Rezeption des Exotismus in der Moderne im 20. Jahrhundert nach und bietet damit ebenfalls ein gutes Beispiel für eine weiterführende Fragestellung. Dass Griechenland noch zu Johann Joachim Winckelmanns Zeiten als kaum bereisbar galt, hätte im Katalog dagegen nähere Ausführung verdient (Gerd Dethlefs im Abschnitt zu Griechenland).
"Orte der Sehnsucht" ist eine schöne und anregende Zusammenschau von Varianten des Niederschlags von neuzeitlichen Künstlerreisen in der Kunst. Der Katalog wird ergänzt durch 20 dichte und gut recherchierte Seiten Literaturliste sowie ein Orts- und Personenregister.
Anmerkung:
[1] Jenns E. Howoldt (Hg.): Expedition Kunst. Die Entdeckung der Natur von C. D. Friedrich bis Humboldt, Hamburg u.a 2002.
Sonja Kinzler