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Rezension über:

Erika Welkerling / Falk Wiesemann (Hgg.): Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus. "Jugendpflege" und Hilfsschule im Rheinland 1933-1945 (= Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens; Bd. 75), Essen: Klartext 2005, 277 S., ISBN 978-3-89861-525-9, EUR 24,90
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Rezension von:
Ingrid Schupetta
NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Ingrid Schupetta: Rezension von: Erika Welkerling / Falk Wiesemann (Hgg.): Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus. "Jugendpflege" und Hilfsschule im Rheinland 1933-1945, Essen: Klartext 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12 [15.12.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/12/9710.html


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Erika Welkerling / Falk Wiesemann (Hgg.): Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus

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Bei dieser Veröffentlichung handelt es sich um eine Sammlung von Vorträgen, die in den Jahren 1999 und 2000 im Rahmen von zwei Tagungen des Fachbereichs Sozialpädagogik an der Fachhochschule Düsseldorf gehalten worden sind. Die Brücke zwischen den ursprünglichen Tagungsthemen "Jugendpflege" und "Hilfsschule" wird durch zwei zusätzliche Aufsätze gebildet, die den regional- und institutionsgeschichtlich orientierten Artikeln (Rheinprovinz, Düsseldorf, einzelne Heime in Düsseldorf, Essen, Puhlheim/Brauweiler) eine übergeordnete Perspektive verschaffen sollen. Sie bieten allgemeinere Abrisse über die Besonderheiten der Berufslenkung von Jugendlichen nach 1933 (Michael Jankowski) und das Bildungsziel nationalsozialistischer Hilfsschulpädagogik (Sieglind Ellger-Rüttgardt).

Die Herausgeber Erika Welkerling und Falk Wiesemann stellen in ihrem gleichzeitig einführenden und zusammenfassenden Artikel die Richtungsänderung der Jugendhilfepolitik nach der nationalsozialistischen Machtübernahme fest. In der NS-Diktatur ging es nicht mehr um die Gewährleistung einer optimalen Förderung der Entwicklungsmöglichkeiten jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen, sondern um die Auswahl brauchbaren Nachwuchses für die nationalsozialistische Idealgesellschaft ("Volksgemeinschaft"). Wer in das Schema passte, konnte mit der wohlwollenden Unterstützung der Jugendpflege rechnen. Wer nicht passend gemacht werden konnte, wurde der Fürsorge der öffentlichen Wohlfahrtspflege und der freien Träger überstellt.

In besonderer Weise wirkte sich der Paradigmawechsel in den Hilfsschulen aus. Der den Hilfsschülern zumeist unterstellte "angeborene Schwachsinn" galt nun nicht mehr als Folge elender sozialer Verhältnisse, sondern als unheilbare Krankheit. In der Konsequenz wurden Hilfsschülerinnen und Hilfsschüler besonders häufig als "fortpflanzungsunwürdig" zwangssterilisiert. Konnten sie nicht dauerhaft für sich selber sorgen, standen sie schließlich in der Gefahr als "lebensunwert" der NS-Euthanasie zum Opfer zu fallen. Allerdings wurden die Kriterien mit dem Erreichen der Vollbeschäftigung und angesichts des Arbeitskräfte- bzw. Soldatenmangels aufgeweicht: als 'Kanonenfutter' konnte durchaus auch brauchbar sein, wem die Reproduktionsfähigkeit vorher genommen worden war.

Thematisch konzentrieren sich die Beiträge des Sammelbandes auf die Institutionen und die Mechanismen der Aussonderung. Die Situation der Ausgesonderten wird beschrieben, soweit diese aus den Quellen rekonstruierbar ist. Besonders Sieglind Ellger-Rüttgardt problematisiert das Handeln der Sonderpädagogen (142 ff.). Uwe Kaminsky weist darauf hin, dass die Theorie der Erblichkeit bestimmter Phänomene eine Offerte an die Pädagogen war: als Rechtfertigung pädagogischer Erfolglosigkeit (186). Gleich zwei Einsichten sind dem Artikel von Volker van der Locht über das Franz-Sales-Haus in Essen zu entnehmen: religiös begründete Vorstellungen von Anpassungs- und Arbeitsbereitschaft konnten partiell durchaus mit nationalsozialistischen Vorstellungen überein gebracht werden und die Mediziner nahmen mit ihren scheinbar "modernen" Methoden des Messens und Begutachtens den Pädagogen letztlich das Heft aus der Hand (203 ff.)

Zum Einstieg in das Buch dienen zwei Artikel über die Staatsjugend in Düsseldorf - ein gut bebilderter Text über die Hitlerjugend (Falk Wiesemann) und einer über die Organisation "Glaube und Schönheit" (Gisela Miller-Kipp). Dankenswerterweise bleibt am Ende auch die Situation der "anderen" Jugend, der katholischen Jugendopposition (Norbert Czerwinski) sowie der jungen Jüdinnen und Juden (Hildegard Jakobs) nicht unbeschrieben. Hinweise auf die anderen Jugendsubkulturen, insbesondere die Edelweißpiraten, sind in anderen Texten ebenfalls vorhanden (insbesondere in dem Beitrag von Hermann Daners über die Arbeitsanstalt Brauweiler).

Es ist natürlich misslich, wenn die Dokumentation einer Tagung fünf Jahre auf sich warten lässt. Denn auch wenn sich einzelne Autoren bemüht haben, Literaturangaben zu aktualisieren, ist im Prinzip doch der Forschungs- und Diskussionsstand des Jahres 2000 festgehalten. So ist beispielweise die Forderung nach weiteren Lokalstudien (Wolfgang Woelk, 164) bereits teilweise erfüllt worden. Brigitte Hofman-Mildebrath bearbeitete in der Zwischenzeit den nahezu vollständig überlieferten Aktenbestand der Erbgesundheitsstelle des Gesundheitsamtes Krefeld (s. u.) gerade unter dem Gesichtspunkt der Beteiligung der Hilfsschulen und ihres Personals an Sterilisationsverfahren. [1]

Es bleibt also der Leserin und dem Leser überlassen, den Forschungsstand zu aktualisieren. Dieses im Sinn behaltend, vermag man einzelnen Aufsätzen durchaus anregende Informationen zur Theorie und Praxis des Nationalsozialismus zu entnehmen.


Anmerkung:

[1] Brigitte Hofmann-Mildebrath: Zwangssterilisation an (ehemaligen) Hilfsschülerinnen und Hilfsschülern im Nationalsozialismus. Fakten - Akten gegen das Vergessen Regionalstudie im Raum Krefeld, Dortmund 2005 (Dissertation 2004, als elektronische Ressource unter http://hdl.handle.net/2003/20030).

Ingrid Schupetta